London, Pop und frühe Liebe - Tiny Stricker - E-Book

London, Pop und frühe Liebe E-Book

Tiny Stricker

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Beschreibung

Eine deutsch-britische »Affäre« vor dem aufregenden Hintergrund der Swinging Sixties steht im Zentrum dieses Buchs. Es geht um Teenager-Gefühle, -Sehnsüchte und -Missverständnisse in einer Handlung, die zwischen Deutschland und England hin und her pendelt, während an beiden Schauplätzen, wenn auch auf verschiedene Weise, der Pop seinen Siegeszug vollführt. Rasch verändern sich die Einstellungen der jungen Leute, und Tiny Stricker zeigt die Konflikte, die sich daraus ergeben, aber mehr noch die Euphorie, das Glückserlebnis und die Aufbruchstimmung dieser Jahre. Natürlich spielen auch einige Popsongs und die Empfindungen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Bereits in Büchern wie »Soultime«, »Trip Generation« und »Unterwegs nach Essaouira« hat Tiny Stricker authentisch das Lebensgefühl der Zeit um 1968 zum Ausdruck gebracht. »London, Pop und frühe Liebe« ist der direkte Vorläufer dazu.

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Seitenzahl: 185

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Tiny Stricker

London, Pop und frühe Liebe

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 12

Außer der Reihe 52

Tiny Stricker

LONDON, POP UND FRÜHE LIEBE

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 12

Außer der Reihe 52

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2022

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: lunamarina (Shutterstock)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 299 7

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 300 0

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 805 0

1

Der Skikurs in Österreich, von einigen auch andeutungsvoll »Skilager« genannt, durchaus ein gewisses Ereignis, stand bevor, etliche, die Sportler der Klasse, fieberten ihm geradezu entgegen, und die Eltern erwähnten ihn mindestens ebenso oft wie die Schüler. Mich allerdings erfüllte die Aussicht, eine Woche lang dem Sportlehrer, der mir nicht sonderlich wohlgesonnen war, als Alleinherrscher in einer unbekannten, schwer zugänglichen Gegend ausgeliefert zu sein, mit nicht geringem Unbehagen.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich an einem Sonntag in L. beim Bus einfand: In straff gespannten Skihosen, die einem einen unnatürlichen, steifen Gang gaben, klobigen Stiefeln, wie immer zu groß gekauft, und mit einer lächerlichen Mütze auf dem Kopf, die ich, obwohl es noch gar nicht notwendig war, schon zur Vollendung des Bilds aufgesetzt hatte. Ich musste aufpassen, dass ich nicht stolperte, und so tun, als ob ich sehr nachdenklich einherginge. Andere, wie befürchtet, waren glänzender Stimmung. Zwei oder drei hatten nagelneue Messerschnittfrisuren vom Samstag, die die Geschwindigkeit auf den Skiern vermutlich noch steigern würden. Der Sportlehrer selbst, im modischen, eng sitzenden Dress, gab sich arg leutselig und redete bereits scherzhaft von einem Abfahrtsrennen am Ende, das allen als höchste Belohnung winken sollte.

Eher sorgenvoll warf ich meine Skier, die ich bisher nur an einem unscheinbaren heimischen Hügel erprobt hatte, zu den anderen im Gepäckraum und setzte mich weit hinten im Bus zu Meyer, der mit seiner gewohnten Abwesenheit dasaß und vielleicht aus Protest Cordsamthosen anhatte, die er auch später »am Hang« (was der Sportlehrer ungefähr wie »am Gerät« aussprach) tragen sollte. Er zog sich dadurch den exklusiven Hass des Pädagogen zu, der längere Zeit beim »Antreten« nahezu fassungslos auf diese Hosen und die nur schwer in die Bindung passenden »Desert Boots« starrte. Natürlich konnte Meyer Cordsamt und Clarks, frühe Insignien des Intellektuellen, nicht einfach ablegen, es wäre eine Selbstaufgabe gewesen, was aber der Pädagoge nicht verstand.

