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Sein Verstand ist genial, aber mit dem Herzen hapert es gewaltig! Professor Garrett Featherstone besitzt einen brillanten Kopf, den Körper eines Athleten und eine ordentliche Portion Arroganz. Kein Wunder, dass ihm die Studentinnen in Oxford zu Füßen liegen. Gefühlsmensch Marina jedoch, die mit ihm zu Sozialstunden verdonnert wurde, lässt sich nicht beeindrucken von seinem Superhirn. Sie wirft ihm an den Kopf, eben diesen zu verherrlichen und in Sachen Bauchgefühl ein Erstklässler zu sein. Eine Frechheit! Garrett wird Marina beweisen, dass er durchaus mit Sinnlichkeit punkten kann! Doch diese Aufgabe erweist sich für den Kontrollfreak kniffliger als der Nobelpreis ... Ein Liebesroman mit Herz und Humor, nicht nur für England-Fans!
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Love Lessons - Nachhilfe fürs Herz
von
Karin Koenicke
Erstausgabe in 2018
Alle Rechte bei Autor
Copyright © 2020
by Karin Koenicke
Primelstr. 9 85386 Eching
Cover: Rebecca Wild
www.karinkoenicke.de
Kurzbeschreibung
Sein Verstand ist genial, aber mit dem Herzen hapert es gewaltig!
Professor Garrett Featherstone besitzt einen brillanten Kopf, den Körper eines Athleten und eine ordentliche Portion Arroganz. Kein Wunder, dass ihm die Studentinnen in Oxford zu Füßen liegen.
Gefühlsmensch Marina jedoch, die mit ihm zu Sozialstunden verdonnert wurde, lässt sich nicht beeindrucken von seinem Superhirn. Sie wirft ihm an den Kopf, eben diesen zu verherrlichen und in Sachen Bauchgefühl ein Erstklässler zu sein. Eine Frechheit! Garrett wird Marina beweisen, dass er durchaus mit Sinnlichkeit punkten kann! Doch diese Aufgabe erweist sich für den Kontrollfreak kniffliger als der Nobelpreis …
Eine Liebeskomödie mit Herz und Humor nicht nur für England-Fans!
***
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Universität Köln, Cafeteria, nach einer Vorlesung in Psychologie
Marina
Mittelmies gelaunt balancierte Marina ihr Plastiktablett mit Kaffee und sahnehäubigem Apfelkuchen durch die Cafeteria der Uni. Lauter junges Gemüse saß hier herum, was natürlich nicht anders zu erwarten war. Sie war selbst schuld. Wenn man erst jenseits der 25 auf die Schnapsidee kam, alles hinzuwerfen und als Spätberufene die Uni-Schulbank zu drücken, hatte man eben die Position der Oma inne. Gab Schlimmeres. Zum Beispiel diese schrecklich theoretische Vorlesung eben, bei der sie sich gefragt hatte, ob die Dozentin schon jemals im Leben mit Patienten aus Fleisch und Blut in Berührung gekommen war.
Marina seufzte leise vor sich hin. War es die falsche Entscheidung gewesen, sich in ihrem biblischen Alter von fast dreißig durch ein Psychologie-Studium zu quälen?
Sie fand einen leeren Tisch, setzte sich und schlürfte das, was sich hier Kaffee nannte, aber nur entfernt mit ihrem Lieblingsgetränk zu tun hatte. Immerhin der Kuchen schmeckte und hob ihre Laune um ungefähr acht Grad an.
Ein helles Klimpern in diversen Tonlagen ließ sie herumfahren. Es gab hier nur eine einzige Person, die klang wie eines dieser Windspiele aus Altmetall: ihre Studienkollegin Willie. Und genau die kam mit hochroten Wangen und geräuschvoll baumelnden Ohrringen auf sie zu.
„Der Typ ist heiß!“, raunte Willie ihr zu, glitt auf den Stuhl neben ihr und drehte verträumt an ihrem Nasenpiercing herum, ohne eine nähere Erklärung abzugeben.
Marina hob gouvernantenhaft die Augenbrauen. „Hast du dir wieder einen Sportstudenten aufgerissen? Bist du nicht langsam zu alt, um mit einem Erstsemester das Kamasutra durchzuturnen, statt in der Vorlesung zu sitzen? Obwohl – so richtig viel hast du nicht verpasst. Nur graue Theorie.“
Willie ging ebenfalls mit mächtigen Schritten auf die dreißig zu, hatte aber nicht vor, das lockere Studentenleben in absehbarer Zeit zu beenden. Ganz zum Leidwesen ihrer Familie, eines alten Adelsgeschlechts, dem sie einiges an Kleingeld und ihren verhassten Vornamen Wilhelmine verdankte.
„Quatsch, ich rede von diesem Prof!“ Sie zog ein Buch aus ihrer Lederumhängetasche, in die die Umrisse eines Hanfblattes geprägt waren, und legte es auf den Tisch.
Marina drehte sich zu ihr. „Bist du verrückt? Du kannst doch keinen Dozenten flachlegen! Du fliegst endgültig von der Uni und dann bin ich die einzige Oma, das kannst du mir nicht antun.“
Überhaupt übertrieb es Willie mit ihrem Liebesleben, fand sie. Okay, man war nur einmal jung, blabla, aber es musste doch nicht ständig in der Kiste rappeln. Sie selbst war doch das beste Beispiel, dass man auch ohne Matratzensport gut über die Runden kam.
„Hey, komm mal runter vom Moralpodest und lies seinen Namen.“ Sie schob ihr das Fachbuch zu. Marina beugte sich darüber und entzifferte den Autorennamen.
„Professor Garrett Featherstone“ Sie sah überrascht auf. „Moment mal – Ist das Buch hier nicht die weiterführende Lektüre zum Thema ‚Wahrnehmungsstörungen‘?“
Willie nickte verträumt. „Der Mann ist der Hammer. Wie der schreibt! Absolut auf den Punkt gebracht, der erkennt völlig neue, geniale Zusammenhänge und hat innovative Ansätze. Besser als jeder Krimi, ich schwör‘s dir. Und dann schau dir mal sein Foto an!“
Sie drehte das Buch um, sodass Marina das Bild betrachten konnte.
„Okay, hässlich ist er nicht“, gab sie zu. Dieser Featherstone trug zwar auf dem Foto eine Brille, sah dabei aber aus, als wäre er ein Model für Armani-Accessoires. Kantiges Gesicht, dunkle Haare und ein Blick aus eisblauen Augen, als könnte er einem selbst von der Rückseite des Buchs aus tief in der Seele herumwühlen.
„Lies es. Du wirst hingerissen sein.“ Willie schob das Buch mitsamt dem Model-Professor auf Marinas Tablett. „Ich hab mir schon weitere Publikationen von ihm heruntergeladen. Der hat nämlich jede Menge Preise gewonnen. Weißt du, was ich glaube?“
Sie fummelte am Ring in ihrer Augenbraue herum, was Marina immer ganz kribbelig machte. „Verrat es mir, aber lass bitte dein Metall in Ruhe!“
Willie nahm die Hand aus dem Gesicht und strich stattdessen zärtlich über das Buch beziehungsweise über das Foto ihres neuen Stars. Genauer gesagt, über seine Denkerstirn und dann durch den sicher sehr gut gepflegten und wohlriechenden Haaransatz. „Ich glaube, bei diesem Dozenten würde ich mein Studium richtig schnell durchziehen. Der könnte mich total motivieren, davon bin ich überzeugt.“
Marina lachte. „Du hast wirklich einen Vogel. Der unterrichtet in Oxford!“
Wobei der Gedanke durchaus etwas hatte. Nicht in allen Ländern büffelte man in den ersten Semestern nur Mathe und Statistiken, statt sich damit zu beschäftigen, wie man wirklich Menschen helfen konnte. An einer Elite-Uni wie Oxford lernte man bestimmt hundertmal besser, eine richtige Psychologin zu sein.
