Lost Boys - Jessica Stute - E-Book

Lost Boys E-Book

Jessica Stute

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Beschreibung

Das Jahr 1994, Los Angeles: Eine bewegende Zeit des Um- und Aufbruchs der alternativen Musikszene bahnt sich an. Grunge ist tot, Hip-Hop Gangs verfeinden sich und Rockbands erfinden sich neu oder lösen sich auf. Was tun, wenn die Musik und die Bands, die einem immer Halt gegeben haben, plötzlich verloren gehen? Na klar, eine eigene Band mit einem neuen, unverwechselbaren Stil gründen, in der man all seine Probleme und Sehnsüchte verarbeiten kann, um sie mit der Welt zu teilen. AXL lässt sich von seinem Dad nichts vorschreiben und will seinen Traum Musiker und Sänger zu werden um jeden Preis erreichen. RAMON hat es satt, immer aufgrund seiner Hautfarbe verurteilt zu werden und er schwört, die Fehler seines Bruders nicht zu wiederholen. DANIEL will doch nur, dass seine Mom endlich clean bleibt und merkt, dass er anders ist, als andere Jungs und er sich nicht länger verstecken muss. MATTHEW braucht eigentlich nicht mehr als Musik, Mädchen und die Band. Aber dann kommt das Leben dazwischen und alles verändert sich. LOST BOYS ist keine Rockstar-Romance. Es ist ehrlich und ohne Kitsch. Es bringt zum Schmunzeln. Aber auch zum Nachdenken. Hier gibt es Höhenflüge und Tiefpunkte. Träume, Spaß, immer einen frechen Spruch und jede Menge Konflikte. Es geht um ne Band, Freundschaft, Sexualität, Liebe, Rassismus und Drogen. Oder kurz gesagt: Sex, Drugs and Rock n Roll. Und das Ganze versehen mit einem Soundtrack aus Rock, Grunge und Metal der 90ties vor der Kulisse der Rock City Los Angeles. LOST BOYS. Für Jugendliche. Oder für ewig jung gebliebene. Oder jene, die Mitte der Neunziger jung waren. Oder für die, die eben einfach Rockmusik lieben.

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Alle Beschreibungen der real existierenden Personen oder Bands beruhen auf frei zugänglichen, zu recherchierenden, biografischen Fakten.

Sämtliche, beschriebene Handlungen oder Dialoge jener Personen oder Bands in diesem Buch sind frei erfunden und nur Teil dieser fiktiven Geschichte.

Inhaltsverzeichnis

GREEN DAY JESUS OF SUBURBIA

1994: WELCOME TO THE JUNGLE

Nirvana – In Bloom

Dr. Dre – Let Me Ride

Cypress Hill – I Wanna Get High

Nirvana – Breed

The Prodigy – Out Of Space

The Offspring – What Happened To You?

The Smashing Pumpkins – Bullet With Butterfly Wings

KoRn – Blind

1994: LOSE YOURSELF IN THE MUSIC

Guns N' Roses – Live And Let Die

Pennywise – Killing Time

Rage Against The Machine – Know Your Enemy

Nirvana – Lithium

Guns N' Roses – You Could Be Mine

Sublime – Legalize it

Queen – The Show Must Go On

1995: TOO MUCH.TOO YOUNG.TOO FAST.

Black Sabbath – Snowblind

Red Hot Chili Peppers – Under The Bridge

NOFX – Release The Hostages

KoRn – Lost

Sid Vicious – My Way

The Offspring – L.A.P.D.

1996: TAKE ME TO THE TOP.

Rancid – Time Bomb

2 Pac – California Love

Guns N' Roses – Welcome To The Jungle

Metallica – Nothing Else Matters

Green Day – Basket Case 287/

Deftones – Nosebleed

KoRn – A.D.I.D.A.S.

Guns N' Roses – Estranged

2 Pac – Life Goes On

Queen – Who Wants To Live Forever?

Epilog: 2006 - WE DID OUR TIME

NACHWORT

GREEN DAY JESUS OF SUBURBIA

To fall in love and fall in debt, to alcohol and cigarettes. And Mary Jane to keep me insane. Doing someone else's cocaine.

And there's nothing wrong with me. This is how I'm supposed to be. In a land of make believe, that don't believe in me.

Are we demented or am I disturbed? The space that's in between insane and insecure. Oh therapy, can you please fill the void? Am I retarded or am I just overjoyed?

I don't feel any shame, I won't apologize, when there ain't nowhere you can go. Running away from pain, when you've been victimized. Tales from another broken home.

And I leave behind this hurricane of fucking lies.

And I don't care, if you don't care.

1994

WELCOME TO THE JUNGLE.

Nirvana – In Bloom

Dr. Dre – Let Me Ride

Cypress Hill – I Wanna Get High

Nirvana – Breed

The Prodigy – Out Of Space

The Offspring – What Happened To You?

The Smashing Pumpkins – Bullet With Butterfly Wings

KoRn – Blind

Link zur Playlist auf Seite

.

AXL Scheiße, man. Wenn der Verkehr weiter so zäh floss, kam er noch zu spät. Wie immer. Wenigstens beim ersten Zusammentreffen sollte er doch einen einigermaßen verlässlichen Eindruck machen. Der erste Eindruck zählte doch. Aber was machte er sich verrückt? Er hatte schließlich kein Vorsprechen bei irgendeinem Casting mit irgendwelchen berühmten Menschen oder so und auch kein Bewerbungsgespräch für den Job des Jahres. Den würde er sowieso nicht bekommen, so wie er aussah. Wer wusste schon, was ihn dort gleich erwartete? Wahrscheinlich setzte er eh viel zu viele Erwartungen in diese Typen.

Trotzdem trommelte Axl ungeduldig mit seinen Handflächen auf das Lenkrad seines verbeulten, rostbraunen 82er Chevrolet Malibu und drehte den Lautstärkeregler nochmals weiter auf. Wenn er schon in der Rushhour festhing, dann musste er die Zeit wenigstens nutzen, um sich einzustimmen. Wirklich vorbereitet hatte er sich nicht, ehrlich gesagt. Er würde gleich einfach improvisieren. Aber irgendwas musste er ja zum besten geben, um die anderen von sich zu überzeugen.

He's the one, who likes all our pretty songs.

And he likes to sing along.

And he likes to shoot his gun.

But he knows not what it means.

Die Leute in den Autos auf den Spuren links und rechts von ihm, hielten ihn vermutlich für einen Freak, als sie in sein von Emotionen verzerrtes Gesicht schauten, während er lauthals Cobains Texte mitgröhlte. Er fühlte jedes Wort inbrünstig. Er wusste, dass er die Stimme dazu hatte, um in einer Band zu singen. Eine Stimme, um all den Frust rauszuschreien, der sich in all den letzten Jahren in seinem Inneren angestaut hatte. Aber auch, um leise und ruhig zu singen. So zu singen, als wäre man innerlich kaputt und als wäre es das letzte Mal, bevor man endgültig zerbrach. Und nur sein Gesang würde ihn noch zusammenhalten. So fühlte es sich auch meistens an. Bisher hatte Axl nur in der Garagenband seines Onkels mitgespielt, an der Gitarre. Aber da war er erst vierzehn gewesen und es war auch nicht wirklich professionell, sondern nur just for fun. Aber vor anderen gesungen, hatte er bisher noch nie. Immer nur für sich selbst, an der Gitarre begleitend in seinem Zimmer im Keller seines Elternhauses in Manhattan Beach. Am besten dann, wenn sein Dad nicht da war, sonst gab's nur wieder Stress.

Mach den Scheiß leiser. Verdammter Lärm. Bla, bla, bla.

Dann drehte Axl seinen Verstärker erst richtig auf. Sein Dad hatte nichts übrig für Rockmusik und schon gar nicht für Grunge.

Selbstmordmukke. Jammernde Penner in Flanellhemden.

Seinem Dad missfiel es, dass seine Noten angeblich darunter litten, weil die Musik bei ihm nun mal an erster Stelle stand.

Egal, was Axl tat, sein Dad hatte es nie akzeptiert. Ihm war es zuwider, wie er herumlief, dass er sich seine Haare lang wachsen ließ und was er für Musik hörte. Das Bild von seinem Sohn passte so absolut nicht in die Pläne, die sein Dad für ihn vorgesehen hatte: Dass Axl nach der Highschool aufs College ging und dass er Jura studierte, wie sein Bruder George und sein Dad selbst. Kotz.

Axl konnte sich nichts Unpassenderes für sein Leben vorstellen. George war bereits Mitte dreißig, knapp fünfzehn Jahre älter als Axl, und er lebte mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Santa Monica. Unterrichtete dort als Tutor an der Universität. Spießiger ging's ja gar nicht mehr. Wie konnte man auch noch freiwillig Lehrer werden? Und Jura studieren? Ich? Ganz sicher nicht. Axl klaute eher den Alkohol aus dem Liqour Store um die Ecke.

