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Maskenbälle, unsternbedrohte Familiengeschichten und verfluchte Liebespaare kennt Allegra höchstens aus ganz alten Büchern, aber mit der Realität haben sie für sie nichts zu tun. Das ändert sich grundlegend, als sie bei einem Kurzurlaub am Gardasee erfährt, dass ihr Hotel von Nachfahren der Capulets geführt wird. Anscheinend ist ihre Fehde mit den Montagues auch nach Jahrhunderten noch intakt. Als sie aus purer Neugier die andere Seite des Sees erkundet, beginnen sich die Ereignisse unwillkürlich zu verdichten. Denn Allegra trifft auf Luca Montague und damit auf ihr magisches Schicksal…
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Seitenzahl: 621
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Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Elisabeth Mahler
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlagdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-951-7
Alle Rechte vorbehalten
Band 1
Prolog
I. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
II. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
III. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
IV. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
V. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
Epilog
Band 2
Prolog
I. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
II. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
III. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
IV. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
V. Akt
1. Szene
2. Szene
3. Szene
4. Szene
5. Szene
6. Szene
7. Szene
8. Szene
Epilog
Nachwort
Drachenpost
Für alle,
die für die Liebe kämpfen
Die Vorstellung, dass heute erneut Blut an seinen Händen kleben sollte, brachte ihn zum Verzweifeln. Mit einem Schlag auf den Altar aus rotem und weißem Marmor versuchte der alte Mann, den Gedanken daran zu verdrängen, und lief langsam den Gang zwischen den Reihen alter Holzbänke entlang. Den ganzen Tag war er schon in der Kirche auf und ab gelaufen, hatte seine Geschäfte ruhen lassen. Inzwischen war es kurz vor Mitternacht. Das Lied der Nachtigall drang an sein Ohr, wann immer er die Tür für einen Moment öffnete. Dennoch wartete er weiter auf den dunklen Boten.
Vor wie vielen Dekaden war er von Venus selbst mit dieser Aufgabe betraut worden? Wie viele Kinder hatte man in all den Jahrhunderten zu ihm gebracht? Er verbot sich jede Erinnerung daran und versuchte das Weinen der Kinder, die ihrer Mutter entrissen worden waren, aus seinem Kopf zu verbannen. Jene Schreie, die noch durch das Kirchengewölbe hallten, als das Leben des Neugeborenen bereits durch seine Hand beendet worden war. Venus nannte es die Konsequenz seiner Einmischung. Dabei hatte er nur das Beste für die Liebenden gewollt, hatte für sie gekämpft und sich in Venus’ göttliche Spielchen eingemischt. Vergebens.
Geräusche drangen durch die massive Tür und erneut warf der Padre einen Blick nach draußen. Ein paar Jugendliche streiften durch die engen Gassen, johlten und jubelten. Auf den Padre wirkte es, als würden sie ihn verhöhnen. Er wollte eben nach draußen, um die Jugendlichen zur Ruhe zu rufen, als der schwarze Wagen am Straßenende in die Gasse einbog. Von außen konnte man keinen der Insassen erkennen. Nicht den Fahrer, der als einziger in ihrer Dreierrunde stets ein anderer war. Und nicht den Boten des dunklen Hauses, der den Säugling zu ihm bringen und seinen Tod bezeugen sollte.
Die nächtlichen Geräusche schienen immer mehr zu verstummen, je näher der Wagen kam. Mit dem Abstellen des Motors hielt die ganze Stadt den Atem an. Der Fahrer des Wagens stieg aus und öffnete dem Boten die Fahrzeugtür. Als der Dunkle ausstieg, ein kleines Bündel im Arm, setzte das Herz des Padre kurz aus. Der Säugling hatte bereits jetzt die dunklen Augen der Capulets und schaute ihn mit wachem Blick direkt an, als flehe er ihn an, Venus erneut zu betrügen.
Bei Jupiter, wie oft hatte er es versucht! Er konnte dem Blick des Säuglings nicht länger standhalten und sah den Boten an, der auf ihn zu kam, als wäre er einer der Lieferanten, die tagtäglich Kräuter und Tinkturen aus aller Welt zu ihm brachten. Wut stieg im Padre auf. Zorn auf Venus, auf den ihm auferlegten Fluch, selbst auf diejenigen, die vor Jahrtausenden selbst von Venus für ihr Vergehen bestraft worden waren. Die Göttin der Liebe, pah!, schimpfte der Padre innerlich, als er dem Boten mit dem Säugling im Arm die Tür zur Kirche öffnete. In dieser Stadt geht die Liebe mit dem Tod einher.
Er betrat hinter dem Dunklen das Kirchenschiff und folgte ihm zum Altar. Der Dunkle kannte das Procedere ebenso gut wie der Padre selbst. Das Herz des alten Mannes pochte gegen seine Brust. Ein Gedanke huschte durch seinen Kopf. Zart wie eine Sommerbrise und doch so präsent wie die Düfte, die selbst die kleinste Regung der Luft mit sich tragen konnte. Instinktiv griff er in die linke Tasche seiner Hose und befühlte die gläserne Phiole. War heute der Tag gekommen, an dem er all seine Schuld begleichen konnte? Nein, nicht mitten in der Nacht. Wie zum Zeichen schlug die Turmuhr zwölf Mal.
Der Padre ging mit langsamen Schritten auf den Altar zu. Der Dunkle überreichte ihm den Säugling, der immer noch mit wachem Blick seine Umgebung musterte. Seine Schönheit übertraf die all der anderen. Ihr beinahe göttliches Aussehen war einst der Fluch Psyches, mit dem sie den Zorn der Venus auf sich gezogen hatte. Nun war es die Bürde jener, die aus der Verbindung von Psyche und Amor hervorgegangen waren. Die Phiole in seiner Tasche wurde immer schwerer, hatte er das Gefühl. Er nahm den Säugling und bettete ihn auf das goldschimmernde Fell mitten auf dem Altar.
Der Bote zog ein kleines Etui aus der Jacke seines schwarzen Anzugs. Er platzierte es neben dem Säugling, öffnete es mit beiden Händen und zog ein rotes Tuch daraus hervor, das ohne Zauber niemals hätte in das Etui passen können. Der Stoff war so fest wie Leder, aber dünn wie Seide. Der Bote reichte das Tuch an den Padre.