„Ich weiß. Schätze, meine Familie wäre begeistert, wenn ich in England studiere.“ Willie hielt inne, legte eine Hand auf Marinas Unterarm. „Aber keine Angst. Das ist natürlich eine dumme Idee. Ich bin so froh über die WG mit dir und überhaupt. Ich will unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen, nicht mal für den genialsten Kopf und heißesten Sixpack aller britischen Elite-Unis.“
Nachdenklich schob Marina ihre Tasse zur Seite. Sie wollte Willie nicht verlieren. Die ausgeflippte Blaublütlerin war in den letzten beiden Jahren zu ihrer engsten Vertrauten geworden.
„Na ja, wenn deine Familie es hinkriegt, dass du in Oxford studierst, dann mach das! Ich will dir da bestimmt nicht im Weg stehen“, presste sie heraus. Womöglich wäre eine englische Elite-Uni wirklich keine schlechte Wahl für Willie. Die würden sie dort sicher auf Trab halten. „Soweit ich weiß, haben die immer ganz kleine Kurse“, fuhr Marina fort, weil sie es Willie trotz allem gönnte. „Nur eine Handvoll Leute und ganz eng betreut von tollen Dozenten. Ich wette auch, die machen nicht so theoretischen Kram wie wir, sondern unterrichten die wirklich wichtigen Inhalte.“
Mit ernster Miene wickelte Willie eine ihrer Dreadlocks um den Finger, die derzeit in sattem Orange leuchteten. „Bewirb dich auch!“, schlug sie vor. „Dir stinkt doch sowieso, dass bei uns so wenig Praxisbezug ist und du deine Mutter-Teresa-Ambitionen nicht ausleben darfst. Wenn du dich anstrengst, kriegst du die Noten vielleicht hin.“
„Vergiss es.“ Marina trank den letzten Rest Kaffeeimitat aus. „Die nehmen nur die Besten aus x-tausend Bewerbern. Da habe ich überhaupt keine Chance.“ Sie hatte ein herausragendes Gespür für Menschen, aber mit Stochastik stand sie auf Kriegsfuß. Und genau das hatte ihr die Noten verhagelt, denn Empathie wurde leider nicht bewertet.
Doch Willie ließ nicht locker. „Hey, wir schauen einfach nach Stipendien! Die gibt es doch für alles Mögliche. Weil man gut rudern kann zum Beispiel.“
„Sehe ich aus, als würde ich jeden Morgen um halb sechs auf dem Rhein entlang paddeln?“, fragte Marina und leckte Sahne von ihrem Löffel. Sportlerin war sie nun wirklich keine, eher der Typ Genießerin mit ausgeprägten weiblichen Rundungen.
Nein, es war völlig ausgeschlossen. Sie hatte weder die Noten noch die Beziehungen, um über ein Englandstudium auch nur nachdenken zu dürfen. Bei Willie war das anders, die alten Seilschaften aus Adel und Macht funktionierten auch noch im Jahr 2018. Ein paar Anrufe bei britischen Verwandten oder Freunden aus dem Lions Club und schon würde Wilhelmine von Schwarzenburg-Nöningen in einem College sitzen. Das stellte sicher kein Problem dar. Nur die Dreadlocks würde sie eventuell opfern müssen, aber das konnte sie bestimmt verkraften.
„Mist.“ Willie zog eine Schnute. „Allein mag ich da nicht rüber, da kann dieser Professor noch so ein toller Kopf sein. Willst du nicht doch einen Schnellkurs im Rudern oder Orgelspielen machen? Ah, übrigens – heute Abend spielt diese coole Band, Bob Harley, du weißt schon. Mischung aus Reggae und Mitgröl-Rock, du kommst doch mit? Born to be wild mit Steeldrum, das darfst du dir echt nicht entgehen lassen.“
Marina gelang es nicht ganz, sich diese Mischung vorzustellen, was vielleicht auch besser war. Sie schob sich ein Stück vom Kuchen in den Mund, damit sie nicht gleich antworten musste. Willie war schnell zu begeistern, insbesondere wenn es um männliche Musiker ging. Sie selbst hielt sich in dieser Hinsicht vornehm zurück.
„Muss mal sehen. Habe noch einiges zu tun“, versuchte sie eine Ausrede. „Jetzt geht‘s erst mal weiter mit dem nächsten Kurs. Wir sind spät dran.“ Sie stand auf und nahm ihr Tablett. Das Buch verstaute sie in ihrem Rucksack.
Erst als sie gemeinsam die Treppen hochstiegen, fiel ihr wieder ein, dass in diesem einen Satz von Willie ein Wort quer gelegen hatte. Deshalb fragte sie schließlich nach.
„Wieso hast du vorher als Beispiel aufgezählt, ich soll Rudern oder Orgelspielen lernen? Also dass die mit Cambridge um die Wette paddeln, weiß ich, aber wie bitteschön kommst du auf Orgel?“
War sicher nur so dahingesagt gewesen, wie so oft bei Willie. Marina wunderte sich selbst, warum sie darauf herumritt.
Willie drückte ihr ihre Ledertasche in die Hand. „Halt das mal, ich muss vor der Vorlesung noch schnell für kleine Psychologinnen.“ Sie machte ein paar Schritte auf die Toiletten zu, drehte sich dann aber um. „Na, weil diese altehrwürdigen Colleges doch alle eine Kapelle dabei haben und immer wie verrückt Studenten suchen, die da orgeln. Aber wer kann das schon, so schrecklich spießig ist doch kein junger Mensch!“ Sie lachte und steuerte jetzt endgültig das WC an.
Versteinert starrte Marina ihr nach, bis die Tür hinter ihr zufiel. Ihr Herzschlag trommelte so heftig, dass der Steeldrum-Spieler von Bob Harley sicher vor Neid erblassen würde.
Nein, so schrecklich spießig war ganz sicher kein junger Mensch, da hatte Willie recht. Doch erstens vergaß die, dass Marina nicht jung war, sondern zu den Omas zählte. Und zweitens hatte Willie nicht die leiseste Ahnung, dass es ein paar Dinge in Marinas Leben gab, von denen sie noch nicht mal ihrer besten und blaublütigsten Freundin erzählt hatte.
Oxford, einige Monate später, St. Ambrose College
Marina
„Du bist dir wirklich sicher, dass du dieses komische Tastenmonster bedienen kannst?“, flüsterte Willie die rhetorische Frage zum dritten Mal und hörte sich erstaunlich kleinlaut an. Offenbar schüchterte die Atmosphäre in der eindrucksvollen Kapelle des St. Ambrose Colleges sie ein oder womöglich die Anwesenheit des ernst dreinschauenden Mesners, der Marina einen antik wirkenden Schlüsselbund in die Hand drückte.
