HOTEL AMIR KABIR - Tiny Stricker - E-Book

HOTEL AMIR KABIR E-Book

Tiny Stricker

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Beschreibung

Ein Hotel in Teheran in den Jahren 68/69 mit seinen Bewohnern bildet das innere Zentrum dieses Buchs. Das Hotel ist eine Zwischenstation auf dem »hippie trail«, ein Transit, und gleichzeitig ein Schnittpunkt von Ost und West und ein Sammelpunkt der Hoffnungen und Erwartungen, die die Reisenden in beide Richtungen in sich tragen. Der Protagonist ist ebenfalls auf der Indien-Route unterwegs, im Hotel in Teheran findet er Zuflucht, geht in der internationalen Gemeinschaft dort auf. Aber man nimmt auch an seinem Umherziehen teil, eigentlich erlebt man den ganzen »Trail« zusammen mit ihm. Denn das Buch ist nicht zuletzt ein Coming-of-Age-Roman, erzählt von einem, der ausbricht und seinen eigenen Weg sucht. Tiny Stricker hat die Aufbruchstimmung Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre schon mehrfach dargestellt, in Werken wie »Ein Mercedes für Täbris«, »Unterwegs nach Essaouira« und »London, Pop und frühe Liebe«. »Der Sound einer neuen Zeit« – Antje Weber, SZ Titelbild von: Mike Wright

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Seitenzahl: 205

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Tiny Stricker

Hotel Amir KabiroderDie Wege der Hippies

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 13

Außer der Reihe 86

Tiny Stricker

HOTEL AMIR KABIR

oder

DIE WEGE DER HIPPIES

Werkausgabe Tiny Stricker

Band 13

Außer der Reihe 86

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Oktober 2023

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Mike Wright

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 354 3

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 750 3

In diesem alten Rasthaus, das wir ›Welt‹ genannt …

Omar Khajjam

Hotel Amir Kabir

Spätabends war er in Teheran eingetroffen, erschöpft und leicht schwindlig von der beschwerlichen Fahrt, vielleicht auch etwas zerstreut, weil er sich während der Reise ganz den vorüberziehenden Bildern und ebenso seinen Gedanken überlassen hatte. Bereits der Aufenthalt in Täbris war ja eine Zeit fast ohne Gespräche gewesen (denn von der Landessprache kannte er nur winzige Bruchstücke), überhaupt eine lange Phase der wenigen Worte, dafür mit starken Gefühlsregungen und voller Eindrücke, die sich ihm besonders eingeprägt hatten. Die Zeit schien langsamer dahinzufließen dadurch, dies noch mehr, weil er in einer abgeschlossenen Welt lebte. Das zeltartige Haus mit dem empfindsamen Garten draußen, der sich in dem geheimnisvoll aufleuchtenden Teppich im Innern zu wiederholen schien, es war wie eine Insel im Strom gewesen. Umso abrupter war das Ende gekommen, das schmerzliche Abschiednehmen von einer inzwischen vertrauten Person vor allem, ein Gefühl, das sich noch steigerte, als der Bus zitternd die Bergpässe gleich hinter Täbris hochkletterte und in den Serpentinen schwankte, was von den dicht gedrängten Passagieren immer mit aufgeregtem Geschrei, Stöhnen und inbrünstigen Gebeten begleitet wurde …

In Teheran hatte er Glück. Wahrscheinlich half sogar seine Geistesabwesenheit, weil er besinnungslos hinter einem kleinen Jungen dreinlief, der sich in der Funktion des Schleppers noch zu üben schien und doch mit kindlicher Gewissheit die Zugehörigkeit des Neuankömmlings zu einem bestimmten Quartier erkannt hatte. Auch war er berechnenderen Vertretern dieser Zunft, die nach »deutlichen« Reisenden Ausschau hielten, dadurch entgangen, und der Junge geleitete ihn durch die Irrgänge Alt-Teherans sicher zum Amir Kabir.