Von weit her drangen Schreie und Gelächter zum Altarraum. Der Padre störte sich nicht daran. Die Jugendlichen waren immer noch in der Stadt unterwegs. Der Bote jedoch zuckte zusammen und wandte den Kopf in Richtung Tür. Der Padre erkannte die Chance, die ihm die Götter boten, und ließ das Tuch zu Boden fallen. Während er sich bückte, öffnete er die Phiole in seiner Tasche. Anschließend schüttete er den Inhalt in seine linke Hand, mit der er unter dem nun wieder wachsamen Blick des Dunklen das rote Tuch aufhob. Sein Herz klopfte so heftig, dass er sich darauf konzentrieren musste, das Procedere durchzuführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Er sandte ein Stoßgebet zu den Göttern, ehe er das Gesicht des Säuglings mit dem Rot bedeckte. Seine rechte Hand strich sanft über den dichten dunklen Flaum, der den Kopf des Kindes bedeckte, seine Linke presste das Tuch fest auf Mund und Nase. Kleine Beine strampelten, kleine Ärmchen zuckten. Markerschütternde Schreie peitschten durch die Stille, die jedoch nur für einen kurzen Moment andauerten. Als ihr Echo noch durch das Tonnengewölbe über ihnen geisterte, nahm der Padre bereits das Tuch vom Gesicht des leblosen Neugeborenen und trat zur Seite.
Der Bote nahm seinen Platz ein, beugte sich über den regungslosen Körper und horchte auf den Herzschlag des Säuglings. Zufrieden erhob er sich, fühlte anschließend dem Procedere entsprechend noch den Puls. Er nickte dem Padre zu, ehe er den Gang entlangging und durch die Holztür verschwand.
Endlich wagte der Padre wieder zu atmen. Schwindel hatte sich bereits eingestellt, er musste schnell seine Gedanken ordnen. Die Pläne sahen vor, dass er die Leiche zum Krematorium brachte. So war er all die Jahrhunderte vorgegangen. Doch was sollte er nun tun, da endlich die Gelegenheit gekommen war, auf die er so lange nicht einmal zu hoffen gewagt hatte? Hastig schlug er das goldene Fell über das Neugeborene und nahm es behutsam auf den Arm. Gemeinsam schlüpften sie durch die Tür an der Seite des Altarraums in seine privaten Räume und er grübelte über das weitere Vorgehen. Die Zeit rannte ihm davon.
Das Telefon klingelte und der Padre hätte um ein Haar das Bündel fallen lassen. Er nahm ab, ganz der Geistliche, dessen Rolle er spielte.
So grausam das Schicksal manchmal von den Parzen gestrickt wurde, desto klarer wurde das jenes Säuglings, der in Kürze wieder vom Tode auferstehen würde. Die Lerche stimmte soeben ihr Lied an, als der Padre mit dem Kind auf dem Arm in den grauenden Morgen trat.
Endlich tuckerte der für deutsche Verhältnisse antike Bus an dem Schild mit dem Aufdruck »Limone sul Garda« vorbei. Allegras Herz schlug mit einem Mal schneller. In ihrem Inneren fühlte sie dieselbe Unruhe, die sie beim Blick auf das große Plakat der Deutschen Bahn in der Münchner Innenstadt erfasst hatte.
Sie hatte sich eben mit ihrer Freundin Jen getroffen und wollte mit ihr am Goetheplatz einen Kaffee trinken gehen. Wie vom Blitz getroffen stand sie vor dem Plakat mit der Werbung für das Europaticket und den Sparpreis an den Gardasee. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als verspürte er eine Sehnsucht nach jenem Ort, der auf dem Plakat angepriesen wurde. Sie wusste einfach, dass sie genau dort hin musste. Ausgerechnet heute sah sie dieses Angebot.
Erst letzte Nacht hatte sie wieder diese verwirrenden Träume gehabt. Von den eisblauen Augen, die ihre Seele aufzusaugen schienen und sich mit den schwarzbraunen Augen abwechselten, die ihren eigenen glichen. Jeden Tag grübelte sie über deren Bedeutung. Seit die Träume kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag begonnen hatten, kribbelte ihr Bauch in freudiger Erregung vor etwas, das zu benennen sie nicht in der Lage war. Und genau jenes Gefühl hatte sie nun beim Blick auf das Plakat, ehe es verschwand und einer Werbung für einen Baumarkt wich.
»Was ist denn los?«, fragte Jen, die schon ein paar Schritte weitergegangen war, ehe sie bemerkt hatte, dass Allegra wie paralysiert auf die digitale Plakatwand starrte. Sie kam zurück. »Brauchst du was aus dem Baumarkt? Will deine Mutter wieder mal renovieren?«
Allegra schüttelte den Kopf und überging die Frage. »Da war eben eine andere Werbung«, begann sie und überlegte, wie sie es am besten ausdrücken sollte. »Wir müssen an den Gardasee. Ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, dass ich genau dort hin muss.« Verzweifelt gestikulierte sie mit den Händen, um den nichtssagenden Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Ein Mädelsurlaub am Gardasee? Ich bin dabei!« Jen hüpfte wie ein Kleinkind neben Allegra auf und ab. Dass es so einfach sein würde, hätte sie nicht gedacht. Aber ihre Freundin war immer relativ schnell zu begeistern. Neue Klamotten, neue Jungs, neue Wohnung. Jen war die Liebenswürdigkeit in Person, aber Konstanten gab es nur wenige in ihrem Leben – Allegra war eine davon.
Beim Kaffeetrinken spannen die beiden Mädchen bereits Pläne und stöberten in ihren Smartphones nach Übernachtungsgelegenheiten. Dass die viel größere Hürde ihre Mutter sein würde, hätte Allegra nie vermutet. Sie wollte Maria eigentlich vor vollendete Tatsachen stellen: die Tickets waren bereits gebucht und Allegra hatte ein schmuckes Hotel zu Bestkonditionen gefunden. Dass Maria etwas gegen ihren Kurztrip an den Lago di Garda haben könnte, hatte sie nicht erwartet. Immerhin war sie selbst Italienerin und kam aus der Gegend. Sie und Allegra waren kurz nach ihrer Geburt vom Gardasee in die Nähe von München zu entfernten Verwandten gezogen. Allegra sprach fließend italienisch, selbst Jen, die mit Allegra aufgewachsen war, besaß nur einen leichten deutschen Akzent. Also was konnte dagegensprechen, ihre Sprachkenntnisse endlich mal auszunutzen?
»Kommt nicht infrage«, sagte Maria nur knapp. Doch in ihren Augen erkannte Allegra etwas, das sie bei ihrer Mutter nur sehr selten sah: Angst. Vor was? Vor den hübschen Italienern, die ihrer Tochter auflauern und ihr das Herz stehlen könnten? Allegra vermutete, dass es damit zusammenhing, dass Maria mit ihr damals nahezu aus Italien geflohen war, nachdem Allegras Vater sie hatte sitzenlassen. Sie sprach es allerdings nicht aus. Dieses Thema war tabu. Niemand sprach über Marias altes Leben. Über ihr Leben vor Deutschland. Allegra konnte sich vorstellen, wie schwer es für eine junge Frau hatte sein müssen, quasi über Nacht alles aufzugeben und etwas ganz Neues zu beginnen. Aber Maria meisterte ihren Job und ihre Mutterrolle mit Bravour. Sie war konsequent, schränkte Allegra jedoch nie ein. Bis jetzt.
