The Kids Aren`t Alright - Jessica Stute - E-Book

The Kids Aren`t Alright E-Book

Jessica Stute

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Beschreibung

Freundschaft oder Besessenheit? Wahre Liebe oder Machtspiel? Outsider oder Racheengel? Für den achtzehnjährigen, rebellischen Ricky ist Miranda seine Seelenverwandte, die ihn vor seiner Vergangenheit gerettet hat und daher weitaus mehr als nur seine beste Freundin. Miranda hingegen lässt sich auf eine verbotene Affäre mit ihrem Lehrer ein, der gleichzeitig auch der Vater ihrer besten Freundin ist. Miranda beginnt nach und nach, ihre Gefühle zu hinterfragen. Als die Grenzen zwischen Leidenschaft und Gefahr verschwimmen und ihre Beziehung aufzufliegen droht, gibt es plötzlich einen Toten.

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They said: All teenagers scare the livin’ shit out of me.

They could care less as long as someone will bleed.

So darken your clothes, or strike a violent pose.

Maybe they’ll leave you alone, but not me.

The boys and girls in the clique.

The awful names that they stick.

You’re never gonna fit in much, kid.

But if you’re troubled and hurt

What you got under your shirt

Will make them pay for the things that they did.

MY CHEMICAL ROMANCE – TEENAGERS

Inhaltsverzeichnis

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

2005

MIRANDA

1997

RICKY

MIRANDA

MIRANDA

MIRANDA

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

MIRANDA

MIRANDA

MIRANDA

RICKY

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

RICKY

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

RICKY

MIRANDA

RICKY

RICKY

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

2005

MIRANDA

1997

MIRANDA

MIRANDA

2005

GREG

2000

RICKY

2005

RICKY

2005

GREG

1997

GREG

2005

MIRANDA

PLAYLIST

NACHWORT

2005

MIRANDA

FREITAG, 25. MÄRZ | Ich hatte vollkommen vergessen, wie es hier roch. Der Geruch der Provinz. Der Mief von Abgeschiedenheit, Einfältigkeit und Resignation durch die langen, dunklen Regentage. Von feuchtem Rasen und nassem Gummi auf dem zerfurchten, holperigen Asphalt, vermischt mit einem Hauch des schlecht frittierten Essens aus Hattie’s Diner gleich am Ortseingang am Highway. Und der fortwährende Geruch nach geschliffenem Holz und abgesplitterten Baumspänen aus dem Sägewerk am Fuß der Bergkette. Dazu der ständig durch die Straßen zischende Wind, der einem im Spätsommer den Duft von frisch gemähten Feldern in die Nase steigen ließ.

Das war der einzig wahre Duft. Der Sommer. Die Bäume. Die Zapfen und Nadeln, aufgewärmt von den viel zu kurzen Sonnentagen. Tage, an denen sich das Licht seinen Weg in langen Strahlen durch das Unterholz bahnte, sodass einem die Tränen in die Augen schossen, wenn man in sie hinein blinzelte, während man durch das weiche, warme Moos schlenderte. Und jedes Geräusch, das man erzeugte, wurde vom Wald, von den Blättern, Stämmen und Sträuchern verschluckt.

Das hatte ich immer so sehr geliebt. Und ich hatte es in den letzten Jahren völlig verdrängt. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich es vermisst hatte, als ich spontan am Straßenrand anhielt und gedankenverloren in den Wald schaute, bevor ich meine Fahrt fortsetzte. Ich nahm diese unberührte Luft mit einem tiefen Atemzug in mir auf. Gleich war ich da. Aber ich war noch nicht bereit und der Wald beruhigte mich. Ich brauchte noch einen Moment. Hinter der nächsten Kurve würde schon das Tal mit seiner überdachten Holzbrücke auftauchen. Es war wirklich schön hier, wenn ich meine Erinnerungen und den Grund meiner Rückkehr nur für eine Sekunde ausblendete.

Das einzige, was mir nach meinem Weggang aus Springdale unauslöschlich im Gedächtnis geblieben war, war der schwere Geruch der maroden alten Scheune, in der wir uns früher oft getroffen hatten. Und der Geruch des nassen Holzes der unzähligen Kiefern und Douglasien am Ortsrand nach einer ganzen Woche Regenwetter. Wenn der diesige Dunstschleier tagelang durch die Main Road gewabert war und sich langsam über den Feldern verloren hatte, sodass der Horizont und die Berge kaum noch zu erkennen waren. Dann existierte nur dieser abgelegene Ort. Springdale. Im Herzen Oregons. Sonst nichts. Die Welt da draußen gab es nicht. Das dachte ich zumindest früher immer, als ich mich weit weg von hier geträumt hatte. Und genau dieser Geruch, den ich damals geliebt hatte, weil er nach ein wenig Abwechslung in unserem Alltag und Spaß mit Freunden roch, verursachte nun eine gewisse Übelkeit in mir.

Ich hatte gerade vor der kleinen, mit weißen Schindeln verkleideten Kapelle der Springdale Evangelical Church geparkt und war aus dem Wagen gestiegen. Glücklicherweise warteten erst wenige Leute. Ich musste mich ohnehin erst einmal damit zurechtfinden, dass ich nun wieder hier war, und war überhaupt nicht zu Unterhaltungen aufgelegt.

Als ich das letzte Mal zu einer Beerdigung hier hätte erscheinen sollen, hatte ich es nicht über mich bringen können. Die Leute hätten mich alle angestarrt. In ihren Augen verkörperte ich die Schuldige und das Opfer in ein und derselben Person. Sie wussten nicht, ob sie mich hassen oder Mitleid mit mir haben sollten.

Und heute war es noch immer fast genauso schwer. Zwar hatte sich jede Faser meines Körpers dagegen gesträubt, in meinen Heimatort zurückzukehren, aber dass es nach so vielen Jahren immer noch ein derart starkes Unwohlsein und schreckliches Ziehen in der Magengegend hervorrufen würde, damit hatte ich bei weitem nicht gerechnet.

Erst als mich ein paar Fremde vom Gehweg aus seltsam beäugten, bemerkte ich, dass ich noch immer meine Sonnenbrille von der langen Autofahrt trug. Hier in Springdale am Fuße des Mount Hoods war das zu dieser Jahreszeit völlig unangebracht. Eine aus der Stadt, das war es, was die Leute sicherlich über mich dachten. Ich setzte die Brille hastig ab und legte sie auf den Beifahrersitz meines Honda Civics. Ich war erleichtert, dass die Leute offenbar nur deswegen so geschaut hatten und nicht, weil sie mich erkannten.

Am liebsten wäre es mir gewesen, die Brille wieder aufzusetzen, mich unter der Kapuze eines Sweaters zu verstecken und in der hintersten Reihe der Kapelle zu verstecken. Erst dann hineinzugehen, wenn schon alle anderen Platz genommen hatten und ihre Blicke nach vorne zum Altar gerichtet waren. Aber die Tatsache, dass keiner der herumstehenden Leute mir bekannt vorkam, ließ mich ein wenig entspannen. Kannte ich sie nicht, kannten sie mich vermutlich auch nicht. Oder sie erkannten mich dank meiner neuen Frisur schlicht nicht wieder. Denn normalerweise kannte in Springdale doch jeder jeden.

Ich trug meine Haare seit geraumer Zeit kurz und die kühle, feuchte Brise säuselte mir um die nackten Ohren.

Ich zupfte meinen Rock und meinen unbequemen schwarzen Blazer zurecht, in dem ich mir selbst nur allzu fremd und verkleidet vorkam, wartete noch ein paar Minuten an meiner Autotür und drehte den Schlüssel krampfhaft immer wieder in meiner Hand herum, bis er genau so feucht war wie meine zitternden Finger.

»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich dich begleite?«, hatte Mom mich vor zwei Tagen allen Ernstes gefragt.

»Nein, schon okay, ich muss mich dem allein stellen. Es ist an der Zeit. Und ich bin alt genug.« Das hatte ich zumindest gedacht. Bis eben. Mom war das gar nicht recht gewesen und langsam wurde mir auch klar, wieso. So labil, wie ich war. Denn kaum hatte ich eben die überdachte Brücke am Ortseingang hinter mir gelassen und war die Main Road hinaufgefahren, wurde mir schlecht. Alles sah immer noch genau so aus wie damals, als wir Springdale verlassen hatten. Als hätte die Zeit hier stillgestanden, obwohl sich doch so viel verändert hatte. Oder hatte sich gar nichts verändert? Waren die Leute und ihre Gedanken noch immer dieselben wie vor acht Jahren? Oder war der Vorfall bereits eine alte Anekdote geworden, die mittlerweile niemanden mehr so richtig interessierte?

Verunsichert ließ ich meinen Blick über die gesenkten Köpfe schweifen, als könne ich so ihre Gedanken lesen.

Würde die Beerdigung heute all die Emotionen von früher wieder aufwühlen und die lange unterdrückten Gerüchte und Tratschereien erneut aufleben lassen?

