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Ein Klassiker der Weltliteratur ›Lord Jim‹ ist neben der Erzählung ›Herz der Finsternis‹ das wohl bekannteste Werk Joseph Conrads. Das Meer und die Menschen, die es bereisen, sind das große Thema dieses Klassikers. Lord Jim trifft als Offizier an Bord der »Patna« eine fatale Entscheidung. Er muss fliehen, vor sich selbst und den Demütigungen der anderen. Erst auf einer einsamen Insel gelingt es ihm, über sich selbst hinauszuwachsen. Ein ungeheurer, genialer Roman, der auch über ein Jahrhundert nach seinem Entstehen fasziniert. Auf neue Weise konfrontiert die Übersetzung von Manfred Allié die Leserinnen und Leser mit Joseph Conrads erschütternder Modernität - der Leidenschaft, der poetischen Kraft und psychologischen Tiefe seines Werks.
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Seitenzahl: 657
Joseph Conrad
Lord Jim
Roman
Aus dem Englischen von Manfred Allié
FISCHER E-Books
»Es ist gewiss, dass eine Meinung sehr viel gewinnt, sobald ich weiß, dass irgend jemand davon überzeugt ist.«
– Novalis
Für Mr. und Mrs. G.F.W. Hope in dankbarer Zuneigung nach vielen Jahren der Freundschaft
Als dieser Roman zum ersten Mal in Buchform erschien, fanden manche, mit mir seien die Pferde durchgegangen. Die Kritiker schrieben, der Verfasser habe die Gewalt über eine Arbeit verloren, die als Kurzgeschichte gedacht gewesen sei. Einige glaubten sogar Beweise dafür im Text zu finden und hatten offenbar ihre Freude daran. Sie führten die Grenzen der Erzählform an. Kein Mensch, sagten sie, könne so lange reden und kein anderer so lange zuhören. Es sei schlichtweg unglaubwürdig.
Ich habe nun an die sechzehn Jahre darüber nachgedacht, und ich bin noch immer nicht überzeugt. Es ist keine Seltenheit, dass Männer – nicht nur in den Tropen, sondern auch in gemäßigteren Zonen – die halbe Nacht beisammensitzen und »Seemannsgarn spinnen«. Zugegeben, hier handelt es sich nur um einen einzigen Faden, doch es gibt Pausen, die ein gewisses Maß an Erholung bieten; und was die Ausdauer der Zuhörer angeht, so wollen wir annehmen, dass die Geschichte sie interessierte. Das ist die eine notwendige Voraussetzung. Wenn ich diese Erzählung nicht interessant gefunden hätte, hätte ich sie niemals schreiben können. Was nun die rein körperlichen Möglichkeiten angeht: Wir haben alle schon von Parlamentsreden gehört, die eher sechs als drei Stunden dauerten; und alles, was in dem Buch tatsächlich von Marlow gesprochen wird, lässt sich, würde ich sagen, in weniger als drei Stunden laut vorlesen. Außerdem dürfen wir – auch wenn ich all solche Nebensächlichkeiten mit Absicht aus meiner Geschichte verbannt habe – davon ausgehen, dass es in jener Nacht Erfrischungen gab, ein Glas Mineralwasser vielleicht, das den Erzähler erquickte.
Aber es war tatsächlich so, dass ich anfangs nur eine Kurzgeschichte im Sinn hatte, die allein von der Episode mit dem Pilgerschiff handeln sollte; nichts weiter als das. Und das brauche ich nicht zu rechtfertigen. Nachdem ich ein paar Seiten geschrieben hatte, war ich jedoch, aus welchem Grund auch immer, unzufrieden und legte sie zunächst beiseite. Ich holte sie erst wieder aus der Schublade, als Mr. William Blackwood seligen Angedenkens mich fragte, ob ich nicht wieder einmal etwas für sein Magazin schreiben wolle.
Erst da überlegte ich mir, dass die Pilgerschiff-Episode ein guter Ausgangspunkt für eine freie und weit ausholende Erzählung sein konnte und dass dieses Ereignis durchaus das Zeug dazu hatte, das gesamte »Lebensgefühl« eines einfachen und empfindsamen Menschen zu bestimmen. Doch all diese Vorstellungen und ersten Regungen des Geistes waren damals noch sehr schemenhaft, und selbst jetzt, nach so vielen Jahren, kommen sie mir nicht klarer vor.
Die wenigen Seiten, die ich beiseitegelegt hatte, waren nicht ohne Einfluss auf die Wahl des Themas. Doch das Ganze bekam nun ein anderes Gewicht. Als ich mich daransetzte, wusste ich, dass es ein langes Buch würde, auch wenn ich nicht voraussah, dass es sich am Ende über dreizehn Nummern des »Maga« erstrecken sollte.
Man hat mich bisweilen gefragt, ob mir dies nicht das Liebste unter meinen Büchern sei. Ich bin ein großer Gegner jeder Art von Günstlingswirtschaft, im öffentlichen Leben, im privaten oder sogar in der heiklen Beziehung eines Schriftstellers zu seinen Werken. Ich habe aus Prinzip keine Favoriten; allerdings geht diese Einstellung nicht so weit, dass es mich quält oder ärgert, wenn jemand meinem Lord Jim den Vorzug gibt. Ich sage nicht einmal, dass ich »nicht verstehen kann, wie …« Nein! Einmal allerdings war ich verblüfft.
Ein Freund, eben aus Italien zurückgekehrt, erzählte mir, er habe dort mit einer Dame gesprochen, der das Buch nicht gefallen habe. Ich bedauerte dies natürlich, doch was mich überraschte, war der Grund für ihre Abneigung. »Wissen Sie«, hatte sie gesagt, »das ist alles so morbid.«
Eine ganze Stunde lang dachte ich beklommen über dieses Urteil nach. Schließlich kam ich – wobei ich zugestand, dass das Thema des Buches der alltäglichen Gefühlswelt einer Frau recht fremd sein musste – zu dem Schluss, dass die Dame keine Italienerin gewesen sein konnte. Ich frage mich, ob sie überhaupt Europäerin war. Jedenfalls hätte kein südländisches Temperament an dem quälenden Bewusstsein verlorener Ehre etwas Morbides finden können. Ein solches Bewusstsein mag gut sein oder auch nicht, man mag es als unnatürlich verurteilen; und vielleicht gibt es auf der Welt nicht viele wie meinen Jim. Aber ich kann meinen Lesern guten Gewissens versichern, dass er nicht das Produkt eines kalten oder kranken Verstandes ist. Er ist auch keine Gestalt aus den nordischen Nebeln. Eines schönen Morgens in der ganz alltäglichen Umgebung einer ostindischen Reede sah ich ihn vorübergehen – sympathisch – würdig – ernst – schweigend. Nicht mehr als das. Nun war es an mir, soweit meine Gabe der Einfühlung reichte, Worte zu finden für das, wofür er stand. Er war »einer von uns«.
J.C.
Juni 1917
Er war knapp sechs Fuß groß, einen Zoll, vielleicht zwei weniger, ein kräftiger Mann, der immer geradewegs auf einen zukam, die Schultern leicht gebeugt, den Kopf vorgestreckt, mit einem Blick starr von unten herauf, was ihm etwas von einem wütenden Stier gab. Seine Stimme war tief und laut, und seine ganze Art hatte etwas Hartnäckiges, Beharrliches, dabei allerdings nie Grausames. Es war wohl seine Natur, denn mit sich selbst ging er offenbar nicht weniger streng als mit jedem anderen um. Er war stets makellos gekleidet, in reinstem Weiß vom Scheitel bis zur Sohle, und in jedem der ostindischen Häfen, in denen er sich sein Auskommen als Agent für Schiffsausrüster verdiente, war er sehr beliebt.
Ein Hafenagent muss keine Prüfung auf Erden bestehen, aber er braucht einen gewitzten Verstand und muss ihn auch beweisen können. Seine Arbeit besteht darin, dass er unter Segel, Dampf oder im Ruderboot schneller als alle anderen einem einlaufenden Schiff entgegenfährt, dort forsch den Kapitän begrüßt, ihm eine Karte – die Visitenkarte des Schiffsausrüsters – in die Hand drückt und ihn bei seinem ersten Landgang zielsicher, doch ohne ihn zu drängen, zu einem großen Laden führt, einem Laden wie eine Höhle, vollgestopft mit all den Dingen, die man an Bord eine Schiffes isst und trinkt, mit allem, was ein Schiff seetüchtig oder schön macht, vom Haken für das Ankertau bis hin zum Blattgold für die Schnitzereien am Heck, einem Laden, in dem der Kommandant von einem Händler, den er nie zuvor gesehen hat, begrüßt wird wie ein Bruder. Dort findet er einen kühlen Salon, behagliche Sessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, ein Exemplar der Hafensatzung, und er wird mit einer Wärme willkommen geheißen, die das Salz von drei Monaten Überfahrt im Herzen eines Seemanns dahinschmelzen lässt. Die Verbindung, die damit geknüpft ist, bleibt bestehen, solange das Schiff im Hafen liegt, gefestigt durch die täglichen Besuche des Agenten. Dem Käpt’n ist er treu ergeben, gehorcht ihm wie ein Sohn, er hat die Geduld eines Hiob, die selbstlose Treue einer Frau und die gute Laune eines Zechkumpanen. Später wird dann die Rechnung geschickt. Es ist ein schöner und menschenfreundlicher Beruf. Deshalb sind gute Hafenagenten selten. Ist ein Agent, der über einen gewitzten Verstand verfügt, zudem auch noch als Seemann groß geworden, so ist er für seinen Dienstherrn Gold wert, und dieser wird gern ein wenig Nachsicht mit ihm haben. Jim hatte stets seinen guten Lohn und dazu so viel Nachsicht, dass man die Treue eines Teufels damit hätte kaufen können. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass er in tiefster Undankbarkeit seine Arbeit plötzlich hinwarf und sich davonmachte. Die Begründungen, die er gab, schienen seinen Dienstherren natürlich an den Haaren herbeigezogen. »Elender Dummkopf!«, brummten sie, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte. Das war ihre Antwort auf seine außerordentliche Empfindlichkeit.