»Mamma, ich bin fast zwanzig. Du kannst es mir nicht verbieten.«
Maria seufzte und warf theatralisch die Hände in die Luft. »No, Bambina. Das kann ich nicht. Aber ich kann dich warnen. Und ich kann dich inständig bitten, dass du nicht fährst. Es ist …« Maria wühlte mit ihren Händen in der Luft nach den richtigen Worten.
»... nur zu meinem Besten. Ich weiß, Mamma. Aber ich weiß auch, dass ich dorthin muss. Tief hier drin«, Allegra legte sich die Hand auf die Brust, »weiß ich, dass ich etwas über meine Wurzeln herausfinden muss.«
Maria presste die Lippen aufeinander, ehe sie an ihre Halskette griff. Das gläserne Herz funkelte an Marias Dekolleté, seit Allegra denken konnte. »Ich wusste, dass dieser Moment eines Tages kommen würde.« Mehr sagte sie nicht, obwohl Allegra sie mehrmals danach gefragt hatte.
Der Auslöser von Jens Handy-Kamera holte Allegra aus ihren Gedanken. Jen hielt ihr das Smartphone hin. »Perfekt getroffen, oder?«
Allegra warf einen Blick auf das Display. Ihre schwarzbraunen hüftlangen Haare hatte sie wie immer mit einer Klammer hochgesteckt. Nach der fast fünfstündigen Reise hingen ihr jedoch zahlreiche Strähnen ins Gesicht und über die Schultern. Ihre dunklen Augen starrten ins Nichts, man sah ihr an, dass sie mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Direkt neben ihrem Kopf war das Ortsschild von Limone sul Garda zu sehen und erneut krampfte sich Allegras Magen vor Erwartung zusammen. Sie lächelte ihre Freundin an, als sie ihr das Handy zurückgab.
»Wenn du so gelächelt hättest, hätte ich das Foto für zig Tausend Euro an den Bürgermeister von Limone verkaufen können. Eine bessere Werbefigur wird er nie finden.«
»Na klar.« Allegra verdrehte die Augen. Sie wusste, dass sie recht gut aussah, das verrieten ihr ständig die dämlichen Pfiffe und Rufe von irgendwelchen Typen. Sie war jedoch nie geschmeichelt, sondern nur genervt. Einfach alle sahen nur ihr gutes Aussehen. Abitur mit Bravour bestanden? Spricht fünf Fremdsprachen fließend? Steht kurz vor dem Medizinstudium? Alles uninteressant. Aussehen war schließlich wichtiger als der Rest. Sie schnaubte innerlich.
Aus genau diesem Grund hatte Allegra auch die Suche nach der und das Gefundenwerden durch die Liebe aufgegeben. Die Oberflächlichkeit, mit der sich diese Emotion näherte, war ihr verhasst. Sie schüttelte den Kopf und verbot sich trübe Gedanken. Sie war auf einem Kurztrip mit ihrer besten Freundin, da sollte sie sich die Laune nicht durch verflossene Liebeleien – mehr war es sowieso nie gewesen – verderben lassen.
»Ich hätte auch ein Foto von dir machen können. Italienerinnen gibt es hier Tausende und die sehen alle so aus wie ich«, erwiderte Allegra und sah Jen musternd an. »Aber eine nordische Prinzessin mit strahlend blauen Augen und weißblondem Haar wäre ein echter Hingucker.«
Jen verdiente schon seit Jahren ihr Geld mit Modeln. Sie war bildhübsch, hatte volle Lippen, große Augen und einen Körper, für den die echten Models hungerten – ganz im Gegensatz zu Jen, die alles in sich hineinstopfte, was sie in die Hände bekam. Die Agenturen rissen sich um sie und Jen widerstand stets der Versuchung, ihre Zukunft auf ihrem guten Aussehen aufzubauen. Doch als Nebenjob war es lukrativer als Allegras Aushilfstätigkeit im Restaurant ihrer Mutter. Maria hatte Allegra verboten, das Angebot von Jens Modelagentur anzunehmen. Da Allegra zu der Zeit noch minderjährig gewesen war, hatte sie zwar einen Aufstand gemacht, als Maria nicht unterschreiben wollte, es ihr aber doch nicht nachgetragen. Zu oft wurde sie im normalen Leben schon auf ihr Aussehen reduziert. Das brauchte sie nicht noch zusätzlich zu fördern. Jens Mutter hatte damit weniger Probleme gehabt und heute war die ein Jahr jüngere Jen gefragt wie nie.
»Wir sollten später gemeinsam zum Ortsschild laufen und Fotos für Instagram schießen«, schlug Jen vor und Allegra nickte gedankenverloren.
Der Bus kämpfte sich eine schmale Gasse den Berg hinauf. Das Hotel, das Allegra gebucht hatte, lag oberhalb von Limone. Die Fotos hatten einen unglaublichen Ausblick auf den Gardasee und den ganzen Ort versprochen. An ein Hotel, das übersetzt Schloss hieß, durfte man ja auch gewisse Erwartungen stellen. Mit einem Zischen kam der Bus vor dem Hotel zum Stehen. Der ältere Busfahrer war so hin und weg von den beiden deutschen Mädchen gewesen, dass er ihnen angeboten hatte, sie direkt zum Hotel zu fahren. Es wäre eine Schande für alle Italiener, wenn er zwei so bezaubernde Frauen mit ihren Koffern durch die Stadt laufen ließe, hatte er gesagt.
Er stellte den Motor ab und schickte sich an, Jen und Allegra mit ihren Koffern zu helfen. Die beiden waren jedoch selbstständig genug und wollten auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass der alte Mann wegen ihrer schweren Koffer einen Herzinfarkt erlitt. Sie bedankten sich höflich und verließen den Bus. Als Allegra einen Blick über die Schulter warf, sah sie, dass der Fahrer ihnen verträumt hinterhersah.
»Den hat es schwer erwischt. Wir sind einfach unwiderstehlich«, scherzte Jen. Für Außenstehende mochte das arrogant und eingebildet klingen, aber so war Jen ganz und gar nicht. Sie war freundlich, hilfsbereit und wirklich nett. Nur weil sie Kapital aus ihrem Aussehen schlug, hatte sie nicht automatisch das Herz am falschen Fleck. Im Gegenteil. Es gab viele Menschen, die eingebildeter waren. Ansonsten wäre Jen nicht Allegras beste Freundin. Punkt. Außerdem bedeuteten gutes Aussehen und tolle Jobs nicht unbedingt Glück mit den Männern. Die hatten bei Jen bisher nur von einem Mädels-Trauer-Abend zum nächsten geführt. Irgendwann während der Reisevorbereitungen hatte sie erwähnt, dass sie die deutschen Männer aufgeben würde und hoffentlich in Italien mehr Glück hatte.