Zwischen ihm und seinem Bruder lagen Welten. Aber vermutlich auch, weil George schon ewig nicht mehr zu Hause wohnte und der Altersunterschied so groß war. Axl war der Nachzügler, den seine Eltern eigentlich gar nicht mehr gewollt hatten. Und daher machten seine Eltern auch keinen Hehl daraus, dass sie George immer über ihn stellten. Egal, was Axl tat, es war grundsätzlich nicht richtig und er bloß eine Last. Aber genauso wollte Axl sich ebenfalls nichts von ihnen vorschreiben lassen, was seine eigene Zukunft anbelangte. Er wusste selbst gut genug, was er für sein Leben wollte. Er wollte Musik machen. Immer. Jede Sekunde.

Ob er damit nun Geld verdiente oder nicht. Das war das Einzige, was er wirklich konnte. Und was er wirklich liebte.

Und lange genug hatte er nun hinter verschlossenen Türen seinem Kummer über das unbefriedigende Leben eines Durchschnitts-Jugendlichen in einer Durchschnitts-Familie in einem Durchschnitts-Viertel von Los Angeles Platz gemacht. Hatte Songs geschrieben über Wut, Hass, Verzweiflung, Freiheit und Verlust.

Nun sollte die Welt da draußen endlich erfahren, was er zu sagen hatte. Seine vier Wände hatten ihm schon lange genug zugehört. Er fühlte sich zu weitaus mehr bestimmt, als nur das.

Er war bereit und trotzdessen so unfassbar nervös, weil ihm so viel an der Sache lag. Seine Gefühle spielten ihm mal wieder einen Streich. Von einer Minute auf die andere zu einhundert Prozent der selbstbewusste Frontman in spe einer neuen Band am Grunge-Himmel. Ha Ha. In der anderen Sekunde hätte er sofort gewendet und einen Rückzieher gemacht.

Bevor er da rein ging, würde er noch was brauchen. Und wenn der Verkehr sich nicht gleich auflöste, würde er wirklich noch zu spät zum Vorsingen kommen. Scheiße, man. Er hätte doch die 405 nehmem sollen, statt den Inglewood Boulevard.

MATTHEW Vergangenes Jahr hatte Matt durch einen Zufall seinen Nachbar Daniel kennengelernt. Und als sie beschlossen, ne Band ins Leben zu rufen und Matts bester Kumpel Ramon sich extra dafür kurzerhand das Bassspielen beigebracht hatte, konnte er ja nicht ahnen, wie schwer es war, jemanden zu finden, der singen konnte und auch noch in die Gruppe passte. Dann hätte er es wahrscheinlich gar nicht erst angeleiert und es beim Jammen mit seinen besten Freunden Ramon und Daniel belassen.

Zuerst hatten sie einen Typen aus der Musik-AG aufgetan. Er war ein Jahrgang unter ihnen und sie hatten ein paar Cover-Songs eingespielt und ein paar kleine Sessions vor Freunden in ihrem Bandraum in der alten Lagerhalle gespielt. Tatsächlich traten sie auch einmal zum Schulball auf, weil die Lehrer keinen Plan hatten, was sie für Musik machten und keiner ihrer Mitschüler konnte mit den harten Sounds was anfangen. Es war einfach nur kacke. Und so richtig gut waren sie auch noch nicht. Dann hatte ihr Sänger aus heiterem Himmel hingeschmissen. Aber sie wollten diese Band. Unbedingt. Und seither coverten sie diverse Grunge-, Rock- oder Heavy Metal-Songs aus den letzten Jahren.

Und obwohl Ramon eher auf Hip-Hop stand, ging er auch zu den heavy Beats ordentlich ab. Doch keiner von ihnen konnte wirklich singen. Das war das Problem. Sie hatten Potenzial. Das spürten sie. Aber noch fehlte ihnen das Fünkchen Einzigartigkeit. Und eben ein passender Sänger.

Matt hatte sich auch schon mal dabei einen abgebrochen, selbst einen Song zu schreiben. Aber er glaubte, das lag ihm nicht so. Ramon hingegen konnte ganz gut rappen und textete bei Gelegenheit mal spontan ein paar Rhymes. Aber er hatte keine Singstimme. Außenstehende würden jetzt sagen, bei dem Geschrei brauchte man doch keine Singstimme. Aber das kann man so nicht sagen. Und man muss ja schließlich auch fühlen, was man da schreit. Und das war das zweite Problem. Die ganzen Typen, die bisher bei ihnen vorgesungen hatten, fühlten die Songs nicht. Sie lernten sie auswendig und rotzten sie raus. Der eine wollte zu viel Punk, der andere konnte nur Coversongs singen und wollte keine eigenen Texte schreiben. Und wieder ein anderer hatte sich etwas überschätzt und war nach dem ersten Lied schon heiser gewesen und brach ab.

Der vierte Kandidat war viel zu alt und ihm der Sound doch zu hart und er wollte lieber Classic Rock spielen. Und so wie es aussah, würde der fünfte Kandidat noch nicht mal hier antanzen. Es war zum Verzweifeln. Sie nahmen die Sache vermutlich viel zu ernst, dabei war es doch nur ein Hobby für die freien Nachmittage.

Ramon und Matt waren tagelang nach der Schule mit ihren BMX-Bikes durch das Viertel gefahren und hatten Zettel ausgehängt: Sänger für Rockband in Hawthorne gesucht. In der Highschool – obwohl da kaum einer sowas hörte – am Skaterpark und am Basketballcourt. Nichts. Dann hatten sie den Radius erweitert.

Matt hatte sich am Wochenende die Karre von seinem Dad geliehen und zu dritt hatten sie die Zettel auch am Strand von Manhattan Beach und bei jedem Surferladen verteilt. Oder sie drückten es Leuten in die Hand, die so aussahen, als würden sie dieselbe Musik hören und vielleicht jemanden kennen. Irgendwo musste sich doch jemand finden lassen, der das gleiche wollte, wie Daniel, Ramon und Matt.

AXL Wegen Cobain hatte Axl sich das Gitarrespielen beigebracht und wegen Axl Rose angefangen zu singen und sich seine Haare lang wachsen lassen. Ok, er selbst hatte braune Haare und sie waren auch noch nicht so lang, aber er trug auch wie Axl Rose immer ein Bandana um den Kopf und seither hatte er in der Highschool den Spitznamen Axl erhalten. Das ging soweit, dass er sich mittlerweile fast nur noch als Axl vorstellte. Zeitweise vergaß er selbst ganz, dass das gar nicht sein wirklicher Name war. Eigentlich hieß er Eric Fuhrman. Aber das war ja langweilig. Ein Musiker brauchte schließlich einen Künstlernamen.

Doch manchmal war es ihm gar nicht recht, so krass mit seinem Alter Ego in Verbindung gebracht zu werden. Er war schließlich nicht sein Idol Axl Rose. Er war er. Ein Typ von achtzehn Jahren, der leidenschaftlich gern Rockmusik hörte, während die anderen an seiner Schule nur lahmen Pop oder Elektro hörten und die Mädchen irgendwelche Boygroups anhimmelten. Mit seiner Leidenschaft stand er allein da und kaum jemand mochte die Bands, die er gern hörte. Schon von klein auf, hatten ihn die Gitarrenriffs und die lauten, blechernd, scheppernden Schlagzeuge in seinen Bann gezogen. Sein Onkel Pete hatte ihm alles gezeigt. Von Black Sabbath, Led Zeppelin bis hin zu Metallica und eben Guns N' Roses.

Letztere hatte ihn in den vergangenen Jahren am allermeisten beeinflusst. Kein Wunder also, dass seine Mitschüler ihn alle Axl nannten. Er hatte alles aufgesogen, wie ein Schwamm. Bereits als kleiner Junge lösten diese tiefgründigen Texte all dieser Bands und die Schwere der Melodien sowie die Hingabe in ihren Gefühlen etwas in ihm aus. Sein Onkel schenkte Axl zu jedem Geburtstag eine Schallplatte oder eine Kassette und zu seinem zwölften Geburtstag sogar eine Les Paul Gitarre. Ganz zum Missfallen seinen Dads.

Dieser war der Ansicht, Pete sollte diesen Krach nicht auch noch unterstützen. Aber Pete und Axl verstanden sich blind und er wusste immer genau, wonach Axl der Sinn stand. Und das war zu dem Zeitpunkt, selbst Musik zu machen und ein Instrument zu lernen.

Als Nirvana dann vor drei Jahren ihr Album Nevermind veröffentlicht hatte, war er völlig geflasht gewesen von dieser ganz neuen Düsterheit. Die ganze Szene des Grunge schwappte plötzlich wie eine Welle von Seattle herüber und verpasste der Musikindustrie einen Tritt in den Arsch. Es war der Megahype gewesen. Alle bis dahin unverstandenen Jugendlichen und einsame Seelen, so wie er, fühlten sich urplötzlich abgeholt von dieser passiven Wut und Verzweiflung. Pathetisch und doch so überdrüssig vom Leben zugleich. Und alle Eltern dieser Jugendlichen waren verzweifelt, da ihre Kinder sich in dieser Verzweiflung wiederfanden.

Plötzlich sprossen überall aus dem Boden neue Grungebands hervor, die alle ihre Deprimiertheit über die Welt und das Leben mit allen teilen wollten. Pearl Jam, Soundgarden oder The Smashing Pumpkins.