Genau davor waren meine Eltern damals mit mir aus Springdale geflohen. Wir hatten kein ruhiges Leben mehr führen können. Sie hatten das Haus und den Laden verkauft und wir waren nach Portland gezogen. Und all das nur meinetwegen, obwohl ihnen Springdale und unser Geschäft so wichtig gewesen waren. Aber ich war ihre einzige Tochter und sie wollten das Beste für mich. Dabei hatte ich sie monatelang belogen. Bis heute wussten sie nicht alles über die Umstände von damals.

Und mein Leben war von da an sowieso nicht mehr das gleiche, oder wie ich es mir früher immer für die Zukunft gewünscht hatte. Also war es mir auch gleichgültig gewesen, wo meine Eltern mit mir hingingen. Ich hatte alles zurückgelassen und versucht, es zu vergessen. Und dadurch hatte ich die Person, die mir am wichtigsten war, nun endgültig verloren. Denn jetzt war es zu spät.

Aber immerhin war ich jetzt hier und konnte die feinen Wassertröpfchen des Nieselregens auf meinen Wangen und Händen spüren. Ich war am Leben. Und ich hatte es damals aus diesem Kaff herausgeschafft. Das unterschied mich von allen anderen. Von meiner ehemaligen besten Freundin Veronica. Von Scott und den anderen Mitschülern aus meiner alten Schule, die diese Einöde nie verlassen hatten. Und von Joe. Und es unterschied mich von meinem Freund Ricky, dessen Sarg gerade aus dem Wagen des Bestatters gehievt und behutsam durch den windschiefen Eingang getragen wurde.

Die Menschentraube setzte sich daraufhin in Bewegung und verschwand im Inneren der Kapelle. Ich schritt langsam hinterher, im Nieselregen die Stufen hinauf, bis die Kirchenmauern mir Schutz vor dem Regen spendeten. Ich holte einmal tief Luft, um mich zu beruhigen. Zu meiner Erleichterung waren die wenigen Leute mehr mit sich selbst und ihrer vermeintlichen Trauer beschäftigt, anstatt auf mich zu achten, wie ich mich alleine auf eine der hintersten Bänke setzte. Zu meiner Überraschung war ich gefasster, als ich es zuvor angenommen hatte.

Dass ich jetzt hier war, das war ich Ricky schuldig. Das musste sein. Auch wenn ich nicht froh war, jetzt hier sein zu müssen und es vermutlich nie wieder sein würde. Mit dem Wissen, dass er nicht mehr auf dieser Welt war. Und dass es meine Schuld war.

Ich war am Leben und es fühlte sich nicht richtig an. Denn unter den Umständen meiner Vergangenheit, konnte ich nicht sagen, ob das unbedingt etwas Gutes war. Genauso musste es Ricky auch gegangen sein. Mit dem Unterschied, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte.

1997

MIRANDA

DIENSTAG, 9. SEPTEMBER | Die Trillerpfeife von Mr. Reed schrillte nur so in meinen Ohren. »Aufschlag Team Joanna«, rief er quer über das Volleyballfeld. Wir spielten in der Sporthalle, überall auf dem quietschenden Linoleumboden mit den bunten Markierungen hatten die Gummisohlen unserer Turnschuhe Spuren hinterlassen. Es stank nach Käsefüßen und den alten Matten vom Bodenturnen, die heute zum Glück im Geräteraum verstaut blieben. Stattdessen zimmerte das Team von Joanna Messner einen Ball nach dem anderen auf unsere Seite, sodass wir kaum mithalten konnten. Sie wollten definitiv die Revanche vom vergangenen Spiel letzte Woche.

Es waren die ersten Tage nach den Sommerferien und wir mussten bereits jetzt mit dem Training beginnen, weil schon bald das erste wichtige Spiel der Saison anstand. Dieses Mal durften wir uns von den eingebildeten Spielerinnen der Eugene High nicht wieder unterkriegen lassen.

Seit meinem ersten Jahr an der Highschool war ich im Volleyballteam. Und weil Veronica seit der Junior High meine beste Freundin war, hatte sie sich damals auch für die Mannschaft eingeschrieben, obwohl sie Ballsportarten eigentlich nicht leiden konnte. Aber das war damals noch die Zeit, in der Freundinnen unzertrennlich waren und einfach alles zusammen machten.

Und nun gehörten wir schon zur Abschlussklasse. Es fühlte sich seltsam an, weil wir plötzlich selbst die Ältesten und Angesehensten an der Schule waren, zu denen wir all die Jahre aufgeschaut hatten. Ich war immer davon ausgegangen, dann schon viel reifer und erwachsener zu sein, aber eigentlich fühlte ich mich nicht anders als in meinem Freshmen Year. Doch das ließ sich natürlich niemand von uns anmerken.

Veronica und ich hechteten gleichzeitig zum Netz, um den Ball zu erwischen. Sie achtete nicht auf mich, machte einen Ausfallschritt und trat mir dabei auf den Fuß. So stolperten wir beide zurück, ich landete mit meinem Hintern unsanft auf dem Boden und der Ball rollte auf unserer Seite ins Aus.

Wieder pfiff Mr. Reed. »Hey, was habe ich euch gesagt? Nicht alle auf einen Haufen rennen, koordiniert euch besser auf dem Feld! Nica, du musst den Ball gezielter anspielen, das haben wir doch zu Hause schon so oft geübt. Punkt für Team Joanna. Der nächste Punkt entscheidet.«

Joanna grinste triumphierend. Veronica verdrehte die Augen und schaute genervt in meine Richtung. Es war oft schwer für sie, ihren Dad als Lehrer an der eigenen Schule zu haben. Alle wussten, dass sie Reeds Tochter war und viele nahmen an, sie würde Vorteile davon haben, was aber gar nicht stimmte. Ich hatte die Vorteile.

Dass ihr Dad seit letztem Schuljahr auch noch die Volleyballmannschaft leitete, missfiel ihr von Training zu Training mehr. Es wunderte mich, dass sie nicht längst wieder aufgehört hatte. Es lag ihr doch ohnehin nicht und sie war immer genervter von ihrem Dad. Ich hingegen fragte mich, ob er die Mannschaft aus einem ganz bestimmten Grund übernommen hatte.

Denn mir lag dieser Sport auf jeden Fall gut, das betonte Joe – Mr. Reed – immer wieder. Seit diesem Schuljahr hatte er mich sogar wie versprochen zur Mannschaftskapitänin ernannt. An den Wochenenden hatte Reed oft mit Veronica und mir bei ihnen zu Hause trainiert, und wir hatten mit unserem Team schon so manchen Sieg nach Hause getragen. Aber seitdem ich Kapitänin war, ließ die blöde Kuh Joanna ihren Frust ständig an mir aus, weil sie fest davon ausgegangen war, die Position diese Saison endlich für sich zu beanspruchen. Gerade diskutierte sie schon wieder mit Reed über unsere angeblich unfaire Spieltaktik. Dabei war sie doch bloß neidisch. Und ich fand es ätzend, wenn er ihr als Trainer so viel Aufmerksamkeit schenkte, obwohl doch alles bloß Gezeter war.

Zeit, dass er sich mit mir beschäftigt, dachte ich.

Ich versuchte, mich wieder aufzurappeln, aber mein Fuß wollte nicht so recht und ich spürte ein leichtes Ziehen in meinem Knöchel.

Mist. Ich muss ihn mir eben beim Sturz verdreht haben.

Aber das kam mir gerade recht. Ich verzog das Gesicht und plumpste theatralisch auf den Boden zurück. Reed bemerkte es sofort und pfiff erneut zu einer kurzen Unterbrechung.

In seiner raschelnden, grauen Sporthose und einem weißen, eng anliegenden T-Shirt kam er leichten Schrittes auf mich zu gejoggt und half mir auf. Ich musste etwas in mich hineinlächeln, weil er Joanna mitten im Satz hatte stehen lassen – nur für mich.

Er stützte mich mit seinem Arm und ich humpelte überzeugend genug zum Spielfeldrand, wo ich mich auf eine der Bänke sinken ließ.

»Alles okay, Mira? Kannst du beschreiben, wo es dir wehtut?«

Reed hockte sich vor mich und zog mir behutsam den Turnschuh und die Socke meines rechten Fußes aus. Er betastete meinen schwitzigen Fuß, was mir trotz der leichten Schmerzen ziemlich peinlich war. Ich lief rot an.

»Wenn Sie ihn zur Seite drehen, tut es hier weh.« Ich deutete auf die Stelle, an der es angeblich besonders schmerzte und strich mir verlegen meine schulterlangen, strohblonden Haare hinter die Ohren.

Reed schaute mich ein paar Sekunden lang besorgt an, dann holte er kurzerhand ein Kühlpad aus der Lehrerkabine der Sporthalle, wickelte es in ein Handtuch und legte es um mein Fußgelenk.

»Eine leichte Verstauchung, tippe ich.« Er lächelte mich an und verhielt sich gewohnt unauffällig und professionell, wie immer, wenn wir in der Öffentlichkeit waren. Mir fiel das meistens nicht so leicht. Unweigerlich sog ich den Duft seines herben Parfüms ein. Ich musste mich zusammenreißen und mich gedanklich schnell wieder ins Hier und Jetzt befördern. Wir hatten uns kaum unter vier Augen gesehen, seitdem die Schule wieder begonnen hatte.