Die Fahrt mit dem Bus über die Autobahn dauerte lange, und ich entsinne mich, dass Kurti, im Mittelgang hin- und herlaufend und heftig gestikulierend, eine Art Neusprache entwickelte, indem er an bestimmte Wörter die Endung »Steiner« oder »Steiner Jakob« anhängte und eine starke Urwüchsigkeit dazu ausstrahlte, die wahrscheinlich ein Vorzeichen der heraufkommenden Bergwelt war. Eine Vorhut von Heimschülern ging bereits wie bei einem interessanten Spiel darauf ein, d. h., es löste einen Tanz mit verschiedenen Figuren aus, weil jeder auf seine Art die neue Redeweise »auslebte«: Dux, zappelnd oder kunstvoll taumelnd wie immer, kühn »Schnaps Saufensteiner« rufend, Hans Hoffmann mit wegwerfender Lässigkeit, ja schon gravitätisch, als ob das alles längst bekannt sei.

Möglicherweise war Meyers Verhalten zu dem der anderen reziprok (unwillkürlich gebrauche ich bereits Wörter, die er auch gebrauchen würde). Er hielt einen Band Sigmund Freud vor sich hin, gänzlich unberührt von dem Treiben rings um ihn, und später dachte ich, dass er mit all seinen Büchern und Platten nur einen Schutzwall um sich aufrichtete, einen Hauch von Intimsphäre erzeugte, die in der lauten Welt des Schülerheims fast unmöglich war. Uns verband damals hauptsächlich die Musik, die Vorliebe für entlegenen Jazz vor allem, Namen, die nur die Eingeweihten kannten, was ebenfalls eine Insel war. Jetzt hatte er sich zunehmend der Psychologie zugewandt, die für uns noch etwas von einer Geheimwissenschaft hatte, aber auch eine schöne Innerlichkeit versprach, die man brauchte. Vielleicht las er im Bus »Die Traumdeutung« oder das magischere »Totem und Tabu«, ich weiß es nicht mehr. Auf Fragen oder Bemerkungen reagierte er zunächst kaum, aber wenn er auftaute, hatte er selbst den Duktus von Freud, benutzte ein abgeklärtes, akademisches Deutsch (das übrigens in merkwürdigem Gegensatz zu seinen sinkenden Schulnoten stand). Auch über aufkeimende Sexualphänomene sprach er in dieser zurückgenommenen, rein analytischen Art, was wiederum einen Kontrapunkt zum wilden Geschrei der anderen bildete.

Bei der Ankunft ereignete sich etwa Folgendes: Ich blickte aus dem Busfenster und sah Edwin Pfab und Sepp Kuffer daherkommen, zwei aus der anderen Klasse, die vor uns da gewesen war und gleich den Bus übernehmen sollte. Der Erstere wurde seiner internen Bedeutung gemäß nur »Pfab« genannt, und Kuffer trug den Beinamen »Rubber«, weil er von einem US-Army-Versand einen zerknautschten Sommer- oder Tropenhut bestellt hatte, den er auch jetzt trotz Schnee-Umgebung als Erkennungszeichen aufhatte (man muss hinzufügen, dass diese Namensgebung zeitgleich mit der LP »Rubber Soul« erfolgte). Die beiden hatten sich gerade gewaltsam aus der Umarmung von zwei Mädchen mit langen, wuscheligen Haaren und zerdrückten Pullis gelöst, offenbar von einer fremden Schulklasse, die ebenfalls im Aufbruch war. Pfab hielt lose eine Gitarre in der Hand, und Kuffer oder »Rubber« hatte tatsächlich ein Banjo umhängen, und jetzt postierten sie sich am Eingang der Herberge, wie um ein Abschiedslied zu spielen.