„Der große Schlüssel ist für die Kapelle, mit dem kleinen sperren Sie die Orgel auf und der hier ist für die Kammer an der Seite, da werden Noten und Ähnliches aufbewahrt. Sie kommen zurecht?“
Marina nickte und versuchte ein Lächeln – in der Hoffnung, dass er ihr die Unsicherheit nicht anmerken würde. Es war Jahre her, wenn nicht sogar ein Jahrzehnt, dass sie an einer Orgel gesessen hatte. Und das alte Ding in Onkel Quirins Landkirche war im Vergleich zu dieser hier eine Blockflöte gewesen. Um den Mesner zu überzeugen, kein vollständiger Laie zu sein, zog sie zwei Register heraus und begann ein Bach-Präludium, mit dem ihr Onkel sie monatelang gequält hatte, bis es saß. Nach anfänglicher Zitterpartie fassten ihre Finger mehr Mut und fanden die richtigen Tasten, spielten von ganz allein die verschiedenen Melodiebögen. Mit jedem Takt, den sie anschlug, wurde Marina ruhiger, irgendwann schloss sie die Augen und gab sich ganz der Musik hin, die von allen Seiten auf sie einströmte, als würde nicht sie selbst die Töne erzeugen, sondern diese auf magische Weise aus den Wänden der Kapelle herauskriechen, sich umschauen und dann munter im ganzen Kirchenschiff herumflitzen.
Es wirkte. Der missmutige Mesner machte ein zufriedenes Gesicht und schlurfte schließlich von dannen, was Marina aufatmen ließ. Die erste Hürde war geschafft! Und auch Willie sah sie mit einem bisher unbekannten Blick an, fast ein bisschen ehrfürchtig, kam es ihr vor. Marina entspannte sich aber nicht vollständig, sie vermutete weiterhin, dass spätestens am dritten Tag irgendjemand dahinterkommen würde, welch Fake sie war, und sie hochkant vom altehrwürdigen College flog. Okay, sie war nicht total dumm, hatte aber keineswegs so herausragende Noten oder graue Zellen, dass sie an eine Eilte-Uni gehörte. Und ob ein bisschen Orgelklimperei wirklich reichte, um hier dauerhaft geduldet zu werden, wusste sie nicht.
„Ich fasse es immer noch nicht, dass du so ein Kirchen-Keyboard spielen kannst“, sagte Willie mitten in die letzten Bach-Takte hinein. „Dass jemand Schlagzeug lernen mag, versteh ich noch. Von mir aus auch E-Gitarre. Aber Orgel?“
Marina nahm die Hände von den Tasten. „Habe ich dir doch schon erklärt, du Großstadt-Göre. Bei uns auf dem Land war das nicht unüblich. Sei meinem Onkel Quirin lieber dankbar dafür, sonst wärst du jetzt nämlich ohne mich hier und dürftest dein Zimmer mit einer dieser versnobten Jura-Ladies teilen.“ Sie hatte ihrer Freundin wohl oder übel verraten müssen, wo ihre Wurzeln waren.
„Jaja, ich schreibe ihm eine Dankeskarte. Aber ernsthaft – wieso hast du nie erwähnt, dass du in einem Kaff aufgewachsen bist? Ich dachte immer, du kommst auch aus der Stadt.“
Marina blätterte in einem Buch mit anglikanischen Kirchenliedern herum. Allzu schwierig waren die Harmonien zum Glück nicht, das sollte sie hinbekommen. „Weil du und die anderen coolen Studenten mich ausgelacht hätten“, antwortete sie schließlich. „Ihr seid doch alle entweder aus reichem Haus oder kommt aus der linkslastigen Ecke. Über eine, die den Großteil ihrer Kindheit im Heuboden herumgehüpft ist, hättet ihr die Nase gerümpft. Dabei ist mein Stallgeruch längst verflogen.“
„Schleppst du noch mehr solcher Geheimnisse mit dir herum?“ Willie neigte den Kopf zur Seite und sah ihr tief in die Augen. „Hast du eigenhändig Schweine geschlachtet, bist CSU-Mitglied oder warst schon drei Jahre im Jugendknast?“
Nette Auflistung. Marina überlegte für einen Moment, was von diesen drei Dingen wohl für Willie am Schwersten wiegen würde. Eine Knastvergangenheit würde sie mit Sicherheit spannend finden und womöglich sogar bei ihren Verwandten damit angeben, sich das Zimmer mit einer verurteilten Verbrecherin zu teilen.
„Wirst du vielleicht noch herausfinden“, entschied sie sich für eine kryptische Antwort und sah auf die Uhr. „Wir sollten uns auf die Socken machen, die Kurseinteilung fängt gleich an.“
Gemeinsam mit Willie verließ sie die Kapelle, sperrte die Tür ordentlich ab und ging über den Innenhof des Colleges. Noch immer kam es ihr unwirklich vor, in Oxford zu sein, wo Efeu die alten Mauern hinaufkroch und man ständig den Eindruck hatte, in einer Harry Potter-Kulisse gelandet zu sein. Die Gebäude sahen aus, als wäre vor hundert Jahren die Zeit stehen geblieben. Wuchtige, dunkle Holztüren führten vom Innenhof aus in die Räume, Steintafeln mit lateinischen Inschriften wiesen den Weg zu den Fakultäten und der knorrige Apfelbaum neben der Kapelle war garantiert älter als die Mehrheit der Studenten. Alles atmete Geschichte, jede Stufe, jedes bunte Glasfenster, jedes Dielenbrett, über das sie jetzt gingen. Marina war fast froh, als ihr ein paar Kommilitonen in kurzen Hosen und Flip Flops entgegenkamen, die wohl den sonnigen Herbsttag genießen wollten, denn sonst hätte sie schon Angst gehabt, eine Zeitreise unternommen zu haben.
„Wir müssen in die große Halle.“ Willie klang ebenfalls ehrfürchtig. Sie, die sich normalerweise von niemandem den Mund verbieten ließ, hatte sogar ihre klimpernden Ohrgehänge abgelegt und zu schlichten Perlen gegriffen. Das war wohl der Oxford-Effekt, da wurden sogar die wildesten Adels-Punks zu zahmen Schulmädchen.
„Und dann werden wir ihn endlich sehen!“, fügte Willie hinzu, zog einen erstaunlich farbschwachen Lippenstift heraus und schminkte sich nach.
Marina musste lachen. Es waren also gar nicht die altehrwürdigen Gemäuer, die Willie kleinlaut gemacht hatten! Klar eigentlich, in ihrer Familie gab es wahrscheinlich Clans, die selbst in irgendwelchen Schlössern oder Burgen hausten. Nein, es war die Aussicht, endlich Mister Brain in die hochintelligenten Augen zu schauen!
Von allen Seiten strömten Studenten in den Flur und weiter in Richtung Halle. Größtenteils weibliche Bildungswütige, stellte Marina fest. Sie hoffte, das lag nicht an Professor Superstar, sondern einfach daran, dass generell mehr Frauen als Männer Psychologie studierten.
Eindrucksvoll knarzend öffnete sich die Doppeltür. Anschließend hielt Marina den Atem an. Die Halle war schlichtweg überwältigend! Riesige Kronleuchter hingen von einer intarsienverzierten Decke, auch die Wände waren mit edlem Holz getäfelt, dazu mit Ölgemälden geschmückt. Die antiken Tische waren zu langen Reihen aufgestellt und selbst die Stühle, auf denen sich die Studenten nun niederließen, sahen aus, als gehörten sie in ein Museum. Natürlich bestanden die Fenster nicht aus einfachem Glas, sondern aus bunten Mosaikscheiben. Marina legte den Kopf in den Nacken, weil sie die Motive eingehend betrachten wollte, da kniff Willie sie unsanft in den Arm.
„Da muss er dabei sein! Bei den Professoren,“ stammelte Willie, als Marina sich entrüstet zu ihr umdrehte, und starrte nach vorne. Marina folgte ihrem Blick. Etwas erhöht saßen vier Männer, einer davon trug einen langen Bart, daneben war ein Stuhl frei.
„Kommt jetzt der Sprechende Hut und teilt uns ein?“, neckte Marina ihre Freundin.