»Das wird schon wieder. Hauptsache du bist in drei Wochen bei unserem Auftaktspiel gegen die Eugene High wieder voll einsatzbereit. Schone dich die nächsten Tage und leg den Fuß hoch, versprochen?« Er zwinkerte mir zu, als wir kurz unbeobachtet waren.

Er wusste, wie sehr ich es hasste, nicht aktiv sein zu können. Wann immer es ging, kurvte ich mit seiner Tochter auf Fahrrädern durch die Straßen oder wir waren im Wald unterwegs.

»Klar«, murmelte ich resigniert, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und schaute Reed nach, der sich wieder dem restlichen Team zuwandte. »Okay Mädels, wir haben noch fünfzehn Minuten. Ihr packt das auch ohne Mira. Los geht’s.« Seine Pfeife schrillte durch die Sporthalle.

Ich schaute mich gelangweilt um. Auf der anderen Seite der Halle spielten die Jungs Football. Greg Peterson beging in diesem Moment ein Foul. Chad, Ricky und die anderen Machos schubsten ihn zur Strafe hin und her und er kassierte wieder mal einen Haufen dummer Sprüche. Sonst schwänzte Greg meistens den Sportunterricht. Vor allem, wenn er wusste, dass die Football-Freaks dabei waren. Aber heute hatte Reed ihn erwischt, als er in der Pause abhauen wollte, und ihn ganz schön zur Schnecke gemacht.

»Dir ist schon klar, dass es sich auf deine gesamten schulischen Leistungen auswirkt, wenn du nie zum Sportunterricht erscheinst? Also überleg es dir lieber noch mal, deshalb deinen Abschluss zu vermasseln...«, hatte ich ihn sagen hören.

Für eine Sekunde hatte ich fast ein wenig Mitleid mit Greg, als er nun vom Footballteam niedergemacht wurde. Aber dann schüttelte ich diesen Gedanken schnell wieder ab. Stattdessen schaute ich zu unserem Team und hinüber zu Joe – Mr. Reed – und dachte an seine Hände an meinem Fußgelenk. Ich bekam ein Kribbeln im Bauch, wenn ich daran dachte, wo er mich noch berühren könnte.

Erschöpft riss ich kurz vor dem letzten Klingeln der Schulglocke die blecherne Tür meines Spinds im Gang auf.

Nach dem Training hatte ich mich hastig umgezogen und trug nun ein dunkelrotes Sweatshirt mit unserem Schullogo, einen graukarierten Rock und weiße Sneaker. Ich hatte mir einen lockeren Pferdeschwanz gebunden und war direkt zur Sitzung des Homecoming-Komitees gedüst. Der Ball, der traditionell zu Beginn des Herbstes stattfand, war in nicht einmal mehr vier Wochen und es gab noch enorm viel zu organisieren – Deko, Getränke, Musik...

»Findest du es wirklich gut, dass wir dieses Jahr kein Motto haben?«, quasselte Wendy mir die Ohren voll, die mir nach dem Treffen bis zu meinem Spind gefolgt war. »Ich war ja für Mission Impossible. Das wäre so cool gewesen...“ Enttäuscht verzog sie den Mund.

»Die meisten haben sich doch in der Vergangenheit eh nicht daran gehalten. Und bei unserem winzigen Budget dieses Jahr können wir einfach nichts Besonderes machen«, erklärte ich noch einmal und pfefferte meine Tasche in den Spind. »Die Fotobox ist auch schon gestrichen, sagt Mr. Wright.«

»Ja, total bescheuert. Dann musst du wohl wieder Peterson fragen.«

»Wieso denn ich?«, protestierte ich.

Wendy warf mir einen Blick zu, der so viel sagte wie: Du weißt genau, wieso, und setzte sich endlich in Richtung Ausgang in Bewegung. Puh. Ich wollte noch kurz für mich allein sein.

Erschöpft seufzte ich und nickte. »Na schön, ich frag ihn«, rief ich ihr noch hinterher, ehe sie ganz außer Hörweite verschwunden war.

Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um nach dem Geschichtsbuch zu greifen, das ganz oben im Fach lehnte und das ich für meine Hausaufgaben brauchte. Bei der Bewegung machte sich augenblicklich mein Fuß bemerkbar und ich zuckte kurz zusammen. Doch der Schmerz hielt glücklicherweise nicht lange an. Womöglich war es nur halb so wild. Ich hatte den Sturz vielleicht bewusst etwas dramatisiert, um kurz Joes Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich verharrte in meiner Position und verdrehte die Augen, als ich etwas hinter dem Buch in meinem Fach entdeckte.

Ricky, dieser unverbesserliche Idiot, dachte ich, musste dann aber doch lächeln. Er sollte aufhören, seinen Alkohol bei mir im Spind zu bunkern. Irgendwann würden die Lehrer es auch bei mir spitzkriegen und dann hätten wir alle ein riesiges Problem und kein Versteck mehr. Ich musste meine Zahlenkombination mal wieder ändern.

Die Lehrer hatten Ricky schon viel zu sehr auf dem Radar. Ich konnte mich noch hinter meinen guten Noten, meinem Engagement und meinen unschuldigen blauen Augen verstecken und auf ahnungslos machen. Die Lehrer würden es mir sofort abkaufen.

Miranda Cavanaugh, die beliebte Schülerin, Leiterin des Veranstaltungskomitees und Tochter des alteingesessenen und hochangesehenen Happy-Buy-Besitzers, die jeden Sonntag mit ihrer Familie in die Kirche ging. Die versteckte doch keinen Flachmann mit Alkohol in ihrem Spind. Wenn die wüssten.

Zwischen dem roséfarbenen Lipgloss, dem Federmäppchen mit lieben Sprüchen meiner Freundinnen und dem Wälzer über irgendwelche Feministinnen, den wir in Englisch durchnahmen, wirkte das kleine, Metallfläschchen wie ein Fremdkörper.

Als gerade keiner zu mir schaute, drehte ich den winzigen Verschluss ab, nahm einen heimlichen Schluck und spürte, wie das billige Zeug in meiner Kehle brannte. Schnell verstaute ich den Schnaps in meinen Rucksack. Ich warf ein Kaugummi ein und schlenderte über den grauen Flur des in die Jahre gekommenen Anbaus zum Ausgang.

Draußen herrschte noch reges Treiben. Vor dem trostlosen Betongebäude standen Grüppchen zusammen, lachten oder riefen sich etwas zu. Die Älteren vermischten sich mit den Jüngeren von der Junior High nebenan. Auf dem Vorplatz wehten am graublauen Himmel die Stars and Stripes an ihrem Fahnenmast in der spätsommerlichen Brise hin und her.

Es wurde langsam Herbst und das letzte Schuljahr vor dem Abschluss stand bevor. Es war Wahnsinn, wie schnell die Jahre vergangen waren. Ich war noch überhaupt nicht bereit, erwachsen zu werden und ans College zu denken. Und wenn ich mich hier unter meinen Klassenkameraden so umsah, war das niemand.

Ein paar Jugendliche warteten auf den Bus, der sie in die Nachbarorte und weiter entfernten Siedlungen brachte. BMX-Bikes wurden vom Zaun abgeschlossen und die Typen aus der Zehnten gaben mit ihren neuen Schlitten an, die sie in den Ferien endlich zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatten. Sie drückten in der Kehre vor dem Parkplatz ordentlich aufs Gas und rissen ihre Musikanlagen auf.

Aber all der Lärm wurde noch übertönt von dem trashigen Sound, der aus dem völlig verbeulten, schief geparkten Toyota von Rickys Tante drang. Sie lieh ihn Ricky manchmal aus, wenn sie gute Laune hatte. Oder er nahm sich den Wagen einfach, wenn sie nicht aufpasste.

Ricky trug ein ausgewaschenes, dunkles Shirt und war tief im Sitz versunken. Er sah aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen, dabei war es schon nachmittags. Er strich sich sein zerzaustes schwarzbraunes Haar aus der Stirn und drehte sich einen Joint.

Vor ein paar Monaten hatte ich ihm mit einer Billigtönung aus Dads Laden die Haare schwarz gefärbt, weil er darauf bestanden hatte. So herausgewachsen sah es ziemlich miserabel aus. Ricky war das scheißegal. Er wollte abgefuckt aussehen, weil er sich nicht um die Meinungen anderer scherte. Das machte es schon wieder irgendwie cool.

Es sah ganz so aus, als hätte er die letzte Stunde mal wieder geschwänzt und sich stattdessen lieber was reingeknallt. Aus der bis zum Anschlag aufgerissenen Anlage dröhnte völlig übersteuert irgendein schrabbeliger Heavy-Metal-Song. Ricky fuhr total auf diesen Krach ab. Ich konnte es nicht ausstehen. Und das war bei Weitem nicht das einzige, worin wir uns – nicht nur optisch – deutlich unterschieden. Trotzdem war er seit knapp zehn Jahren mein bester Freund. Der Einzige, dem ich blind vertraute, obwohl er den Ärger förmlich anzuziehen schien.