Für die Weißen, die im Hafen zu tun hatten, und die Schiffskapitäne war er Jim – einfach nur Jim. Er hatte natürlich auch einen Nachnamen, doch er achtete streng darauf, dass niemand ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, war nicht dazu bestimmt, eine Person zu verbergen, sondern es verbarg ein Faktum. Wenn das Inkognito gelüftet und das Faktum bekannt wurde, verließ er unverzüglich den Hafen, in dem er sich eben befand, und zog an einen neuen Ort – meist weiter im Osten. Er blieb in den Hafenstädten, denn er war ein Seemann, verbannt von der See, und er hatte einen gewitzten Verstand, was für keine andere Arbeit taugt als für die eines Hafenagenten. Er trat seinen geordneten Rückzug in Richtung der aufgehenden Sonne an, und das Faktum folgte ihm nach; es ließ sich Zeit, doch es blieb ihm stets auf der Spur. So hatte man ihn im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia gesehen – und an jedem dieser Halteplätze war er einfach nur Jim, der Akquisiteur. Später, als das Unerträgliche, das ihn so tief in seinem Herzen quälte, ihn für immer aus den Hafenstädten und der Welt der Weißen vertrieb, bis tief in den Dschungel hinein, fügten die Malaien des Urwalddorfes, wo er sein Elend nun versteckte, der einen Silbe seines Inkognitos noch ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim: was so viel heißt wie – Lord Jim.
Ursprünglich stammte er aus einem Pfarrhaus. Viele Kommandanten prächtiger Handelsschiffe kommen von solch einem Hort der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater sprach mit so großer Gewissheit vom Ungewissen, dass die Bewohner der Hütten ihren Trost darin fanden, ohne dass der Seelenfrieden jener gestört wurde, welche die Weisheit der Vorsehung zu Palastbewohnern gemacht hatte. Die kleine Kirche auf dem Hügel war grau und moosbewachsen wie ein Fels, den man durch das Blattwerk eines Busches erspäht. Sie stand schon seit Jahrhunderten dort, doch die Bäume, die sie umgaben, erinnerten sich wohl noch daran, wie der Grundstein gelegt worden war. Unterhalb leuchtete, inmitten von Rasenflächen, von Blumenbeeten und Tannenbäumen, das warme Rot des Pfarrhauses mit einem Obstgarten dahinter, einem Stall mit gepflastertem Hof zur Linken, den schrägen Glasdächern der Gewächshäuser, die sich längs der Backsteinmauer hinzogen. Die Pfarre war schon seit Generationen im Besitz der Familie; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als er nach einschlägiger Ferienlektüre seine Leidenschaft für die See entdeckte, schickte man ihn sogleich auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine«.
Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und das Balancieren auf der Oberbramrahe. Alle mochten ihn. Er wurde Drittbester in Navigation und Schlagmann im ersten Beiboot. Da er kein Schwindelgefühl kannte und bei ausgezeichneter Konstitution war, bewegte er sich sehr behende in den Masten. Oft blickte er von seinem Platz hoch oben an der Spitze des Fockmasts hinab auf die friedliche Schar der Dächer, die Versammlung zweigeteilt von den braunen Fluten des Stroms, mit dem Hochmut eines Mannes, dem es bestimmt ist, sich in Gefahr zu bewähren, hinaus in die Weite der Ebene mit ihren Fabrikschornsteinen, wie sie bleistiftschlank in den rußigen Himmel ragten und Rauch ausspieen wie der Schlot eines Vulkans. Er sah von oben zu, wenn die großen Schiffe ablegten, sah das Hin und Her der dickbauchigen Fähren, sah die winzigen Boote tief unten zu seinen Füßen, den Dunstglanz der See in der Ferne und betrachtete all das mit der Hoffnung auf ein aufregendes Leben in einer Welt voller Abenteuer.
Selbstvergessen saß er im Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, und lebte in Gedanken bereits das Seemannsleben seiner Romane. Er sah sich, wie er Menschen von sinkenden Schiffen rettete, wie er im Hurrikan die Masten kappte, mit einem Tau durch die Brandung schwamm; oder er sah sich als einsamen Schiffbrüchigen, barfüßig und halbnackt, bei Ebbe über die Felsenriffe steigen auf der Suche nach Meeresgetier, das ihn noch einmal vor dem Hungertod bewahren würde. Er trotzte den Wilden an tropischen Gestaden, schlug Meutereien nieder auf hoher See; im Rettungsboot auf den Wellen des Ozeans sprach er den verzweifelten Männern Mut zu – stets war er ein Muster an Pflichterfüllung, ein furchtloser Held, wie er im Buche steht.
»Da ist was los. Komm mit.«
Er sprang auf. Die Jungen stürmten die Leitern hinauf. Von oben hörte er Füßetrappeln, aufgeregte Rufe, und als er an Deck kam, stand er da wie gebannt.
Die Abenddämmerung eines Wintertags. Seit Mittag hatte der Wind aufgefrischt, die Flussschiffe hatten Schutz gesucht, und nun stürmte es schon mit der Stärke eines Orkans, kurze, ungleichmäßige Stöße, die wie Kanonendonner über das Meer dröhnten. Der Regen kam in dichten Schwällen, bald hierhin, bald dorthin, und dazwischen sah Jim mit Schrecken die einlaufende Flut, blickte auf die kleinen Boote, die am Ufer hüpften und tanzten, auf die Häuser, die sich in die wirbelnde Gischt duckten, die großen Fährschiffe, die an ihren Ankerketten zerrten, die schweren Landungsbrücken, die sich hoben und senkten wie atmende, lebendige Wesen im Ansturm der See. Der nächste Windstoß kam und schien alles davonzublasen. Die Luft war erfüllt von Wasser. Der Sturm hatte etwas Zielstrebiges, Entschlossenes, etwas Furioses und Elementares in seinem Heulen, in dem unerbittlichen Ringen von Erde und Himmel, etwas, das Jim persönlich zu gelten schien, und ehrfürchtig hielt er den Atem an. Er stand still. Doch es war, als blase der Sturm ihn vor sich her.
Jemand stieß ihn an. »Los, ab ins Beiboot!« Jungen stürmten an ihm vorbei. Ein Küstenfahrer, der am Ufer Zuflucht suchen wollte, hatte einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf dem Schiff war Zeuge des Unfalls gewesen. Jungs kletterten auf die Reling, drängten sich um die Kräne. »Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat es gesehen.« Ein weiterer Stoß warf ihn gegen den Besanmast. Er klammerte sich an ein Tau. Das alte Schulschiff bebte, fest an seinem Ankerplatz; sacht neigte es sich mit der Nase in den Wind, und das wenige, was es an Takelage hatte, brummte in tiefem Bass das ewige Lied von seiner Jugend auf See. »Zu Wasser!« Er sah, wie das bemannte Boot rasch unter der Reling verschwand, und wollte ihm nach. Ein Platschen kam herauf. »Aushaken!« Er beugte sich vor. Längs der Schiffswand strömte und schäumte der Fluss. Man sah das Boot im zunehmenden Dunkel, sah, wie Flut und Wind von ihm Besitz ergriffen, es einen Moment lang neben dem Schiff festhielten. »Schlag halten, ihr Rotzlöffel, wenn ihr jemanden retten wollt!«, hörte man durch das Getöse eine Stimme im Boot brüllen. »Haltet den Schlag!« Und plötzlich hob das Beiboot den Bug in die Höhe, setzte, Riemen hoch, über eine Welle und brach so den Bann von Wind und Flut.