Ich holte also die silbrig glänzende Trompete, die ich seit einiger Zeit besaß und die bisher schläfrig, in blauen Samt gebettet, in einem schwarzen Köfferchen bei mir geruht hatte, heraus und rannte, Meyer und seine Ausführungen über Freud hinter mir lassend, zu den Musikerfreunden hinüber. »Den Blues«, befahl der Pfab, und schon zelebrierten wir den St. Louis. Es war in diesem Moment, vor dieser kahlen, hochragenden Hauswand wirklich genau, wie ein Blues sein sollte, niedergeschlagen, aber auch breit und aufheulend laut, ein echter Straßenblues. Wir schafften gut die ersten zwölf Takte und wollten eben wie auf einer schnurgeraden Fahrbahn wenden, als plötzlich der Herbergswirt mit rotem Gesicht neben mir auftauchte, nach der Trompete schnappte und sie mir mitten in einem melodischen Ausruf, eigentlich gerade im Ansatz zu einer intuitiven Improvisation von den Lippen riss, während der andere, der Sportlehrer, schon zu seiner unnötigen Verstärkung heraneilte. Der Wirt verschwand, ohne ein Wort zu sagen, weil jeder Kommentar nur seine Großtat gemindert hätte, mit dem Instrument in seinem Bau, und wir standen mit zerrissenem Blues, ohnmächtig, der allgemeinen Schande preisgegeben, da. Ich vergaß, zu sagen, dass inzwischen ein weiterer Bus herangeglitten war, der die fremde Mädchenklasse mit einer anderen austauschen sollte, sodass insgesamt vier Klassen, darunter zwei volle Mädchenabteilungen, Zeugen dieses entwürdigenden Schauspiels wurden. Mir blieb nichts anderes übrig, als ohne Instrument dem Wirt nachzulaufen, wodurch ich mich wenigstens den Blicken, dem allseitigen Auf-mich-Starren entzog. Eine Zeit lang irrte ich in dem dunklen Labyrinth der Herberge, die ich auf diese Weise erstmals kennenlernte, umher, ohne den Gesuchten zu finden, dann musste ich wieder hinaus, um meine Skier und das Gepäck zu holen, das jemand achtlos in den Straßenschnee geworfen hatte. Zurück in der Herberge traf ich auf den Sportlehrer, der zu überlegen war, um auf den Vorfall einzugehen, aber ein stilles Leuchten im Gesicht trug, das ich als Bewunderung für den Wirt, den er »Heimleiter« nannte, deutete, und mich schließlich auf ein Büro hinwies und meinte, dass ich mich »dort melden« sollte.

Tatsächlich saß in dem Raum, der völlig holzgetäfelt war und der Kommandobrücke eines alten Schiffes ähnelte, hinter einem breiten Schreibtisch, immer noch triumphierend, der Herbergswirt. Ich verbrachte ungefähr dreißig Minuten bettelnd, quengelnd, mitleiderregend, in diesem Raum, während der Wirt nur dahockte und in Abständen und mit immer größerem Grinsen »Nein« sagte. Meine Trompete hatte er wie eine Trophäe auf einem der oberen Regale ausgestellt. Als auch mein Gelöbnis, nur noch mit Dämpfer oder »Stopfer« und zu einer genehmigten Zeit spielen zu wollen, nichts fruchtete, gab ich es auf und verzog mich auf das »Zimmer«, wo sich die anderen schon häuslich niedergelassen hatten.

Ich war in aufgelöstem Zustand, und als Meyer an mir vorbei hinunter zum Ausgang lief und etwas von »Stadt« murmelte, ging ich mit.

Wir zogen durch die Stadt, die zu unserer Verwunderung und Erleichterung existierte. Obwohl winterlich und wenig gastfreundlich, gefiel sie uns besser als die Herberge, die Meyer schon unabsichtlich »das Heim« nannte. An der Peripherie, in der Nähe von einem Fluchttor, das in die verwitterte und verschneite Landschaft hinausführte, fanden wir schließlich eine blau erleuchtete Bar, offenbar ganz leer und anspruchslos genug, um uns aufzunehmen. Wirklich war, als wir eintraten, nur eine Bedienung anwesend, die, was Gedankenverlorenheit anbetraf, Meyer in nichts nachstand. Die Bar selbst war auf eine etwas simple Art hauptsächlich durch einen blauen, gefältelten Stoff kenntlich, mit dem die Wände wie bei einem Kinosaal oder Etui ausgeschlagen waren. Sie bestand auch aus zwei Teilen, der eigentlichen, anscheinend für erwachsene Stammgäste reservierten Bar bei der Tür mit Theke und Hockern und, durch einen Treppenabsatz getrennt, einer Art Café für alle, in das wir hinabstiegen. Genau am Absatz, am Schnittpunkt der Welten also, befand sich die Jukebox.