Ich schlenderte zu Rickys Wagen. Als mich ein paar Mädchen aus meinem Volleyballteam sahen, fiel mir wieder ein, dass es besser wäre, zu humpeln. Ich verlangsamte meine Schritte und setzte ein schmerzverzerrtes Gesicht auf. Das war knapp. Ich riss die Beifahrertür auf und warf meine Tasche auf das staubige Armaturenbrett.

»Nimmst du mich mit? Mein Fuß kotzt mich so dermaßen an«, behauptete ich, ließ mich neben ihn auf den Sitz fallen und drehte die Musik sofort leiser. Man verstand das eigene Wort nicht mehr, so wie der Sänger herumschrie. Damit hatte ich Ricky offenbar aus seinen Gedanken gerissen, denn er neigte den Kopf vorwurfsvoll in meine Richtung.

Aber ich ignorierte seinen Gesichtsausdruck und meinte nur: »Und such dir in Zukunft ein anderes Versteck für deinen Schnaps.« Ich lachte, kramte in meinem Rucksack herum und warf Ricky den Flachmann in den Schoß. Sein Gesicht war blass und sein Blick abwesend, wie immer eine Mischung aus permanenter Müdigkeit und gequälter Abneigung gegen den Rest der Welt. Er schaute endlich auf und grinste mich dann bloß schief an.

»Kriegste etwa Schiss, Prinzessin?« Er zog an seinem Joint.

»Von wegen. Ich will dir nur deinen Arsch retten.«

»Zu spät.« Ricky reichte mir seine schief gebaute Tüte, aber ich schlug seine Hand weg. »Du weißt, ich rauche das Zeug nicht. Wie oft noch? Fahr einfach los, okay?« Schmunzelnd griff ich nach dem Gurt.

Ricky verdrehte die Augen. »Ja ja, ich weiß schon, dein guter Ruf und so«, zitierte er mich spöttisch. »Aber dann solltest du erst recht nicht bei mir einsteigen. Der Zug ist längst abgefahren.«

Er startete den röchelnden, stinkenden Motor und warf einen Blick nach hinten. Doch statt loszufahren, riss er plötzlich die Fahrertür mit einem Schwung wieder auf. Im selben Moment knallte Greg mit seinem BMX krachend dagegen. Er wurde von seinem Rad auf den Asphalt geschleudert. Der Vorderreifen drehte langsam aus. Vom Aufprall war er ziemlich verbogen.

»Ups«, rief Ricky ironisch und schaute mich mit gespieltem Entsetzen an. Ich sah gleichzeitig Belustigung und Wahnsinn in seinen dunklen Augen aufflackern, was immer dann geschah, wenn er jemanden fertigmachen konnte, der ein noch beschisseneres Leben führte, als er selbst. Warum war er bloß immer so anders, wenn viele Leute um ihn herum waren? Wieso war er nur bei mir so, wie er wirklich war? So verletzlich und aufrichtig.

Aber Ricky war schließlich nicht der einzige, der sich hinter einer falschen Fassade versteckte. Ich sollte besser den Mund halten. Er stieg aus, während sich Greg mühsam ächzend aufrappelte.

»Bist du blind, oder was? Schau das nächste Mal besser hin, wo du langfährst, Vollidiot.« Ricky inspizierte seine Fahrertür und packte Greg grob am Kragen.

»He, was soll das denn, Ricky?«, rief ich empört, aber er ignorierte mich. Greg klopfte sich den Schmutz von den Knien und sah sich wütend um. Aber alle anderen taten so, als wäre gar nichts passiert, als hätten sie nichts gesehen. Immerhin war Greg von allein aufgestanden. So schlimm konnte es also nicht sein. Das war alles, was die anderen dachten. Und außerdem hätte niemand Partei für ihn ergriffen. Das traute sich keiner. Ich traute mich genau so wenig. Schon gar nicht vor Ricky. Dabei wussten alle, dass es Rickys volle Absicht gewesen war. Ich wusste es. Und Greg wusste es auch, sagte aber wieder mal keinen Ton, sondern nahm es gequält hin.

»Verpiss dich aus meinem Blickfeld. Sonst überleg ich’s mir noch mal und lass mir den Schaden von dir bezahlen, man.« Ricky stieß Greg in die Seite und aschte ihm mit dem Joint auf die löchrigen Turnschuhe. Er wollte gerade die Tür zuknallen, da kam Mrs. Rositzky angestürmt, die Aufsicht auf dem Parkplatz hatte.

»Was ist hier passiert? Geht es dir gut, Greg?«, rief sie, hob den Finger und schaute zwischen Greg, Ricky und dem kaputten BMX hin und her. Ich bemerkte, wie Ricky mit seinem Zeigefinger einen imaginären Strich quer über seine Kehle zog, um Greg zu drohen, dass er ja nicht mit der Wahrheit rausrückte.

Greg seufzte und hob sein Bike auf. »Gar nichts, Mrs. Rositzky. Ich hab nicht aufgepasst und bin gegen die Wagentür geknallt.« Er schaute verunsichert auf den Boden.

Der Blick unserer Lehrerin huschte skeptisch von Greg zu Ricky und wieder zurück. »Nun, glücklicherweise ist ja nichts Schlimmeres passiert«, murmelte sie verwirrt und etwas gequält, weil sie von ihrem wertvollen Feierabend abgehalten wurde. Sie wandte sich missgelaunt an Ricky und zog die Augenbrauen hoch.

»Richard, wie oft habe ich dir schon gesagt: Auf dem Schulgelände wird nicht geraucht!« Ihre Stimme klang schrill und sie riss den Joint aus Rickys Hand. Beim Anblick von der alten Rositzky mit der Tüte in der Hand mussten Ricky und ich beinahe losprusten, konnten es uns aber gerade noch so verkneifen. Ein paar andere Schüler schauten auch herüber und grinsten.

»Das ist rein medizinisch, Mrs. Rositzky«, spottete Ricky provozierend. »Außerdem bin ich achtzehn und ich bin auch gar nicht mehr auf dem Schulgelände.« Er trat einen großen Schritt nach hinten, sodass er nun auf dem Gehweg statt auf dem Parkplatz der Schule stand.

Wenn Ricky für eines bekannt war, dann für seine schonungslose Ehrlichkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber aller Konsequenzen, die ihm dafür drohten.

Mrs. Rositzky packte Ricky an der Schulter, doch zu meiner Überraschung ließ er es über sich ergehen und schnaubte nur verächtlich.

»Richard, es reicht mir jetzt ein für allemal. An dieser Geschichte ist doch schon wieder etwas faul. Wenn Richard Sullivan und Greg Peterson in unmittelbarer Nähe sind, ist doch Ärger vorprogrammiert. Und du, Richard, hattest schon zwei Verwarnungen. Ihr kommt jetzt beide mit mir zum Direktor, auf der Stelle!«

Unruhestifter zum Direx schicken, damit der eine passende Strafe festlegte, war echt das einzige, was unsere unfähige Lehrerin beherrschte.

»Wieso denn wir beide?«, protestierte Greg verärgert.

»Fuck, was soll die Scheiße jetzt, man?« Ricky rollte mit den Augen und ließ sich widerwillig von seiner Lehrerin mitschleifen. Irgendwann war auch er machtlos.

»Was wir nach Schulschluss machen, geht sie eigentlich einen Scheiß an...« Ricky drehte sich noch einmal zu mir um und streckte Greg hinter dem Rücken unserer Lehrerin erst drohend die Faust und dann den Mittelfinger entgegen.

Also habe ich nun doch keine Mitfahrgelegenheit mehr. Na super.

Genervt von Rickys Übermut und dass ich deswegen die zwei Meilen zu Fuß nach Hause gehen durfte, schlug ich die Beifahrertür hinter mir zu. Ich sah, wie Greg still in sich hineinlächelte, während er Ricky und Mrs. Rositzky hinterherschlurfte.

»Grins nicht so scheinheilig«, murmelte ich mehr zu mir selbst. Hastig hielt ich mir die eigene Hand vor den Mund. Ich war erschrocken über meine Boshaftigkeit. Immer öfter klang ich selbst wie Ricky. Sein Ton färbte scheinbar auf mich ab.

Dann kam mir eine Idee. Ich lief auf die andere Seite zum Bordstein und schnappte Veronica am Arm, die auch noch auf dem Parkplatz herumlungerte. Praktischerweise beharrte ihr Dad sofort darauf, mich nach Hause zu fahren. Während der kurzen Fahrt erkundigte er sich permanent nach meinem Fuß. Es war klar, dass er vor Veronica auf lockere Stimmung machen wollte und deshalb von völlig unverfänglichen Themen plapperte. Aber ich war abgelenkt – gedankenversunken beobachtete ich den Rückspiegel, in dem Joes löchernder Blick meinen traf.