Ein lauter Pfiff ertönte und die beiden Mädchen suchten nach dem Ursprung. Auf einem Balkon zwei Stockwerke über ihnen gestikulierte ein junger Italiener wild mit den Händen. Vermutlich wusste er nicht, wie er sie ansprechen sollte, aber die beiden Frauen verstanden auch so, dass er ihnen unbedingt helfen wollte.
Sie waren aber weder hilfsbedürftig noch hatten sie Lust, sich vom erstbesten Gigolo anquatschen zu lassen, also zogen sie ihre Koffer den Fußweg zum Haus hinauf. Sie standen direkt vor der schweren Eingangstür, als diese von innen mit viel Schwung aufgerissen wurde und Jen um ein Haar weggeschleudert hätte.
Allegra setzte schon zu einer Schimpftirade an, als sie sich den jungen Mann etwas näher ansah. Seine Augen! Dieselben schwarzbraunen Augen, von denen sie geträumt hatte! Die sich in ihren Träumen mit eisblauen Augen, noch heller als die von Jen, vermischten. Es waren dieselben Augen, die sie jeden Tag im Spiegel vor sich hatte, und dennoch anders.
Sofort beruhigte sich ihr Gemüt und der Ärger wich einem Gefühl, über das sie erst genauer nachdenken musste. Auf die Schnelle hätte sie es mit Nach-Hause-Kommen verglichen. Sie schüttelte den Kopf und wie durch Watte drang Jens Schimpfpredigt an ihr Ohr. Der Italiener wurde sofort um ein paar Zentimeter kleiner, als er erkannte, dass Jen fließend italienisch sprach.
Auch Jen musste irgendwann Luft holen und der junge Mann nutzte sofort die Gelegenheit: »Ich kann es nicht verantworten, zwei solchen Schönheiten wie euch nicht meine Hilfe anzubieten.« Mit einem Lächeln, das den Nordpol zum Schmelzen hätte bringen können, sah er die Frauen aus seinen großen dunklen Augen an.
Am liebsten hätte Allegra die Augen verdreht, aber selbst zu dieser einfachen Geste war sie nicht in der Lage. Der Junge – oder Mann, vielleicht auch irgendetwas dazwischen – musste in ihrem Alter sein, vielleicht etwas jünger, das konnte sie nicht einschätzen. Bei was sie sich jedoch sicher war: Er kam ihr irgendwie vertraut vor.
Jen übernahm die Führung und wies den Jungen, der sehr erfreut war, ihnen behilflich sein zu können, an, die Koffer zu übernehmen. Er ging mit großen Schritten voran und führte sie zu einer kleinen Rezeption, hinter der eine grauhaarigere Frau saß und in einer Zeitschrift blätterte.
»Eleonora, gib diesen bezaubernden Frauen das beste Zimmer, das wir haben.«
Die Frau sah ihn über den Rand ihrer schmalen Lesebrille hinweg an und kniff den Mund zusammen. Anschließend musterte sie Allegra und Jen. Ihr Gesicht entspannte sich. Allegra glaubte sogar, so etwas wie Hoffnung darin zu sehen. Wie kam sie nur auf die Idee, dass jemand, der sie nicht kannte, sie hoffnungsvoll ansehen könnte? Doch solche merkwürdigen Ahnungen von Gefühlen anderer hatte sie schon immer gehabt. Jen verließ sich daher immer auf Allegras Bauchgefühl. Sie hatte ihr einmal eine seitenlange Expertise über Mikroexpressionen in die Hand gedrückt, um die »Magie« zu entzaubern, die hinter diesen Bauchgefühlen steckte und vertraute deshalb doppelt darauf.
»Allegra Casari und Jennifer Mayer?«, fragte Eleonora und die beiden nickten. »Sie haben Glück. Die Buchung der Suite wurde kurzfristig storniert. Sie bekommen das Zimmer natürlich trotzdem zum vereinbarten Preis. Willkommen im Castello.« Wieder konnte Allegra den kurzen Blick, den Eleonora dem Jungen zuwarf, nicht deuten. Hatte sie überhaupt speziell ihn angesehen? Die alte Dame reichte ihnen Formulare zum Ausfüllen und im Anschluss daran die Karten für das Zimmer. »Alessandro wird Ihr Gepäck nach oben bringen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«
Alessandro schnappte sich erneut die Griffe der Koffer und lief zu dem goldfarbenen Fahrstuhl gegenüber der Rezeption. Die Fahrstuhltür glitt sofort auf, nachdem er den Knopf gedrückt hatte, und die drei stiegen ein. Während der Fahrt bemerkte Allegra den silbernen Siegelring an Alessandros Finger. Er wirkte viel zu wuchtig und alt für diesen Jungen, aber gleichzeitig übte er eine Anziehungskraft auf Allegra aus, die sie sich nicht erklären konnte. Die stilisierte Rose darauf wirkte so plastisch, als müsste Allegra nur zugreifen und sie herausholen. Schnell schüttelte sie den Kopf und vertrieb den seltsamen Gedanken. Die lange Reise hatte ihr nicht gutgetan und sie brauchte dringend Zeit, um sich auszuruhen.
Im dritten Stock öffnete sich die Tür wieder und zu ihrer Rechten lag ein langer Flur. Links befand sich nur eine einzige Tür und genau auf die steuerte Alessandro zu.
»Hier sind wir.« Er stellte die Koffer ab und trat zur Seite, damit Allegra das Schloss mit ihrer Karte öffnen konnte. »Wir sehen uns beim Abendessen«, verabschiedete sich Alessandro und eilte zurück zum Fahrstuhl, während Allegra und Jen ihre Koffer in das Hotelzimmer trugen.
Zimmer war jedoch die Untertreibung des Jahrhunderts. Allein der Raum, in dem sie jetzt standen, war größer als die ganze Wohnung, die Allegra mit ihrer Mutter teilte. Und dabei befanden sich nur ein gläserner Tisch, eine große Couch und mehrere Sessel darin.