Wir bestellten Cinzano, den wir uns langsam einflößten. Eine eigenartige Spannung lagerte über dem Lokal, und man wurde das Gefühl nicht los, dass es lediglich eine Vorhalle war, die Bedienung nur eine vorgeschobene Figur, und dass hinter der stoffbespannten Wand eine tiefere, interessantere Bar wartete, was aber vielleicht an unserem Alter lag. Jedenfalls schlenderte Meyer irgendwann mit einer gewissen Grazie, die der lange Lauf durch den leeren Raum erforderte, zu der Jukebox hinüber. Er beugte sich über sie, man sah ihm förmlich den Kummer über die schlechten Titel an, und warf ein. »Ray Charles«, sagte er zurückkommend und leicht entschuldigend, während hinter ihm schon das Jukebox-Ritual ablief, d. h., eine Art automatischer Diener hochschoss, die Platte ergriff, sie kurz der Welt zeigte und dann sie sich selbst überließ, indem er sie auflegte. Wahrscheinlich lag in der Unaufhaltsamkeit dieses Rituals sogar ein besonderer Reiz, man wusste, dass die Platte jetzt nicht mehr zu stoppen war, auch nicht die Lustempfindung, eigentlich man selbst.

Die Platte fiel mit leichtem Scheppern auf den Teller, und fast gleichzeitig stürzte sich Ray Charles auf das Klavier, hämmerte »What I’d say« in die Tasten. Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, aber die Bedienung schaute beim Einsetzen des Stücks deutlich weg, zumindest sah es so aus, sie schien damit auszudrücken, dass sie uns doch nur als Schüler betrachtete, obwohl wir uns in der Fremde und im Halblicht des Lokals einen anderen Anschein gaben. Es führte aber nur dazu, dass wir das Stück gleich erneut »drückten«, anschließend mehrmals, abwechselnd Meyer und ich, nur einmal als Gegensatz Petula Clark. Allmählich fingen wir an, den Song überhaupt zu erfassen. Wir bestellten weitere Cinzanos …

Ich hätte sagen sollen, dass Meyer, was seinen Musikgeschmack anbelangte, bisher nie unter Bebop gegangen war. Obwohl er ein absolut statischer Typ war, ja sich mit seiner ganzen Statik gegen den Song stemmen musste, fing er plötzlich an zu zucken. Dieser Ray Charles war eine Überraschung, eine erste Ausnahme, offensichtlich stand ein musikalischer Umbruch bevor …

Das Lokal blieb weiterhin leer, was für uns sehr erfreulich war. Erst als zwei Gebirgsjäger wie zu unserem Austausch eintrafen, verließen wir es. Draußen wieder die Stadt, der Skiort, aber wir hatten den Song schon verinnerlicht, hatten diese fließende Geschmeidigkeit und das fetzige Gebaren, das man uns nicht so leicht nehmen konnte.

Aber natürlich war am nächsten Tag alles wieder anders. Ich war in der Anfängerriege, die mit Mühe einen Hügel erklommen hatte, und die Gruppe, die sich dort in einer Reihe aufstellte, sah eher zweifelhaft aus. Charly, dem die Mütze schlaff ins Gesicht hing, Jeschke, der sich an seinen Skistöcken festhielt, Hans Hoffmann, scheinbar lässig nach vorne gekippt, aber schon nach hinten abrutschend, Blum, einfach verwundert … Dabei hatten wir Glück. Der Sportlehrer, der sich naturgemäß jetzt »um die Besten« kümmern wollte, die er wie eine höhere Garde um sich scharte, hatte uns in die Hände einer mitgereisten Musiklehrerin übergeben. Diese wirkte nicht nur durch ihre bloße Präsenz, die Abmilderung der Alleinherrschaft, beruhigend, sondern erweckte auch den Eindruck, eine ihrer Musikstunden zu geben, in der Art wie sie die Bögen und Schleifen am Hang demonstrierte. Leider störten jedoch der tückische Untergrund, ein nicht mehr zu leugnendes Schneetreiben und die wahrscheinlich übermäßig gewachsten Skier ihre Bemühungen erheblich (ohnehin löste Blum, der letzte in der Riege, den Sinn jeder Übung wieder auf, weil er sie zwar pflichtschuldig nachmachte, aber mit einem Gesichtsausdruck voll abgrundtiefer Skepsis ausführte).

Übrigens gehörten auch die meisten Mädchen der Klasse zu unserer Gruppe, was ein zusätzlicher Schutzfaktor war. Sie bewegten sich zierlicher, wenn auch genauso haltlos wie wir auf den Skiern, sahen aber doch besser aus, ja gewannen mit schicken Sonnenbrillen trotz Schnee, flauschigen Eskimo-Krägen etc. dem Ort sogar eine gewisse mondäne Note ab, die er aber nur in ihrer Fantasie hatte.