Doch Willie reagierte nicht auf den Witz. Dafür bekamen ihre Augen einen eigenartigen Glanz. Ungefähr so, wie bei einem Kind, das den hell erleuchteten Christbaum plus kinnhohen Geschenkeberg sieht. „Schau doch, der jetzt nach vorne geht! Das ist er. Oh Mann, der sieht in echt mindestens genauso gut aus. Klasse Anzug, garantiert maßgeschneidert. Und erst der Inhalt!“ Sie tastete nach einem Stuhl und ließ sich verzückt niedersinken, Marina tat es ihr gleich, allerdings etwas weniger betört als ihre blaublütige Freundin.
Tatsächlich gesellte sich ein weiterer Mann zu den anderen. Groß war er, und Willie hatte recht, seine breiten Schultern und schmalen Hüften wurden von dem anthrazitfarbenen Anzug noch betont. Als er sich umdrehte, um sich hinzusetzen, stockte Marina dann doch der Atem. Das war unverkennbar Professor Garrett Featherstone, sie erkannte die markanten Züge und die graublauen Augen hinter der randlosen Brille sofort. Aber mehr noch, seine Ausstrahlung legte sich über den gesamten Saal, als hätte er heimlich einen Zauberspruch gemurmelt. Alle Gespräche erstarben, weil er seinen ernsten Blick über die Köpfe der Studenten gleiten ließ.
Marina ertappte sich dabei, sich ungewohnt aufrecht hinzusetzen. Um ein Haar hätte sie noch brav die Hände auf den Tisch gelegt. Ihr war klar, dass er zu der seltenen Gattung Lehrer gehörte, die niemals um Ruhe bitten mussten. Sein Charisma ließ es schlichtweg nicht zu, dass jemand nicht aufpasste, Kaugummi kaute oder eine Hausarbeit vergaß. Ihr Nacken kribbelte mehr und mehr, je länger sie ihn ansah. Und eine Sache stand jetzt schon fest: Bei ihm als Dozenten würde sie genau das lernen, was sie in Deutschland vermisst hatte! Das spürte sie mit jeder Faser ihres angespannten Körpers.
Der Bärtige ergriff das Wort. „Mein Name ist Reginald Osbert Strathan, ich bin der Dekan Ihres Colleges. Ich begrüße Sie bei uns und werde Ihnen erst einmal einiges über unser Haus erzählen, bevor wir zur Einteilung Ihrer Kurse und Dozenten kommen.“
„Ach nee, immer diese langweiligen Geschichtsreferate“, maulte Willie und Marina musste ihr ausnahmsweise Recht geben. Sie hatte die historischen Details über das College längst nachgelesen und wollte auch am liebsten erfahren, ob ihre Bewerbung für den Kurs bei Professor Featherstone erfolgreich gewesen war. Der ließ weiterhin seinen aufmerksamen Blick über die Studenten wandern. Als Marina aufsah, fixierte er sie. Wahrscheinlich nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch sie hatte das Gefühl, seine gletschergrauen Augen würden in ihr Innerstes schauen. Keine Ahnung, was genau er tat, aber ihr Puls raste und ihre Hände wurden feucht. Vom Vortrag des Dekans bekam sie nichts mehr mit, obwohl Featherstone keinen Blickkontakt mehr mit ihr aufnahm. Oh Mann, der Kerl war wirklich etwas Besonderes! Wenn sein Unterricht auch so intensiv war wie seine Ausstrahlung, sollte sie jetzt zu sämtlichen niederbayrischen Heiligen beten, dass sie in seinen Kurs kam.
Nach einer halben Stunde war es endlich soweit.
„Wir verkünden nun die Zuteilung“, schloss Dekan Strathan seine Rede. „Bitte finden Sie sich im Anschluss im entsprechenden Raum ein. Vorab aber noch eine Ankündigung: Alle Studenten, die im Kurs von Professor Featherstone sind, dürfen sich auf eine besondere Herausforderung freuen. Sie werden nämlich an seinem aktuellen Forschungsprojekt mitarbeiten. Garrett, möchten Sie kurz davon erzählen und dann Ihre neuen Studenten aufrufen?“
„Selbstverständlich.“
Featherstone stand auf und ließ seinen Blick erneut über die Zuhörer gleiten. Es war mucksmäuschenstill im Saal. Marina musste sich daran erinnern, das Atmen nicht zu vergessen, so aufgeregt war sie. Natürlich nur wegen der Kurseinteilung, versuchte sie sich selbst einzureden.
„In meinem Projekt werden wir uns mit suchtkranken Jugendlichen beschäftigen“, hallten seine ersten Worte selbstbewusst durch den Saal. „Ziel ist, einen objektiven Analysebogen zu entwickeln, mithilfe dessen auch weniger spezialisierte Ärzte und Therapeuten eine erfolgversprechende Behandlung verordnen können. Sind Sie in meinem Kurs, werden Sie also einen deutlich höheren Einsatz bringen müssen als bei anderen Dozenten, denn das Forschungsprojekt läuft natürlich neben dem normalen Vorlesungsalltag. Ich habe Aussichten auf den renommierten Wellspring-Preis. Wenn Sie also nicht gewillt sind, mit maximaler Energie zu arbeiten, sollten Sie sich zu diesem Zeitpunkt bei einem anderen Dozenten anmelden.“
„Wow“, hauchte Willie und auch Marina musste zugeben, dass sie begeistert war. Nicht nur von der dunklen Stimme des Professors, die ihr unter die Haut kroch und sich direkt unterm Zwerchfell einnistete, sondern vor allem vom Inhalt. Er stellte in Aussicht, mit echten Menschen statt mit Theoriebüchern zu arbeiten! Das war ja besser, als sie zu träumen gewagt hatte.
„Endlich ein Dozent, der Studenten was Sinnvolles beibringt!“ Sie strahlte Willie an. „Jetzt müssen wir nur noch bei ihm landen.“
Auch wenn das kindisch war und man als angehende Psychologin besser nicht zum Aberglauben neigte, presste sie die Daumen fest in die Fäuste. „Bitte bitte, ich will in diesen Kurs“, flehte sie innerlich, denn etwas Besseres als Professor Featherstone konnte ihr garantiert nicht passieren.
„Hier also die Namen der Studenten, die mir dann bitte in meinen Raum folgen: Edward Holovan, Neema Patil ….“
Sie hielt die Anspannung kaum mehr aus. Nach welchem Prinzip waren die Namen sortiert? Alphabetisch offenbar nicht. Womöglich nach Notendurchschnitt – die Inderin mit Designerbrille, die gerade aufstand, sah jedenfalls sehr schlau aus. Wahrscheinlich hatte man als Orgelquälerin sowieso keine Chance beim Wunderprofessor und sie sollte …
„… Marina Thalhammer“, riss er sie aus ihren Gedanken und hängte auch noch ein völlig akzentfreies „Wilhelmine von Schwarzenburg-Nöningen“ an.
„Wir sind drin!“ Willie sprang auf. „Das wird bombastisch hier in Oxford!“
„Garantiert!“, war Marina sich sicher und fühlte sich wie im Märchen. Nicht nur, dass sie in dieser traumhaften Umgebung studieren durfte, sie hatte auch noch einen Prof abgekriegt, der mit extrem viel Praxisbezug arbeitete. Das Leben konnte wirklich magisch sein!