Diese Bands gab es zwar vorher schon, aber erlebten erst jetzt ihre Hochphase durch den Hype um Nirvana und dieses neue Genre. Und wie immer gab es die wirklichen Fans, die die Musik aufsogen und bis in jede Faser spürten, so wie Axl. Und dann gab es die Mitläufer jeder Szene und man wusste kaum noch, wo man hinschauen sollte vor lauter Flanellhemden und gekünstelter Depressionen. Und die Mädels, die Kurt Cobain anhimmelten, wie so einen Boygroup-Sänger, hatten einfach mal gar nicht kapiert, worum es ging. Genau so wenig ließ Axl sich von irgendwelchen Fans beeinflussen und er machte sich selbst absolut nichts aus der vorherrschenden, kuriosen Feindschaft zwischen Nirvana und Guns N' Roses, sondern bewunderte beide Bands gleichermaßen.

Guns N' Roses war die Band, die ihn an die Musik heran geführt hatte. Nirvana war die Band, die ihn zu sich selbst geführt hatte. Und auch wenn er die Songs und den Spirit des Grunge liebte und am Anfang diesen Look ebenfalls für sich interpretierte und sich darüber definierte – nun war er älter und brauchte sich nicht permanent durch einen bestimmten Style oder so ausdrücken. Axl war der Meinung, er hätte bereits zu sich selbst gefunden. Und er würde seinem einzigartigen Style treu bleiben. Das war schließlich er. Das war Axl. Oder Eric. Whatever. Sucht euch was aus.

DANIEL Als Daniel zehn war, hatte der damalige Freund seiner Mom, Carter, ihm eine Gitarre mitgebracht. Es war kein tolles Teil, er hatte sie auf irgendeinem Flohmarkt gekauft. Er konnte ein bisschen spielen und brachte Dan ein paar Akkorde bei. Er begriff schnell und entwickelte eine regelrechte Besessenheit. Carter meinte, er hätte echt Talent. Weil seine Mom das wenige Geld immer für Kippen und Wein ausgab, kaufte er sich von seinem zusammengekratzten Taschengeld ein Buch How to play Guitar und spielte diese Lieder daraus ununterbrochen, bis seine Finger wund waren. Seine Mom Pat verdrehte schon die Augen, wenn er zum zwanzigsten Mal ein und dieselbe Strophe spielte und sich immer in den Tönen vergriff. Es war schief und sie verzog das Gesicht.

Mit ihrem flapsigen Mundwerk rief sie dann immer durch die ganze Wohnung: „Scheiße, Dan, ich versteh ja kein einziges Wort hier in der Talkshow“, und knallte die Tür von seinem Zimmer zu. Er konnte sich genau vorstellen, wie seine Mom, sich selbst bemitleidend, eine Zigarette nach der anderen qualmend, auf dem Sofa im Wohnzimmer saß, stundenlang ihre Sendungen schaute, sich die Nägel lackierte und sich eine Flasche Rosé reinkippte. Mit Lockenwicklern in den Haaren, weil später noch ihr neuer Macker vorbeikam.

Aber es war schon lange nicht mehr der Kerl, der ihm die Gitarre mitgebracht hatte. Von Carter hatte sie sich schon längst wieder getrennt. Daniel wusste nicht wirklich warum. Carter war einer der Typen gewesen, mit denen seine Mom am längsten zusammengewesen war. Und er hatte Dan sehr gemocht und ihn wie seinen eigenen Sohn behandelt. Das vermisste Dan oft, denn seinen leiblichen Vater hatte er nie kennengelernt. Dazwischen waren noch etliche andere Kerle gewesen, die in ihrem Haus ein- und ausspaziert waren. Und immer hatten diese sich selbst irgendwelche Rechte ausgesprochen, die ihnen erlaubten, Dan, seinen Bruder Noah und seine Mom herumzukommandieren und sich als Autoritätsperson darzustellen. Dabei war es doch gar nicht ihr Haus. Und außerdem waren die Typen alles nur Loser, die ihre Wut über ihre Nichtsnutzigkeit an ihnen ausgelassen hatten. Aber seine Mom nahm das immer alles so hin und die Typen dominierten sie jedes Mal. Sie schwörte immer wieder, dieses Mal sei es ernst und die große Liebe und nach ein paar Monaten resultierte alles in einer gewaltigen Eskalation mit klirrenden Tellern an der Wand und der Typ war über alle Berge. Und seine Mom vergrub sich danach wie jedes Mal tagelang in ihrem Schlafzimmer, stopfte sich eine Xanax nach der anderen rein, während es in ihrem ungelüfteten Zimmer nach billigem Schnaps und fettigen Haaren roch.

„Du und Noah, ihr seid die einzigen Männer in meinem Leben, die ich wirklich brauche und liebe“, jammerte Patricia dann immer wieder in solch einem Moment. „Jetzt ist endgültig Schluss mit den Männern.“ Sie drückte Dan an sich, wuschelte ihm durch sein kurzes, dunkles Haar und musste fast heulen. Er fühlte sich immer total unwohl dabei und wusste nicht, was er sagen sollte.

Meist ging es ihr aber bereits nach wenigen Tagen wieder besser und als er eines Tages von der Schule kam, stand sie plötzlich barfuß in der Küche, mit einem Haufen frischem Gemüse auf der Theke, kochte, tanzte und sang dabei lauthals und völlig schief Like A Virgin von Madonna. Auf die schlechten folgten auch immer wieder gute Tage.

AXL Er parkte den Wagen vor einem unscheinbaren, nach außen hin leerstehenden Gebäude und blickte sich um. Kein Mensch weit und breit und auch keine Hausnummern. Die Straße in einem abgelegenen Industriegebiet wirkte ausgestorben und nicht sehr einladend. Aber das gefiel ihm und kam ihm gerade recht.

Bevor Axl ausstieg, griff er noch schnell ins Handschuhfach, fingerte einen halb gerauchten Joint heraus, zündete ihn an, nahm ein paar Züge und warf anschließend noch eine Mandrax ein, die er immer in seiner Geldbörse mit sich herumtrug. Nur für alle Fälle. Diese Kombination würde ihm die nötige Ruhe und zugleich das Selbstbewusstsein geben, das er brauchte, um die Typen von sich zu überzeugen.

Axl schlug die Fahrertür mit einem blechernen Knall ins Schloss und suchte den Eingang des verrammelten Hauses. Hinter einem Brett, das die Haustür ursprünglich verriegeln sollte, ließ sich die alte Holztür mit einem Knarzen widerwillig öffnen. Danach folgte ein langer, trister Gang. Zugleich hörte er einen eingängigen Basslauf. Ganz offensichtlich war er hier richtig. Axl schüttelte sich einmal und spürte, wie das Rauschmittel langsam anfing, seine Wirkung zu entfalten. Er war bereit. Und wie immer extrem zu spät. Noch was, das ich mit Axl Rose gemeinsam hab', dachte er.

MATTHEW Matt dachte echt nicht, dass doch noch jemand kommen würde. Bei ihrem Glück bei der bisherigen Suche, wäre das nur typisch gewesen. Während Ramon gelangweilt irgendwas auf dem Bass rumdaddelte, lagen Dan und Matt auf der zerschlissenen Couch, die sie eines nachts mithilfe eines Einkaufswagens durch das halbe Viertel befördert hatten. Dan schwieg, starrte an die Decke und war wie immer verschlossen und Matt füllte den Raum mit dem süßlichen Duft der wertvollen, winzigen Ernte der eigens von Matts Mom angebauten Sinsemillas.

Dann erschien plötzlich im Türrahmen ein Typ und klopfte gegen die Wand, um sich bemerkbar zu machen.

Er war großgewachsen und ziemlich schlaksig. Hatte lange, braune Haare und trug ein T-Shirt der Use Your Illusion-Tour von Guns N' Roses, eine ausgefranste Jeans, die ihm nur bis zu den Schienbeinen reichte und dazu dreckige, schwarze ausgelatschte Chucks. Er sah aus, wie eine Mischung aus Axl Rose und Kurt Cobain.

„Was geeeht?“, rief der Typ durch den gesamten, hallenden Raum und kam ziemlich forsch zu den anderen auf die gegenüberliegende Seite der Lagerhalle geschritten. Matt richtete sich auf und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

„Ja fett, man. Schaut mal, wer sich hier die Ehre erweist? Axl Rose höchstpersönlich“, scherzte er und ging dem Typen entgegen.

„Wir hatten telefoniert?“

Matt gab ihm zur Begrüßung die Faust und nickte.

„Ich bin Eric, aber ihr könnt auch Axl zu mir sagen.“

Wieder musste Matt lachen. „Naheliegend.“

Axl ließ sich zu Matt und Dan aufs Sofa plumpsen und schaute sich um.

„Hoffe, du hast auch noch was anderes auf Lager, als nur das.“

Ramon deutete auf Axls Tourneeshirt. Axl breitete die Arme aus.

„Kein Ding, man, ich sing, was ihr wollt.“

Matt hob die Augenbrauen. Okay, der Typ hatte scheinbar ausreichend Selbstbewusstsein. Aber das war für einen Sänger ja nicht unbedingt das schlechteste Attribut. Auf den ersten Blick schien er ganz gut reinzupassen.