Jim spürte eine kräftige Hand auf seiner Schulter. »Zu spät, junger Mann.« Der Kapitän des Schiffes hielt den Jungen zurück, der im Begriff gewesen war, über Bord und dem Boot nachzuspringen, und Jim blickte auf. Das Bewusstsein seines Versagens stand ihm im Gesicht geschrieben. Der Kapitän lächelte nachsichtig. »Nächstes Mal wird’s schon klappen. Jetzt weißt du, dass man auf Zack sein muss.«
Jubelschreie begrüßten das Boot. Es kehrte tanzend über die Wellen zurück, halb vollgelaufen mit Wasser, an Bord zwei erschöpfte Seeleute, die auf den Planken hin- und hergespült wurden. Das Tosen und die Gefahren von Wind und Wellen kamen Jim mit einem Male lächerlich vor, und die Scham darüber, dass er vor ihnen zurückgeschreckt war, wurde umso schlimmer dadurch. Jetzt wusste er, was er davon zu halten hatte. Nun konnte ihm der Sturm nichts mehr anhaben. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Und er würde es tun – besser als jeder andere. Kein Fitzelchen Furcht spürte er mehr. Trotzdem saß er am Abend mürrisch abseits, als der Bugmann des Beiboots – ein Junge mit einem Gesicht wie ein Mädchen und großen grauen Augen – als Held des Unterdecks gefeiert wurde. Eifrige Frager umdrängten ihn. »Nur der Kopf schaute heraus, und da habe ich meinen Bootshaken ins Wasser gestoßen«, berichtete er. »Er blieb in seiner Hose hängen, und beinah wäre ich über Bord gegangen – wäre ich sogar ganz bestimmt, aber der alte Symons ließ die Ruderpinne los und packte mich an den Beinen – hätte nicht viel gefehlt, und das Boot wäre gekentert. Der alte Symons, das ist ein toller Bursche. Auch wenn er ein bisschen grob zu uns ist. Die ganze Zeit, die er mich da am Bein hielt, hat er mich angeschnauzt, aber das war eben seine Art zu sagen, dass ich den Bootshaken nicht loslassen soll. Der alte Symons, den bringt alles in Wut – stimmt, oder? Nein, nicht der kleine Blonde – der Lange mit dem Bart. Als wir ihn ins Boot zogen, stöhnte er ›Mein Bein, mein Bein!‹ und verdrehte die Augen. Stellt euch das vor, so ein großer Kerl, und fällt in Ohnmacht wie ein Mädel. Würde einer von euch etwa zusammenklappen, nur weil er einen Kratzer mit dem Bootshaken abbekommen hat? Na, ich bestimmt nicht. So tief war er ihm ins Bein gedrungen.« Er hielt den Bootshaken hoch, den er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und alle bestaunten ihn ehrfürchtig. »Nein, Dummkopf. Natürlich hing er nicht mit seinem Fleisch dran – er hing mit der Hose. Aber es hat ganz schön geblutet.«
Jim fand diese Prahlerei erbärmlich. Der Sturm hatte Heldentaten hervorgebracht, die genauso hohl waren wie seine leeren Drohungen. Er war wütend auf das dumpfe Tosen der Elemente, weil es ihn überrumpelt hatte, ihn mit einem unfairen Trick daran gehindert hatte, seinen Mut unter Beweis zu stellen. Ansonsten war er froh, dass er nicht mit im Beiboot gesessen hatte, denn die Rettung war kein großes Kunststück gewesen. Er hatte mehr an Erkenntnis gewonnen als die anderen, die die Arbeit getan hatten. Wenn alle zurückschraken, dann würde er – dessen war er sich nun sicher –, er allein wissen, wie man mit der heimtückischen Bedrohung von Wind und Wellen umging. Er wusste jetzt, was er davon zu halten hatte. Ein vernünftiger Mensch konnte die Elemente nur verachten. Er spürte keinerlei Erregung mehr, und was am Ende von dem großen Spektakel übrig blieb, war, dass er nun unbeachtet abseits der lärmenden Gesellschaft der Jungen saß und klarer denn je seine Berufung zum Abenteuer spürte, die Gewissheit seines Muts in seiner ganzen Größe.
Nach zwei Jahren Ausbildung ging er auf See und fand das Leben, das er in seiner Phantasie schon so gut kannte, erstaunlich arm an Abenteuern. Er machte zahlreiche Fahrten. Er lernte die magische Monotonie des Alltags zwischen Himmel und Meer kennen: er musste die Launen der Männer und die Launen der See ertragen und die unerbittliche Eintönigkeit der täglichen Aufgaben, mit denen man sich sein Brot verdient – deren einziger Lohn jedoch die vollkommene Liebe zur Arbeit ist. Dieser Lohn blieb ihm versagt. Aber er konnte auch nicht zurück, denn nichts ist verlockender, nichts ernüchternder, nichts nimmt einen Mann mehr in Besitz als das Leben auf See. Und seine Aussichten waren gut. Er war gesittet, zuverlässig, fügsam, er kannte seine Pflichten genau; und es dauerte nicht lange, bis er, noch in jungen Jahren, Erster Offizier auf einem schmucken Schiff wurde, ohne dass die Ereignisse auf See ihn je auf jene Probe gestellt hatten, die den inneren Wert eines Menschen im Licht des Tages zeigt, die Grenzen seines Gleichmuts, den Stoff, aus dem er gemacht ist; in der das Wesen seines Charakters, die Wahrheit hinter dem äußeren Bild nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst offenbar wird.
Nur ein einziges Mal hatte er in all dieser Zeit noch eine Ahnung davon bekommen, wie gnadenlos die See in ihrem Zorn sein kann. Diese Wahrheit zeigt sich nicht so häufig, wie man vielleicht meint. Es gibt vielerlei Schattierungen in der Gefährlichkeit der Abenteuer und der Stürme, und nur dann und wann erkennt man schon im äußeren Anschein die böse, gewaltsame Absicht – jenes unbestimmbare Etwas, das dem Hirn und dem Herzen eines Menschen zu verstehen gibt, dass diese Verquickung von Zufällen oder dieses Toben der Elemente in arglistiger Absicht geschieht, mit einer Wucht, die er nicht dämmen kann, mit einer ungezügelten Grausamkeit, die ihm die Hoffnung und die Furcht aus der Seele reißen will, die Qual der Erschöpfung, die Sehnsucht nach Ruhe: die alles, was er je gesehen, gekannt, geliebt oder gehasst hat, zerschmettern, zerstören, vernichten will; alles was gut und notwendig ist – die Sonne, die Erinnerungen, die Zukunft –, alles Wertvolle der Welt seinem Angesicht entreißen, indem sie ihm, so gründlich wie grausam, schlichtweg das Leben nimmt.
Am Anfang einer Woche, von der sein schottischer Kapitän später zu sagen pflegte »Mann! Ist mir bis heute ein Rätsel, wie wir das überstanden haben!«, war Jim durch eine herabfallende Spiere verletzt und aufs Krankenlager geworfen worden und verbrachte viele Tage ausgestreckt auf dem Rücken, benommen, zerschlagen, hoffnungslos, gequält, als läge er auf dem tiefsten Grund eines Höllenpfuhls der Ungeduld. Es scherte ihn nicht, was aus ihm wurde, und in seinen klaren Momenten schätzte er diese Gleichgültigkeit zu hoch ein. Wenn man eine Gefahr nicht erkennt, bleibt sie schemenhaft und unbestimmt wie die menschlichen Gedanken. Furcht wird zum Schatten; und die Phantasie, der Feind des Menschen, der Quell aller Schrecken, versinkt, wenn sie nicht herausgefordert wird, träge in einem Sumpf kraftloser Empfindungen. Jim sah nichts außer der Unordnung seiner schwankenden Kajüte. Er lag dort wie festgenagelt, während es draußen drunter und drüber ging, und war insgeheim froh, dass er nicht auf Deck musste. Doch immer wieder wurde unvermittelt sein ganzer Körper von einem Anfall von Panik gepackt, so dass er sich unter seiner Decke wand und nach Atem rang, und die dumpfe Grausamkeit eines Lebens, das dem Schmerz solcher Stimmungen ausgesetzt ist, erfüllte ihn mit einem verzweifelten Wunsch zu entkommen, koste es was es wolle. Dann verzogen sich die Wolken wieder, und er dachte nicht mehr daran.
Aber sein Zustand besserte sich nicht, und als das Schiff in einem Hafen des Ostens anlangte, kam er ins Krankenhaus. Die Genesung brauchte ihre Zeit, und so ließ man ihn dort zurück.
Es gab außer ihm nur zwei weitere Patienten auf der Station für die Weißen: den Zahlmeister eines Kanonenboots, der sich beim Sturz durch eine Luke das Bein gebrochen hatte, und eine Art Eisenbahnunternehmer aus einer benachbarten Provinz, der an einer geheimnisvollen Tropenkrankheit litt; dieser hielt den Doktor für einen Dummkopf und schlürfte insgeheim eine Wundermedizin, die sein tamilischer Diener in unerschütterlicher Treue hereinschmuggelte. Sie erzählten einander ihre Lebensgeschichte, spielten ein wenig Karten, und manchmal verdösten sie auch, gähnend und im Pyjama, den ganzen Tag in ihren Liegestühlen und sprachen kein einziges Wort. Das Hospital stand auf einem Hügel, und eine sanfte Brise, die durch die stets weitgeöffneten Fenster wehte, erfüllte das kahle Zimmer mit der Milde des Himmels, dem Gleichmut der Erde, dem betörenden Atem der ostindischen See. Es lag ein Duft darin, ein Hauch von unendlicher Ruhe, das Versprechen immerwährender Träume. Tag für Tag blickte Jim über das Dickicht der Gärten, über die Dächer der Stadt, über die Palmwedel am Ufer hinaus auf die Reede, die große Hauptstraße in die Welt des Ostens – die Reede, an der sich kleine, girlandengeschmückte Inseln reihten, beschienen von der feiertäglichen Sonne, Schiffe wie Spielzeuge –, betrachtete das quirlige Leben, das wie ein Festzug war, mit der nie endenden Heiterkeit des östlichen Himmels über sich und dem lächelnden Frieden des östlichen Meers vor sich bis an den fernen Horizont.