Jen ließ sich gleich auf die Couch fallen und streckte sich ausgiebig. Dann schreckte sie hoch und Feuer loderte in ihrem Blick. »Hast du dir diesen Alessandro genauer angeschaut? Verdammt, ist der heiß.«
Allegra zuckte mit den Schultern. Sie konnte dieses Déjà-vu-Gefühl immer noch nicht loswerden. Als sie jedoch hinüber zu Jen blickte, konnte sie eines genau erkennen: Jens verträumten Blick. Ein Blick, den Allegra nur allzu gut kannte und der stets der Anfang dessen war, was in »ganze Eispackungen in sich reinschaufeln«-Abenden endete. Warum passierte das immer ausgerechnet ihrer besten Freundin?
»Er sieht aus, als wäre er direkt aus ›Fluch der Karibik‹, findest du nicht? Wenn die Rolle von Will Turner neu vergeben werden muss, könnte er den Job übernehmen, ohne sich auch nur die Haare zu schneiden.« Jen lachte. »Nur den Bart müsste er sich wachsen lassen.«
Ihr Lachen war so ansteckend, dass Allegra mitlachen musste. Ein Teil davon war jedoch Erleichterung. Nun wusste sie, woher dieses seltsame Gefühl kam. Klar hatte sie Alessandro schon gesehen. Nur war daran definitiv nichts Magisches, sondern ihre und Jens Filmsucht waren schuld. Jen hatte Recht: Alessandro glich Will Turner alias Orlando Bloom wie ein kleiner Bruder. Kein Wunder, dass Jens Augen so leuchteten. Es gab schließlich hässlichere Männer als Orlando. Allegra grinste ihre beste Freundin an und diese blickte unschuldig zurück, konnte ein Grinsen jedoch nicht lange zurückhalten.
»Er gehört mir«, sagte sie mit zuckenden Augenbrauen. Allegra hatte es befürchtet und konnte nur inständig hoffen, dass es dieses Mal nicht endete wie sonst immer. »Ab heute gibt es keine Enttäuschungen mehr«, ergänzte sie voller Zuversicht.
Wenig später hatten die beiden jeweils eines der beiden Schlafzimmer der Suite bezogen. Allegra stand auf dem kleinen Balkon, der direkt über dem Gardasee zu fliegen schien. Einen solchen Ausblick hatte sie sich nicht einmal im Traum ausgemalt. Vermutlich hatte keiner der Touristen, die Fotos des Hotels ins Internet gestellt hatten, in dieser Suite gewohnt. Ihr Balkon und der von Jen waren die einzigen, die an der Seite des Gebäudes lagen, so dass sie über Limone thronten und gleichzeitig den Bergen zugewandt waren. Von der Seite ihres Balkons aus konnte Allegra gerade noch den See erkennen. Der große Balkon des Wohnzimmers lag wie die kleineren unter ihnen auf der Seeseite des Hotels und legte ihr den Lago di Garda zu Füßen. Allegra fühlte sich frei wie nie zuvor.
»Bist du so weit?«, fragte Jen, die eben zu ihr auf den Balkon trat. »Wir müssen uns erst mal einen Überblick verschaffen.« Jen traute den Online-Reiseführern nicht und zog – ganz gleich, wo sie modelmäßig gerade unterwegs war – Broschüren und Tipps der Leute vor Ort vor.
Daher machten sich die beiden auf und suchten in den kleinen Kiosken nach Unterlagen, die Jen akzeptierte. Nach einer Latte Macchiato in einem der zahlreichen süßen kleinen Cafés und einer riesigen Portion Gelato, die neidische böse Blicke der anderen Touristen auf sich zog, machten sie sich auf den Rückweg.
Das Restaurant des Hotels war schon gut besucht, als sie sich frischgemacht und entsprechend der Hausordnung angemessen gekleidet hatten. Sie fanden auf den ersten Blick keinen freien Tisch und überlegten, noch eine Weile die Abendsonne auf dem Balkon zu genießen, als Alessandro auf sie zustürmte.
»Kommt mit, zur Suite gehört ein reservierter Tisch«, sagte er und eilte voran. Für den Abend hatte er das T-Shirt, das er tagsüber getragen hatte, gegen ein Hemd getauscht, die löchrigen Designerjeans waren einer schwarzen Anzughose gewichen.
Jen folgte ihm schnell und zog Allegra mit sich, die Mühe hatte, in den hohen Schuhen zu laufen, zu denen Jen sie gezwungen hatte. »Du bist Italienerin. Dir wurde es in die Wiege gelegt, in diesen Schuhen laufen zu können«, hatte sie gesagt und Allegra hatte aufgegeben. Nun stolperte sie Jen hinterher, die großen Schrittes wie ein Model auf dem Laufsteg zwischen den Gästen hindurchlief und dabei zahlreiche Blicke auf sich zog. Zwischen zwei großen Pflanztrögen befand sich der Durchgang in ein Separee, in dem Alessandro mit präsentierender Geste neben einem kleinen Vierertisch stand. »Hier bitte. Ich schicke sofort einen Kellner zu euch. Bis später.« Er hatte sich bereits von ihnen abgewandt, als Jen in die Gänge kam.
»Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?«, fragte sie forsch und nur Allegra konnte an dem sehnsüchtigen Blick in Jens strahlenden Augen erkennen, wie sehr sie es sich wirklich wünschte.
Alessandro sah von Jen zu Allegra und fragte stumm, ob es für sie in Ordnung wäre. Allegra wollte ihre Freundin natürlich unterstützen und nickte sofort eifrig, was Alessandro wieder das polarmeerschmelzende Lächeln ins Gesicht zauberte. »Ich bin gleich zurück«, rief er ihnen zu, als er zwischen den Pflanztrögen verschwand.
Allegra und Jen setzten sich nebeneinander, um beide den Blick auf die kleine Terrasse und den dahinter liegenden See genießen zu können. Binnen Sekunden war Alessandro zurück und ließ sich auf den Stuhl Allegra gegenüber fallen. Ihr war nicht entgangen, dass dies der Platz neben Jen war, und sie zwinkerte ihrer Freundin zu.
»Machst du hier eine Ausbildung oder so?«, versuchte Jen ein Gespräch in Gang zu bringen, nachdem der Kellner ihre Getränkebestellung aufgenommen hatte.
Alessandro schüttelte den Kopf. »Das Castello gehört meinen Eltern. Eleonora ist meine Großmutter. Das ist die Dame, die euch die Suite gegeben hat.« Er sah die Mädchen an, die wissend nickten, und fuhr fort: »Wenn ich nichts zu tun habe, halte ich hier nach hübschen Frauen Ausschau.« Allegra verzog das Gesicht und Alessandro entschuldigte sich sofort dafür. »Das war ein Witz. Ich helfe hier gerne aus, schließlich wird das Hotel einmal mir gehören; und ich muss doch dafür sorgen, dass auch in Zukunft noch Gäste kommen werden. Gefällt euch euer Zimmer?«
»Gefallen?«, Jens Stimme überschlug sich fast. »Die Suite ist ein Traum!«
»Wohnt deine Familie auch hier im Gebäude?«, fragte Allegra und grübelte im selben Moment darüber nach, warum sie das wissen wollte. Der Kellner stellte wortlos die Getränke auf den Tisch und verließ das Separee umgehend wieder.