Ramon stellte sich ebenfalls vor. „Ich spiel Bass. Aber gelegentlich rappe ich auch zu Hause ein bisschen was.“

„Cool“, erwiderte Axl knapp, nickte anerkennend, schnappte sich wie selbstverständlich ein Bier, das neben dem Sofa auf dem Betonboden stand und nahm Matt den Joint aus der Hand. Matt deutete auf Dan. „Das ist Dan, unser Master of Guitars.“

„Was läuft? Ich spiel auch Gitarre, neben dem Singen“, bemerkte Axl. „Seit wann spielst du?“

Dan überlegte kurz, aber Matt kam ihm zuvor. „Seit ein paar Jahren, aber er ist der Beste, den ich bis jetzt gehört hab.“

„Bis jetzt“, Axl grinste selbstgefällig. „Aber kann er nicht selbst sprechen, oder warum seid ihr sein Sprachrohr?“ Axl nahm ein Schluck von seinem Bier und deutete auf Dan. Dan hatte bisher noch keinen Ton von sich gegeben, was eh selten vorkam und für Ramon und Matt schon völlig normal war. Er war mehr der stille Beobachter.

Als Axl bemerkte, dass ihn die drei daraufhin etwas angepisst und irritiert anschauten, lachte er nur. „Kleiner Scherz man, seid doch nicht so empfindlich. Aber Spaß beiseite. Jetzt schießt mal los, was genau spielt ihr so? Alternative, Grunge, Hardcore, Post-Rock, Punk-Rock, Hard-Rock, Heavy Metal, Thrash Metal? Aber bitte nicht so eine Mainstream-Scheiße, oder was?“

Und 'ne Labertasche ist er also auch noch. Matt schnappte sich seine

Sticks und hockte sich auf seinen Drum-Hocker. „Puh, eigentlich alles mögliche. Wir machen unser eigenes Ding und covern das, worauf wir gerade Bock haben. Sind da nicht total festgelegt, also –“ „Okay, okay“, unterbrach Axl ihn. „Hauptsache, ihr meint es ernst und fühlt das, was ihr spielt. Was dagegen, wenn ich mit 'nem Song von Nirvana anfange? Denn, wenn ich bei euch einsteige, dann werden wir die beste Grunge-Band, Leute, ich spür' das, verdammt.“

„Klar doch.“ Matts Worte klangen sarkastisch und er schmunzelte. „Und, hey, eins nach dem anderen, chill mal, Dude.“

Matt warf Ramon einen kurzen Seitenblick zu. Er wusste nicht recht, was er von diesem Axl und seiner offensiven Art halten sollte und wollte nun zum eigentlichen Part übergehen. „Dann zeig doch mal, was du auf Lager hast,“ forderte Ramon ihn auf und Matt hoffte, dass Axls selbstsicheres Auftreten und seine etwas herablassende Art nicht seine Unfähigkeit vertuschen sollten, sondern dass dieser Typ auch wirklich was drauf hatte.

AXLFuck, er musste sich echt zusammenreißen und weniger labern. Vielleicht hätte er auf die Mandrax doch verzichten sollen. Diese Scheißdinger machten manchmal mit seinem Mundwerk was sie wollten. Die Typen würden ja denken, er sei völlig abgehoben. Aber was war das auch für 'ne Truppe? Dieser Matt mit seinen Dreadlocks an den Drums sah aus wie ein Möchtegern-Hippie. Ramon, ein rappender Bassist. Und Daniel, ein in sich gekehrter Gitarrist, der kaum ein Wort rausbekam. Na, was das wohl werden sollte? Aber jetzt erstmal konzentrieren, Fresse halten und mit seinem Talent überzeugen, redete er sich ein, während er den letzten Schluck des geschnorrten Biers in sich reinschüttete.

RAMON Okay, okay. Der Typ hatte echt was auf dem Kasten. Und das war noch untertrieben. Er war echt ziemlich gut. Das musste Ramon schließlich zugeben, auch wenn er ihm zuerst skeptisch gegenüber getreten war. Axl sang zunächst ein paar Sachen a cappella an und er konnte sofort improvisieren, als Ramon, Dan und Matt ein nicht ganz so bekanntes Stück von Alice in Chains anspielten.

„Schreibst du auch eigene Songs?“, fragte Ramon nach einer ersten erfolgreichen Session.

„Klar, einen Moment.“ Axl lief rüber zu der Akustikgitarre, die in der Ecke auf dem Ständer stand. „Darf ich?“, fragte er offensichtlich an Dan gewandt. Der nickte nur zustimmend. Axl warf sich den Gurt um und trat zurück ans Mikro. Er sang seinen eigens komponierten Text und füllte den gesamten Raum mit Verzweiflung und Wut aus. Sogar Matt, stiegen fast die Tränen in die Augen, als sie ihm sprachlos lauschten. Und das sollte schon was heißen. Der Typ hatte entweder ungemein großes schauspielerisches Talent oder er war auf jeden Fall mal so richtig kaputt und schräg zugleich. Und das war Ramons Meinung nach genau das, was sie gesucht hatten.

Musiker waren doch immer irgendwie exzentrisch. So war Dan eben ein stummes Genie und Axl/Eric besaß einfach ein etwas zu gesundes Selbstbewusstsein. Ramon fand nicht, dass Axl sich daneben benommen hatte. Irgendwie amüsierte er ihn und er hatte einfach 'ne Schraube locker. Aber haben wir das nicht alle irgendwie? Ob Dan und Matt das auch so sahen, würde sich zeigen.

Als Axl mit seiner überzeugenden Darbietung fertig war, warf er sich zu den anderen aufs Sofa und machte sich noch ein weiteres Bier auf. „Also, was ist? Bin ich dabei oder bin ich dabei?“ Er grinste die anderen drei herausfordernd an. Um den Typen ein bisschen auszubremsen sagte Ramon nur: „Ich würde sagen, wir melden uns, okay?“

AXL Axl parkte seine verbeulte Karre vor dem Anwesen seiner Eltern in der öden, spießigen Wohngegend mit all den Doppelgaragen, den gepflegten Vorgärten und Swimming-Pools. Er legte den Kopf in den Nacken und wartete noch einen Moment, bevor er hineinging. Eine Weile brauchte er noch, um wieder runterzukommen. Die Mandrax ließ langsam nach und seine Gedanken klärten sich auf. Aber zugleich wurde er auch wieder nachdenklicher und unsicherer. Entgegen seinen Erwartungen waren die Jungs ziemlich gut gewesen und es hatte echt gerockt, was sie da spontan improvisiert hatten. Während er gesungen und Gitarre gespielt hatte, musste er an Pete denken. Sein Onkel war gestorben, als Axl fünfzehn Jahre war. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Riesige Scheiße. Axl vermisste ihn immer noch total und er war nach seinem Tod in ein deprimierendes Loch gefallen. Wie war das noch gleich? Nur die Besten sterben jung? Von da an hatte er sich mit seinen konservativen Eltern allein herumschlagen müssen. Das war 'ne Scheißphase gewesen. Seitdem hatte er die Schule schleifen lassen und sich immer in Situationen gebracht, um zu provozieren und sich mit den Idioten aus seiner Klasse anzulegen und grundsätzlich mit seinem Verhalten aus der Art zu schlagen. Von da an war er irgendwie zum Einzelgänger geworden. Da war der Grunge und der frustrierte Sound eines Kurt Cobains damals genau zur richtigen Zeit gekommen. Das Leben war scheiße ungerecht und überhaupt viel zu kurz.

Mit wem sollte er jetzt stundenlang Gitarren-Jam-Sessions am Wochenende veranstalten? Mit wem sollte er auf Konzerte seiner Idole gehen und mit wem die lyrischen Ergüsse eines Robert Plant auseinander nehmen? Wer sollte ihm gutzureden, wenn es um Probleme in der Schule oder mit seinem Dad ging? Mit seinen Eltern konnte er darüber ja wohl schlecht reden. Tagelang hatte er auf seinem Bett gelegen. Über ihm jeder noch so winzige Schnipsel eines Artikels seiner Lieblingsbands, den er finden konnte, mühselig mit Reißzwecken an die Wand und die Decke gepinnt. Er starrte ins Nichts und rauchte einen Joint nach dem anderen. Irgendwann zu diesem Zeitpunkt hatte er wohl auch mit diesen Tabletten angefangen. Kurt schrie sich die Seele aus dem Leib. Axl schrie auch, aber stumm. Sein Seelenverwandter war fort. Pete war tot. Seine Eltern wollten es nicht zulassen, dass er sich deswegen so gehen ließ. Sie verstanden seine Zerrissenheit und sein Aussehen nicht und hackten immer nur auf ihm rum, warum er denn nicht wie sein Bruder George oder die Jungs aus der Nachbarschaft war. Und Axl fehlte damals einfach der Halt bei Menschen, die dieselbe Leidenschaft zur Musik teilten, wie er und allzu viele Freunde hatte er auch nicht. Er eckte immer irgendwie an mit seiner Art. Entweder war er zu überheblich und von sich selbst überzeugt. Oder zu nachdenklich und unnahbar. Aber vielleicht sollte das ja jetzt ein Ende haben. Er konnte nur hoffen, dass er die drei von seinem Können überzeugt hatte. Trotz seines losen Mundwerks.

Hey Pete, dachte er, vielleicht hast du mich ja vorhin gehört. Ich hoffe, du wärst stolz.