Er verschwand wieder, nachdem er eine Münze erhalten hatte (die er seltsam anschaute), wurde geradezu von der Menge verschluckt, und H. (wie wir ihn nennen, wobei der gehauchte Laut durchaus zu seiner dahintreibenden Existenz passte) starrte etwas erstaunt auf das Gebäude, zu dem er geführt worden war. Zumindest auf den ersten Blick war es als Hotel nicht gleich kenntlich, verbarg sich eher in der dunklen Häuserzeile. Außerdem hatte es keinen richtigen Eingang, bestand nur aus oberen Stockwerken, das heißt, ruhte wie einige asiatische Tempel im tiefen Dschungel auf Säulen und Stützmauern, die leicht zerbrechlich wirkten. Händler hatten sich zwischen den Pfeilern niedergelassen und Autoteile ausgebreitet, ganze Motoren, Batterien, Stoßstangen etc., vor allem aber hatten sie Türme von Autoreifen errichtet, die, so sah es aus, das Gebäude bei einem möglichen Absturz auffangen sollten. Genauso gut hätte man Tarnnetze aufspannen können, dachte H. später. Sogar die Treppe zum Hotel hinauf war zwischen den Waren versteckt, und als er sie hinaufstieg, kam sie ihm mehr wie eine Fluchtpassage vor oder auch wie eine Vorahnung des Luftreichs, das das Amir Kabir für ihn werden sollte.

Der Patron, dessen Büro sich am Schluss der Stufen befand, betrachtete den neuen Gast länger und mit einer gewissen Skepsis, die zu fragen schien, ob dieser am Ende auch wirklich bezahlen würde. Gleichzeitig sagte der Blick schon einiges, wie H. dachte, über die allmähliche Verwandlung der Herberge aus. Auch die im Pass eingetragenen und wieder durchgestrichenen Registrationsnummern des Mercedes studierte der Hotelier kritisch und versuchte wahrscheinlich, indem er hin und her sah, sie mit dem eher harmlosen Eindruck, den der Angekommene machte, in Einklang zu bringen. Endlich, wie bei einer umständlichen Zeremonie, übergab er ihm den Schlüssel zu einem Zimmer.

In dem Zimmer, in das er geschickt wurde, begrüßte ihn überraschend ein Deutscher, denn der Patron hatte ihn vermutlich wohlmeinend zu einem Landsmann einquartiert. H. war zuerst enttäuscht, weil er nicht, wie er gehofft hatte, mit einem Indienfahrer zusammenkam und weil sein Zimmergenosse allem Anschein nach völlig »straight« war. Er hieß Reinhard, war ungefähr gleich groß wie H., jedoch auffallend wendiger und trug noch Hosen mit Bügelfalten und Sommerhemden, die vage nach Urlaub aussahen. Das Herumziehen hatte allerdings schon seine Spuren hinterlassen. Die Hosen waren stark zerknittert und die Hemden mit ihren einst scharfen Mustern verwaschen oder von der Sonne ausgebleicht. Tatsächlich fiel er auch in Teheran kaum mehr auf, vermischte sich ganz mit der Menge, was von Vorteil sein konnte.

Auf die ersten Fragen nach dem Wohin und Woher antwortete Reinhard nur, dass er »am Abtauchen« sei und Deutschland vergessen wolle, das heißt, er gab nichts über seine früheren Aufenthaltsorte preis. Das Reisen schien dadurch für ihn anders und unbedingter zu sein als für die Hippies (vielleicht sogar »reiner«, wie H. dachte, ganz so, als ob der Name des anderen eine tiefere, allegorische Bedeutung hätte). Offenbar hatte er vorher keine Erfahrungen im Reisen gehabt und verfügte kaum über Sprachkenntnisse, genoss aber jetzt das Wagnis umso mehr, gab sich ihm auf seine Weise hin. Wirklich sah H. einmal, wie der andere im Ausguss des Zimmers seine Wäsche wusch und dies freudig und geschickt tat, wohl weil es zu seinem Wagnis gehörte und zur erstaunlichen Verwirklichung seiner Pläne beitrug.