Kaum dass er wieder ohne Stock gehen konnte, stieg er hinab in die Stadt, um sich nach einer Gelegenheit für die Heimreise umzusehen. Gerade war nichts verfügbar, und in der Wartezeit ergab es sich ganz von selbst, dass er mit den anderen Männern seines Berufsstands im Hafen ins Gespräch kam. Davon gab es zweierlei Art. Einige, sehr wenige und nicht oft anzutreffen, führten ein geheimnisvolles Leben, Männer, die sich ihre Tatkraft bewahrt hatten, mit dem Temperament von Freibeutern und den Augen von Träumern. Sie lebten, wie es schien, in einem schieren Irrgarten aus Plänen, Hoffnungen, Gefahren, Unternehmungen, jenseits der Zivilisation an den finsteren Orten der See; und ihr Tod schien das einzige Ereignis in ihrem aberwitzigen Leben, auf dessen Eintreffen man sich halbwegs verlassen konnte. Die meisten aber waren Männer wie er, die der Zufall an diesen Ort verschlagen hatte, und sie waren als Offiziere für die Küstenfahrer geblieben. Mittlerweile fürchteten sie sich vor den heimischen Schiffen, wo die Tage härter waren, die Pflichten strenger und die Ozeane stürmisch. Sie hatten sich an den ewigen Frieden des Himmels und der See Ostindiens gewöhnt. Sie wünschten sich kurze Fahrten, mit einem schönen Sonnenstuhl auf Deck und einer vielköpfigen einheimischen Mannschaft, aus der sie als Weiße stets herausragten. Sie erschauderten beim Gedanken an harte Arbeit und lebten ein gefährlich leichtsinniges Leben, immer kurz vor der Entlassung, immer kurz vor einer neuen Stelle, dienten unter Chinesen, Arabern, Mischlingen – hätten dem Teufel selbst gedient, wenn er ihnen eine gute Heuer geboten hätte. Unablässig redeten sie von glücklichen Wendungen: wie Soundso ein Kommando an der chinesischen Küste bekommen hatte – eine feine Sache; wie dieser sich irgendwo in Japan auf die faule Haut gelegt hatte, wie jener es sich in der siamesischen Marine gutgehen ließ; und in allem was sie sagten – ihren Taten, ihren Mienen, ihrem Äußeren –, spürte man den Verfall, die wurmstichige Stelle, die Absicht, sich so bequem wie möglich durchs Leben zu gaunern.
Als Seeleute schienen Jim solche Klatschmäuler zunächst gegenstandslos wie Schatten. Aber nach einer Weile faszinierte ihn der Anblick dieser Männer doch, die so wenig an Gefahr und Arbeit investierten und denen es allem Anschein nach so gut dabei ging. Allmählich kam neben der anfänglichen Verachtung noch ein anderes Gefühl auf; und plötzlich verwarf er die Idee, nach Hause zu fahren, und ließ sich als Erster Offizier auf der Patna anheuern.
Die Patna war ein Dampfer aus der Gegend, alt wie die Welt, schmal wie ein Windhund und schlimmer vom Rost zerfressen als ein ausrangierter Wassertank. Der Eigner war Chinese, verchartert war sie an einen Araber und stand unter dem Befehl eines gewissermaßen fahnenflüchtigen Deutschen aus Neusüdwales, der zwar in der Öffentlichkeit eifrig über sein Heimatland herzog, aber doch anscheinend Bismarcks Triumphe als Ermächtigung nahm, gnadenlos jeden zu drangsalieren, vor dem er sich nicht fürchtete – ein »Blut-und-Eisen«-Mann mit Schnapsnase und rotem Schnurrbart. Das Schiff war außen neu gestrichen, innen neu geweißt und lag nun an einer hölzernen Landungsbrücke unter Dampf bereit für die ungefähr achthundert Pilger, die eben an Bord getrieben wurden.
Sie strömten über drei Laufstege an Deck, sie strömten getrieben vom Glauben und der Hoffnung auf das Paradies, sie strömten mit einem unablässigen Stampfen und Schlurfen nackter Füße, ohne ein Wort, ohne ein Murmeln, ohne einen Blick zurück; und wenn sie die Enge der Stege hinter sich hatten, breiteten sie sich über das ganze Deck aus, fluteten vor zum Bug und achtern zum Heck, drängten sich durch die Luken, von denen sie wie von aufgesperrten Mäulern verschluckt wurden, füllten die Tiefen des Schiffs – wie Wasser eine Zisterne füllt, wie Wasser in jeden Winkel und jede Ritze fließt, wie Wasser lautlos ansteigt bis hinauf zum Rand. Achthundert Männer und Frauen mit all ihrem Glauben und ihren Hoffnungen, ihrer Liebe und ihren Erinnerungen waren dort zusammengekommen, gekommen von Nord und von Süd und den äußersten Ländern Ostindiens, waren über Dschungelpfade gestapft, Flüsse hinuntergefahren, mit ihren Booten über die flachen Küstengewässer gekommen, waren in kleinen Kanus von Insel zu Insel übergesetzt, hatten Leid erlebt, unbekannte Dinge gesehen, ungekannte Ängste gespürt, vorangetrieben durch die eine Sehnsucht. Sie kamen aus einsamen Hütten in der Wildnis, aus volkreichen Siedlungen, aus Dörfern am Meer. Sie hatten einen Ruf vernommen und ihre Dörfer und ihre Lichtungen verlassen, den Schutz, den ihre Herrscher ihnen boten, ihren Wohlstand, ihre Armut, die Heimat ihrer Kindheit und die Gräber der Väter. Sie kamen bedeckt mit Staub, mit Schweiß, mit Schmutz, sie kamen in Lumpen – kräftige Männer, die eine ganze Familie anführten, ausgemergelte alte Männer, die vorandrängten ohne Hoffnung auf Wiederkehr; Jungen, die mit furchtlos forschen Augen um sich blickten, scheue kleine Mädchen mit zottigem langen Haar; ängstliche Frauen, dicht verschleiert, ihre schlafenden Kinder – ahnungslose Pilger eines strengen Glaubens – in die schmutzigen Zipfel ihrer Kopftücher gewickelt und fest an die Brust gepresst.
»Nun sieh sich einer dieses Viehzeug an«, sagte der deutsche Skipper zu seinem neuen Ersten Offizier.
Ein Araber, der Anführer dieser frommen Reise, kam als Letzter. Bedächtig ging er an Bord, stattlich und ernst in seinem weißen Gewand und dem großen Turban. Eine Reihe Diener folgte, beladen mit seinem Gepäck; dann legte die Patna achtern voraus vom Landungssteg ab.
Sie nahm Kurs zwischen zwei kleinen Inseln hindurch, über den Ankerplatz der Segelschiffe, fuhr einen Halbkreis im Schatten eines Hügels, dann hielt sie sich dicht an den Riffen, von denen die Gischt aufspritzte. Der Araber, aufrecht auf dem Achterdeck, rezitierte mit lauter Stimme das Gebet für die Reisenden auf See. Er erbat die Gunst des Allerhöchsten für diese Fahrt, erflehte Seinen Segen für die Mühen der Menschen und die geheimen Wünsche in ihren Herzen; der Dampfer wühlte in der Abenddämmerung die stillen Wasser der Meerenge auf; und von weit hinter ihnen schickte ein Leuchtturm, von Ungläubigen auf Stelzen auf eine tückische Untiefe gesetzt, einen Strahl wie ein Zwinkern seines flammenden Auges zu dem Pilgerschiff hinaus, als wolle er den frommen Gegenstand der Reise verspotten.
Die Patna ließ die Meerenge hinter sich, überquerte die Bucht und schlug die »Ein-Grad«-Route ein. Sie hielt geradewegs auf das Rote Meer zu, unter heiterem Himmel, unter wolkenlosem, sengend heißem Himmel, umhüllt vom Gleißen des Sonnenlichts, das jeden Gedanken abtötete, das Herz beklommen machte und alle Kraft und Energie vertrocknen ließ. Und unter der sinistren Pracht des Himmels lag tief und blau die See, still, reglos, ohne einen Windhauch, ohne ein Kräuseln – zähflüssig, starr, tot. Unter leisem Zischen glitt die Patna dahin über die strahlende, glatte Fläche, rollte ihr schwarzes Band aus Qualm am Himmel aus, ließ ihr weißes Band aus Schaum zurück, das sogleich wieder verschwand, die gespenstische Spur eines Gespensterschiffes auf lebloser See.