RAMON Die Sonne stand schon ziemlich tief und war kurz davor, im Ozean zu versinken. Trotzdem war es noch unfassbar heiß und der bröckelnde, aufgeheizte Beton trug seinen Teil dazu bei. Dennoch spielten Ramon und seine Kumpels aus der Nachbarschaft unermüdlich die Runde Basketball zu Ende. Der Platz war umzingelt von Schnellstraßen und sie hörten unablässig den Verkehr neben sich plärren. Die Gitterstäbe des hohen Zaunes, der den Platz ringsherum umgab, warfen einen tiefstehenden Schatten auf den Asphalt. Unzählige kleine, schwarze Striche auf dem Boden, die Ramon davon ablenkten, auf den Ballwechsel zu achten.

Und verkackt. Damn it.

Eine Sekunde gepennt und schon hatte die gegnerische Mannschaft sich den orangefarbenen Ball geschnappt und lochte sogar noch den entscheidenden Korb ein.

Außerhalb des Zaunes beobachteten ein paar Freunde der Spieler das Treiben und auch seine beste Freundin Isabella verfolgte am Spielfeldrand seine Schritte und machte ein verzerrtes Gesicht, nachdem er den Ball ans andere Team verloren hatte.

Sein 2Pac-Shirt war komplett nass und seine schwarzen Locken klebten ihm an der Stirn. Er ließ sich erstmal am Rande des Platzes nieder und zog fast eine ganze Coke in einem Zug weg. Die anderen verabschiedeten sich nach und nach. High Fives wurden verteilt, sich kurz zum Abschied zugerufen oder gehässige Andeutungen zum verlorenen Spiel und die Chance auf eine Revanche passierten den Platz. Isabella verabschiedete sich von ihm und verschwand mit zwei Freundinnen in entgegengesetzter Richtung. Ramon pfefferte die Colaflasche in den komplett überquellenden Mülleimer neben dem Basketballcourt und schloss sein BMX vom Zaun los. Er kramte seinen Walkman aus dem Rucksack, stülpte sich die Kopfhörer über und düste die wenigen Blocks durch South Central bis nach Hause, während er The Chronic von Dr. Dre startete.

Creepin' down the back street on Deez.

I got my glock cocked, cause 'em niggas want these.

Just another motherfuckin' day for Dre, so I'll begin like this.

It's just that gangsta glare with gangsta raps.

Word to the motherfuckin' streets.

Nach der Bandprobe und dem Spiel würde er mit Sicherheit nur noch schnell zwei Burger verdrücken und sich vor die Glotze hauen. Er fuhr durch sein Viertel, fünf Blocks weiter, vorbei an Afroshops, Grocery Stores, Cafés und Schnellimbissen, vor denen kleine Gruppen von Männern afroamerikanischer oder südamerikanischer Herkunft saßen, Kaffee tranken und rauchten, sowie vorbei an diesen neuen Internet-Cafés, die jetzt überall eröffneten.

Ramon fuhr durch eine schmale Seitenstraße in den Hinterhof. Ein paar kleine Jungs spielten dort noch Fußball und trugen viel zu große Trikots ihrer Idole. Von oben vom Laubengang hörte er, wie sich ein Pärchen lauthals auf Spanisch stritt.

Eine farbige Frau mit knallbuntem Blumenkleid und riesigem Hinterteil kam ihm auf der Treppe mit einem Korb voll Wäsche entgegen und versperrte ihm den Weg. Ungeduldig blieb er stehen, wartete und sprintete dann die Stufen in den ersten Stock hinauf, in dem er immer zwei Stufen gleichzeitig nahm.

Er schlurfte den Laubengang des etwas heruntergekommenen zweistöckigen Mehrfamilienhauses entlang, bis zu seiner Haustür und wischte sich mit dem unteren Rand seines T-Shirts den Schweiß von der Stirn. Von Weitem sah er bereits, wie seine elfjährige Schwester Sofia vor ihrer Wohnungstür rumlungerte und ein langes Gesicht machte. Ihre Miene hellte sich auch nicht auf als sie Ramon entdeckte. Sie zupfte an einer der pinken Schleifchen ihres Oberteils herum und schaute auf den Boden.

„Hey, was ist los mit dir, Fi?“, rief Ramon ihr zu, aber bis er sie und die Wohnungstür erreichte, gab sie keinen Ton von sich.

„Alles in Ordnung?“ Er ging in die Hocke und sah ihr ins Gesicht. Sofia schüttelte mürrisch den Kopf und deutete auf ihre Wohnung. Von drinnen hörte er laute Gesprächsfetzen seiner Eltern.

„Irgendwas ist mit Diego“, murmelte sie fast tonlos. Ramon verzog das Gesicht. Nicht schon wieder. Er wandte sich von seiner Schwester ab und ging hinein. Sofort erblickte seine Mom Marianna ihn und kam mit sehnsuchtsvollem Gesicht auf ihn zu. Zerdrückte ihn fast, als sie ihn umarmte.

„Dein Bruder“, rief sie nur verzweifelt aus. Ramon löste sich von der klammernden Zuneigung seiner Mutter und sah sie an. „Er wurde wieder verhaftet. Es gab eine Schießerei oben am Boulevard.“

MATTHEW Letzten Sommer, ein paar Monate zuvor, lag Matt auf dem fleckigen Teppichboden seines Zimmers, neben schmutzigen Tellern und leeren Colaflaschen, inhalierte seine blubbernde Bong und hörte dabei den ganzen Nachmittag über Cypress Hill.

Hits from the Bong.

Die blonden, dicken Strähnen seiner Dreadlocks legten sich um seinen Kopf wie die Strahlen der Sonne. Es war viel zu heiß und er gammelte nur in Boxershorts dort herum und schwitzte vom Nichtstun. Er könnte Sarah anrufen. Oder Madison. Oder Olivia? Ach nee, Olivia klammert zu sehr. Er konnte froh sein, dass sie sich nun seit einer Woche nicht mehr gemeldet hatte. Anscheinend hatte sie endlich kapiert, dass das keine Beziehung war, was sie miteinander hatten, sondern nur eine einmalige Sache.

Aber er war eh viel zu faul, um aufzustehen und zum Telefon in den Flur zu gehen. Dann wohl auch kein Sex heute. Also blieb Matt liegen. Er konnte vor lauter Qualm kaum noch die Hand vor Augen sehen und es wunderte ihn, dass die Nachbarn nicht die Feuerwehr riefen, wenn sie sahen, was für Rauch aus seinem Fenster austrat. Aber wahrscheinlich waren die auch zu faul dazu, an diesem unterträglich heißen Tag wie heute.

I wanna get high. I wanna get high. So high.

Bin ich doch schon längst, antwortete er in Gedanken dem quarkenden Sänger, der die Zeile immerzu wiederholte.

Matt döste ein in einen kurzen Tagtraum und wurde unsäglich geweckt, als das Lied plötzlich leierte, weil das Tapedeck anfing, das Band zu fressen. Vor Schreck zuckte er zusammen und stieß dabei die Bong um, die immer noch neben ihm stand.

Fuck. Fluchend und träge durch die Hitze und das Haschisch robbte er zum Kassettenrekorder und stellte ihn aus. Das verflixte Teil war langsam echt hinüber. Nicht mal mehr in Ruhe Musik hören konnte man hier. Da musste er seinem Dad wohl was vorheulen, dass er zum Geburtstag endlich einen CD-Player bekam. Aber so ein neues Ding war scheißteuer.

Immer noch kauerte er auf dem Fußboden. Da die Musik ja nun den Geist aufgegeben hatte und es völlig still war, bemerkte er plötzlich von draußen ganz andere Klänge. Aus der Ferne nahm er fette Gitarrensounds wahr. Schon öfter hatte er die gehört, sich aber nie weiter drum geschert. Aber dieses Mal waren sie richtig gut und er fühlte sich förmlich davon angezogen. Matt erwischte sich dabei, wie sein Fuß zu wippen begann. Das einzige Körperteil, dem er momentan eine Bewegung entlocken konnte.

Er musste feststellen, dass er eigentlich keinen seiner Nachbarn wirklich kannte. Nie hätte er damit gerechnet, dass gerade hier im Viertel jemand wohnte, der so gut Gitarre spielen konnte und dann scheinbar noch dazu so einen passablen Musikgeschmack hatte.

Als seine Neugier und auch seine Langeweile zu groß wurden und er seine Lethargie überwinden konnte, quälte er sich mühselig auf die Füße, zog sich seine Baggy und ein Tanktop über und schlurfte über die Veranda auf den Gehweg. In seiner Straße sahen alle Häuser gleich aus. Ein Bungalow glich dem anderen. Nur das Haus seiner Eltern war in einem hellgrün angestrichen und schlug aus der Art. Alle hatten denselben Vorgarten und dieselbe Garage rechts neben dem Haus. Hawthorne war nicht die beste Gegend, aber auch nicht die schlechteste hier in South Central. Sein Blick wanderte an jedem einzelnen Haus entlang. Ließ sich schwer einordnen, von wo der Sound kam. Aber er folgte seinem etwas abgestumpften, aber verlässlichen Gehör und landete wenige Augenblicke später vor einem verwilderten Vorgarten an der Pforte von Familie Parker. Zumindest stand das auf dem Namensschild am Briefkasten.