Mit dynamischen Schritten ging Featherstone voran, die Gruppe von zwölf Studenten folgte. Einen Gang entlang, die Treppe hinauf in den zweiten Stock, um die Ecke und schließlich öffnete er eine Tür. Marina trat gemeinsam mit den anderen ein und sah sich erstaunt um. Mit einem Hörsaal hatte der Raum ungefähr so viel zu tun wie ein Yogastudio mit einer Dreifachturnhalle. Die einzige Gemeinsamkeit war eine Tafel, aber statt übereinander angeordneter Reihen mit Klappstühlen gab es hier ein paar kleine Tischchen, vor denen Holzstühle mit Samtsitzfläche einladend auf die Studentenhintern warteten. Selbst das Lehrerpult stand im Abseits, Zentrum war ein wuchtiger Stuhl, auf dem sich der Professor niederließ. Die Wände ringsherum waren vollgestellt mit schweren Bücherregalen, und beide Fenster wurden von edlen Brokatvorhängen flankiert. Hier unterrichtet zu werden, war ein wahres Privileg, das wurde ihr so richtig bewusst.
„Nur zu, nehmen Sie Platz“, forderte er sie auf. „Wie Sie sehen, wird hier im kleinen Rahmen unterrichtet, so erzielen wir seit vielen Generationen die besten Ergebnisse. Falls Sie sich wundern, warum so viele ausländische Studenten hier in der Gruppe sind: Das ist kein Zufall. Ich halte viel davon, verschiedene Kulturen und Herkunftsländer zu mischen, so befruchtet man sich gegenseitig und kann seinen Horizont erweitern.“
Er war wirklich toll!
Marinas Aufregung nahm noch mehr zu, während er sprach. Aber nicht, weil sie wie bisher fürchtete, nicht nach Oxford zu passen, sondern weil Garrett Featherstone alles hatte, was sie sich von einem Dozenten erträumte. Er war aufgeschlossen, schlug neue Wege ein und vor allem würde es garantiert keinen trockenen Theorieunterricht bei ihm geben! Ganz abgesehen davon war er eine Augenweide, als er jetzt aus seinem Jackett schlüpfte und es mit einer geschmeidigen Bewegung über eine Stuhllehne warf. Der Mann hatte den Körper eines Athleten, das sah man durch das figurnah geschnittene Hemd deutlich. Bei diesen Brustmuskeln vermutete sie, dass er jeden Morgen auf der Themse herumruderte. Sie sah ihn förmlich vor sich, in kurzen Hosen trotz dichten Morgennebels, der seine vollen Haare benetzen und noch dunkler färben würde, während seine hellen Augen mit der aufgehenden Sonne um die Wette leuchteten und er sich mit diesen herrlichen Unterarmen den Schweiß von der Denkerstirn …
„Er gefällt dir, ich sehe es deutlich“, raunte Willie ihr zu und hatte ein fettes Grinsen im Gesicht.
Widerwillig musste Marina nicken. „Stimmt. Aber hauptsächlich, weil er unfassbar gute Psychologinnen aus uns machen wird und wir Hunderten von Kranken helfen werden!“
Sie konnte es kaum erwarten, dass er mit dem Unterricht loslegte. Sicher würde er von Anfang an richtigstellen, dass man ein Gefühl für Patienten entwickeln musste, dass nur Idioten sich an grauer Theorie festhielten und die moderne Wissenschaft viel mehr auf feine Antennen setzte.
„Lassen Sie uns keine Zeit vergeuden“, tönte seine volle Stimme auch schon durch den Raum. Irrsinn, welche Präsenz dieser Mann hatte! Marina musste sich wirklich anstrengen, ihn nicht verzückt anzustrahlen wie ein Groupie ihren auf der Bühne herumwirbelnden Popstar.
„Als Erstes eine Frage an Sie, meine Herrschaften. Welches ist die wichtigste Eigenschaft eines Psychologen?“
Blätter raschelten, weil jedem in der Gruppe inzwischen aufgefallen war, dass die erste Lektion just in diesem Moment startete. Auch Marina legte Block und Kuli zurecht, doch dann hob sie den Kopf und suchte Featherstones Blick. Das war ihre Chance, gleich am Anfang bei ihm zu punkten!
„Sie wissen die Antwort, Miss Thalhammer beziehungsweise …“ Er stockte, sah auf seine Liste, und korrigierte in ein weiches „Marina, wenn ich hier richtig lese.“
Sie musste schlucken. Klar, es war in England üblich, dass die Professoren ihre Studenten mit Vornamen ansprachen, trotzdem kribbelte es ameiseneifrig in ihrem Nacken, als er ihren Namen so wundervoll melodisch aussprach.
„Ja, ich denke schon“, sagte sie und hielt seinem interessierten Blick stand, was gar nicht so einfach war. „Ein guter Psychologe besitzt zwei wichtige Eigenschaften: Er hat den Wunsch, Menschen zu helfen. Vor allem aber verfügt er über viel Empathie, denn feine Antennen und ein gutes Gespür für die Patienten sind Voraussetzung, um sich in sie hineinfühlen zu können und die richtige Behandlung zu finden.“
Stolz auf ihren flüssigen Vortrag sah sie ihn an. Doch das zufriedene Lächeln rutschte ihr aus dem Gesicht, als sie sah, wie eine Ader an seiner Schläfe unheilverheißend anschwoll. Nach der erhofften Begeisterung sah das irgendwie nicht aus.
„Was für ein Unfug! So ein Blödsinn wird meines Wissens selbst in Deutschland nicht gelehrt, wie kommen Sie bitte zu dieser völligen Fehleinschätzung?“ Featherstone sprang von seinem Thron auf, so sehr echauffierte er sich. „Bauchgefühl! Wenn ich dieses Wort schon höre, kommt mir das Frühstück hoch. Das ist die Ausrede aller faulen und völlig unbegabten Studenten. Das Einzige, was einen hervorragenden Psychologen ausmacht, ist Wissen! Lückenfreie, sorgsam angeeignete und tief verinnerlichte Theorie! Alles andere dulde ich nicht in meinem Kurs.“
Er marschierte zum Wandregal und nahm fünf Bücher heraus. Würdigte Marina keines Blickes mehr, sondern sprach die anderen Studenten an. „Das hier wird Ihre Lektüre für die nächsten beiden Wochen sein, Sie arbeiten diese wichtigen Werke durch, exzerpieren für sich selbst die grundlegenden Inhalte und wir besprechen in jeder Stunde einige Kapitel. Schreiben Sie sich die Titel auf, bei Blackwell`s in der Broad Street sind die Bände alle vorrätig.“
Vollkommen erstarrt umklammerte Marina ihren Kugelschreiber. Was war gerade passiert? Hatte ihr Fleisch-gewordener Professorentraum tatsächlich gesagt, dass er nur trockenes Wissen gelten ließ?
Als sie mit viel Mühe und wackligen Buchstaben die Titel aufschrieb und feststellte, dass vier der fünf Lehrbücher als Autor seinen Namen trugen, war ihr Hals wie zugeschnürt. Irgendein unsichtbarer Collegegeist hatte ihr offenbar die Kordeln des Brokatvorhangs um die Kehle gewickelt. Und es dämmerte ihr allmählich, dass ein Studium in Oxford möglicherweise eine noch größere Schnapsidee gewesen war als vor fünfzehneinhalb Jahren ihr ehrgeiziges Vorhaben, Onkel Quirins Zuchtstier zum Springpferd zuzureiten.
Garrett
Professor Garrett Featherstone ließ die Tür seines Wohnhauses hinter sich zufallen, hängte seinen Mantel ordentlich an die Garderobe und stellte seine Schuhe exakt parallel nebeneinander. So viel Zeit musste sein, selbst wenn ihn seine Kopfschmerzen heute fast umbrachten. Das Hämmern zog sich vom Nacken großflächig bis nach vorne zu seinen Augen, sodass er die Brille abnahm und sich die Schläfen massierte. Obwohl er heute noch kaum etwas gegessen hatte, verspürte er keinerlei Appetit. In die Küche ging er trotzdem, aber nur, um ein Glas mit altem schottischen Whisky zu befüllen. Er wusste, dass das den Kopfschmerz eher noch verstärken würde, aber es war eines der zwei Dinge, die ihm halfen, ein wenig abzuschalten.