Als wolle sie in ihrer Kreisbahn Schritt halten mit der steten Fahrt des Pilgerschiffes, stieg jeden Morgen achtern in immer gleicher Ferne die Sonne in einer stillen Flammenwolke auf; bis Mittag hatte sie das Schiff eingeholt, goss das Feuer ihrer sengenden Strahlen auf die Menschen in ihren frommen Verrichtungen aus, glitt vorüber auf dem Weg zum Horizont und versank Abend um Abend geheimnisvoll im Meer, nun im immergleichen Abstand dem vorwärtsstrebenden Bug voraus. Die fünf Weißen an Bord blieben mittschiffs, abseits ihrer Menschenfracht. Sonnensegel überspannten das Deck vom Bug bis zum Heck mit einem weißen Dach, und nur ein leises Summen, ein tiefes Murmeln trauriger Stimmen kündete von der Gegenwart einer Menschenmenge auf dem gleißenden Spiegel der See. So gingen diese Tage dahin; lautlos, heiß, drückend gingen sie einer nach dem anderen in die Vergangenheit ein, als stürzten sie in einen Schlund, der allzeit im Kielwasser des Schiffes gähnte; und das Schiff hielt einsam unter einer Rauchfahne seinen Kurs, schwarz und schwelend in der glitzernden Unendlichkeit, verzehrt von einer Flamme, die gnadenlos vom Himmel auf es niederbrannte.
Die Nächte senkten sich wie ein Segen herab.
Eine wunderbare Stille herrschte in der Welt, und die Sterne funkelten so freundlich, als wollten sie mit ihren Strahlen der Erde immerwährende Sicherheit verheißen. Die Sichel des Neumonds stand tief am westlichen Himmel wie ein zarter Span von einem Goldbarren, und das Arabische Meer, glatt und kühl anzusehen wie eine Eisfläche, spannte seine vollkommene Fläche bis an das vollkommene Rund eines dunklen Horizonts. Nichts störte die Schiffsschraube in ihrem Lauf, als habe auch ihr Stampfen von Anfang an zum Plan für eine Welt in Sicherheit gehört; und beiderseits der Patna umfassten zwei tiefe Wasserrinnen, immergleich und düster drohend in dem glatten Glanz, mit ihren schnurgeraden, auswärtsstrebenden Wällen ein paar weiße Schaumwirbel, die mit leisem Zischen zerplatzten, ein paar winzige Wellen, ein paar leichte Stöße, ein schwaches Schaukeln, von denen, wenn das Schiff vorüber war, die See noch eine kleine Weile schwappte und die sich dann mit einem sanften Platschen auflösten, schließlich beruhigt zurückkehrten in die kreisrunde Stille von Wasser und Himmel mit dem schwarzen Fleck des voraneilenden Schiffsleibs als ihrem steten Mittelpunkt.
Jim oben auf der Brücke war durchdrungen von der großen Gewissheit dieser grenzenlosen Sicherheit, dieses Friedens, der sich von der Stille der Natur ablesen ließ wie die Gewissheit fürsorglicher Liebe von dem milden, zärtlichen Antlitz einer Mutter. Unter dem Dach der Sonnensegel, ganz der Weisheit der weißen Männer preisgegeben, ihrem Mut, vertrauend auf die Kraft des Unglaubens und die starke Eisenhülle ihres qualmenden Schiffes, lagen die Pilger eines strengen Glaubens auf Matten und schliefen, auf Decken, auf den bloßen Planken, auf allen Decks, in allen Winkeln, in bunte Kleider gewickelt, in schmutzige Lumpen versteckt, die Köpfe auf kleine Bündel gebettet, die Gesichter an gebeugte Unterarme gedrückt: die Männer, Frauen und Kinder; die Alten mit den Jungen, die Gebrechlichen mit den Gesunden – alle gleich im Schlafe, Todes Bruder.
Ein Luftzug, den das Schiff mit seiner Fahrt erzeugte, wehte gleichmäßig vom Bug her durch das langgestreckte Halbdunkel zwischen den hohen Bordwänden, fuhr über die Reihen der schlafenden Gestalten; die trüben Globen einiger Laternen leuchteten, knapp unter den Stangen der Segel angebunden, und in ihren schwachen Lichtkegeln, die von der unablässigen Vibration des Schiffes leise bebten, ließen sich hie und da ein in die Höhe gerecktes Kinn ausmachen, zwei geschlossene Lider, eine dunkle Hand mit Silberringen, ein magerer Arm in einem zerrissenen Ärmel, ein Kopf in den Nacken gelegt, ein nackter Fuß, eine entblößte Kehle ausgestreckt, als böte sie sich dem Messer dar. Die Wohlhabenden hatten für ihre Familien Hütten aus schweren Kisten und staubigen Matten errichtet; die Armen lagerten Seite an Seite, alles, was sie auf Erden besaßen, in einem Bündel unter ihrem Kopf zusammengeschnürt; die einsamen alten Männer schliefen mit angezogenen Beinen auf ihrem Gebetsteppich, die Hände an den Ohren, das Gesicht zwischen den Ellenbogen; ein Vater, die Schultern hochgezogen, die Stirn auf die Knie gelegt, döste zusammengekauert neben einem Jungen, der auf dem Rücken schlief, mit wirrem Haar, einen Arm fordernd ausgestreckt; eine Frau, wie ein Leichnam von Kopf bis Fuß mit einem weißen Tuch verhüllt, ein nacktes Kind in jedem Arm; die Besitztümer des Arabers, achtern aufgetürmt, Umrisse wie eine zerklüftete Berglandschaft, über denen eine Decklampe baumelte, dahinter ein großes Durcheinander undeutlicher Formen: funkelnde, bauchige Kupferkessel, der Fußschemel eines Liegestuhls, Speerspitzen, die lange Scheide eines alten Schwertes, das an einen Berg Kissen gelehnt stand, die Tülle einer Kaffeekanne aus Blech. Das an der hinteren Reling befestigte Patentlog gab von Zeit zu Zeit einen einzelnen Ton von sich, das Zeichen, dass eine weitere Meile auf dieser frommen Fahrt zurückgelegt war. Manchmal erhob sich aus der Menge der Schläfer ein leises, ergebenes Seufzen, der Ausdruck eines schweren Traums; dann wieder zerrissen kurze, metallische Schläge aus der Tiefe des Schiffes, plötzlich die Luft, das harsche Kratzen einer Schaufel, das wütende Zuschlagen einer Feuerungstür, als sei die Brust der Männer, die dort unten ihrem geheimnisvollen Gewerbe nachgingen, voll grimmiger Wut – und der schlanke, hohe Rumpf des Dampfers glitt gelassen dahin, ohne das kleinste Schwanken der kahlen Masten, durchmaß weiter die große Ruhe des Ozeans unter der unerreichbaren Heiterkeit des Himmels.
Jim ging auf der Brücke auf und ab, und in dem tiefen Schweigen klangen ihm die eigenen Schritte laut in den Ohren, als würde von den wachsamen Sternen ein Echo zurückgeworfen; forschend suchte er den Horizont ab, die Augen hungrig auf das Unerreichbare gerichtet, und die Schatten dessen, was drohte, sah er nicht. Der einzige Schatten, den er sah, war der Schatten aus schwarzem Rauch, der als mächtige Wolke über dem Schornstein schwebte und an seinem hinteren Ende unablässig in der Luft verströmte. Zwei Malaien, schweigend und beinahe regungslos, steuerten, einer an jeder Seite des Rades, und ein Ausschnitt des Messingkranzes schimmerte im Oval des Lichtscheins, den das Kompasshaus warf. Dann und wann erschien in dem Lichtfleck eine Hand, deren schwarze Finger die Speichen im Drehen abwechselnd losließen und wieder fassten; die Glieder der Ruderketten rasselten schwer in den Rinnen ihrer Führung. Dann und wann schaute Jim auf den Kompass, schaute sich um am unerreichbaren Horizont, streckte sich wohlig, ja im Übermaß des Wohlbefindens, bis die Gelenke knackten; und übermütig geworden von der schier unerschütterlich scheinenden Macht des Friedens, war ihm zumute, als werde ihm nichts in der Welt mehr etwas anhaben können bis ans Ende seiner Tage. Von Zeit zu Zeit warf er einen müßigen Blick auf die Seekarte, die mit vier Reißnägeln auf einem niedrigen dreibeinigen Tisch hinter dem Gehäuse für den Steuermechanismus befestigt war. Die Oberfläche des Blattes, auf dem die Meerestiefen eingezeichnet waren, schimmerte im Licht einer Blendlaterne oben an einer Strebe, glatt und gleichmäßig wie der glitzernde Spiegel der See. Ein Parallellineal und ein Stechzirkel lagen darauf; die Position des Schiffes vom vergangenen Mittag war mit einem kleinen schwarzen Kreuz markiert, und die Bleistiftlinie, die mit energischem Strich bis hinauf zur Insel Perim gezogen war, bezeichnete den Kurs des Schiffes – den Weg der Seelen zum Wallfahrtsort, das Versprechen der Erlösung, den Lohn des ewigen Lebens; der Bleistift lag, mit dem spitzen Ende auf der somalischen Küste, rund und reglos da wie eine einzelne Spiere, die in einem stillen Hafenbecken schwimmt. »Wie ruhig wir fahren«, dachte Jim staunend, mit einem Gefühl wie Dankbarkeit für diesen ungeheuren Frieden von Himmel und Meer. In solchen Augenblicken erlebte er in Gedanken seine größten Abenteuer: Er liebte diese Träume und den Erfolg seiner Heldentaten der Phantasie. Sie waren das Beste an seinem Leben, die heimlichen Wahrheiten, die verborgene Realität. Sie waren wunderbar männlich, angenehm unbestimmt, sie zogen mit heroischen Schritten vor seinem inneren Auge vorüber; sie trugen seine Seele mit sich hinweg und machten sie trunken von dem göttlichen Trank eines grenzenlosen Selbstvertrauens. Es gab nichts, dem er nicht gewachsen war. So sehr gefiel er sich in dieser Vorstellung, dass er lächelte, versonnen den Blick nach vorn gewandt; und wenn er einmal nach achtern sah, dann sah er den weißen Streifen des Kielwassers genauso schnurgerade über die See gezogen wie auf der Karte den schwarzen Bleistiftstrich.