DANIEL Wenn seine Mom schlechte Phasen hatte, versuchte Daniel leiser zu spielen, um seine Mom nicht zu verärgern. Wenn sie genervt war und zu viel getrunken hatte, wurde sie unberechenbar und nahm ihm manchmal einfach die Gitarre weg.

Einmal hatten sie sich so gestritten, dass seine Mom so stark an der Gitarre gezerrt hatte, dass Daniel später mühselig die Saiten neu hatte aufziehen müssen. So auch heute. Sie hämmerte an seine Tür und Dan dachte, dass sie gleich mit ihrer Faust ein Loch durch das dünne Holz schlagen würde. „Dan, ich will pennen. Hör mit dem Lärm auf. Wie oft soll ich's noch sagen?“

Niedergeschlagen stöpselte er seine E-Gitarre aus dem Verstärker aus. Aber ohne den bockte es einfach nicht. Er brauchte dringend einen anderen Ort, an dem er ungestört spielen konnte. Gitarren- unterricht konnten sie sich nicht leisten. Seine Mom war meistens zu Hause und er hatte nicht wirklich gute Freunde.

Er hatte nie richtig Anschluss gefunden bei den Jungs aus seiner Schule und er war immer sehr in sich gekehrt. Von dem Scheiß, den die anderen immerzu anstellten, hielt er sich weitestgehend fern und wenn er mal auf Parties ging, was äußerst selten vorkam, verstand niemand, warum er keinen Tropfen Alkohol trank.

Niemanden aus seiner Klasse hatte er bis jetzt zu sich nach Hause eingeladen. Die Angst, dass seine Mom sich komplett daneben benehmen würde, hatte ihn immer davon abgehalten. Sonst hätten alle gewusst, dass Daniels Mutter Alkoholikerin war.

Nicht mal die Lehrer wussten das. Meist mied sie Elternsprechtermine oder er erfand irgendwelche Ausreden, warum sie nicht kommen konnte. Und er bemühte sich, seine Noten auf einem guten Stand zu halten, sodass es gar keine Beweggründe gab, warum die Lehrer mit seiner Mom überhaupt sprechen sollten. Außer, wenn es mal wieder die ein oder andere Auseinandersetzung mit anderen Mitschülern gab. Seine Klassenkameraden stempelten ihn eher als Streber ab, weil er immer ausreichend lernte und er nie irgendwas tat, dass aus dem Rahmen fiel. Er fühlte sich wohler dabei, unauffällig zu bleiben. Trug immer nur schlichte Shirts und Jeans.

Und seit er letztes Jahr wegen so einer Mobbing-Aktion die Schule gewechselt hatte, blieb er unter den ganzen, fremden Mitschülern eh lieber für sich. So konnte niemand etwas über ihn, seine Gedanken oder Gefühle erfahren. Wieder klopfte es, aber dieses Mal war es nicht seine Mom, denn das Geräusch kam von der Haustür. Doch er hatte keine Lust, ihre Fresse zu sehen und so blieb er einfach stumm neben seinem Verstärker sitzen.

„Scheiße. Wer nervt denn jetzt hier? Keiner zu Hause“, schrie sie angepisst vom Klopfen und dem unerwarteten Gast. Oft machte seine Mom dann auch wirklich nicht die Tür auf, wenn sie keinen Bock auf andere Menschen hatte. Aber dieses Mal hörte er, wie sie schroff die Haustür aufriss.

MATTHEW Die lädiert aussehende Frau im Türrahmen glotzte ihn völlig entgeistert an, während er nur, die Hände lässig in den Taschen, ein einfaches „Hi“ rausbrachte.

„Was willst du?“, blaffte sie. Er war sich in dem Moment gar nicht mehr sicher, ob er seinem Gehör wirklich hatte trauen können und die Gitarrentöne tatsächlich aus diesem Haus gekommen waren.

„Sorry für die Störung“, schob er höflicherweise vorweg. „Ich hab' gehört, wie hier jemand Gitarre gespielt hat.“ Mittlerweile kam er sich ziemlich dumm vor, wie er das sagte. Konnte ihm doch völlig egal sein, ob hier jemand Gitarre spielte, sofern er sich nicht über die Lärmbelästigung beschweren wollte. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, wandte sich die Frau mit den Augenrändern und dem zerzausten, blonden Dutt von ihm ab und rief mit heiserer Stimme ins Hausinnere: „Dan, hier ist noch jemand, der deinen Scheiß nicht mehr ertragen kann. Jetzt nervst du damit schon die gesamte Nachbarschaft.“

Dann drehte sie sich wieder zu Matt. „Kommt nicht wieder vor.“ Lallte sie etwa? Matt nahm die Hände aus den Hosentaschen und machte eine beschwichtigende Geste.

„Nein, nein. Im Gegenteil. Ich will mich nicht beschweren. Ich fand's cool und wollte wissen, woher der Sound kommt, ehrlich gesagt.“

„Na, jetzt weißt du's ja. Sonst noch was?“ Die Furie machte ihm tatsächlich etwas Angst und er wurde ein bisschen kleinlaut. Was äußerst selten vor kam.

Wenige Augenblicke später kam ein etwas schmächtiger Junge, ungefähr im gleichen Alter wie Matt selbst, aus seinem Zimmer. Er wirkte blass und irgendwie abwesend. Bei so einer Mutter kein Wunder.

„Ich kümmer' mich schon, Mom. Leg' du dich ruhig wieder hin.“ Die Mom von dem Jungen warf Matt noch einen irritierten Blick zu und verschwand aus seinem Blickfeld. Was für'n irrer Nachmittag, dachte Matt. Entweder war er immer noch viel zu stoned oder die Alte hatte echt 'nen Schuss.

DANIEL Dan hatte den Jungen mit den auffälligen Dreadlocks schon öfter in der Nachbarschaft und mit seinem BMX gesehen. Er wohnte in dem einzigen bunten Haus in der Straße. Alle nannten es immer nur das Hippie-Haus. Und nun stand er hier plötzlich an seiner Tür und plauderte einfach so aus, dass ihm seine Gitarrensounds gefielen. Bis auf Carter, dem Ex seiner Mom, hatte ihm noch nie jemand ein Kompliment zu seiner Musik gemacht.

„Hey, ich bin Dan.“ Er streckte dem Typen zaghaft die Hand entgegen, aber der gab ihm die Faust und murmelte: „Matt. Was läuft?“ Dan zuckte etwas unbeholfen mit den Schultern.

„Nicht besonders viel.“

„Ich wohn' nebenan und hab deinen Sound bis in unseren Garten gehört, man. Voll fett.“

Dan tappte etwas verlegen von einem Fuß auf den anderen.

„Ja, findest du?“

„Sicher. Was hörst du so?“

Bevor Dan antwortete, nahm er sich den Haustürschlüssel vom Haken neben der Tür und zog diese hinter sich zu. Er hatte keine Lust, dass seine Mom wieder dazwischen funken könnte. Er tappte die zwei Stufen zum Gehweg hinunter, auf dem etliches Unkraut wucherte und Matt folgte ihm langsam und lässig schlurfend.

„Meistens hör' ich Rock oder Grunge. Pearl Jam, Soundgarden und so. Aber ich hör' auch viel altes Zeug. Hab ein paar Platten von den Stones, Queen und The Doors.“

„Geil man. Wie kommt es, dass ich dich dann nicht kenne? Gehst du nicht auf die Hawthorne High?“

Dan fühlte sich etwas unwohl. Er wusste nicht, was er von Matt halten sollte und wie viel er ihm erzählen sollte und was nicht. Er schüttelte den Kopf. „Ich war auf der Highschool in Hawthorne. Hatte aber ein paar Probleme dort und bin jetzt auf einer Highschool in einem anderen Bezirk.“

„Cool, okay,“ antwortete Matt, ohne ihn weiter auszuquetschen. Dan wusste zwar nicht, was an einem Schulwechsel so cool sein sollte, aber Matt schien alles irgendwie cool oder fett zu finden. Er wirkte überhaupt ziemlich locker. Einfach so bei wildfremden Leuten zu klingeln, weil er von dort gute Musik gehört hatte, hätte Dan selbst nie einfach gemacht.

„Stehst du auch auf Punk und Reggae? Hab Platten von Cypress Hill und Sublime. Entspannt dich übelst. Hast du nötig, so wie du aussiehst.“

Dan fühlte sich ein bisschen beleidigt von Matts ehrlicher Art. Und trotzdem willigte er ein, mit rüber zu Matt zu kommen, um dort weiter Mukke zu machen. Vorher schnappte Dan sich aus seinem Zimmer aber noch seine Gitarre samt Verstärker und Matt quetschte sich Dans Kassettenrekorder unter den Arm, weil seiner ja eben den Geist aufgegeben hatte.

„Stören wir bei dir auch niemanden?“, fragte Dan vorsichtig.

„Nö, meine Alten sind bei der Arbeit.“

Ja, so ist das normalerweise, dass Eltern bei der Arbeit sind, dachte Dan. Im Gegensatz zu seiner arbeitslosen Mom.

Seit diesem Tag vor ein paar Monaten verbrachte Dan fast jeden Nachmittag damit, bei Matt abzuhängen und dabei entstand die Idee, eine Band zu gründen. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können, aber eins verband sie ungemein. Die Liebe zur Musik. Matt zeigte ihm sein Schlagzeug und zusammen droschen sie auf ihre Instrumente ein und Dan fühlte sich seit langem so befreit. Irgendwie zugehörig und verstanden.