Das zweite war Sex. Im Vergleich zum Whisky, der rotgolden im Glas schimmerte und sich seines exorbitanten Preises offenbar bewusst war, stellte Sex eine deutlich kostengünstigere Alternative dar. Sogar leichter herbeizuschaffen war sie, denn der Whisky wurde nur direkt in der Destillerie und in ein paar ausgewählten Läden verkauft, während Garrett keine Probleme hatte, ein Wissenschaftsgroupie in sein Bett zu holen.
Aber Frauen konnten anstrengend sein. Nicht der Sex an sich natürlich, für den hatte er immer genügend Energie. Aber das Außenrum! Schlaue Fragen beantworten, auf die neusten Veröffentlichungen aus eigener Feder hinweisen, ein paar lateinische Redewendungen bemühen. Mehr brauchte es nicht, um dieses Leuchten in den Augen zu erzeugen, was kurz danach garantiert Spitzendessous oder neckische Strumpfbänder zum Vorschein brachte.
Doch heute war ihm nicht danach. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben.
Zusammen mit dem Whiskyglas wanderte er hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich auf das schwarze Ledersofa fallen. Er drückte den Kopf gegen die Lehne und spürte die Kühle des Leders an seinem Rücken. Für einen Moment schloss er die Augen. Eigentlich wartete noch jede Menge Arbeit auf ihn, es galt, zwei Artikel fertigzustellen, eine Aufstellung für den Dekan anzufertigen und ein absolut laienhaftes Fachbuch eines sogenannten Kollegen zu rezensieren. Doch das Pochen hinter der Stirn war so stark, dass er sich sowieso nicht konzentrieren konnte.
Ausnahmsweise durfte er doch mal die Fachbücher in den zahlreichen Regalen seines Wohnzimmers sein lassen und sich mit irgendetwas Sinnfreiem beschäftigen. Ja, das war ein guter Plan! Andere Menschen taten das ständig, warum sollte er nicht auch einmal „einfach herumhängen“, wie es so schön hieß. Allerdings war er recht ungeübt darin.
Garrett öffnete die Augen und sah sich um. Leichte Lektüre würde er vergeblich suchen auf den Bücherboards oder in dem ordentlichen Stapel an wissenschaftlichen Zeitschriften auf dem Tisch. Ein Film vielleicht? Er stand auf, öffnete die Klappe unter dem Fernsehgerät und durchstöberte seine Sammlung.
Setzte sich anschließend wieder auf die Couch, ohne eine DVD ausgewählt zu haben. Alle Filme hatten etwas mit psychischen Störungen oder Pädagogik zu tun, auf beides hatte er wenig Lust. Lieber noch ein Schluck Whisky, vielleicht machte der ihn irgendwann müde.
Sein Handy blinkte. Widerwillig nahm er es in die Hand und rief die Nachricht auf.
„Ich habe in den Ferien viel gelernt, schätze aber, eine Nachhilfestunde kann nicht schaden. Habe die Zeit in London genutzt, um einzukaufen. Auch was Schickes zum Anziehen bzw. Ausziehen. Falls du Lust hast, einer kleinen (und sehr dankbaren) Studentin auf die Sprünge zu helfen, melde dich. Kisses, Vanessa“
Auf dem Foto steckte ihr Prachtkörper in purpurfarbenen Dessous, die sicher ein Vermögen gekostet hatten. Soweit er wusste, stieg der Preis nach oben, je weniger Stoff im Spiel war. Aber so genau kannte er sich nicht damit aus. Garrett hatte sich nie für die Preise von Reizwäsche interessiert, denn die Frauen erwarteten von ihm etwas anderes als monetäre Leistungen. Was sie dahinschmelzen ließ, waren nicht teure Geschenke, sondern sein überragender Intellekt.
Wenn er das Foto genauer betrachtete, gesellte sich zum Pochen in seinem Kopf jetzt noch ein leichtes Pulsieren in seiner Hose oder besser gesagt im Schritt dazu. Trotzdem rief er Vanessa nicht an, um sie einzuladen. Er wollte mit niemandem reden.
Noch ein Schluck Whisky, das Glas war fast leer. Ganz langsam wurde alles dumpfer um ihn.
Er nahm die Fernbedienung für die teure Stereoanlage und drückte auf einen Knopf. Bachs Cello Suiten ertönten. Ein sprödes Solo-Instrument mit klaren Harmonien, das war nach seinem Geschmack. Besonders viel hatte er nie mit Musik anfangen können, aber manchen schien sie zu helfen, den Geist zu leeren. Garrett versuchte, sich auf den Melodiebogen zu konzentrieren, um all die anderen Dinge aus seinem Kopf zu bekommen, die ihn ständig belasteten.
Es dauerte lang, aber irgendwann setzte tatsächlich eine kleine Entspannung ein. Zumindest wurde sein Kopf schwer, die Augen müde und der Geist träge.
Gerade als er eine leise Hoffnung schöpfte, dass es heute ausnahmsweise klappen könnte mit dem Einschlafen, schreckte ihn das schrille Klingeln des Telefons auf.
„Featherstone“, meldete er sich, mit recht wenig Begeisterung in der Stimme.
„Du klingst, als hättest du schon geschlafen. Arbeitet man heutzutage nichts mehr als Professor?“ Na wunderbar, sein Vater. Der hatte ihm noch gefehlt, um seine Kopfschmerzen endgültig in einen Presslufthammer zu verwandeln.
„Ich sitze gerade über der Planung der nächsten Vorlesung. Die neuen Studenten scheinen nicht gerade die Crème de la Crème der europäischen Schulen zu sein.“
„Zu meiner Zeit gab es strengere Auswahlverfahren. Heute scheint Oxford ja jeden dahergelaufenen Hilfsschüler anzunehmen. Nun gut, es kann sich nicht jedes College leisten, so wohlüberlegte Kriterien wie Cambridge anzuwenden.“
Garrett presste die Backenzähne aufeinander. Dad und sein ach so ehrwürdiges Cambridge, an dem er studiert und unterrichtet hatte! Manchmal hatte Garrett das Gefühl, wenn er als Straßenkehrer oder bei der Müllabfuhr arbeiten würde, wäre es auch nicht schlimmer für seine Eltern. Sein Vater tat seit jeher so, als wäre Oxford nicht eine weltweit anerkannte wissenschaftliche Einrichtung, sondern eine Fish-and-Chips-Bude. Und man müsste sich schämen, dass das eigene Fleisch und Blut dort sein klägliches Gehalt verdiente. Dabei konnte Garrett absolut nicht klagen, er gehörte zu den bestbezahlten Professoren aller Colleges. Für Dad war das natürlich nicht genug.