Dennoch mochte er es, wenn er mit H. auf Deutsch über nebensächliche Dinge sprechen konnte, weil dies das Wagnis auch wieder leichter und alltäglicher machte. Die Stadt kannte er schon gut, möglicherweise führte gerade die mangelnde Sprachbeherrschung dazu, dass er verstärkt in ihr aufging, ganz »Auge und Ohr« war. Er beobachtete genau, welche Münzen die Einheimischen den Pistazienhändlern und Saftverkäufern hinwarfen, wusste schon im Voraus, wo die Taschendiebe arbeiteten, studierte nur ihr »System« … Vielleicht ist er selbst einer von ihnen, dachte H. plötzlich. Einmal, wieder beim Wäschewaschen im Zimmer, das nur ein Fenster auf die Galerie hinaus hatte und einer Mönchszelle ähnelte, hatte der andere undeutlich etwas von »Knast« gemurmelt, aber das Selbstgespräch gleich wieder eingestellt.

Es kam heraus, dass Reinhard nach Kuwait wollte, weil es dort »Kohle« gäbe. Er benutzte für »Geld« auch andere, zärtlichere Wörter wie »Moos« oder »Holz«, hatte überhaupt eine ganze Palette von bildlichen Ausdrücken dafür, fast schon eine Vorstufe der Poesie, was bedeutete, dass es ins Reich seiner Wunschträume gehörte. Dass es H. gelungen war, einen Mercedes nach Persien »einzuführen«, gefiel ihm sehr, wobei er das Wort »einführen« immer mit subtiler Ironie aussprach. Warum er selbst länger in Teheran blieb, obwohl er doch weiterwollte, war allerdings nicht klar.

Die Hippies wohnten im anderen Teil des Gebäudes, und eine Brücke schwang sich hinüber, von einer umlaufenden Galerie zur anderen. Diese Brücken oder schmalen Stege, denn es gab mehrere davon, waren typisch für das Amir Kabir, für seine durchdachte feingliedrige, im Grunde fantastische Konstruktion. Wenn man vor allem morgens bei schräg einfallenden Sonnenstrahlen hinüberlief, hatte man durchaus den Eindruck eines Luftschiffs, das gerade abhob, weil unten das geschäftige Treiben der Händler vor sich ging und Berge von Autoreifen wie eine eigenartige vulkanische Landschaft, die man überquerte, unter einem auftauchten. Auch erzeugten die Schritte auf den Übergängen eine kleine Melodie, die in gleichmäßigen Intervallen auf- und niederstieg und zu den untergründigen Harmonien des Hotels gehörte, in denen man schon bald aufgehoben war.

Besonders mit drei Schweizer Hippies hatte H. Kontakt. Sie waren barfuß und mit ihren großen, zottigen Hunden unterwegs und hatten etwas von Berghirten, die sich in ihrer störrischen Art auf ihren Wegen nicht beirren ließen. Das Deutsch, das sie sprachen, wirkte altertümlich, und manchmal kam es H. so vor, als ob sie dieses Altertümliche noch betonten oder »hervorholten«, sodass das, was sie sagten, ganz archaisch, ja legendenhaft klang. Ihr Fortkommen schien dadurch eigenen, unaufhaltsamen Gesetzen zu folgen, und es machte nichts aus, dass ihre Mittel unweigerlich zur Neige gingen.

Zwei der Schweizer waren Hünen, die gern mit den Hunden spielten, sie an sich hochspringen ließen, der dritte hingegen ein kleiner, zarterer Typ, mit dem sich H. anfreundete, Er war öfter allein im Zimmer, was anscheinend seinem sensiblen Wesen entsprach, während die anderen beiden die Hunde durch die Stadt trieben (Die Perser hatten vor den Tieren mehr Respekt als vor ihren Begleitern, und die Kinder riefen ihnen, wenn sie vorbei waren, »Hippie« nach, was in ihrer Sprache so viel wie »Mücke« bedeutete).