RAMON Seit einer gefühlten Ewigkeit ließ Ramon sich auf seinem Skateboard in der Halfpipe am Pier ausrollen, hin und her, ohne zu neuem Schwung auszuholen. Er war in Gedanken versunken und starrte auf den Ozean. Oben auf der Halfpipe hockten Dan und Matt. Dan hatte die Augen geschlossen und dudelte abwesend irgendwas auf seiner Akustikgitarre und Matt rauchte eine nach der anderen. Matt tat mal wieder auf obercool, weil er bemerkte, dass die drei von einer Gruppe Mädchen beobachtet wurden. Das war Ramon trotz seiner Tagträumerei natürlich auch nicht entgangen, aber dafür hatte er jetzt keinen Kopf.

Er spannte seinen Körper wieder etwas an, richtete seine Cap und machte einen recht lahmen Ollie. Er hörte die Mädels lachen und quatschen. Aber eigentlich war es ihm auch gerade relativ egal. Oder? Mit seinen Gedanken war er viel mehr bei Diego. Schon zum zweiten Mal hatten sie ihn gepackt, seit Diego dieser Gang angehörte. Immer wieder hörte Ramon davon, wie die Crips und die Bloods sich Kämpfe auf den Straßen von Los Angeles lieferten. Es gab Schießereien, Verletzte und nicht selten auch Tote. Und immer ging es um irgendwelche Drogenmachenschaften.

Diego hatte sich seitdem sehr verändert und war von zu Hause ausgezogen. Seine Eltern hatten keine Kontrolle mehr über den Einundzwanzigjährigen. Sie konnten nichts machen. Immer, wenn er wieder etwas Illegales anstellte, bekamen seine Eltern das jedoch mit. Entweder von Freunden oder den Cops höchstpersönlich. Und jetzt musste er schon wieder hinter Gittern, weil sie ihn bei dem Fight neulich geschnappt hatten. Ein paar Monate würde er mit Sicherheit kriegen. Mal wieder. Erst vor zwei Jahren bei den Rassen-Unruhen in Los Angeles war er ganz vorn mit dabei gewesen. Nachdem die korrupten Cops für ihre Gewalttaten an Rodney King freigesprochen wurden, waren tausende Afroamerikaner und Latinos auf die Straße gegangen und hatten sich bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Sogar die verfeindeten Crips und die Bloods, vereinten sich in diesem Zeitraum, um gemeinsam gegen die Ungerechtigkeit und den Rassismus zu protestieren. Das war krass gewesen. L.A. hatte gebrannt, man. Aber bestimmt wurde Diego wieder von irgendeinem der Gangmitglieder auf Kaution früher rausgeholt. Sowas regelten die immer unter sich. Denn das Geld dafür hatten seine Eltern selbst nicht.

Ramon konnte es echt nicht mit ansehen, wie sehr sie unter der Situation litten. Vor allem seine Mom Marianna. Sein Dad Gustavo hatte schon fast mit seinem ältesten Sohn abgeschlossen. All seine Hoffnung legte er nun in Ramon oder in seine beiden kleineren Schwestern.

Ramon selbst versuchte aber auch die Scheiße von Diego nicht zu nah an sich heran zu lassen. Er machte einen Kickflip, ließ das Skateboard ausrollen und kletterte dann am Rand zu Matt und Dan hinauf. „Also, was ist nun mit diesem Axl?“

MATTHEW „Ich würde sagen, wir versuchen es, was meint ihr?“ Matt steckte sich eine weitere Kippe an, aber die verdächtige Form verriet, dass da noch mehr drin steckte. Ramon riss ihm den Joint aus der Hand, nahm einen Zug, setzte sich mit auf das Holzgerüst und ließ die Beine herunter baumeln.

„Komischer Vogel, keine Frage, aber irgendwie hat er ja was drauf. Könnte auf jeden Fall interessant werden und uns voranbringen.“

„Ja, er hat definitiv Ehrgeiz und Ambitionen, das merkt man“, ergänzte Dan.

„Dann sind wir uns ja einig“, stellte Matt fest. „Aber wir sind uns ja wohl auch mal einig, dass uns die Mädels dort drüben schon seit einer halben Stunde beobachten, oder irre ich mich da?“

Matt lugte über seine Pilotenbrille und Dan drehte sich auf die andere Seite, um besser sehen zu können.

„Eindeutig.“ Ramon reichte den Joint wieder zurück zu Matt.

„Meint ihr?“, fragte Dan.

In dem Moment stand die eine aus der Gruppe auf, die auf ein paar lieblosen Sitzelementen aus Beton herumlungerte, und kam auf die drei zu. Sie hielt ihre Hand vor die Stirn, weil die Sonne sie im Gegenlicht blendete und tappte mit lässigen Schritten auf sie zu. Sie sah cool und nach Skatergirl aus und hatte lange, braune Haare.

„He, ihr“, rief sie grinsend, während sie auf die drei zuging. „Keinen Bock mehr zu skaten?“

Matt meldete sich zuerst zu Wort. „Lieber erstmal chillen.“

Sie lachte und hüpfte auf die Halfpipe.

„Ihr geht auch auf die Hawthorne High, oder?“

Ramon und Matt nickten. Dan beobachtete nur, aber sie warf ihm dennoch einen neugierigen Blick zu.

„Habt ihr Bock auf 'ne Party am Wochenende?“ Sie schob die Hände in ihre Jeanstaschen und stellte sich in den Schatten einer Palme.

„Klar, wieso nicht?“ Matt sah Ramon und Dan fragend an. Die nickten nur. Ramon fragte: „Kommen deine Freundinnen auch?“

Darauf grinste sie nur. „Ich bin übrigens Ashley.“

Sie wandte den Blick wieder zu Dan, der immer noch etwas auf der Gitarre spielte.

„Klingt gut, was du da spielst.“ Sie lächelte ihm zu und sprang ebenso leicht, wie sie hinaufgehüpft war, wieder von der Halfpipe herunter. „Also, dann bis Samstag. Und bringt was davon mit.“ Sie deutete auf den Joint in Ramons Hand.

„Ja, vielleicht.“

Als Ashley nicht mehr in Hörweite war, lehnte Matt sich zurück und musste lachen. Warum genau, wusste er auch nicht, vermutlich auch ein bisschen wegen dem Gras.

„Partytime“, rief er nur aus und begann im Liegen leichte, rhythmische Bewegungen von sich zu geben, so als würde er liegend tanzen. Ramon drehte sich zu den beiden um und zog seine Beine zu sich heran. Er warf den anderen einen schmunzelnden und verschwörerischen Blick zu.

„Und ganz offensichtlich steht sie auf Dan.“ Er boxte Dan in die Seite. Der wimmelte ihn nur ab, schnaubte und passte auf, dass seine Gitarre nicht abstürzte. „Glaub ich nicht.“

„Hundert Pro.“ Matt sprang auf. „Los, kommt, wir sollten Axl anrufen. Und vielleicht hat er ja auch Bock auf die Party.“ Matt ließ sich die Halfpipe runterrutschen und schnappte sich sein BMX, dass daran angelehnt stand. Die anderen taten es ihm gleich.

AXL Als sich einen Tag später tatsächlich Matt und Ramon bei ihm meldeten und ihm mitteilten, dass sie ihn in der Band haben wollten und ihn auch gleich noch zu einer Party einluden, war er echt überrascht und mega erleichtert. Ganz ehrlich? Er hatte gedacht, er hätte einen Scheiß-Eindruck hinterlassen. Zumindest, was das Zwischenmenschliche anbelangte. Er verfluchte diese Pillen. Er sollte echt damit aufhören. Damit schob er seine eigentlichen Probleme doch nur vor sich her und meistens brachte ihn das null voran. Im Gegenteil, er benahm sich eher völlig daneben.

Scheinbar hatte er die Kurve noch gekriegt und die drei von sich überzeugen können. Er sollte die Dinger höchstens nur noch auf Parties einwerfen. Nein, ich sollte ganz aufhören, verdammt. Aber dieses eine Mal auf der Party morgen Abend wäre sicherlich noch drin. Als es abends an seiner Zimmertür klopfte, chillte er gerade auf seinem Bett und feilte an einem Song, den er schon seit Monaten in seiner Schreibtischschublade unter Verschluss hielt. Immer wieder schrieb er Zeilen neu, strich Wörter durch und ersetzte sie gegen andere, noch besser klingende Begriffe. Mein Song. Er hatte schon etliche geschrieben, aber die waren alle Mist. Dieser hier war der Beste bisher. Und durch die Zusage der Jungs hatte er neuen Auftrieb bekommen, diesen nun endlich zu finalisieren. Er schwelgte in Gedanken, diesen Song tatsächlich irgendwann einmal auf einer großen Bühne vor unzähligen Leuten zu performen.

Ohne ihr die Erlaubnis zu erteilen, trat seine Mom ein und lugte durch die Tür, riss ihn somit aus seinen Gedanken.