RICKY

DIENSTAG, 9. SEPTEMBER | Die Holzspäne flogen nur so um mich herum. Sie verfingen sich in meinen struppigen, dunklen Haaren, landeten auf meiner Jeans und meinem Shirt, sammelten sich vor mir auf der Treppe und dem groben Schotterboden. Eine hastige, monotone Bewegung nach der anderen. Bis die äußere, raue Schicht des knorrigen Astes vollständig abgetragen war und das helle, frische Holz zum Vorschein kam. Mit dem Messer in meinen Händen formte ich gekonnt ein immer spitzer zulaufendes Ende, das einem Speer glich.

Meine Hände waren kalt und aufgeraut von der mühsamen Arbeit. Ich war so vertieft, dass ich den einsetzenden Nieselregen gar nicht bemerkt hatte. Ich hockte auf den Stufen vor dem Trailer, strich mir ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht und warf mir meinen alten Hoodie über.

Von unten war der weiße Kunststoff unseres Wohnwagens schon grün angelaufen, nach oben hin vermischte sich die Außenverkleidung mit dem diesig grauen Himmel, der mich blendete, obwohl die Sonne heute gar nicht schien.

Ich warf das Klappmesser schwungvoll auf den Boden, sodass die Klinge im unkrautbewachsenen Schotter stecken blieb. Das Messer hatte einen abgenutzten schwarzen Metallgriff und eine gravierte Klinge. T.S. Die Initialen meines Dads.

Es war der einzige Gegenstand, den ich damals aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ausgerechnet dieses Messer gewählt hatte. Mit meinem Dad ging kaum eine positive Erinnerung einher. Und doch hatte es für mich einen großen Wert. Vielleicht, weil es mich stärker machte, als ich wirklich war. Einerseits konnte ich damit Sachen kaputtmachen, was irgendwie befreiend wirkte. Andererseits konnte ich neue Dinge erschaffen wie diesen gerade geschnitzten Pfeil. Zerstören und neu kreieren mit ein und demselben Gegenstand.

Als ich meinen Blick hob, sah ich Mira auf mich zukommen. Sie schob ihr Fahrrad über den schmalen Weg, der durch die Wohnwagensiedlung führte, und lehnte es schließlich an einen provisorischen Zaun. Bei stärkerem Wind knickte er immer wieder ein, ich hatte ihn schon zig mal wieder aufgestellt.

Inmitten des tristen Einheitsgraus der alten, ranzigen Trailer und des Schotterwegs wirkte Miranda mit ihrem goldblonden Haar, den stechend blauen Augen und dem zarten Porzellangesicht wie ein unwirklicher, bildschöner Farbklecks. Meine Gemüt hellte sich augenblicklich auf, als sie näherkam.

»He, ist alles okay bei dir? Du schnitzt doch nur, wenn du wütend bist. Was hat die alte Rosette zu dir und Greg gesagt?« Sie verzog den Mund zu einem Grinsen. Ungewöhnlich für sie, den abfälligen Spitznamen unserer Lehrerin von mir zu übernehmen. Schnaubend steckte ich mir eine Zigarette an, stand auf und dehnte meine Arme.

»Die Fotze kann mich mal. Hat mich für die nächsten Wochen zum Mülldienst verdonnert. Suspendierung sei bei meiner Anzahl von Fehltagen ja keine Strafe für mich«, zitierte ich sie und lachte abfällig. »Und das nur, weil Greg, der Pisser, sein Maul nicht halten konnte.« Miranda schaute mich fragend an.

»Er hat ihr nicht nur erzählt, was vorhin abgegangen ist, sondern auch noch behauptet, ich hätte ihm was angedreht und würde wieder dealen. Nur um mir eins auszuwischen.«

»Und? Tust du das?« Mira klang wie eine strenge Mom.

Ich machte ein Gesicht, als hätte man mir ins Essen gespuckt.

»Nein, verdammt. Du weißt ganz genau, dass ich letztes Jahr ’ne Bewährungsstrafe deswegen bekommen hab. Aber das kriegt Greg zurück. Und zwar doppelt und dreifach.« Ich dachte kurz nach.

»Seine Fresse hat die Kloschüssel lange nicht mehr von innen gesehen.« Ich ballte grinsend meine Fäuste.

»Komm runter, Ricky«, meinte Mira sanftmütig. »Sei nicht immer so grausam zu Greg. Das ist nicht fair.« Sie legte ihre Hand auf meine Schulter, weil sie merkte, dass ich in Sekundenschnelle wieder auf hundertachtzig war, ohne es kontrollieren zu können.

Diese beiläufigen Berührungen von ihr elektrisierten mich jedes Mal. In Momenten wie diesen war sie die einzige, die solche Dinge zu mir sagen durfte. Und es zeigte tatsächlich Wirkung. Ich entspannte schlagartig meine Kiefermuskulatur und aschte mit meiner Zigarette auf den Rasen. Aber wenn ich Gregs gleichgültiges Gesicht vor meinem inneren Auge sah, während er unserer Lehrerin so einen Bullshit erzählte, hätte ich ihm gerne so richtig eine reingehauen. Doch Mira hatte recht, es nützte alles nichts. Ich sollte besser lernen, mich nicht so leicht provozieren zu lassen. Gar nicht so einfach.

Ich konnte nicht einmal mehr genau sagen, wie das mit Greg angefangen hatte. Das ging schon ewig so. Vermutlich seit der siebten Klasse in der Junior High. Da hatten Scott, Chad und ich einmal Gregs Kamera aus seiner Sporttasche geklaut.

Zuerst war es nur ein Joke, um ihm etwas wegzunehmen, weil er schüchtern und schmächtig war und wir nun mal stärker. Außerdem waren wir neugierig, warum er immerzu dieses blöde Ding mit sich herumschleppte und was er ständig fotografierte.

Also ließen wir den noch nicht ganz vollen Film entwickeln. Und tatsächlich, neben ein paar Aufnahmen der örtlichen Natur, seiner Familie und schicken Autos aus der Werkstatt seines Dads fanden wir genau das, wonach wir gesucht hatten. Greg hatte den großen Fehler begangen, sich halbnackt in Boxershorts mit Selbstauslöser zu fotografieren. Auf dem Bett. In unterschiedlichsten Posen, eine peinlicher als die andere. Wir hatten uns gierig auf das gefundene Fressen gestürzt und uns weggeschmissen vor Lachen, weil Greg dabei so erbärmlich aussah.

»Scheiße, wie dumm er ist! Wer macht denn so was bescheuertes?«, hatte Chad damals kieksend durch seinen Stimmbruch gejohlt. »Wen will er mit solchen Bildern wohl beeindrucken?« Wir bekamen uns gar nicht wieder ein.

»Bestimmt Joanna! Oder Mira!« Scott hatte mir stichelnd in die Seite geboxt, doch ich hatte seine Hand weggeschlagen.

Und statt es dabei zu belassen, hatten wir, weil wir nun mal unzufriedene, dreizehnjährige Jungs in einem öden Kaff gewesen waren, im Arbeitszimmer von Chads Dad einen Haufen Kopien von diesen Fotos gemacht und sie in der Schule verteilt. Bis jeder – wirklich jeder – sie kannte. Wir hatten unseren Spaß und dachten uns nichts dabei.

»Selbst Schuld, wenn er so was offen herumliegen lässt«, war unsere Rechtfertigung. Und auch, wenn uns das eine Lehrerkonferenz und zeitweilige Suspendierungen eingebracht hatte, war es das allemal wert gewesen. Wir hatten ein Opfer gebraucht, um uns selbst besser zu fühlen.

Seitdem war Greg nur noch eine Lachnummer, und das bis heute. Er war ohnehin schon immer komisch gewesen. Ein echter Weirdo, dachte ich. Zurückhaltend und klein, trug immer abgetragene Shirts von seinem älteren Bruder und stank nach Schweiß und Öl aus der Autowerkstatt seines Alten. Er spielte Computerspiele oder beschäftigte sich mit seinen dämlichen Kameras.

Und seit der Aktion mit den Fotos in der Siebten war er nach dem Training nie wieder mit den anderen duschen gegangen. All das hatte bewirkt, dass sich die wenigen Freunde, die er bis dahin gehabt hatte, auch noch von ihm abwandten. So wie Miranda. Am Ende war er völlig abgekapselt vom Rest der Gruppe. Und wir machten es uns zum Hobby, ihn fertigzumachen, wann immer uns danach war.

»Du solltest ihn einfach in Ruhe lassen, das ist so fies. Und so wie du immer rumläufst, bist du der nächste, der gemobbt wird«, hatte Mira mich damals immer wieder aufgezogen. Meinen Grunge-Style hatten viele unserer Mitschüler tatsächlich nicht verstanden. Und Mira konnte es nicht leiden, wenn wir Greg ärgerten, weil sie früher schließlich einmal mit ihm befreundet gewesen war.

»Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du heute noch immer kein Wort rausbekommen und die Leute würden sich stattdessen über dich lustig machen«, holte Mira mich warnend in die Gegenwart zurück.

»Das siehst du völlig falsch. Ich hätte meine große Klappe auch ohne dich zurückbekommen.« Ich lachte, als Mira mir neckend in die Seite zwickte. Aber natürlich kannte sie die Wahrheit. Ohne sie wäre ich nicht derjenige geworden, der ich heute war.