Aschkübel gingen unter großem Getöse den Luftschacht zum Feuerungsraum hinauf und hinab, und für Jim war dies das Zeichen, dass seine Wache sich ihrem Ende zuneigte. Er seufzte zufrieden, aber auch mit Bedauern, denn nun musste er sich von dieser heiteren Stimmung verabschieden, die der Freiheit seiner Abenteuer in Gedanken so zuträglich war. Aber er war auch ein wenig schläfrig und spürte, wie eine angenehme Mattigkeit ihm durch alle Glieder floss, als habe sämtliches Blut in seinem Körper sich in warme Milch verwandelt. Der Kapitän war lautlos heraufgekommen; er war im Schlafanzug, und die Jacke stand weit offen. Rot im Gesicht, erst halb wach, das linke Auge noch gar nicht ganz geöffnet, während das rechte dumm und glasig stierte, beugte er seinen schweren Kopf über die Karte und kratzte sich dabei verschlafen den Bauch. Es war geradezu obszön, der Anblick seiner nackten Haut. Die blanke Brust glänzte weich und speckig, als habe er im Schlaf sein Fett ausgeschwitzt. Er schnarrte eine Anweisung mit tonloser, rauer Stimme, ein Ton wie eine Raspel an der Schnittfläche einer Planke, die Falte seines Doppelkinns wie ein Sack, den er um den Hals hängen hatte. Jim nahm Haltung an, und seine Antwort war diensteifrig; doch das Bild der abstoßenden, schwabbeligen Gestalt brannte sich, als habe er sie in einem Augenblick der Wahrheit zum ersten Mal gesehen, für alle Zeiten in sein Gedächtnis ein als Inbegriff alles Niederen und Gemeinen, das in der Welt, die wir lieben, lauert: in unserem eigenen Herzen, von dem wir uns Erlösung erhoffen, in den Menschen, unter denen wir leben, in den Dingen, die unsere Augen erblicken, in den Tönen, die unsere Ohren hören, und in der Luft, die unsere Lungen füllt.
Der schmale goldene Span des Mondes war beständig tiefer gesunken und hatte sich schließlich in den dunkler werdenden Fluten verloren, und nun, wo die Sterne stärker funkelten, wo die halbtransparente Kuppel des Himmels in ihrem Glanz umso schwärzer über der undurchsichtigen Scheibe des Meeres stand, schien die Ewigkeit jenseits des Firmaments näher herangerückt, schien niederzukommen auf die Erde. Das Schiff glitt so ruhig dahin, dass die Sinne des Menschen seine Fahrt nicht mehr wahrnahmen, wie ein volkreicher Planet, der durch die dunklen Tiefen des Weltalls jenseits des Schwarms der Sonnen eilt, durch die bedrückende Stille und Einsamkeit, die den Odem zukünftiger Schöpfung erst noch erwartet. »Heiß ist gar kein Ausdruck für das da unten«, sagte eine Stimme.
Jim lächelte, ohne sich umzudrehen. Der Käpt’n wandte ihnen weiter seinen breiten Rücken zu – es war der Trick dieses Fahnenflüchtigen, zu tun, als existiere man nicht, bis es ihm gelegen kam, sich umzudrehen, sich auf einen zu stürzen mit brennendem Blick, den anderen mit einen Sturzbach aus schändlichen, gehässigen Flüchen zu überziehen, die über ihn hinwegschwappten wie ein Schwall aus einer Kloake. Jetzt knurrte er nur einmal mürrisch; der Zweite Maschinist stand oben am Aufgang zur Brücke, wrang mit feuchten Händen ein schmutziges Schweißtuch und fuhr unbeirrt in der Litanei seiner Klagen fort. Die Seeleute, die hätten es gut hier oben, und allesamt Nichtsnutze seien sie. Die Maschinisten unten, die armen Teufel, die brächten das Schiff voran, und da könnten sie den Rest der Arbeit genauso gut auch noch tun; ja verdammt nochmal, die – »Halt’s Maul!«, knurrte der Deutsche schroff. »O ja! Maul halten – und wenn was schiefgeht, dann sind wir’s gewesen, nicht wahr?«, setzte der andere nach. Er stehe ohnehin schon mit einem Bein in der Hölle, da sei es egal, wie viel er noch sündige; denn in den letzten drei Tagen, da habe er ein gutes Training für den Ort durchgemacht, wo die bösen Buben hinkommen, wenn es mit ihnen vorbei ist – das habe er, bei allen Teufeln –, und außerdem sei er halb taub von dem verfluchten Lärm da unten. Dieser elende, tausendmal geflickte alte Schrotthaufen, bei dem das Wasser von den Wänden lief, rasselte und schepperte dort unten wie eine alte Deckwinde, nur schlimmer; und nur der Himmel wisse, warum er jeden Tag und jede Nacht, die Gott werden ließ, an dem Wrack einer Siebenundfünfzig-Umdrehungen-Maschine sein Leben aufs Spiel setze. Er müsse schon als Draufgänger auf die Welt gekommen sein, jawohl. Er … »Wo haben Sie den Schnaps her?«, knurrte der Deutsche, auch wenn er nach wie vor reglos im Licht des Kompasshäuschens stand, wie das abstoßende, aus einem Kloß Fett geschnitzte Abbild eines Menschen. Jim blickte weiter lächelnd auf den in immer weitere Ferne schwindenden Horizont; sein Herz war voller Wohlwollen, sein Verstand ganz mit dem Gedanken an seine eigene Überlegenheit beschäftigt. »Schnaps!«, antwortete der Maschinist in gutmütiger Verachtung; er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, eine schattenhafte Gestalt auf schwankenden Beinen. »Von Ihnen bestimmt nicht, Käpt’n. Dazu sind Sie weiß Gott zu knauserig. Sie würden einen guten Mann lieber krepieren lassen, als dass Sie ihm einen Tropfen Schnaps gäben. Das versteht ihr Deutschen unter Sparsamkeit. Mit dem Pfennig knausern, mit dem Taler wuchern.« Jetzt blickte er versonnen. Der Erste Maschinist habe ihm ein Gläschen eingeschenkt, vier Finger breit, so gegen zehn – »aber nur den einen, so wahr mir Gott helfe!« –, ein anständiger Kerl; aber den alten Gauner aus seiner Koje zu zerren – das schaffe kein Fünftonnenkran. Da sei nichts zu machen. Jedenfalls heute Nacht nicht. Der schlafe selig wie ein Kind, mit einer Flasche besten Brandys unter dem Kissen. Aus dem fetten Hals des Befehlshabers der Patna drang ein dumpfes Grollen, über dem das Wort Schwein sich drehte und schillerte wie eine launische Feder in leisem Wind. Er und der Erste Maschinist waren seit langen Jahren Kumpane – sie dienten beide dem selben umtriebigen, gerissenen alten Chinesen, einem Mann mit Hornbrille, der sich rote Seidenbänder in das in Ehren ergraute Haar seines Zopfes flocht. An den Kais im Heimathafen der Patna sagte man gern, die beiden hätten mit ihren dreisten Gaunereien »zusammen so ziemlich jede Schandtat begangen, die man sich vorstellen kann«. Äußerlich passten sie überhaupt nicht zueinander: der eine stumpfäugig, übellaunig, rund und schwabbelig; der andere hager, ausgemergelt, das Gesicht lang und knochig wie ein alter Gaul, mit eingefallenen Wangen, eingefallenen Schläfen, mit teilnahmslosem, glasigem Blick seiner eingefallenen Augen. Irgendwo im Osten war er gestrandet – in Kanton, in Schanghai, vielleicht in Yokohama; vermutlich erinnerte er sich ebenso ungern an den genauen Ort wie an die genaue Ursache seines Scheiterns. Man hatte ihn aus Rücksicht auf seine Jugend in aller Stille an Land befördert, zwanzig Jahre oder noch länger war das her, und es hätte ihm so viel schlechter dabei ergehen können, dass die ganze Episode ihm in seiner Erinnerung überhaupt nicht wie ein Unglück vorkam. Bald breitete sich die Dampfschifffahrt in dieser Gegend aus, und Männer mit seinen Kenntnissen waren anfangs rar; und so war er doch auf die eine oder andere Art »wieder untergekommen«. Er war stets darauf bedacht, Neuankömmlinge mit einem mürrischen Brummen wissen zu lassen, dass er »hier draußen schon lange dabei« sei. Wenn er sich bewegte, kam es einem vor, als schwanke ein Knochengerüst in seinen Kleidern daher; sein Gang war ein zielloses Schlendern, und mit Vorliebe schlenderte er rund um das Oberlicht des Maschinenraums und rauchte freudlos billigen Tobak in einem Pfeifenkopf aus Messing am Ende