Jahrelang waren sie nichts als Mitschülerinnen gewesen, von romantischen Vorstellungen wie offiziell ausgenommen, was entweder an der ständigen Nähe lag oder an dem Netz von Zensuren, Prüfungen und Lernfächern, das sicherheitshalber über uns geworfen war. Doch dann, als wir einmal aus den »Großen Ferien« zurückkehrten, änderte sich plötzlich etwas: »Sie« hatten unverkennbar weibliche Formen angenommen, bewegten sich auch anders, selbstbewusster im Raum, legten vielleicht einen Band Thomas Mann neben sich auf das Pult oder spazierten damit herum, während wir noch banalen Abenteuergeschichten nachhingen. Betzler, der als »frühreif« galt, was allerdings seine Noten völlig verdarb, hatte sich zu Beginn eines neuen Schuljahrs neben eine stets gut gekleidete, schnippisch reagierende Fabrikantentochter gesetzt, die öfter Lackstiefel trug. Und mir selbst musste eine Mitschülerin, die schon »weit voran« war, wie man sagte, etwas mühsam und an meiner Kombinationsfähigkeit zweifelnd, auf dem Heimweg ein Wortspiel mit »Pariser« erklären, dabei eigenartig auflachend. Ich hatte sie daraufhin zum Sportlerball eingeladen, bei dem es keine Einlasskontrolle gab und der in ein Fiasko mündete, weil ein als Seemann verkleideter und dadurch undurchschaubarer, älterer »Freund« sie mir dort gleich wieder ausspannte.

Jetzt waren wir zum ersten Mal in einer sportlichen Betätigung zusammen, also besonders »physisch«, ein Wort, das Meyer häufig benutzte, obwohl er selbst eher das Gegenteil davon zu sein schien. Bei diesen Übungen am Hang taumelte man und stürzte man manchmal auch gemeinsam, rappelte sich, aneinander festhaltend, lachend aus dem weichen Schnee wieder empor.

Mitten in das durch den Flockenwirbel halb imaginäre Geschehen hinein platzte der Sportlehrer, der wie ein allgegenwärtiger Fürst aus dem Nichts auftauchte und etwas oberhalb von uns »einparkte«, eine strenge, feste Größe im Raum. Durch die Hügellandschaft in seiner Rangposition bestätigt, wollte er nun die Übungen sehen, die wir ihm einzeln vorführen mussten. Natürlich fielen sie unter seinem unnachsichtigen Blick noch kläglicher aus, und er verschwand wieder fast verzweifelt ins weiße Nichts.

Am Nachmittag fuhren wir höher hinauf, und zwar mit einem Schlepplift, aus dem aber einige, darunter ich, an einer leichten Kurve herausfielen. Überhaupt verloren wir uns etwas in dem weitläufigen Gebiet, was für den Einzelnen jedoch angenehm war. Nur schwer gelang es der Musiklehrerin, uns wieder einzusammeln und uns den »Stemmschwung« beizubringen. Dann flog auf einmal, aus unbekannten Höhen kommend, wie eine prächtige Reiterkavalkade, mit dem Sportlehrer an der äußersten Spitze, die Elite der Klasse, uns kaum grüßend, an uns vorbei ins Tal.

Die meisten Zimmer der Herberge waren wie die Mannschaftsräume eines alten Schoners mit Stockbetten vollgestopft, und der lange Mittelgang auf der ersten Etage, den Hans Hoffmann schon als »Kontaktzone« oder »Anbahnungsstraße« bezeichnete, glich in der Tat einem im Dämmerschein daliegenden, sich allmählich belebenden Zwischendeck. Unser Schlafraum war allerdings in einem verwinkelteren oberen Geschoß untergebracht, in dem auch das Zimmer der Mädchen und, in einem dunklen Hintergrund verborgen, leider auch noch die »Lehrerzimmer« lagen. Durch puren Zufall war ich in den Raum mit den Spitzensportlern geraten, also zusammen mit Leuten wie Volkholz und Klenze, die in einer Art von Rauschzustand von ihrem alpinen Höhenflug zurückgekehrt waren. Schwer zu beschreiben die Atmosphäre von Verwegenheit, strotzender Kraft und launigem Übermut, die im Zimmer herrschte! Natürlich war ich ein Fremdkörper darin, aber ging doch ein in den Gruppenkult, den die zellenhafte Enge der »Stube« noch steigerte. Wahrscheinlich nahm ich an, dass die anderen voll Bewunderung an unserer Tür vorbeiliefen.