»Außerdem habe ich den Vorteil, dass ich auf dich, Miranda Cavanaugh, als beste Freundin zählen darf.« Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, was ich mich manchmal traute, wenn der Moment es zuließ. Sie brachte meine harte Schale jedes Mal zum Schmelzen. »Und dazu bin ich noch einer der besten im Footballteam. Ich bin safe.«

Mira, Chad, Scott und meine Position im Footballteam verschafften mir mehr als ausreichend Respekt an der Schule. Ich hatte meine Leute, die mich so nahmen, wie ich war. Und die anderen ließen mich weitestgehend in Ruhe, sie interessierten mich sowieso nicht. Dabei mitzumachen, auf die Schwächeren loszugehen, lenkte mich außerdem von der Tatsache ab, dass ich im Grunde selbst ein Freak mit einer beschissenen Vergangenheit war.

Aber ab und zu dachte Greg wohl, er könnte mir Paroli bieten und sich für meine Gemeinheiten rächen, indem er den Lehrern solche verdammte Scheiße erzählte. Wie heute Nachmittag. Aber da hatte Greg leider vergessen, dass man sich besser nicht mit mir anlegte. Er wollte mich schwächen. Er dachte wohl, bei meiner Vergangenheit müsste ich doch irgendwie angreifbar sein. Wenn auch nur für eine Sekunde. Tja Pech gehabt, Greg. Du kriegst mich nicht.

Das brennende Loch in meiner Brust und die permanent unterdrückte Wut betäubte ich regelmäßig mit ausreichend Alkohol, Dope und meiner Faust in irgendeiner Fresse. Und mit Mirandas Nähe. Sie schaffte es jeden Tag aufs Neue, dass ich das Leben irgendwie überstand. Mit ihrer Ausstrahlung, mit ihrem Blick, mit ihrer Stimme. Mit ihrem Duft nach Apfelshampoo. Mit ihrem Lächeln. Und mit ihrer bedingungslosen Freundschaft, die mich seit so vielen Jahren über Wasser hielt, obwohl ich nicht einmal wusste, was sie an mir mochte. Denn ich war alles, aber ich war nicht liebenswert. Ich war ein Arschloch. Ich war abgefuckt. Meistens war ich schlecht gelaunt und wortkarg. Und ich baute andauernd Scheiße. Aber sie liebte mich, wenn auch nicht auf diese klassische Weise. Wir hatten nicht dieses Beziehungsding, was mir, glaube ich, eh nicht sonderlich gut gelegen hätte.

Nein, sie war einfach immer für mich da und liebte mich auf diese besondere Art. Trotz unserer Gegensätze bildeten wir eine unantastbare Einheit. Sie brauchte mich. Warum auch immer. Und ich brauchte sie. Mehr als sie ahnte.

»Du hast mich immer vor mir selbst und meiner Vergangenheit beschützt. Und ich werde dich dafür vor all dem Bösen auf der Welt beschützen.« Das hatte ich mir schon vor Jahren zur Aufgabe gemacht und ihr diese Sätze zusammen mit ein paar Monsterfratzen auf einen kleinen Zettel gekritzelt. Ich war damals gerade erst hierhergezogen und sie hatte mich mit ihrer Art nach und nach dazu gebracht, mich ihr zu öffnen. Außer ihr kannte kaum jemand meine ganze Geschichte. Und das war auch gut so.

Ich war gerade in Seattle in die Elementary School eingeschult worden, als meine bisherige Welt in sich zusammengebrochen war. Als meine Mom von einem Tag auf den anderen nicht mehr bei mir war. Ich war acht Jahre alt und plötzlich ganz allein. Wäre da nicht meine völlig mittellose, chaotische Tante Karen gewesen, die Schwester meiner Mom, die mich von Seattle zu sich nach Springdale geholt hatte. Das alles war zu viel für mich gewesen, es hatte mich überfordert. Ich hatte noch nie einen richtigen Dad gehabt, jetzt auch keine Mommy mehr, und war in eine völlig fremde Gegend gebracht worden, zu einer Frau, die ich vorher höchstens dreimal im Leben gesehen hatte.

Karen hatte das Herz am rechten Fleck, ein zu lockeres Mundwerk und nie einen einzigen Dollar in der Tasche. Außer für Weed. Und trotzdem wollte sie damals, dass ich bei ihr wohnte, weil ich schließlich ihr Neffe war. Sie hatte damit verhindert, dass ich in ein Heim gesteckt wurde, obwohl der Kontakt zu ihrer Schwester nie der beste gewesen war. Sie hatte echt Verantwortung übernommen und das rechnete ich ihr bis heute hoch an.

Damals war ich ein kleiner, naiver Junge gewesen. Zu Beginn hatte ich gedacht, wir wären im Urlaub, weil wir in einem Wohnwagen lebten. Und Karen ließ mich eine Weile in dem Glauben. Sie war es auch, die mir meinen heutigen Spitznamen verpasst hatte. Richard war ihr zu spießig und normal gewesen. Ich und mein bisheriges Leben waren alles andere als normal, fand sie.

»Ja, Rickylein, wir können jeden Tag woanders hinfahren, wohin du willst. Wir können uns die ganze Welt ansehen. Wir können mit den Schamanen in Südamerika meditieren, mit Kängurus um die Wette hüpfen und im Monsunregen des Dschungels tanzen.«

Aber wir waren nie wirklich irgendwohin gefahren. Und ein paar Monate später hatte sie versucht mir zu erklären, dass der Wohnwagen in Wirklichkeit ihr zu Hause war. Und dass es jetzt auch mein zu Hause sei und dass sie mich lieb hatte, und dass sie hoffte, dass ich sie auch lieb haben würde, irgendwann, wenn ich das Gröbste verarbeitet hätte.

Aber das, was ich erlebt hatte, verarbeitet man nicht. Ich hatte nie wieder ein Wort darüber verloren oder auch nur eine Träne darüber vergossen. Stattdessen hatte ich für eine lange Zeit ganz aufgehört zu sprechen, was Karen großes Kopfzerbrechen bereitet hatte. Es war eine Art posttraumatische Belastungsstörung, hatte der Kinderarzt gesagt. Aber Geld für eine Therapie hatte Karen nicht.

Ich war zwar in die Schule gegangen, aber weil ich nicht sprach, wussten die Lehrer nicht, was sie mit mir machen sollten. Also hielten sie es für sinnvoll, dass ich das dritte Jahr wiederholte, weshalb ich in eine neue Klasse gekommen war. Wieder andere Kinder und lauter fremde Gesichter. Ich war älter gewesen als die anderen, verhielt mich aber eher so, als wäre ich irgendwie zurückgeblieben.

Keiner hatte neben mir sitzen wollen, weil ich nicht sprach und immer böse schaute. Ich hatte mit so viel Druck in meinen Block gekritzelt, dass ich durch das Papier hindurch auf die Tischplatte malte. An meiner Umgebung hatte ich gar nicht richtig teilgenommen. Die anderen fanden mich unheimlich, waren überfordert oder machten Witze über mich.

Bis zu diesem einen, besonderen Tag. In der Pause saß ich allein auf einer Bank. Ich schnitzte mit meinem Messer an einem Holzmännchen und aß die Salzcracker, die Karen mir eingepackt hatte, weil der Kühlschrank mal wieder leer gewesen war.

Gerade hatte ich mich gedankenverloren an die Orte auf der Welt geträumt, von denen Karen mir immer aus Büchern oder Zeitschriften vorgelesen hatte, da setzte sich dieses Mädchen mit den ungewöhnlich blauen Augen einfach neben mich. Schon öfter hatte sie mich während des Unterrichts mit ihrem wachen, liebevollen Blick gemustert. Ich hatte immer schnell beschämt aus dem Fenster oder auf den Tisch vor mir geschaut. Erst gestern hatte ich sie mit einem Freund auf Rädern durch den Ort fahren sehen. Sie hatten unbeschwert gelacht und mich kaum beachtet. Ich hatte mir vorgestellt, dort an ihrer Seite zu sein. Wenn sie mich nur einmal so anlächeln würde. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie einsam ich mich zu dieser Zeit fühlte.

Doch nun saß sie plötzlich neben mir und fing an zu reden. Sie redete und redete und hörte gar nicht wieder auf. Es schien ihre Taktik zu sein. Vermutlich dachte sie, ihr Geplapper würde mich irgendwie anstecken. Sie war clever. Und sie war vollkommen unvoreingenommen von mir. Sie hatte keine Angst vor mir.

Sie erzählte mir alles. Jedes kleinste Detail. Wie ihr Zimmer aussah, was sie für Spielsachen besaß, welche Frühstücksflocken sie heute morgen gegessen hatte, welches ihr Lieblingsschulfach und welches ihr Lieblingstier war. Und dass sie letzte Woche mit dem Fahrrad gestürzt war und sogar ins Krankenhaus nach Ridgemond gefahren werden musste. Dann zeigte sie mir ihre Schrammen am Knie. Sie erzählte mir vom Wald, von den Bäumen, und davon, dass ihr Dad der Besitzer des örtlichen Supermarkts Happy Buy war und alle ihn kannten und immer grüßten.