eines vier Fuß langen Kirschholzstiels, mit dem einfältigen Ernst eines Denkers, der ein ganzes philosophisches System aus einem einzigen flüchtigen Blick auf die Wahrheit entwickelt. Sonst war er alles andere als freigebig mit seinen persönlichen Schnapsvorräten; doch an jenem Abend war er seinen Prinzipien untreu geworden, so dass sein Zweiter, ein Einfaltspinsel aus den Londoner Docks, von der unerwarteten und zudem so hochprozentigen Vergünstigung hochbeglückt, frech und redselig geworden war. Die Wut des Deutschen aus Neusüdwales war ungeheuerlich; er schnaufte wie ein Dampfrohr, und Jim, auch wenn ihn die Szene durchaus amüsierte, konnte es gar nicht erwarten, dass er nach unten entlassen wurde – die letzten zehn Minuten der Wache strapazierten die Nerven wie ein Gewehr, das nicht losging; diese Männer gehörten nicht zur Welt des heroischen Abenteuers; obwohl sie keine schlechten Kerle waren. Nicht einmal der Skipper … Zwar drehte sich ihm beim Anblick dieses schnaubenden Fleischklopses, der unablässig, ein steter gurgelnder Strom, seine Unflätigkeiten vor sich hinbrummte, der Magen um, aber er fühlte sich doch zu wohl in seiner Trägheit, als dass er sich die Mühe gemacht hätte, ihn oder sonst etwas ernsthaft zu verachten. Der Wert dieser Männer war nicht von Bedeutung; er ging mit ihnen um, doch sie konnten ihm nichts anhaben; er atmete dieselbe Luft wie sie, aber er war von anderer Art … Würde der Skipper gleich auf den Maschinisten losgehen? … Das Leben war mühelos, und er war sich seiner selbst zu sicher – zu sicher, um … Die Grenze zwischen seinen müßigen Gedanken und einem kleinen Schläfchen im Stehen war dünner als der Faden in einem Spinnennetz.
Ganz unvermittelt kam der Zweite Maschinist auf finanzielle Fragen und das Thema Tapferkeit zu sprechen.
»Wer ist hier betrunken? Ich doch nicht, Käpt’n! Sie sollten mittlerweile wissen, dass von dem, was der Erste freiwillig hergibt, nicht mal ein Spatz besoffen wird. Schnaps ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht schlecht bekommen; das Zeug, von dem ich betrunken werde, das muss erst noch erfunden werden. Teufel nochmal, ich könnte flüssiges Feuer schlucken statt eurem Fingerhut voll Whisky und würde mit keiner Wimper zucken. Wenn ich jemals das Gefühl bekäme, dass ich betrunken bin, dann würd ich glatt über Bord springen – würd meinem Leben ein Ende machen, Teufel nochmal. Könnt ihr mir glauben! Auf der Stelle! Und ich denke nicht dran, hier von der Brücke runterzugehen. Wo soll ich denn sonst frische Luft schnappen, in so einer Nacht? An Deck zwischen den Kanaken da unten? Das könnt euch so passen. Und vor euch habe ich keine Angst.«
Der Deutsche hob zwei schwere Fäuste zum Himmel und schüttelte sie kurz, doch ohne ein Wort.
»Ich kenne keine Furcht«, fuhr der Maschinist im Eifer seiner Überzeugung fort. »Ich fürchte mich nicht davor, hier auf diesem Seelenverkäufer die Drecksarbeit zu machen! Und das ist ja auch Teufel nochmal ein Glück für Sie, dass es ein paar von uns auf der Welt gibt, die nicht um ihr Leben fürchten, denn wo blieben Sie sonst – Sie und der alte Kahn hier mit Planken wie Packpapier – wie Packpapier, weiß der Himmel! Sie sind natürlich fein raus – für Sie fällt immer was ab, egal wie die Sache ausgeht; aber was ist mit mir – was kriege ich dafür? Armselige hundertfünfzig Dollar im Monat, da kann ich sehen, wie ich auskomme. Ich will Sie mal mit allem Respekt fragen – mit allem Respekt, wohlgemerkt –, wer würde denn so eine verfluchte Arbeit nicht hinschmeißen? Und in Sicherheit leben wir hier ja nun wirklich nicht! Aber ich bin einer von den Furchtlosen …«
Er ließ das Geländer los und breitete die Arme, als wolle er Umriss und Ausmaß seines Wertes demonstrieren; in langen, schrillen Tönen gingen die Worte seiner dünnen Stimme aufs Meer, und wie um ihnen Nachdruck zu verleihen, wippte er dazu auf den Zehenspitzen – und mit einem Male stürzte er der Länge nach hin, als habe ihm jemand von hinten einen Schlag versetzt. »Verflucht!«, rief er noch im Fallen; ein kurzer Augenblick der Stille folgte auf diesen Schrei; Jim und der Kapitän stolperten wie im Gleichschritt vor, fingen sich, standen steif und still da und blickten verblüfft auf den Meeresspiegel, der glatt war wie zuvor. Dann sahen sie hinauf zu den Sternen.
Was war geschehen? Die Maschinen schnauften und stampften wie zuvor. War die Erde in ihrem Lauf einen Moment lang aufgehalten worden? Sie verstanden es nicht; und mit einem Male schienen die ruhige See und der wolkenlose Himmel entsetzlich unsicher in ihrer Unbewegtheit, als gähne unter allem der Abgrund der Zerstörung. Wie der Blitz war der Maschinist wieder auf den Beinen, nur um dann von neuem zu einem schlaffen Bündel zusammenzusinken. Das Bündel sagte: »Was ist das?«, im dumpfen Tonfall größten Grauens. Ein leises Grollen, ein Grollen aus unendlicher Ferne, nicht einmal ein Ton, kaum mehr als ein Zittern, verklang ganz allmählich, und das Schiff bebte wie ein Echo, als sei dieser Donner aus der Tiefe des Wassers gekommen. Die Augen der beiden Malaien am Steuerrad blitzten zu den Weißen hin, doch die dunklen Hände blieben unbeirrt an den Speichen. Der schlanke Schiffsrumpf schien sich wie in einer Welle um ein paar Zoll anzuheben, wie plötzlich biegsam geworden, und dann kehrte er starr wie zuvor an seine Arbeit zurück, pflügte weiter durch die glatte Fläche der See. Das Beben verlief sich, das Grollen verstummte abrupt – als wären sie durch einen schmalen Strich bewegten Wassers gefahren, einen Schwall erzitternder Luft.
Ungefähr einen Monat später, als Jim sich auf gestrenge Befragung mühte, nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft über die Ereignisse zu geben, sagte er: »Was immer es war, wir glitten so leicht darüber hinweg wie eine Schlange über einen Stock.« Ein gutes Bild; die Fragen wollten die Tatsachen an den Tag bringen, und die amtliche Untersuchung wurde im Polizeigericht eines ostindischen Hafens geführt. Er stand hoch oben im Zeugenstand, mit flammenden Wangen in dem kühlen, hohen Saal; gewaltige Fächer wiegten sich sacht über ihm, und von unten sahen die Augen der Menge aus dunklen Gesichtern zu ihm auf, aus weißen Gesichtern, roten Gesichtern, aufmerksamen Gesichtern, atemlos, als seien all diese Menschen, die in ordentlichen Reihen auf schmalen Bänken saßen, gefangen genommen von der Kraft seiner Stimme. Es war eine sehr laute Stimme, er war verblüfft, wie sie ihm in den Ohren schallte; es war der einzige Laut auf der ganzen Welt, denn die grausam klaren Fragen, die seine Antworten hervorzwangen, schienen sich unter Schmerz und Schrecken in seiner eigenen Brust zu bilden, bedrängten ihn schwer und schweigend wie die quälenden Aufgaben, die das Gewissen uns stellt. Draußen vor dem Gerichtsgebäude brannte die Sonne, drinnen war der Luftzug der großen Fächer, der einen erschaudern ließ, die Scham, die wie Fieber brannte, waren die bohrenden Blicke, von denen jeder einzelne war wie ein Messerstich. Das Antlitz des Vorsitzenden, glattrasiert und unerforschlich, blickte ihn totenblass zwischen den geröteten Gesichtern der beiden nautischen Beisitzer an. Das Licht eines großen Fensters unter der Decke fiel von hoch oben auf Kopf und Schultern der drei Männer; mit schärfster Klarheit stachen sie hervor aus dem Dämmerlicht des Gerichtssaals, wo die Zuschauer saßen wie starrende Schatten. Sie wollten Tatsachen. Tatsachen! Sie forderten Tatsachen von ihm, als ob Tatsachen etwas erklären konnten!