„Hast du deinem Bruder schon gratuliert?“, kam schon das nächste leidige Thema daher. „Gregory ist sicher schwer zu erreichen bei all den Interviews, die er geben muss. Und gesellschaftliche Verpflichtungen hängen natürlich auch an so einem Preis. Ich kenne das ja. Aber du wirst ihn doch bestimmt trotz der Zeitverschiebung erreicht haben, oder nicht?“
„Selbstverständlich habe ich das“, log Garrett und bedauerte, dass er nicht noch mehr Whisky im Glas hatte. Er trank den letzten Rest aus. „Ich habe natürlich sofort Kontakt aufgenommen, als Mom mir davon erzählt hat.“
Mitten in der Nacht hatte sie ihn aus dem Bett gerissen mit ihrem Anruf. Genauer gesagt um zwei Uhr nachts, nachdem er erst eine halbe Stunde vorher endlich eingeschlafen war. Alles nur, um ihm mitzuteilen, dass Gregory wie erwartet den begehrten Shepard-Prize für medizinische Forschung abgeräumt hatte. In den USA, wo Gregory die meiste Zeit über lebte, war das einer der berühmtesten Preise, hoch dotiert und extrem prestige-trächtig. Kam gleich nach dem Nobelpreis. Oder sogar davor, so wie seine Mutter sich am Telefon angehört hatte.
Garrett hatte seinem Bruder, zu dem er noch nie viel Bezug gehabt hatte, eine Nachricht per Whatsapp geschickt, um ihm zu gratulieren. Das musste doch wohl genügen.
„Ein Lehrstuhl in Harvard!“, schwärmte sein Vater und Garrett sah förmlich, wie seine hellgrauen Augen stolz leuchteten. „Artikel in allen namhaften Fachjournalen. Und unser Name steht jetzt für alle Zeit in den medizinischen Lehrbüchern.“
„Ja, als Darmbakterium“, stellte Garrett trocken fest. In diesem Bereich verdiente Gregory nämlich seine Lorbeeren und man hatte ihm zu Ehren einer Bakterienart den Namen Featherstone verliehen. „Jeder künftige Dickdarm-Untersucher wird unseren Namen mit großer Ehrfurcht aussprechen“, konnte er sich nicht verkneifen.
„Spar dir diesen lächerlichen Zynismus!“, kam sofort zurück. „Es würde dir auch nicht schaden, ein bisschen Ehrgeiz zu entwickeln. Was wurde denn aus diesem Wellspring-Preis, den du anstrebst? Hast du da überhaupt irgendwelche Chancen oder verläuft das wieder mal im Sande?“
Garrett umschloss das Whisky-Glas so fest mit seiner Hand, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Ich bin da noch im Rennen“, zischte er. „Wir entwickeln einen Analysebogen, der die Behandlung von suchtkranken Jugendlichen revolutionieren wird.“
„Aha“, sagte sein Dad nur und klang so uninteressiert, als würde sein Sohn ihm ein Rezept für Rosenkohlsouflé vortragen. Er war Physiker und natürlich zählten nur Naturwissenschaften etwas. Die Psychologie war für ihn gleichbedeutend mit Esoterik, vermutete Garrett. Wahrscheinlich wäre er nicht überrascht gewesen, wenn bei diesem Forschungsprojekt seines Sohnes noch die Sternzeichen der Probanden miteinbezogen und Medikamentengaben mit den Mondphasen abgestimmt würden, von Voodoo-Püppchen ganz zu schweigen.
„Hast du ihm schon von Juliette erzählt?“, hörte er die spitze Stimme seiner Mutter im Hintergrund.
„Nein“, brummte Dad. „Das kannst du ja gleich selbst machen.“ Er reichte ihr den Hörer weiter, kurz darauf bohrte sich eine hohe Frequenz in Garretts Ohr.
„Garrett, my darling!“, flötete sie. „Wir haben Gregorys Braut kennengelernt, weil er gerade in England ist mit ihr, sie ist ein ganz wunderbarer Mensch. Und so attraktiv! Schlau auch noch, sie schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit.“
„Eine echte Traumfrau also, das hat mein Bruder perfekt hingekriegt.“
„Ja, das ist sie!“ An seiner Mom prallte jede Ironie ab, er sollte es langsam wissen. Sie nahm aus ihrem Umfeld nur das wahr, was ihr genehm war. Das galt insbesondere für ihre Mitmenschen.
„Die beiden haben uns ins `Ivy` eingeladen, als sie in London waren. Wirklich großartig!“, plapperte sie ohne Rücksicht auf Verluste weiter. „Und stell dir vor, Juliette wird sogar bei meinem Charity-Event im nächsten Monat eine kleine Rede halten!“
„Das ist ja ganz phantastisch von Juliette!“, brummte er, doch wieder blieb sein Sarkasmus unbeachtet.
„Magst du nicht auch vorbeikommen? Es ist am dreißigsten November, da können wir doch gleich deinen Geburtstag feiern! Ich bestelle einen Kirschkuchen für dich, den mochtest du doch immer so gerne.“
Er setzte das Glas klirrend auf den Wohnzimmertisch. Seine Nackenmuskeln waren so steinhart, dass eine neue Woge stechender Kopfschmerzen ihm das Denken vernebelte.
„Das war Gregory“, erklärte er tonlos. „Du hast uns verwechselt. Er mochte Kirschen. Ich hingegen konnte sie nie leiden, nicht mal als Kind. Da gab es mal einen Vorfall.“
Aber natürlich wusste seine Mutter nicht, was damals passiert war. Sie war wieder einmal auf einem ihrer Bälle unterwegs gewesen oder beim Shopping, und hatte die Kinder der Nanny überlassen. Francesca war es gewesen, die pummelige Italienerin mit der schönen Singstimme, der aber bald gekündigt wurde, weil sie die Kinder angeblich verweichlichte. Oder weil ihre Bildung und der Wortschatz nicht angemessen waren für den noblen Nachwuchs von Professor Doktor Kent Featherstone.
Garrett erinnerte sich detailliert an das Geschirr, weißes Porzellan mit Goldrand, auf dem das Kirschtörtchen gelegen hatte. Wie alt er gewesen war, wusste er nicht mehr genau. Fünf Jahre? Oder sechs? Das Gebäck sah er jedenfalls genau vor sich, schmeckte die Süße der aufplatzenden Kirsche in seinem Mund und spürte auch jetzt noch die Panik, als er den Kern in die Luftröhre bekam. Er hatte wirklich gedacht, er würde ersticken! Seine Hände hatten das Tischtuch erwischt und daran gezogen, sodass das gesamte Geschirr auf dem Fußboden zerschellte, während er keine Luft mehr bekam. Doch plötzlich war Francesca hinter ihm gewesen und hatte ihre Arme um seinen Bauch geschlungen. Ein kräftiger Ruck – er musste husten und der Kern flog über das zerbrochene Porzellan.
„Ich esse nie mehr Kirschen“, hatte er unter Tränen geschluchzt und sich sein Leben lang darangehalten.
Garrett schloss die Augen, atmete für einen winzigen Moment in seiner Erinnerung Francescas Duft ein. Sie hatte ihn an ihren üppigen Busen gezogen, ihm über die Haare gestrichen, eines dieser weichen italienischen Lieder für ihn gesummt. Während er stumm geweint und ihr Aroma von Lavendel und Maiglöckchen eingesogen hatte. Ein seltener Moment, in dem ein Hauch von Geborgenheit über ihn gekommen war. Natürlich hatte er am nächsten Tag seiner Mom davon erzählt, aber es hatte sie kaum berührt. Wie so vieles nicht.
Einen Monat später war Francesca weg gewesen und irgendeine herbe Deutsche mit Nickelbrille, hartem Akzent und noch härteren Regeln angerückt. Gesungen hatte die kein einziges Mal.
„Ach, ist doch egal. Dann eben Apfeltorte mit Marzipan, das sind doch Kleinigkeiten.“ Seine Mutter lachte schrill. „Aber sag mal, Garrett, weil wir ja gerade von Juliette gesprochen haben: Was macht denn dein Liebesleben? Gibt es eine Frau, die du uns vorstellen möchtest? Als Mutter interessiert mich natürlich, was in deinem Herzen vor sich geht.“
„Das ist aus Stein“, erwiderte er kühl. Fast hätte er „so wie deines“ angefügt, entschied sich aber dagegen. Er war einfach nur müde und sein Kopf machte ihn fast wahnsinnig.