Es war alles vollkommen zusammenhangslos, aber ich erinnerte mich noch genau an ihre piepsige Kinderstimme. Spaßeshalber hatte ich ihr deshalb irgendwann den Spitznamen Birdy gegeben, weil sie mich früher an ein zwitscherndes Vögelchen erinnert hatte.

Ich könnte noch immer jedes einzelne Wort Mirandas wiedergeben. Dieses Gespräch hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Weil mich dieser Moment irgendwie gerettet hat. Vor mir selbst und meinen inneren Dämonen.

Wie sie es letztendlich schaffte, konnte ich nicht mehr wirklich sagen. Aber plötzlich sagte ich mit trockener Kehle und heiser vom monatelangen Schweigen zu ihr: »Ich mag am liebsten Rice Krispies zum Frühstück. Tante Karen macht immer ein paar Marshmallows mit rein.«

Mein früheres Ich war selbst total überrascht von mir. Miranda strahlte mich an, als hätte ich ihr den Tag gerettet, weil es ihr gelungen war, mich aus meinem stummen Schneckenhaus zu locken.

Dann fragte sie: »Darf ich dich mal besuchen? Ich habe noch nie jemanden gekannt, der in einem Wohnwagen lebt.« Sie sagte es nicht auf eine abwertende Art, wie die anderen, sondern eher auf eine neugierige, ehrfürchtige Weise. Als wäre das etwas ganz besonderes. Als wäre ich etwas ganz besonderes. Weil ich eben nicht war, wie alle anderen hier. So gar nicht. Ich nickte verlegen und am nächsten Nachmittag war sie wirklich vorbeigekommen. Und bei diesem einen Mal war es von da an zum Glück nicht geblieben.

Wenn ich mir also eingestand, dass Miranda mich gerettet hatte, dann war das nicht auf diese kitschige, metaphorische Art gemeint. Nein, dann meinte ich das verdammt ernst. Sonst wäre ich vermutlich heute nicht mehr hier.

Plötzlich riss Tante Karen die Tür des Trailers auf.

»He, Ricky, diese beschissene Satellitenschüssel spinnt schon wieder!«, krähte sie zu mir herunter.

Als sie Miranda sah, hellte sich ihre Miene schlagartig auf. »Oh, hey Schätzchen, ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist.«

Karen war – ebenso wie ich – ganz vernarrt in Mira. Sie winkten sich kurz zu und ich blickte zu meiner Tante hinauf. Karen war alt geworden. Ihr Gesicht war eingefallen, aber ich konnte noch immer die Züge meiner Mom darin erkennen. Karen rauchte wie ein Schlot und hatte pink lackierte, lange Fingernägel, die nicht zu ihrer hippiemäßigen Aufmachung passten. Sie trug zahlreiche billige, überall angelaufene Silberketten um den Hals. Sie reichten bis zu ihren hängenden Brüsten hinunter, die sich unter dem verwaschenen weißen Top abzeichneten. Ihre graublonden Locken türmten sich zu einer Seite auf, während sie im Türrahmen lehnte und erfreut grinste. Ihr verschmitztes Lächeln war etwas, das ich schon als kleiner Junge an ihr gemocht hatte.

»Bleibst du zum Essen, Mira?«, krächzte sie. »Luke kommt gleich vorbei. Er hat gestern im Wald ein Reh geschossen. Das wird ein affengeiles Barbecue, sag ich dir. Und das, ohne Knete fürs Fleisch ausgeben zu müssen.«

Miranda verzog den Mund. »Ich ... ich weiß nicht...«

»Ich hab auch Coleslaw selbstgemacht.« Karen trat die Stufen hinunter, drückte ihre Kippe auf dem Zaunpfahl vor der Gartenpforte aus und schnippte sie ohne mit der Achsel zu zucken bei den Nachbarn über die Pergola.

»Du hast den Coleslaw selbstgekauft und in eine Schale umgefüllt«, korrigierte ich sie grinsend und verdrehte die Augen.

»Du Verräter«, wimmelte Karen mich lachend ab und gab mir einen Klaps auf die Schulter. »Immer noch besser als Hattie’s frittierter Fraß im Diner.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. In diesem Moment rauschte ein schwarzer Pick-Up den Weg hinauf. Es war Luke, Karens Freund. Er hupte zweimal und sprang aus dem erhöhten Wagen.

»Los, Ricky, hilf Luke mal mit dem Grill und seinem Vieh, ich sterbe vor Hunger«, sagte Karen mit heiserer Stimme und hustete.

Manchmal waren mir dieses Trailerparkleben und Karens Schlichtheit unangenehm vor Mira. Sie war etwas anderes, etwas viel besseres gewohnt als alles, was wir ihr bieten konnten.

Ich warf Mira einen flehenden Blick zu. Mir war klar, dass sie nur meinetwegen bleiben würde, obwohl bei ihr zu Hause bestimmt ein perfektes Abendessen auf sie wartete. Aber ich wusste auch, dass sie ohnehin lieber hier bei mir sein wollte, als bei ihren Eltern. Und ich? Ich wollte immer bei Mira sein.

MIRANDA

DIENSTAG, 9. SEPTEMBER | Meine Mom griff nach dem graukarierten Flanellhemd, das Ricky mir für den Nachhauseweg durch die Kälte geliehen hatte, und roch skeptisch daran.

»Hast du etwa geraucht, Mira?« Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Kaum war ich zu Hause angekommen und zog meine Schuhe aus, schon begann meine Mom, mich zu tadeln.

»Nein, Mom.« Ich hängte meine Jacke an den Haken und schlurfte müde in die Küche.

Mom klapperte mit Tellern und Besteck und deckte penibel wie immer den Esstisch. In der Mitte stand ein Strauß frischer Feldblumen, sie hatte sogar ein paar Kerzen angezündet. Es war mollig warm und aus dem Ofen duftete es nach deftigem Essen. Was für ein Kontrast zu dem simplen Barbecue vorhin.

Luke hatte das Fleisch auf dem verrosteten Grill vor dem Trailer gebraten, während wir anderen auf wackeligen, von der Witterung verblichenen Klappstühlen gehockt und den Coleslaw auf unsere Plastikteller geschaufelt hatten.

»Du warst wieder bei Richard, stimmt’s?« Moms Blick war ernst. Ich schwieg und starrte aus dem Fenster in die Dämmerung.

Sie schnaubte. »Na, das erklärt alles. Karen sollte den Jungen besser davon abhalten, sich jetzt schon sein eigenes Grab zu schaufeln. In dem Alter schon rauchen, das ist unverantwortlich.«

Oh man, Mom übertrieb mal wieder maßlos.

Dad schnappte sich die Topflappen und holte den Auflauf aus dem Backofen, als ich gerade in mein Zimmer verschwinden wollte.

»Wo willst du denn hin? Hast du gar keinen Hunger mitgebracht?«

»Doch...«, log ich und machte auf dem Absatz kehrt, um mich an den Tisch zu setzen.

Dad füllte mir eine großzügige Portion auf und nahm dann den Teller von Mom entgegen.

»Wie war es in der Schule?«

»Alles okay. Wie immer.«

»Wie laufen die Vorbereitungen für Homecoming?«

»Ich habe alles im Griff.« Ich lächelte.

»Und ich habe nichts anderes erwartet. So einen Ball wie dieses Jahr hat die Springdale High mit Sicherheit noch nicht erlebt.«

»Hat dich schon ein Junge eingeladen?« Moms Frage war eindeutig eine Falle. Andere Mütter wären euphorisch mit ihrer Tochter um den Tisch getanzt, sobald sie ein Date für einen Ball abbekam. Aber nicht meine Mom. Sie wollte nur kontrollieren, ob und mit wem ich mich traf. Vor allem, wenn es um männliche Objekte ging.

»Mom, ich habe dir doch gesagt, dass ich mit Nica hingehen werde. Wir wollen einfach bloß tanzen. Außerdem habe ich als Organisatorin an dem Abend sowieso keine Zeit für ein Date. Ich werde total in die Planung eingespannt sein.«

»Wir sind so stolz auf dich, wie du dich reinhängst. Aber lass dabei nicht den Spaß zu kurz kommen, hörst du? Du bist schließlich nur einmal siebzehn.«

Hör auf mit der Heuchelei, Mom, dachte ich. Bloß kein Date auf dem Ball, aber ich soll Spaß haben... Von wegen. Ich stocherte lustlos in meinen Kartoffeln herum.

»Was ist los? Schmeckt es dir nicht?«

Ich sah Dad zerknirscht an. »Ehrlich gesagt hab ich eben schon bei Ricky und Karen gegessen. Sorry, Dad.«

Etwas zu laut ließ Dad seine Gabel auf den Tellerrand knallen.

»Kannst du das nächste Mal nicht vorher Bescheid sagen? Und dein zu Hause ist immer noch hier, Miss. Hier gibt es abends eine Mahlzeit für dich, schon vergessen? Du bist ja fast nur noch unterwegs nach der Schule.« Ich riss die Augen auf und verschränkte protestierend die Arme.