»Nachdem Sie zu dem Schluss gekommen waren, dass Sie mit einem Gegenstand im Wasser kollidiert waren, sagen wir mit einem Wrack, das knapp unter der Oberfläche trieb, gab Ihr Kapitän Ihnen Order, zum Vorderdeck zu gehen und festzustellen, ob ein Schaden entstanden war. Rechneten Sie nach der Stärke des Schlages mit einem solchen Schaden?«, fragte der Beisitzer zur Linken. Er hatte einen schmalen Hufeisenbart, vorstehende Wangenknochen, saß mit beiden Ellenbogen aufgestützt, die rauen Hände gefaltet vor dem Gesicht, und sah Jim mit aufmerksamen blauen Augen an; der andere, ein schwerer, mürrischer Mann, hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, und mit der linken Hand, den Arm zu voller Länge ausgestreckt, trommelte er leise auf seine Schreibunterlage; zwischen ihnen hatte der Richter, der aufrecht, den Kopf ein wenig schief gelegt, in dem großen Lehnstuhl saß, die Arme vor der Brust verschränkt; ein paar Blumen standen in einer gläsernen Vase neben dem Tintenfass.
»Nein, damit rechnete ich nicht«, sagte Jim. »Man hatte mir gesagt, ich solle niemanden rufen und keinen Lärm machen, damit keine Panik entstand. Ich fand, das war eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Ich nahm eine der Laternen, die unter dem Sonnensegel hingen, und ging nach vorn. Als ich die Luke der Vorpiek öffnete, hörte ich ein Plätschern dort drinnen. Ich ließ die Lampe hinab, so weit die Kordel reichte, und sah, dass die Vorpiek schon mehr als zur Hälfte mit Wasser vollgelaufen war. Da wusste ich, dass ein großes Loch unterhalb der Wasserlinie sein musste.« Er hielt inne.
»O ja«, sagte der massige Beisitzer mit einem verträumten Lächeln in Richtung Schreibunterlage; seine Finger waren unablässig in Bewegung, lautlos trommelten sie auf das Papier.
»Zu dem Zeitpunkt habe ich es noch nicht als Gefahr gesehen. Vielleicht war ich ein wenig verblüfft – alles war so still und so außerordentlich plötzlich geschehen. Ich wusste, dass es außer dem Kollisionsschott, das Vorpiek und vorderen Laderaum trennte, in dem Schiff kein weiteres Schott gab. Ich ging wieder nach achtern, um dem Kapitän Bericht zu erstatten. Ich stieß auf den Zweiten Maschinisten, der sich am Fuße der Brückenleiter eben wieder aufrappelte; er schien benommen und lamentierte, sein linker Arm sei gebrochen – er war, während ich vorn war, auf der obersten Stufe abgerutscht, als er nach unten klettern wollte. ›Mein Gott!‹, rief er. ›Das morsche Schott wird binnen einer Minute nachgeben, und dann versinkt der ganze Kasten unter uns wie ein Stück Blei.‹ Er stieß mich mit dem rechten Arm beiseite und sprang unter lauten Rufen vor mir die Leiter hinauf. Sein linker Arm hing schlaff herab. Ich folgte ihm und langte noch rechtzeitig oben an, um zu sehen, wie der Kapitän sich auf ihn stürzte und ihn mit einem Schlag zu Boden streckte. Er schlug nicht noch einmal zu – er stand über ihn gebeugt und redete wütend, aber sehr leise mit ihm. Ich könnte mir vorstellen, dass er ihn fragte, warum zum Teufel er nicht nach unten gegangen sei und die Maschinen gestoppt habe, statt auf Deck Lärm zu machen. Ich hörte ihn sagen: ›Auf jetzt! Los! Laufen Sie!‹ Er fluchte auch. Der Maschinist stürmte die Steuerbordleiter hinunter, schlug einen Bogen um das Oberlicht und stieg hinab in den Maschinenraum, dessen Leiter sich auf der Backbordseite befand. Er stöhnte dabei …«
Er sprach bedächtig; die Erinnerungen kamen rasch und außerordentlich lebendig; wie ein Echo hätte er das Stöhnen des Maschinisten nachahmen können, zur besseren Information dieser Männer, die Tatsachen wollten. Nach einem anfänglichen Widerwillen war er zu dem Schluss gekommen, dass nur eine Aussage von größter Präzision das wahre Entsetzen hinter dem abscheulichen Antlitz der Ereignisse an den Tag bringen konnte. Die Tatsachen, auf die diese Männer so begierig waren, waren sichtbar gewesen, berührbar, mit den Sinnen erfahrbar, sie hatten ihren Platz in Raum und Zeit gehabt, sie hatten, um Gestalt anzunehmen, einen Vierzehnhundert-Tonnen-Dampfer und siebenundzwanzig Minuten Zeit gebraucht; sie bildeten gemeinsam ein Ganzes, das Gesichtszüge hatte, Schattierungen in seinem Ausdruck, eine bildhafte Erscheinung, an die das Auge sich erinnern konnte; und etwas Weiteres kam hinzu, etwas Unsichtbares, ein Grundgefühl der Verderbtheit, das alles durchdrungen hatte, wie eine bösartige Seele einen abscheulichen Leib durchdringt. Das wollte er den anderen begreiflich machen. Es war kein gewöhnlicher Vorfall gewesen, alles daran war von außerordentlicher Bedeutung, und zum Glück erinnerte er sich an alles. Er wollte weiterreden, um der Wahrheit willen, vielleicht auch um seiner selbst willen; und auch wenn seine Rede bedächtig war, drehte und drehte die lange Reihe der Fakten in seinem Kopf sich im Kreise, der Tatsachen, die rings um ihn her aufstoben und ihn von der Gesellschaft seinesgleichen abzuschließen drohten; es war wie ein Tier, das sich eingesperrt hinter hohen Gitterstäben findet und immer und immer wieder im Kreise läuft, wie wahnsinnig in der Nacht, versucht, einen Spalt, eine schwache Stelle zu finden, eine Stelle, die es überklimmen, eine Öffnung, durch die es sich zwängen kann und den Weg in die Freiheit findet. Dieses Rasen des Verstandes war es, was ihn bisweilen in seinen Antworten zögern ließ …
»Der Käpt’n ging weiter auf der Brücke hin und her; er schien durchaus gefasst, auch wenn er mehrere Male stolperte; und einmal, als ich stehen blieb, um mit ihm zu sprechen, da stieß er mit mir zusammen wie blind. Er gab mir keine eindeutige Antwort auf das, was ich vorzubringen hatte. Er murmelte vor sich hin, und alles, was ich verstehen konnte, war etwas wie ›verfluchter Dampf‹ oder ›höllischer Dampf‹ – jedenfalls ging es um Dampf. Ich fand …«
Er schweifte ab; eine scharfe Frage, wie ein stechender Schmerz, riss ihn aus seinen Betrachtungen, und er schien außerordentlich entmutigt und erschöpft. Er wäre ja darauf gekommen, er war auf dem Wege gewesen, und nun, brutal zur Ordnung gerufen, musste er mit Ja oder Nein antworten. Er tat es wahrheitsgemäß mit einem knappen »Ja, das habe ich«; und mit offenem Gesicht, breiten Schultern, mit jungen, schwermütigen Augen stand er aufrecht im Zeugenstand, während seine Seele sich in seinem Inneren wand. Er musste eine weitere Frage beantworten, die so sehr zur Sache und doch so nutzlos war, dann wartete er wieder. Sein Mund war trocken und fad, als habe er Staub, dann Salz geschluckt, und bitter, als hätte er es mit Seewasser hinuntergespült. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, fuhr sich mit der Zunge über ausgedörrte Lippen, spürte, wie ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief. Der massige Beisitzer hatte die Lider gesenkt und trommelte weiter, lautlos, achtlos, mit tragischer Miene; die Augen des anderen schienen über den sonnengebräunten verschränkten Fingern vor Wohlwollen zu leuchten; der Richter hatte sich vorgeneigt, sein bleiches Gesicht schwebte über den Blumen, dann lehnte er sich seitwärts über die Armlehne, die Schläfe in die Hand gestützt. In Stößen kam der Wind von den Wedeln, umwehte die dunklen Gesichter der Einheimischen, in ihre bauschigen Tücher gehüllt, und die der Europäer, die alle beieinander saßen und denen sehr heiß in ihrem Drillichzeug war, das ihnen so eng anlag wie eine zweite Haut, den Tropenhelm auf den Knien; und entlang der Wände des Saals huschten die Gerichtsdiener in langen, bis obenhin zugeknöpften weißen Jacken, liefen hierhin und dorthin auf bloßen Füßen, mit roter Schärpe, dem roten Turban auf dem Kopf, lautlos wie Gespenster, wachsam wie Hunde auf der Jagd.