Der zarte Hippie sagte, dass sie genügend Stoff aus der Türkei dabei hätten, aber dass ihnen die Musik dazu fehle, als H. ihn besuchte. Sie redeten dann lange über neuere Platten von Hendrix, Dylan und anderen, und die Musik dieser Platten schien den Raum zu erfüllen wie bei einem Privatkonzert. Der Schweizer schüttelte gern immer wieder etwas Zucker in ein Glas Wasser und trank genießerisch davon, was ebenfalls wie eine Droge zu wirken schien und ihn glücklich und zufrieden aussehen ließ. Er sagte nach der Einnahme dieses Tranks, dass auch die Geräusche der Stadt, der Verkehr, die Stimmen eine Art von Musik, eine endlose Symphonie bildeten und der Gesang des Muezzins wie ein Refrain dazu sei. Der Straßenlärm von Bagdad (denn sie waren tatsächlich über diese seltsame Strecke hergekommen) sei allerdings noch schöner, noch elektrisierender gewesen, die Musik würde dort von Haus zu Haus springen, von Lokal zu Lokal … Manchmal war der Schweizer, wenn ihn H. besuchte, auch schläfrig oder gab sich schlafwandlerisch, sogar wenn er durch das Zimmer lief. Der Weg, den sie einmal beschritten hatten, schien dann noch folgerichtiger und automatischer für sie zu sein. Er war ja auch vorgezeichnet: Afghanistan, Pakistan, Indien, vielleicht noch Nepal. Die Hochebene von Afghanistan schien in diesen Momenten nur ein paar Schritte entfernt, und Namen wie Peschawar, Delhi, Kathmandu klangen gar nicht mehr wie Orte, sondern wie Begriffe des täglichen Lebens.

Einer der beiden großen Hippies, der so etwas wie der Anführer oder die Geleitperson war, drängte zum Weiterziehen. Er fragte H., ob er auch »abdeckeln« wolle, was dieser zuerst nicht verstand. »Verschwinden, ohne zu bezahlen«, erklärte der andere. Es sei ganz leicht, man müsse nur die Rucksäcke auf die Autoreifen unten werfen und dann lässig am Büro des Patrons vorbeischlendern. H. dachte tatsächlich länger über diese Möglichkeit nach, aber da ihn der Hotelier mehrmals schwermütig anblickte, verscheuchte er schließlich doch den Gedanken.

Auch H. hatte nur geringe Mittel, dennoch kaufte er sich ein paar Sachen im Basar, als ob er sich seiner Existenz in Teheran, seines Hierseins dadurch versichern wollte. Natürlich übte der Basar an sich schon, das dämmrige Labyrinth, das sich inmitten der taghellen Stadt vor ihm auftat, eine besondere Faszination auf ihn aus. In seiner Erinnerung zumindest gab es darin Treppenabsätze und hohe Gewölbe, was zeigte, dass es schnell und unmerklich in ein Reich der Imagination überging, in dem man frei schweifen konnte. Mehrmals lief er an einer Ladennische vorbei, in der ein Händler alte Kannen, Schmuckstücke, Kästchen, zerbrochene Fliesen etc. ausgebreitet hatte und selbst wie ein starrer Wächter oder nur scheinbar schlafender Geist danebensaß. Endlich trat H. näher und betrachtete die zur Schau gestellten Schätze. Der Anhänger einer Halskette, ein geometrisches Teil mit blauen Steinen und silbrigen Troddeln, die schon teilweise zerrissen waren, fiel ihm vor allem in die Augen. Vielleicht keine große Kostbarkeit, und doch war eine schwer stillbare Sehnsucht darin eingeschrieben. Bilder aus Täbris drängten sich ihm dabei auf, Tage mit F…, das Zusammensein in dem flirrenden, manchmal rauschhaften Garten, der Abendkorso, ihr scheuer Blick aus dem Schador heraus auf die bunte Welt draußen … Er musste das Stück haben, und da er zum Glück in Täbris einige Basarausdrücke und das dazugehörige Mienenspiel gelernt hatte, fing er an, darum zu feilschen. Der Händler, der seinen Blicken gefolgt war, zeigte sich allerdings als versierter Psychologe, und am Ende hatte H. nicht nur dieses Schmuckstück, sondern auch einen breiten Armreif mit »Saphir« (wie der Trödler sagte) und drei Ringe mit zerbeulten Steinen erstanden.