Was ist denn jetzt in Dad gefahren?

»Ich mache immer so viel für die Schule und engagiere mich auch noch ehrenamtlich. Ich gebe doch schon die ganze Zeit mein Bestes, um so zu sein, wie ihr mich haben wollt. Was macht ihr immer so einen Aufstand darum, wie ich meine Nachmittage verbringe und mit wem ich mich treffe?«, rief ich angefressen und sprang auf.

Wie ahnungslos sie doch waren. Sie hielten meine Treffen mit Ricky für das Schlimmste, was ich hinter ihrem Rücken tat...

»Mira, setz dich bitte.« Dad machte ein ernstes Gesicht und ich bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ich setzte mich genervt wieder hin und stützte demonstrativ den Kopf auf meine Hand.

»Ich weiß ja, wie leicht du an die Decke gehst. Aber wir finden, du verbringst etwas zu viel Zeit mit Richard. Der Junge wird immer unberechenbarer. Er scheint abzugleiten...« Ich wollte gerade zum Protest ansetzen, aber mein Dad hob die Hand, gebot mir zu schweigen und schaute kurz zu Mom, die zustimmend nickte.

Auch wenn ich Böses ahnte, war ich etwas erleichtert, dass es wieder einmal nur um Ricky ging. Ich hatte schon befürchtet, sie hätten von etwas anderem Wind bekommen. Aber wie sollten sie davon wissen?

»Vorhin war deine Lehrerin Mrs. Rositzky im Laden. Sie hat mir berichtet, was heute in der Schule passiert ist. Richard hat jemanden vorsätzlich verletzt. Und er soll schon wieder mit Drogen dealen. Stimmt das, Mira? Das geht langsam alles zu weit. Ich finde, du solltest dich eine Zeit lang von ihm fernhalten und dich nicht in solche Dinge reinziehen lassen, hast du mich verstanden?«

Ich stand erneut abrupt auf und schob knarzend meinen Stuhl zurück.

»Jetzt geht das wieder los. Dad, das ist alles absoluter Bullshit. Was Greg Mrs. Rositzky erzählt hat, stimmt überhaupt nicht. Das ist bloß so eine Sache zwischen ihm und Ricky. Ich –«

»Greg? Was hat Greg denn damit zu tun? Warum sollte er lügen?«, funkte nun auch noch Mom dazwischen. »Der war früher doch immer so ein netter Junge. Mit ihm unternimmst du gar nichts mehr...«

Ich rollte mit den Augen. »Oh, Mom. Das kapierst du nicht.«

»Sprich nicht so mit deiner Mutter«, unterbrach Dad.

»Dann erklär es mir doch.« Mom sah mich erwartungsvoll an. Ich schüttelte resigniert den Kopf. »Greg ist ein Einzelgänger. Er ist komisch. Niemand macht was mit ihm, okay?«, erklärte ich kurz angebunden.

»Gerade deshalb solltest du mit gutem Beispiel vorangehen. Meinst du nicht, Greg würde sich freuen? Du bist damals schließlich auch auf Richard zugegangen, als er neu war und alle anderen ihn für seltsam hielten. Den hast du immer verteidigt.«

Ich schnaubte. »Da waren wir noch Kinder. Das war was ganz anderes.« War es das? Unweigerlich dachte ich an die Zeit zurück, als Greg und ich gemeinsam eingeschult wurden.

»Ich will nicht in diese blöde Schule«, hatte ich vor gut zehn Jahren trotzig zu meiner Mom gesagt, die Arme verschränkt und mich geweigert, meinen klobigen Schulranzen mit all den neuen Heften, Büchern und Buntstiften aufzusetzen.

»Mira, Honey, nun sei doch bitte vernünftig. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen. Und große Mädchen haben keine Trotzphasen mehr.« Mom hatte meinen Unmut beinahe belächelt, weil sie wusste, dass es nur ein kindisches Aufbäumen war. Sie ahnte, warum ich sauer war.

»Du hast doch noch Rebecca. Und die meisten in deiner Klasse kennst du sowieso schon aus der Vorschule.«

»Wenn Greg nicht in meine Klasse geht, dann will ich da nicht hin.«

Meine Mom hatte mir weiterhin lächelnd eine leichte Sommerjacke für den Schulweg rausgelegt und mein Pausenbrot in eine Papiertüte gepackt.

»Ihr könnt euch doch in den Pausen sehen und nach wie vor jeden Nachmittag gemeinsam spielen. Daran wird sich doch nichts ändern. Ihr wohnt schließlich Tür an Tür. Und du wirst so viele neue Freunde finden, glaub mir.«

»Ich brauche keine neuen Freunde«.

Schließlich schlurfte ich trotzig nach draußen, wo bereits der Schulbus auf mich wartete. Die Eingangstür öffnete sich mit einem Zischen. Und wer stand schon dort vorne am Gehweg und streckte wartend die Hand nach mir aus, damit wir an unserem ersten Schultag gemeinsam in den Bus steigen konnten? Natürlich Greg.

Seitdem ich denken konnte, wohnte Greg mit seinen Eltern direkt neben uns. Sie hatten das Haus gekauft, kurz nachdem wir in unseres eingezogen waren. Wir beide konnten da vermutlich gerade einmal laufen. Unsere Eltern freundeten sich an und luden sich zu Grillabenden ein. Während wir im aufblasbaren Pool im Garten herumtobten, tratschten unsere Mütter miteinander. Und unsere Väter schauten hin und wieder ein Footballspiel im Fernsehen an oder tranken ein gemeinsames Feierabendbier.

Und natürlich lernten wir in der Schule in unseren getrennten Klassen einen Haufen anderer Kinder kennen und schlossen zusammen neue Freundschaften. Wir feierten Kindergeburtstage, unternahmen Ausflüge in den naheliegenden Nationalpark oder verbrachten Ski-Wochenenden am Mount Hood mit unseren Eltern. Wir gingen zusammen auf Schulfeste und führten unseren Eltern Theaterstücke auf, bauten Höhlen aus Kissen und Decken und Mom zeigte uns zu Weihnachten, wie man Cookies backt.

Schon damals hatte Greg immer eine seiner Kameras dabei, mit denen er alles festhielt, was wir erlebten. Am liebsten machten wir Fotos, auf denen wir die wildesten Grimassen schnitten. Lange Zeit hingen diese Fotos an einer Schnur aufgereiht über meinem Bett.

An den meisten Nachmittagen war Greg bei mir oder ich bei ihm und wir machten zusammen Hausaufgaben. Oder wir schauten Cartoons, wenn Mom uns nicht draußen spielen ließ, weil es regnete oder schon zu dunkel war. Aber das war alles ewig her. Irgendwann hatten die Dinge angefangen, sich zu verändern.

Der erste Grund war, dass Gregs Eltern sich plötzlich getrennt hatten und Greg und sein älterer Bruder Steve bei seiner Mom blieben. Sie wohnten zwar weiterhin in Springdale, verkauften jedoch das Haus neben unserem und zogen in ein kleineres Apartment in einer anderen Straße. Greg litt enorm unter der Trennung und zog sich zu dieser Zeit sehr in sich zurück. Er war schon immer ein ruhiger und sensibler Junge gewesen und die Situation nahm ihn ziemlich stark mit.

Der zweite Grund, warum unsere Freundschaft Risse bekam, war Ricky. Er musste das Schuljahr wiederholen und unser Lehrer hatte ihn uns vorgestellt, aber Ricky hatte nicht gesprochen, sondern nur auf seine ausgelatschten Turnschuhe gestarrt. Sein Blick war irgendwie leer, er starrte direkt durch einen hindurch.

Zu Beginn beobachtete er uns andere immer nur stumm von der Seite. Als ich ihn daraufhin einmal anlächelte, schaute er sofort irritiert weg. Unser Lehrer sagte uns, wir sollten ihn offen in unserer Gruppe aufnehmen, er hätte bereits einiges erlebt und wir sollten bitte Rücksicht nehmen und freundlich sein. Im Gegensatz zu allen anderen nahm ich mir diese Aufforderung zu Herzen. Ich hatte versucht, an diesen merkwürdigen Jungen heranzukommen. Und nachdem ich dann einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, wich er nicht mehr von meiner Seite. Nach und nach verstand ich, was in ihm vorging. Er vertraute sich mir immer mehr an und fixierte sich sehr auf mich. Er wollte ständig in meiner Nähe sein, was sich gut anfühlte. Und er malte im Kunstunterricht sogar Bilder von mir oder für mich. Ich gab ihm immer häufiger etwas von meinem Pausenbrot ab, wenn er wieder einmal nichts als Salzcracker dabei und sein Magen schon die ganze Englischstunde über geknurrt hatte.

Immer häufiger übernachteten wir auch beieinander. Wenn er nachts wimmernd Albträume bekam, hielt ich seine Hand ganz fest in meiner. Dann wurde es meistens besser. Ich glaube, Ricky wusste bis heute nicht, dass ich das getan hatte. Und dass es geholfen hatte.