Volkholz und Klenze waren nicht nur älter und größer als ich, unschätzbare Vorteile in diesem Stadium, sondern kamen auch aus der Kreisstadt, was an sich schon, obwohl sie gänzlich unbedeutend war, einen gewissen Nimbus mit sich brachte. Ich kompensierte alles, Alter, Größe, unpassenden Wohnsitz, indem ich auf der oberen Bettkante hockte und deutlich sichtbar »Die Schule der Diktatoren« las.

Ob schon der Titel eine an den Sportlehrer gerichtete Warnung darstellte? Jedenfalls gefielen mir in dieser Zeit solche Stücke (bald darauf begeisterte ich mich heftig für »Die kahle Sängerin«), die wie von selbst, ja mechanisch abliefen, ganz im Gegensatz zu den Schullektüren, in denen ständig Hindernisse und Verwicklungen auftauchten, die eine dauernde Anpassung der Personen erforderten, was uns vermutlich auf die Welt der Erwachsenen vorbereiten sollte.

Zum Glück war auch Jeschke im Zimmer, der einen Gegenpol zum Verhalten der anderen bildete, schon so etwas wie Würde und Weisheit ausstrahlte und mir endlich die erwünschte Frage stellte: »Sag mal, was liest du eigentlich da?«

Ich wollte gerade zu einer erweiterten Antwort ausholen, als Klenze ins Zimmer trat. »Kommt doch rüber, ihr Feiglinge!«, hätten sie ihm aus dem Mädchenzimmer zugerufen, berichtete er. Er sah nicht mehr ganz so strahlend aus, ein sichtlich bekümmerter Held. Man musste sich beraten. Später dachte ich, dass dieses »ihr Feiglinge« ein unbewusster Zusatz von ihm selbst war, eine naive Umsetzung dessen, was er empfand.

Man beschloss, den »Besuch« auf einen späteren Zeitpunkt, nämlich genau auf Mitternacht zu verlegen, und tatsächlich lief kurz darauf Volkholz am Mädchenzimmer vorbei und zischte »Achtung, zwölf Uhr!« hinein.

Ich las weiterhin in »Die Schule der Diktatoren« und lieh es zwischendurch Jeschke, während die anderen wie im Film noir sich durch ein hartes Kartenspiel stärkten. Gegen elf holte Jeschke zwei oder drei Flaschen Schnaps hervor, die er in einem Souvenirladen erstanden hatte. Volkholz, nachdem er einen abschätzigen Blick auf das Etikett mit den Enzianwiesen geworfen hatte, beurteilte das Getränk nach einem ersten Schluck als »Kinderpunsch«, was Jeschke später fast schon anerkennend in »Kindergeburtstagspunsch« umdeutete. Kurz vor zwölf sagte Betzler »Enzym« statt »Enzian«, dann schlichen wir in guter Laune, aufgeräumt, wenn auch schon leicht strauchelnd, hinüber.

Es war wirklich eigenartig, die Mitschülerinnen nun in spitzenverzierten Nachthemden und etwas albernen Hüttenschuhen vor uns zu sehen, einzeln wie bei einem nächtlichen Empfang, einer merkwürdigen Ballzeremonie auf ihren Betten aufgereiht, die an den Wänden entlang aufgestellt waren. Eine schloss gleich vorsorglich hinter uns die Zimmertür ab, dann rückten wir in einer Ecke auf Stühlen und Betten zusammen.

Jeschke reichte großzügig den Schnaps herum und sagte auf einmal zu mir »Wie geht’s?«, als ob er mich etwa eine Woche nicht mehr gesehen hätte. »Ich bin willenlos«, entgegnete ich pathetisch, worauf er mich mitfühlend, fast zärtlich anblickte. Dieser Satz wurde später ein gerne aufgegriffenes, häufig benutztes Zitat, das einen unausweichlichen Lust- oder Gefühlshöhepunkt oder die letzte Vorstufe davor anzeigen sollte.

Im Grunde aber war die Verlegenheit groß. Langsam wurde uns klar, dass wir keine Vorstellung hatten, was wir hier anfangen sollten. Ich weiß nicht, ob es an den Hüttenschuhen lag, dass wir plötzlich auf die Idee kamen, ein Lied zu singen.