Mit seiner Erwerbung kehrte er in das leere Zimmer zurück, das Reinhard tagsüber mied, und versteckte sorgfältig den Anhänger in seiner Tasche. Dann legte er nach Art der Hippies selbst den dicken Armreif und die Ringe an, denn er wollte fortan auch »einer von ihnen« sein. Tatsächlich kam ihm die Welt damit gleich viel prächtiger und vieldeutiger vor.

Er lief erneut zum Basar, weil es ihm im Halbdunkel leichter fiel, ein »Anderer« zu sein, aber auch weil er probieren wollte, ob die Stücke, die er für alte Talismane hielt, ihn sicher durch das Labyrinth geleiten würden. Wirklich verstand er den Basar jetzt besser. Er ließ sich ungehemmt treiben, an vielen Geschäften und immer winzigeren Teestuben vorbei, und stand plötzlich auf einem offenen Platz, einer Art Lichtung, die sich als Innenhof einer kleinen Moschee erwies. Ein besonderes, traumhaftes Licht spielte darin, ganz anders als draußen in Teheran. Aus einem Wasserbecken stiegen ein paar Fontänen empor, die H. in diesem Moment wie die Springquellen eines artesischen Brunnens erschienen, die der erschöpfte Wanderer nach langen Wegen erreichte. Tatsächlich kam ihm der Ort wie eine ersehnte Ruhepause vor, aber auch wie die Belohnung für eine hartnäckige Suche, er dachte, dass er so weitermachen müsse, dass er so auf dem richtigen Pfad sei.

Sein Vertrauen in die Reise und den Fortgang der Dinge erhielt jedoch schon bald darauf einen Dämpfer, weil er eines Morgens feststellen musste, dass die Schweizer, seine Freunde, samt ihren Hunden spurlos verschwunden waren. Das Zimmer, an dem er vorbeiging, sah unbezahlt aus, unordentlich und in aller Eile verlassen. Der Patron, der in seinem Büro mit einem Engländer Schach spielte, wirkte gleichmütig, aber beim Aufblicken noch trauriger als sonst.

H. fühlte sich wieder als Einzelgänger, nicht zuletzt, weil Reinhard aufgrund seiner Verschwiegenheit gleichzeitig da und nicht da war. Dies tat ihm aber auch gut, er meinte, dass er so leichter seinen eigenen Weg verfolgen könne. Außerdem verhielt sich Reinhard kameradschaftlich, das gemeinsame Zimmer genügte ihm durchaus als Unterpfand ihrer Zusammengehörigkeit, die durch seine wortkarge Art sogar noch gefestigt wurde.

Dann kam er doch eines Abends aufgebracht mit einer Nachricht ins Zimmer. Die Russen seien in die CSSR einmarschiert, hätte er gerade »in der Stadt« gehört. H. glaubte zuerst, »in den Iran«, weil der andere so aufgeregt war. Später dachte er, dass dieser einfach eine andere Gesellschaft wollte, in der, was immer er in Deutschland angestellt hatte, vergessen wäre und sich ihm ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Jedenfalls empörte es ihn, dass ein neues, freiheitsliebendes System durch ein altes, übermächtiges niedergeschlagen worden war.

Sie beschlossen, zur Sowjet-Botschaft zu ziehen, um dort gegen die »Invasion«, wie sie es nannten, zu demonstrieren. Am nächsten Morgen fuhren sie tatsächlich zur Botschaft, die von außen wie eine gewöhnliche Büroanlage oder das Verwaltungsgebäude einer Fabrik erschien. Nur am Eingang war eine Vitrine angebracht, in der sozialistische Schriften, darunter auch Werke von Marx und Engels auf Englisch, ausgestellt waren. Wie ärmlich, allen Zaubers beraubt, diese Bände in den schäbigen, verstaubten Glaskästen aussahen! Sie waren auch eher dünn, wirkten gar nicht wie Originale, sondern wie verkürzte oder stark bearbeitete Versionen. Reinhard beachtete sie ohnehin nicht, H. jedoch, der Bücher in Teheran sehr vermisste, fragte einen der Posten danach, der ihn unwirsch zurückwies.