Alessandro fixierte Allegra mit seinem Blick und für ein paar Sekunden schien die Welt weit weg zu sein. Wie paralysiert starrte sie zurück. Der Bann ließ erst nach, als Alessandro ihr antwortete. »Wir wohnen auch ganz oben. Dort sind nur die Suite, ein paar Zimmer der Bediensteten und die Wohnräume der Familie.«
Jen blätterte inzwischen in den vielen Broschüren, die sie aus ihrer Tasche gezogen und auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Da sie keine Anstalten machte, etwas zum Gespräch beizutragen, fragte Allegra weiter, nachdem sie einen Schluck ihrer Cola getrunken hatte. »Gehörte euch das Hotel von Anfang an?«
Alessandro nickte. »Früher hatten wir andere kleinere Hotels, aber vor einiger Zeit hat meine Familie das alte Gebäude, das früher hier stand, zum Castello umgebaut und bezogen. Der alte Weinkeller ist sogar noch im Originalzustand. Die Capulets sollten in einem echten Schloss wohnen.« Er lachte und schüttelte den Kopf, als finde er die Vorstellung absurd, Allegras Gedanken blieben hingegen an dem Familiennamen hängen.
Auch Jens Interesse war wieder geweckt und ihr Blick schoss von den Broschüren hoch zu Alessandro. »Capulet? Wie Julia Capulet?«
Alessandro seufzte und nickte. Vielleicht war der Name nicht allzu selten in Italien, Allegra hatte sich darüber nie Gedanken gemacht.
»Dann wohnst du aber auf der falschen Seite des Sees«, sagte Jen trocken.
Mit Alessandros Reaktion auf diesen einfachen Satz hatte Allegra nicht gerechnet. In seinen dunklen Augen brannte ein zorniges Feuer und er starrte Jen beinahe hasserfüllt an. Zwischen zusammengekniffenen Lippen presste er die Frage hervor, wie sie darauf käme.
»Na hier«, Jen deutete auf eine Übersichtskarte des Gardasees und die einzelnen Provinzen. »Provinz Verona« stand auf der anderen Seite des Sees, ziemlich genau Limone gegenüber. »Wenn du ein Capulet bist, würdest du doch besser zu Verona passen.«
Jens Scherz war nicht bei Alessandro angekommen. Vielleicht hörte er diesen Spruch auch nicht das erste Mal. Dennoch entspannte er sich bei dieser Erklärung und Allegra sah, dass er irgendwie erleichtert war.
Auch später beim Essen, als Alessandro die Frauen wieder alleingelassen hatte, grübelte Allegra noch darüber nach. Der Gedanke ließ sie auch nicht los, als sie viel später in einen von wilden Träumen durchzogenen Schlaf sank.
Wo wollen die zwei Sterne des Hauses denn so früh schon hin?«, fragte Alessandro, als Allegra und Jen gerade das Hotel verlassen wollten.
»Zum Hafen und dann nach Malcesine«, antwortete Jen mit einem kecken Grinsen. Allegra entging der kurze Moment nicht, in dem sich ein dunkler Schatten über Alessandros Gesicht legte, ehe Jen hinzufügte: »Willst du uns etwa begleiten?« Ihr Gesicht strahlte so aufrichtig, dass jeder Mann einfach alles für sie getan hätte.
Und so konnte auch Alessandro nicht anders reagieren, als tatsächlich zuzusagen. Er rief ein Taxi, und während sie gemeinsam darauf warteten, tippte er eifrig auf dem Display seines Smartphones herum.
Am Hafen beantwortete sich Allegras Frage von selbst, wem er wohl geschrieben hatte. Zwei Jungs, von der Kleidung her nahezu identische Kopien von Alessandro – mit ebenso dunklen Augen –, lungerten auf einer der Wartebänke und grüßten ihn wortlos, ehe ihre Blicke an Jen und Allegra hängenblieben. Allegra verkniff sich ein Grinsen, als sie die zahlreichen Liebeserklärungen an sie und Jen hörte. Als Alessandro aber seinen Jungs mit einer Geste klarmachte, dass sie still sein sollten, lachte Allegra doch noch los.
Alessandro stellte alle einander vor und betonte, dass »die Mädchen« fließend Italienisch sprachen. Einer der Jungs, den Alessandro als Ben vorgestellt hatte, lief sofort puterrot an und nun lachte auch Jen los, obwohl sie versuchte cool zu bleiben – vermutlich um vor Alessandro nicht wie ein kicherndes kleines Mädchen dazustehen. Dem schien ihre Reaktion jedoch egal zu sein.
Er wies Ben und den anderen Jungen, Daniele, an, Karten für das kleine Fährschiff zu besorgen. Allegras und Jens gemeinsamen Protest schlug er mit den Worten »Gehört zum Service der Suite« nieder und kurz darauf betrat die Fünf-Personen-Gruppe das Boot.
Während der windigen Überfahrt nach Malcesine konnte Allegra den wundervollen Ausblick auf die beiden Ufer kaum genießen. Ihr Innerstes war in Aufruhr, als würde ein Gewitter aufziehen. Je näher sie dem Ufer von Malcesine kamen, desto schlimmer wurde es. War sie etwa seekrank? Nein, etwas anderes wollte sie davor bewahren, nach Malcesine überzusetzen. Dasselbe Etwas, das sie vor dem Werbeplakat der Bahn hatte anhalten lassen. Neugierig auf das, was kommen sollte, ignorierte sie den Sturm in ihrem Inneren und lauschte dem Gespräch zwischen Jen und Alessandro.
Letzterer schien immun gegen jegliche Flirtversuche von Jen zu sein – ein Umstand, der Allegra stutzig machte. Niemals zuvor hatte Allegra einen Vertreter des anderen Geschlechts kennengelernt, der Jen nicht aus der Hand gefressen hatte, und Allegra sah ihrer Freundin an, dass diese damit nicht zurechtkam. Sie wollte ihr helfen und in das Gespräch einsteigen, das sich erneut um Alessandros Familie drehte. Ein rotes Tuch, wie Allegra schnell erkannte, denn Alessandro blockte ab und auch seine Freunde taten so, als wären sie wahnsinnig beschäftigt, und sahen überall hin, nur nicht zu ihrem Freund und Jen.