Betzler, der ein Italo-Organ besaß, eine »auffallende Kantilene«, wie ein früherer Musiklehrer in der Art eines Naturbetrachters erkannt hatte, stimmte »Wer soll das bezahlen?« an, wobei Jeschke sofort geistreich den Namen des Sportlehrers einschob und bei »Wer hat das bestellt?« wieder. Die Stimmung stieg durch das Lied und Jeschkes sinnige Ergänzungen beträchtlich und führte zu einem allgemein karnevalesken Treiben, Schunkeln, Sich-Umarmen, Auf-dem-Schoß-Reiten etc. Leider brach die angenehme Atmosphäre aber schon nach kurzer Zeit in sich zusammen, weil wir draußen näherkommende, energische Schritte vernahmen, jemand an der Tür rüttelte und eine allzu bekannte Stimme in einem für diese Uhrzeit ziemlich unpassenden Ton »Aufmachen!« rief.

»Los, in die Betten!«, herrschte uns Volkholz an, der auch in dieser zugespitzten Situation relativ vernünftig klang. Wir stürzten also aus der Gruppe heraus, jeweils mit einer Mitschülerin, ich zu meiner eigenen Verwunderung mit Herta, der ältesten und größten, in die Betten, und es war minutenlang sehr schön, wie sie mich lächelnd und streichelnd an sich drückte und wir uns fest umklammerten. Dann riss schon der Sportlehrer die Decke hoch. »Hab ich mir’s doch gedacht«, sagte er.

Die wahre Ernüchterung erfolgte jedoch erst am nächsten Morgen. Man kann sogar sagen, dass die Nacht hindurch eher eine gewisse Befriedigung über das gerade Erlebte anhielt. Beim Frühstück jedenfalls tat der Sportlehrer so, als ob wir gar nicht da seien, oder aber eine fremde Schülergruppe, die er nicht kannte. Auch die gutmütige Musiklehrerin musste sich erschüttert zeigen, blickte nur wie über einen unüberwindbaren Fluss zu uns hinüber. Unter den Mitschülern verbreiteten sich bereits bizarre Gerüchte …

Nach dem Essen gebot uns der Lehrer mit einem Wink, sitzen zu bleiben. Er telefoniere jetzt mit dem Direktor (er sagte »mit dem Direktorat«, was vermutlich die gleiche Person war, aber eine höhere Stufe des Vergehens signalisierte). Während die anderen untätig draußen herumlungerten und am Fenster Grimassen schnitten, mussten wir an unserem wie symbolisch leer geräumten Tisch ausharren, zu dem die Mädchen von ihrem Tisch vertraulich herüberlächelten. Einmal lief Charly quer durch den Raum, als ob er etwas suchen würde, weil offiziell Kontaktverbot galt, und berichtete, dass von »Zurückfahren-müssen« die Rede sei und von »möglicher Demission«.

Endlich nach ungefähr einer Stunde kehrte der Sportlehrer zurück. Über das volle Strafmaß werde noch entschieden, begann er feierlich. Zurückfahren, das er für das Beste erachte, sei aber ungerecht gegenüber den anderen (deren moralischer Stellenwert dadurch noch wuchs und die er geradezu vor uns zu beschützen schien). Aber mit dem Skifahren sei es für uns jetzt vorbei, sagte er, worüber die Sportler in Wehklagen ausbrachen, was ich aber für eine gute Lösung hielt. Ab sofort müssten wir Strafdienste leisten …

Gleich darauf wurden wir mit Pickeln und Schaufeln ausgerüstet und mussten erst den vereisten Hinterausgang und Hinterhof der Herberge freilegen, dann den Vordereingang und schließlich zur Überraschung der Nachbarn auch den Bürgersteig. Als wir bei Letzterem angelangt waren, kam der Herbergswirt, den wir inzwischen »Herbergsvater« nennen mussten, vorbei, betrachtete uns freudig und sagte: »Früher waren wir beim Reichsarbeitsdienst bei den Deitschen, jetzt ist’s umgekehrt, haha!« Dabei sprach er das Wort »Reichsarbeitsdienst« besonders großartig aus und benutzte im nächsten Satz schon geläufig die Abkürzung »RAD«, wies sich damit als absoluter Kenner der Materie aus.