Auf der Straße hatte sich inzwischen ein Häufchen von Demonstranten versammelt, die schüchtern ein paar englische Protestrufe skandierten. Schon nach kürzester Zeit waren Polizisten da und parkten einen Bus neben ihnen, in den sie alle einluden. Der Bus hatte vergitterte Fenster und sah für H. ziemlich bedrohlich aus. Reinhard hingegen ließ sich davon nicht schrecken, er lächelte sogar und warf dem anderen aufmunternde Blicke zu. Glücklicherweise fuhr der Bus nur bis zur nächsten Polizeistation, man wollte die Pässe der beiden sehen und ließ sie dann frei.

Nach dieser Erfahrung fühlten sie sich wieder stärker miteinander verbunden, und Reinhard versuchte mehrmals, ihn zum Mitkommen nach Kuwait zu bewegen. Die Vorstellung, auf Hochbauten zu arbeiten, war für H. jedoch nicht geheuer, und auch für Reinhard schien diese Aussicht, jetzt da er so kurz vor seinem Ziel war, immer weniger verlockend zu sein. Vielleicht hatte er sich schon an Teheran gewöhnt, oder die brodelnde, lebendige Stadt gefiel ihm, entsprach seinem inneren Wesen. Zwei oder drei Mal traf ihn H. zufällig während des Tages auf einem der großen Plätze, und er erschien ihm dann wie ein Fremder oder wie ein Einheimischer. Anscheinend arbeitete er in der Stadt bereits als Schlepper.

H. allerdings wollte tiefer in den alten Orient hinein, und dies »eng entlang der Straße«, also per Autostopp, wie es die Hippies vorgemacht hatten. Da er aber nicht wusste, wie er in Teheran an eine Ausfallstraße gelangen konnte, beschloss er, einen Bus nach Ghom zu nehmen und von dort weiter ins sagenhafte Isfahan zu trampen.

In Ghom postierte er sich an einer Ecke, an der die Laster vorbeibrausten, und reckte erwartungsvoll den Daumen hoch. Leider hielt niemand an, nur die Busfahrer verlangsamten und fuhren, als er abwinkte, leicht befremdet oder enttäuscht auf ihren hohen Thronen weiter. Sein Entschluss, von jetzt an nur noch auf gänzlich mittellose Weise vorwärtszukommen, stand aber unverbrüchlich fest, Widrigkeiten konnten ihm deshalb nichts anhaben, bestärkten ihn eher noch in seinem Tun. Vielleicht wirkte sich auch die Atmosphäre der Pilgerstadt auf ihn aus, der Glanz der weithin sichtbaren goldenen Kuppel des Heiligtums vor allem, der die Vorgänge auf der Straße geringfügig erscheinen ließ (oder der Straße wieder eine symbolische Bedeutung verlieh). Wahrscheinlich war es ihm nach einiger Zeit sogar gleichgültig, ob er mitgenommen würde, ihm gefiel die innere Ruhe, die er an diesem Ort gefunden hatte, das Standbild inmitten des Verkehrslärms, das er geworden war …

So verharrte er Stunde um Stunde und wurde für seine Umgebung allmählich unerklärlich. Die Besucher eines Cafés hinter ihm rückten bereits ihre Stühle in seine Richtung … Dann geschah plötzlich doch etwas: Einer der Gassenjungen, die sich in der Gegend herumtrieben, rannte eng an H. vorbei und nahm im Laufen dessen Tasche mit. Es war aber nur ein Signal, denn schon nach ein paar Metern blieb der Räuber stehen und schwenkte gutmütig lächelnd seine Beute, ein Zeichen für die anderen, herbeizuströmen und H. mit »Hello« und »What’s your name« einzuigeln. Als sie ihn richtig in ihrer Mitte hatten, setzte sich der ganze Tross in Bewegung, wie um ihn gewaltsam aus seiner Starre zu reißen, und trabte, vom »Taschenbewahrer« angeführt, leichtfüßig in die Stadt hinein.