Allegra beschloss, den Schwarzen Peter an sich zu reißen, und sagte: »O Romeo, Romeo.« Damit hatte sie binnen eines Wimpernschlages sogar die Aufmerksamkeit von Ben und Daniele, die nun gespannt zwischen Allegra und Alessandro hin und her sahen.
In Alessandros Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Emotionen in kürzester Zeit wieder, die Allegra jemals gesehen hatte. Hass, tiefster, ja wirklich abgrundtiefer Hass schlug ihr zuerst entgegen wie eine Welle. Alessandro ballte dabei die Fäuste, als müsse er sich stark beherrschen, nicht auf etwas oder jemanden einzuschlagen. Er presste seine Kiefer fest zusammen, Allegra konnte genau verfolgen, wie die Muskeln arbeiteten – und wie Alessandro tief ein- und ausatmete. Der Hass wich Wut, seine Augen loderten vor Zorn. Auch wenn Allegra bisher immer geglaubt hatte, ein solcher Vergleich wäre unmöglich, wurde sie heute eines besseren belehrt. Daniele war im Begriff, von der Bank an der Reling aufzuspringen und Alessandro, wenn nötig, zurückzuhalten. Doch er wartete ab und beobachtete seinen Freund.
Auch Allegra starrte Alessandro weiterhin wie gebannt an, sah seine muskulöse Brust unter dem engen T-Shirt beben, als er um Fassung rang. Dann klärten sich die Schatten, die über ihm lagen, und seine Augen strahlten wieder wie zuvor. Er versuchte sich sogar an so etwas wie einem Lächeln, was ihm jedoch nicht sehr gut gelang. Diese fratzengleiche Version hätte nicht einmal eine Schneeflocke bekümmert, geschweige denn den Nordpol schmelzen lassen.
Jen, die immer noch neben ihm an der Reling stand, musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Als der Tsunami an Emotionen langsam abflaute – Alessandro hatte wieder ein halbwegs erwärmendes Lächeln aufgesetzt –, sah sie Allegra fragend an. Diese schüttelte langsam den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Sie konnte nur inständig hoffen, dass Jen das Thema ruhen lassen würde. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Alessandro sich nicht so beherrscht hätte? Allegra wollte sich das lieber nicht vorstellen. Nicht solange sie hier auf der kleinen Fähre festsaßen.
Ihr Blick glitt über den See, in dem sich der Himmel spiegelte. Die zahlreichen Surfer, die den starken Wind am Morgen ausnutzten, schienen zwischen kleinen Wolken dahinzuschweben.
Durch das kleine Drama war sie zumindest von dem flauen Gefühl in ihrem Magen abgelenkt worden. Die Unruhe kehrte jedoch schnell zurück, als die Fähre am Steg von Malcesine andockte und die Taue geworfen wurden. Die schmale Laufplanke, über die sie zum Steg gelangen sollten, wackelte bedrohlich und selbst die Kaimauer schien sich zu bewegen. Nur mit Mühe konnte sie das Metallschildchen lesen, das den Platz, auf dem sie mit wackeligen Beinen stand, als Piazza Guglielmo Marconi auswies. Jen und sie hätten vielleicht doch das Frühstück abwarten sollen. Nur mit viel Konzentration ließ das Schwindelgefühl etwas nach.
»Allegra! Al!« Nur langsam drang Jens Stimme an ihr Ohr. Das Rauschen, das den Schwindel ersetzte, ebbte ab und Allegra sah ihre Freundin fragend an.
»Alessandro hat etwas gefragt.« Ihrer Stimme nach zu urteilen war Jen immer noch alles andere als glücklich über die Entwicklung, die ihr aktueller Traummann auf der Fähre genommen hatte. Sie klang gelinde gesagt genervt und Allegras Reaktionslosigkeit schien ihren Zustand auch nicht gerade zu verbessern.
»Wo genau wollt ihr denn hin?«, fragte Alessandro und sah Allegra aus seinen dunklen Augen an. Auch er war etwas bleich im Gesicht, vermutlich Überreste des Emotionstornados. Er sah so aus, wie Allegra sich fühlte – nur nicht ganz so schlimm. »Hey, ist alles in Ordnung mit dir?« Nun kam Alessandro mit besorgtem Gesichtsausdruck auf Allegra zu und legte ihr wie zufällig die Hand auf den Unterarm.
Für einen kurzen Moment stand die Zeit still. Die Umgebung, Alessandros Freunde, ja selbst Jen – alles verblasste und verschwand in einem weißen Nichts. Doch Allegra war nicht blind geworden. Im Gegenteil. Sie sah so vieles: die Bilder aus ihren Träumen, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnern konnte. Alessandro! Die dunklen Augen aus ihren Träumen waren die von Alessandro. Endlich konnte Allegra auch das Gesicht dazu sehen. Ein Gesicht, von Blut überströmt. Blut, das aus einer Platzwunde an der Stirn rann.
Dann die anderen Augen. Die eisblauen Augen, in deren Tiefe sie in ihrem Traum hatte versinken wollen. Ihr inneres Auge zoomte zurück, bis Allegra auch das Gesicht dazu sehen konnte. Was sie sah, nahm ihr für einen Moment den Atem. Allegra war immer aufgrund ihres Aussehens falsch eingeschätzt worden. Sie war die letzte, die sagen würde, dass ein Junge hübsch oder gar heiß aussah. Sie war nie so ein Mädchen gewesen, das einen Jungen anziehend fand, nur weil er gut aussah. Für Allegra gehörte mehr dazu – genau das, was sie sich für sich selbst immer gewünscht hatte. Dass ihre inneren Vorzüge gesehen wurden: ihr Intellekt, ihre gutmütige Art, ihr Humor oder was es sonst noch so bei ihr zu entdecken gab.
Doch nun stand sie in diesem Weiß, sah den Mann, der zu den eisblauen Augen gehörte, und alles um sie herum war vergessen. All die Dramen und falschen Beziehungen, die der Fluch ihres Aussehens ihr eingebracht hatte, waren im Weiß verschwunden. Sofort hatte sie die ganzen kitschigen Vergleiche im Sinn, mit denen man sie schon angesprochen hatte. Mit einem Mal ergaben sie Sinn. Der Mann vor ihr hätte der zu Fleisch gewordene Adonis sein können, ein Engel, trotz der schwarzen Haare und dem Dreitagebart. Casanova wäre vor Neid erblasst und selbst die ganzen Male-Models, die sie an Jens Sets kennengelernt hatte, würden für die hohen Wangenknochen und das markante Gesicht töten.
Was auch immer gerade mit Allegra geschah … Sie wusste, dass sie diesen Mann finden musste. Sie musste ihn kennenlernen, ganz gleich, was dann geschehen würde. Ihr Herz klopfte in einem fremden Takt. Der Mann kam näher und Allegras Atmung setzte aus. Was würde sie dafür geben, von diesen Lippen geküsst zu werden?