„Eric, Dr. Weisz hat vorhin angerufen. Du warst die letzten zwei Sitzungen nicht bei ihm.“ Ihr Blick enthielt etwas Vorwurfsvolles. Axl rollte mit den Augen und quetschte den Zettel mit seinen Zeilen unter sein Kopfkissen. Sich in der Musik auszudrücken, war die einzige Therapie, die er wirklich brauchte, und die wirklich etwas nützte. „Zu dem Psychodoc geh' ich nicht mehr“, murmelte er müde. Aber er wusste, wie sehr vor allen Dingen seine Mom darauf beharrte, dass er dort antanzte.

„Eric!“ Der Ton seiner Mom wurde bestimmend.

„Es geht mir wirklich gut, Mom. Ich brauche die Sitzungen nicht mehr. Die Musik hilft mir und ich spiel' jetzt in 'ner Band“, verkündete er selbstsicher und stolz. Er hoffte, dass das bei seiner Mom ebenfalls so positiv ankam, wie er es rüberbringen wollte. Für ihn war das Grund genug, dass er keine Therapie mehr brauchte.

Die Miene seiner Mom wurde etwas weicher und sie machte einen Schritt in sein Zimmer hinein. Im Gegensatz zu seinem Dad ließ sich seine Mom immer viel zu leicht manipulieren.

„Und was ist mit den Medikamenten, die er dir verschrieben hat?“, fragte sie dann, bevor sie sein Zimmer wieder verließ.

„Alles gut, Mom. Die Pillen nehme ich natürlich und ich fühl' mich besser denn je, okay?“

Allerdings keine dieser Pillen von Dr. Weisz, dachte Axl. War also keine direkte Lüge. Seine Mom versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln.

„Na gut, Darling“, flüsterte sie abschließend. Sie glaubte ihm tatsächlich. Es war so einfach.

„Aber mach bei Dad bitte keine große Sache draus, ja?“

Noch einmal bekam er ihr gezwungenes Lächeln zu Gesicht, dann verließ sie sein Zimmer. Erleichtert ließ er sich zurück auf sein Bett sinken und vergrub seinen Kopf unter dem Kissen, presste den Bezug so stark an sein Gesicht, bis vor seinen Augen kleine Sternchen zuckten. Sein lautes Stöhnen wurde vom Stoff des Kissens abgeschwächt. Er bemerkte seine Schweißausbrüche und das leichte Zittern in seinen Händen. Fuck, er würde doch noch mal losfahren müssen.

RAMON Zu viert warteten die Jungs gemeinsam mit Ramons bester Freundin Isabella am Straßenrand vor Matts Haus auf Axl, der als Einziger ein Auto hatte. Isabella war auch auf der gleichen Schule wie Ramon und sein bester Freund Matt. Sie und Ramon kannten sich schon ewig und waren seit Kindertagen befreundet, weil ihre Familien sich sehr nahe standen und sie beide brasilianische Wurzeln hatten.

Ramon drehte immerzu Kreise auf der wenig befahrenen Wohnstraße und Matt drehte sich ein paar Joints für die Party vor. Isabella hockte gelangweilt neben Dan auf dem Kantstein und bließ sich eine ihrer schwarzen Kringellocken aus der Stirn. Wenige Augenblicke später kam endlich der röhrende Chevi von Axl um die Straßenecke gebogen und hielt mit einem Quietschen vor der Gruppe an. Aus dem geöffneten Fahrerfenster dröhnte lauthals Nirvana heraus und Zigarettenqualm drang durch jede Öffnung.

I don't care, I don't care, I don't care, don't care if it's old.

I don't mind, I don't mind, I don't mind, don't have a mind.

„Na endlich“, rief Isabella ungeduldig und richtete sich auf. Matt sprang auf den Beifahrersitz und Dan quetschte sich zusammen mit Isabella auf den zugemüllten Rücksitz.

Ramon ließ sich ein kurzes Stück in der Seitenstraße auf seinem Skateboard vom Wagen ziehen, indem er sich an der Kofferraumklappe festhielt. An der nächsten Kreuzung an einer roten Ampel sprang er schnell hinten rein. Axl gab zu viel Gas, die Reifen quietschten und er drehte die Musik wieder voll auf. Viel zu schnell düsten sie in der Dämmerung über den Boulevard. Matt reichte den Joint nach hinten und dann wieder nach vorne zu Axl.

„Wer will ein Bier?“, rief Axl gegen den Lärm an und deutete auf eine braune Papiertüte mit dem geklauten Sixpack unter Matts Sitz.

„Geil man.“ Matt griff nach einer der Flaschen und machte sie auf.

„Hast ja noch mehr versteckte Talente“, scherzte er. Ramon, Dan und Isabella wurden hinten ordentlich durchgeschaukelt und Isabella rutschte immer wieder zu Ramon heran, ohne es kontrollieren zu können.

„Das wird eine mega Nacht“, rief Axl überschwänglich. „Wo muss ich eigentlich lang?“

„Da vorne rechts“, Ramon beugte sich zwischen den beiden Sitzen hindurch und deutete auf die Kreuzung. So gut gelaunt und normal kannten sie Axl ja gar nicht bisher. Vielleicht kämen sie ja doch gut miteinander aus, nachdem er neulich ein paar Zweifel gehegt hatte.

AXL Von weitem hörten sie schon den Lärm von lauter Musik und vielen Menschen, als sie einen Block entfernt Axls Auto abstellten. Als die anderen schon vorgingen, tat Axl so, als hätte er noch was im Wagen vergessen und tätigte noch einen schnellen Griff ins Handschuhfach. Aber...fuck. Er hatte das Pillendöschen zu Hause vergessen. Und in seiner Geldbörse hatte er auch nichts mehr.

Kurz schob er Panik, aber dann atmete er tief durch. Okay, alles gut. Noch hielt die Wirkung an. Außerdem hatten sie Bier und das hier war schließlich eine, dem Klang nach, ziemlich aus dem Ruder laufende Party. Da würde sich ja wohl was auftreiben lassen.

MATTHEW Als sie zusammen im Haus ankamen, war es brechend voll, sie mussten sich den Weg durch die Leute bahnen, und aufpassen, sich nicht zu verlieren. Es war total stickig von den ganzen tanzenden Körpern und es lief absolute Scheißmusik.

Die meisten waren schon jetzt völlig betrunken, obwohl es gerade Mal zehn Uhr war. Lächerliche Highschool-Schnösel. Matt bahnte sich allein einen Weg zur Musikanlage im Wohnzimmer und tauschte kurzerhand die Kassette gegen eines seiner Tapes aus. Durch den Wechsel und die kurze musikalische Pause, erklang aus allen Ecken und Enden lauthals Beschwerden und Beleidigungen.

Die Musik war eine Beleidigung, dachte Matt und drückte auf Play. Erst erklangen seltsame, sphärische Klänge und die Masse wartete skeptisch ab. Dann setzten Elektro-Sounds ein und eine unechte hohe Computer-Stimme fing an zu singen:

I'll take your brains to another dimension.

Matt fing an, als einziger in der Mitte des Raumes zur Musik herum zu pogen, während die anderen Gäste noch etwas verunsichert von der seltsamen Musik und seinem Rumgehüpfe waren.

„Langweiler“, murmelte Matt und suchte sich wieder einen Weg durch die Meute bis nach hinten in den Garten. Dort traf er auch wieder auf die anderen der Gruppe.

„Schau mal, Dan, da vorne ist deine Flamme.“ Matt lachte und deutete durch den Pulk von jungen Leuten auf Ashley, die in einer kleinen Gruppe Mädchen zusammenstand.

„Sie hat doch nur gesagt, dass ich gut Gitarre spielen kann“, stellte Dan bescheiden fest.

„Ja, und was heißt das übersetzt?“, fragte Matt wohlwissend und machte eine obszöne Geste mit den Händen. Dan verzog das Gesicht. „Ich weiß ja nicht...“

„Warum sonst hätte sie uns einladen sollen? Mädels stehen immer auf Musiker und vor allem auf die netten Typen mit 'ner Gitarre.“

„Und wieso spielst du dann Drums?“

„Ich krieg' die Chicks auch ohne Gitarre rum.“ Er klopfte Dan grinsend auf die Schulter. „Also, ran da heute Abend, worauf wartest du?“

Zu Dans sichtlicher Erleichterung wurde ihr Gespräch aber zunächst von Isabella unterbrochen. „Sprecht ihr von Ashley Tucker?“ Sie drehte sich um und folgte den Blicken der beiden Jungs. „Ich kenne sie. Sie ist in meinem Bio-Kurs. Aber sie hat einen Freund, Chas, Footballspieler und mindestens zwei Köpfe größer als ihr.“

„Wow, sehr beruhigend, Bella“, erwiderte Ramon sarkastisch.

DAN IEL Dan hingegen fühlte sich von dieser Aussage tatsächlich etwas beruhigt. Wenn sie einen Freund hatte, müsste er Matts Aufforderung, sie anzusprechen, nicht in die Tat umsetzen und würde nicht in eine unangenehme Situation geraten. Matt würde so ein Football-Typ wahrscheinlich nicht abschrecken. Aber Dan wollte keinen Stress. Außerdem hatte Matt doch gar keine Ahnung. Stattdessen beobachtete Dan aus der Ferne, wie genau dieser Chas sich gerade zu Ashley gesellte. Er war wirklich groß, so wie Isabella gesagt hatte, und gutaussehend. Verdammt.