Sie kamen an den Ständen der Keramikhändler mit Wasserpfeifen und Tontöpfen vorbei, und seine Begleiter führten sofort hinter dem Rücken der Krämer ein Schattentheater auf, nahmen imaginäre Züge aus riesigen Wasserpfeifen, worauf sie in ein fantastisches Delirium gerieten oder gleich in Ohnmacht fielen. Sobald sich der Händler umdrehte, verwandelten sie sich wieder in brave Wachsfiguren, Darstellungen der Ernsthaftigkeit geradezu.

H. wollte eine der Wasserpfeifen kaufen, um seinem Aufenthalt in Ghom wenigstens einen gewissen Sinn zu geben (und später mit dieser Pfeife wirkungsvoll Stoff zu rauchen), und schon fingen seine Freunde wie Geister im Hintergrund an mitzubieten, machten Zahlzeichen mit den Händen, gaben Gesichtsausdrücke vor, verdrehten die Augen etc. Er erstand das Gerät schließlich zu einem erdenklich niedrigen Preis, und der Taschenhüter nahm es gleich für ihn in Empfang, riss die Tasche auf, verstaute es wie eine Trophäe oder einen Triumph darin und lief mit dem ausgebeulten Gepäckstück davon.

Ihr Spott, der sich ständig fortsetzte, war, so kam es H. vor, viel aufreizender und kunstvoller als im Westen, eigentlich eine hohe Artistik, wie von einem Meister der Komödie erdacht. Vielleicht hatte es auch etwas mit der Eigenart der Stadt zu tun, die immer wieder Ehrerbietung einforderte, mit bedeutungsvollen Schildern, grimmigen Tempelwächtern und feierlich in ihren Kaftanen einherschreitenden Männern. Es war eine Anti-Kunst, wie H. dachte, aber vermutlich auch ihre Art, sich augenzwinkernd mit ihm zu verständigen, ihm ihre Überlegenheit über die Erwachsenen vorzuführen und sich mit seiner »Mission«, die sie ungefähr verstanden, einig zu zeigen.

Ob eine persische Freundschaft gefühlvoller ist, fragte er sich später. Oder war sie so intensiv, weil ihre knappe Dauer schon von vornherein feststand? Als es Abend wurde, zerstreute sich die Gruppe wie von selbst oder wie bei einem Naturvorgang, alle schienen zu eigenen Abenteuern aufzubrechen, und nur ein Jugendlicher blieb zurück, der etwas älter als die anderen war und jetzt H.s Tasche in der Hand hielt. Er hieß Said und sah H. auffallend ähnlich, hatte die gleiche Größe und sogar die gleiche Haarfarbe, wahrscheinlich war er selbst über die Verwandtschaft verwundert und versuchte, sie näher zu ergründen.

Jedenfalls lud er H. zu sich ein, und sie liefen gemeinsam zu den Vorstädten hinaus. Dieses längere Zusammen-Wandern war für H. bewegend, weil es so unerwartet an diesem Tag kam, aber auch weil nebenbei die östliche Nacht hereinbrach, die sich beruhigend auf die Stadt auswirkte und statt der grellen Tagesansicht eine plötzliche Harmonie aus Lichtern und sich im Dunkel verlierenden Farbflecken erzeugte. Auch den kristallenen Hauch der Salzwüste draußen, von der Said sprach, meinte man schon zu spüren.

Das Haus, an dem sie ankamen, war ein Neubau, ein einsamer, weiß schimmernder Kubus, und es passte dazu, dass man das Abendessen darin eher schweigsam einnahm. Die Eltern und Geschwister mischten sich nicht ein in das Geschehen, aber zeigten doch, wie H. dachte, ihre Zuneigung zu Said und damit auch zu dem Gast, den er mitgebracht hatte.