„Ich muss noch was tun, Mom. Wir plaudern mal wieder, wenn ich mehr Zeit habe. Sag meinem Vorzeigebruder und seiner engelsgleichen Freundin Grüße. Gute Nacht.“
Er legte auf und presste die Hände gegen seine Schläfen.
Das Telefon hielt er unschlüssig in der Hand. Sollte er Vanessa anrufen? Sie würde sicher sofort herkommen. Womöglich bräuchte er ihr nicht mal von seinen neusten Veröffentlichungen zu erzählen, sie war schon längst sein Groupie.
Er tippte ihre Nummer ein. Auf richtigen Sex hatte er gar keine Lust, aber sie hatte geübte Lippen und bei einem Blowjob würde er sicher ein wenig Stress loswerden können. Sich einfach hinlegen, den Reißverschluss öffnen und ihre talentierte Zunge genießen – das würde sogar seine Verspannungen lindern.
Es tutete.
Nach dem zweiten Mal legte er auf.
Nein, es ging nicht. Er wollte jetzt niemanden in seiner Wohnung haben, nicht mal eine kleine, willige Studentin.
Garrett schenkte sich noch einmal vom Whisky nach. Das tat ihm nicht gut, wie er wusste, aber egal. Würde er eben morgen mit einem dicken Kopf ins College gehen. Aber wenigstens mit ein paar Stunden Schlaf.
Er zog sich aus, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett. Knetete seinen Nacken. Starrte an die Decke.
„Schluss damit!“, murmelte er sich selbst zu. Er würde jetzt sofort aufhören, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Meine Güte, seine Kindheit war vielleicht ein wenig kühl gewesen, aber er hatte jetzt ein großartiges Leben. Einen tollen Job, der ihn erfüllte und gut bezahlt war, Kollegen, die ihn bewunderten, das Aussehen eines Unterwäsche-Models und zehnmal mehr Sex als der durchschnittliche Japanologie-Student. Außerdem würde er in nicht allzu ferner Zukunft den Wellspring-Preis gewinnen und ebenso wie sein unerträglicher Bruder in allen Fachgazetten abgelichtet sein! Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.
Er warf sich auf die andere Seite und presste die Augen zusammen. Sein Kopf war dumpf, die Schultern hart, aber wenn er sich anstrengte, würde das mit der Nachtruhe klappen. Ein Garrett Featherstone ließ sich nämlich nicht unterkriegen, nicht mal von der Schlaflosigkeit!
Marina
„Ich nehme an, Sie alle haben Grundkenntnisse in Analytischer Psychologie, denn C.G. Jung dürfte wohl selbst an Ihren Universitäten bereits Stoff gewesen sein. Wir werden uns heute mit dem Strukturprinzip der Archetypen beschäftigen.“
Widerwillig machte sich Marina ein paar Notizen. Mit Jung hatte sie sich natürlich schon auseinandergesetzt. Wenn man seine Lehre mal verinnerlicht hatte, konnte das sicher eine Hilfe sein im Umgang mit Patienten. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Professor Featherstone – wenn er erst einmal die Grundlagen der Theorie abgehakt hatte – noch ein toller Dozent für sie sein würde.
Müde sah er heute aus, fand sie. Seine Haltung war natürlich trotzdem aufrecht, wie es sich für die britische Oberschicht gehörte, die Stimme durchdringend und die Sätze wohlformuliert. Aber da war etwas in seinen Augen, sie bohrten sich heute nicht wie ein Laserstrahl in die Köpfe seiner Studenten, sondern glommen eher wie ein Dynamo-betriebenes Fahrradlicht vor sich hin. Verdammt attraktiv war der Kerl immer noch, musste sie zugeben. Also wenn man auf so intellektuelle Typen mit Athletenkörper stand, quasi auf den Archetyp des Sixpack-Mentors, um annähernd bei C.G. Jung zu bleiben.
„Wilhelmine, erklären Sie uns die Etymologie des Wortes Archetypus!“, sagte er und fixierte Willie mit seinem Blick, der nun doch wie ein Xenon-Scheinwerfer daherkam.
Willie ließ vor Schreck ihren Füller fallen. „Äh, ich glaube, Latein war noch nie meine Stärke“, brachte sie schließlich heraus und lief rot an.
Featherstone verdrehte die Augen und murmelte irgendetwas Unverständliches, was ziemlich genervt klang. Auf Marinas rechter Seite schoss ein Arm in die Höhe. Sie brauchte nicht den Kopf zu drehen, denn dass ihre Nachbarin eine Miss Superschlau war, wusste sie inzwischen.
„Neema, Sie kennen die Antwort?“, rief der Prof die eifrige Inderin auf.
„Das Wort kommt aus dem Griechischen“, referierte sie und rückte sich die Brille zurecht. „Arche steht für Ursprung und Typus für Abdruck, man kann es am besten mit dem Wort Grundprägung übersetzen.“
Na wunderbar, die indische Primadonna konnte offenbar nicht nur jedes psychologische Lehrbuch auswendig, und zwar sowohl vorwärts als auch rückwärts, sondern verfügte auch über eine humanistische Grundausbildung. Marina kam sich vor wie eine Erstklässlerin.
„Das ist korrekt.“ Er schenkte Neema ein zustimmendes Lächeln, das sicher jeder einzelnen Studentin des Colleges weiche Knie verpassen konnte. Auch an der ehrgeizigen Inderin ging es nicht spurlos vorbei. Marina beobachtete, wie sie instinktiv mit ihrem glänzenden Schwarzhaar spielte. Ein deutliches Flirtzeichen!
Oh Mann, dieser Featherstone war sich seiner Ausstrahlung vollkommen bewusst. Und das war eine Sache, die sie bei Männern ganz schrecklich fand. Sie mochte viel lieber die etwas Schüchternen, die sich nicht so viel auf sich selbst einbildeten, aber dafür andere Menschen wahrnahmen. Und zwar auch, wenn die nicht das große Latinum oder Graecum besaßen.
„Wie Sie sicher wissen, umfasst der Archetyp des Selbsts das Ichbewusstsein und auch das Unbewusste. Jung spricht hier von der zentralen Steuerungs- und Entwicklungsinstanz, also somit dem Zentrum der menschlichen Psyche. Ich habe das in meinem Buch `Zugang zum Unbewussten – Eine Gegenüberstellung der gängigsten Methoden und deren Kritik` eingehend beschrieben,“ redete der Prof hochgestochen daher.
Er drehte sich zur Tafel um und schrieb ein paar der wissenschaftlichen Ausdrücke auf.
Willie hatte sich offenbar von der Schmach erholt und beugte sich zu Marina herüber. „Du siehst aus, als hättest du in eine Grapefruit gebissen“, flüsterte sie. „Magst du C.G. Jung nicht?“
„Schon, aber ich sehe nicht, wie uns das alles beim Behandeln von Kranken helfen soll.“
„Kannst unseren Garrett ja fragen. Falls dich sein sexy Hintern nicht zu sehr durcheinanderbringt.“ Willie grinste und nahm dann wieder ihren Füller in die Hand, denn der Dozent drehte sich gerade um.
Ob seine Kehrseite der von Christiano Ronaldo Konkurrenz machte oder nicht, war Marina völlig egal. Okay, ein kurzer Blick hatte ihr verraten, dass er tatsächlich mit einem unverschämt knackigen Hinterteil ausgestattet war, aber darum ging es nicht.