Nach dem Essen stiegen die beiden über eine Außentreppe in Saids kleines Zimmer hinauf, das ein Reservat aus Büchern und aus Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern war. Er hatte auch ein paar Platten, Beatles-Singles vor allem, die er in einen winzigen Plattenspieler, offensichtlich ein magisches Gerät, hineinschob. Die einzelnen Titel waren dadurch noch viel wichtiger wie bei einer Musikbox. Außerdem waren es Werke der Frühzeit, stärker als spätere, »A Hard Day’s Night« zum Beispiel, das diesen Tag gut zusammenfasste, und »She Loves You«, das man anderswo kaum mehr spielte. An bestimmten Stellen drehte Said lauter, sodass man den aufbrandenden Jubel der Fans zu hören glaubte oder die emotionale Wucht dieser Stücke besser »herüberkam«. Dieses Aufdrehen war aber auch eine Art Sprech-Ersatz, ein Mitteilen von Träumen (überhaupt war sein ganzes Englisch eine eigene, neuartige Sprache, die hauptsächlich aus Songtiteln oder Bruchstücken von Songs zu bestehen schien).

Schließlich meinte Said, wahrscheinlich beeinflusst durch die Musik, dass sie auf dem Dach schlafen sollten, und so zogen sie mit ihren Decken hinauf. Über ihnen funkelten die Sterne, und in einiger Entfernung sah man die Kuppeln im Zentrum und die Minarette, die sie wie kunstvolle Ornamente umgaben. Wirklich hatte man jetzt den Eindruck, ungefähr auf der gleichen Höhe wie die Spitzen der Gebäude zu liegen und dass sie nur durch einen kurzen Flug, bereits angedeutet durch die Nachtbrise, leicht zu erreichen wären.

Sicher war das »Auf-dem-Dach-Schlafen« auch ein Freundschaftsbeweis und ein Versprechen, und am nächsten Morgen tauschten sie hoffnungsvoll ihre Adressen aus. Dann brachte Said ihn zum Bus, denn er meinte, hier sei es nicht üblich, dass Lastwagenfahrer jemanden mitnähmen (es klang so, als ob es zumindest für die Bewohner von Ghom auch anrüchig sei). H. stieg ein, und Said, der so ähnlich aussah, blieb in der Stadt zurück, fast an der gleichen Stelle, an der H. so lange gestanden hatte.

Gleich hinter Ghom begann wieder die eintönige Wüstenlandschaft, scheinbar leer und grenzenlos, aufgelockert höchstens durch den Schatten einer verlorenen Morgenwolke, die darüberzog, oder ein liegen gebliebenes Autowrack. Der blaue Stein an dem Armreif aber, den er angelegt hatte, schien in dieser Ödnis noch weit kräftiger als sonst zu leuchten. Auch fühlte er sich durch den Reif weniger einsam. Es war ein sehr weibliches Stück und stellte, vor allem, wenn man es länger betrachtete, eine direkte Verbindung zu der geliebten Person in Täbris, ihrer Art, ihrem Benehmen, ihrer ganzen Anmut her.

Der Sitznachbar im Bus besah den Schmuck allerdings, wie H. bemerken konnte, eher missbilligend. Schließlich stellte sich der andere – in fließendem amerikanischen Englisch – H. vor. Er sei Boxer, habe einige Zeit in den Staaten verbracht und kehre jetzt zurück nach Isfahan. Auch seine Sätze kamen wie kurze, überraschende Hiebe. Äußerlich war er ungefähr das Gegenbild zu Said: ein stämmiger, ja bulliger Typ, glatt rasiert und mit Stoppelfrisur.

Aber man sollte sich durch das Aussehen nicht täuschen lassen. Eigentlich nahm er H. wegen des »weiblichen Stücks« bereits in seinen Schutz, wandte, um sich blickend, nach außen hin Verteidigungs- oder Deckungsstrategien für ihn an. Vielleicht suchte er auch selbst einen Begleiter auf dieser Fahrt, zu zweit schien die Rückkehr leichter, kein Drama mehr zu sein. Sein Vater sei ein Fürst oder Scheich gewesen, sagte er, aber jetzt sei die Familie verarmt, die Mutter lebe allein mit den jüngeren Geschwistern in Isfahan, viele Erwartungen würden auf ihm ruhen … Er blickte hinaus auf die kahle Landschaft, die ihm keine Antwort gab, dann fing er sich wieder. Übrigens seien Boxen und Ringkampf auch im Iran althergebrachte Sportarten … Darauf erzählte er ausführlich von seinen Eindrücken in Amerika.