Eine Faust prallte von der Seite gegen das Gesicht, das Allegra bis ins kleinste Detail studierte. Die Lippe des Mannes platzte wie in Zeitlupe auf und Blut benetzte sein Kinn.
Allegra schrie erschrocken auf. Das Gesicht des Mannes verblasste, löste sich im unendlichen Weiß auf. Für einen Moment stand Allegra im Nichts, nur vom Echo ihres Schreies eingehüllt.
Nach und nach bekam das Weiß wieder Tiefe, aus den ersten zarten Schatten traten Personen hervor. Jen. Alessandro. Beide geschockt und völlig hilflos. Dann klärte sich auch der Hintergrund und Allegra befand sich wieder auf der Piazza Guglielmo Marconi direkt am Hafen. Sie saß auf dem Boden und Jen stützte sie. Der Schrei hing noch immer auf ihren Lippen.
Schnell schloss sie den Mund.
»Verdammt, Al, was war das denn?« Jen rüttelte an Allegras Oberarm. Vermutlich hatte sie das schon zuvor getan. Als … Was zur Hölle war überhaupt mit ihr passiert?
»Ich … ich weiß es nicht. Mir war schwindelig und dann …« Allegra schüttelte den Kopf und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Die eisblauen Augen gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ihr war schwindelig gewesen, Alessandro hatte gefragt, wo sie zuerst hinwollten. Alessandro hatte sie berührt. Sofort schnellte ihr Blick zu den schwarzbraunen Augen hinüber.
Alessandro sah verwirrt aus. In seinem jungenhaften Gesicht zeichnete sich jedoch noch etwas anderes ab: ernste Besorgnis. So tief, wie sie nach so kurzer Zeit, die er sie kannte, niemals hätte sein sollen. Er strahlte eine solche Verbundenheit aus, die Allegra imponierte, schmeichelte. Sie würde lügen, wenn sie leugnen würde, dass sie diese Verbundenheit ebenfalls spürte.
Plötzlich sah sie Blut von seiner Stirn rinnen. Die Platzwunde aus dem Tagtraum. Sie blinzelte und das Blut war verschwunden. Jen neben ihr war jedoch nicht weniger besorgt und sah Allegra immer noch fragend an.
»Mir geht es schon wieder gut«, sagte sie nur und nahm sich fest vor, später in Ruhe darüber nachzudenken. Nach dem Frühstück und mindestens einer Tasse Kaffee. »Wir sollten zuerst eine Kleinigkeit essen.«
Jen stimmte dem Vorschlag sofort zu und Alessandro schien sogar erleichtert. Ben und Daniele fragte er erst gar nicht, sondern schlug ein kleines Café vor, das in der Nähe des Palazzo dei Capitani lag. Jen und Allegra mussten dazu nur der Straße folgen und durch ein paar Gassen rennen, um mit Alessandros Stechschritt mitzuhalten, schon konnten sie sich auf die gemütlichen Stühle auf der Terrasse direkt am See fallen lassen.
Der Blick auf gegenüberliegende Limone sul Garda war atemberaubend und eine Sehnsucht zupfte in Allegra, die sich wie Heimweh anfühlte. Sie sah das Castello, das über der Stadt thronte, und musste gegen den Drang ankämpfen, sofort aufzuspringen und die nächste Fähre »nach Hause« zu nehmen. Dabei wohnte sie erst seit dem Vortag im Castello.
»Al!«, Jen rüttelte an Allegras Arm. »Was ist denn heute nur mit dir los? Ich habe dir ein kleines Frühstück bestellt. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
Allegra nickte nur, ihre Gedanken flogen hierhin und dorthin, wollten ergründen, wieso diese Seite des Sees ihr scheinbar nicht gut bekam. Sie wollten herausfinden, was dieses Weiß gewesen war und warum sie von Alessandro geträumt hatte, ehe sie ihn kennengelernt hatte. Die oberste Priorität setzte jedoch ihr Herz. Denn das stellte sich nur eine Frage: Wenn Alessandro real war – war es der Mann mit den eisblauen Augen dann auch?
Der Kellner stellte ein Tablett vor Allegra ab und riss sie so aus ihren Gedanken. Beantwortet hatte sie keine einzige der vielen Fragen, die sich in ihrem Kopf angehäuft hatten, als sie begann, kleine Bissen von ihrem harten Toast abzubeißen und zwischendurch einen Schluck ihres Caffè Latte zu trinken. Als der Teller leer war, fühlte sie sich wieder in der Lage, sich um ihre Umgebung zu kümmern.
Alessandro und Jennifer führten gerade eine Diskussion über die Mythologie, die im Schulunterricht viel zu kurz oder völlig falsch ankam. Wie zur Hölle waren sie auf dieses Thema gekommen?
»Ich sage ja nicht, dass ich mir wünsche, mehr zu lernen. Aber alles, was in der Schule durchgenommen wurde, kratzt doch nur an der Oberfläche«, sagte Jen energisch. Allegra wusste, dass ihre Freundin für Mythologie und Helden der Antike schwärmte, aber dass sie ihren Standpunkt so energisch vertreten konnte, hätte sie nicht gedacht. Allegra hätte gerne den Anfang des Gesprächs mitbekommen.
»Glaub mir, je mehr du drin steckst, umso schlimmer ist es«, antwortete Alessandro mit einem Kopfschütteln. Die Köpfe von Ben und Daniele schnellten zu ihm, sie sahen beide sehr angespannt aus.
»Wieso? Wird euch hier mehr beigebracht als uns?« Jen schlug sich an die Stirn. »Sorry, das war eine dämliche Frage. Vermutlich lernt ihr die römischen Götter schon im Kindergarten.«
Alessandro lachte auf. Es war jedoch ein freudloses, beinahe trauriges Lachen und Allegra fühlte sich sofort schlecht, obwohl sie nicht einmal der Auslöser für seine Reaktion gewesen war.
»Wie alt seid ihr eigentlich?«, lenkte Jen vom Thema ab und sofort entspannten sich Daniele und Ben wieder, sogar das Lächeln kehrte auf Alessandros Lippen zurück. Gemeinsam mit einem Blitzen in den Augen, als er Allegra ansah und sich sofort aufrechter hinsetzte. »Ich bin fast neunzehn.«
Ben lachte laut los. »Fast neunzehn? Du hattest erst vor zwei Monaten Geburtstag!« Auf Alessandros drohenden Blick hin wurde Ben ein paar Zentimeter kleiner und rutschte verlegen auf dem Stuhl hin und her.
»Ich bin achtzehn, der Verräter hier«, Alessandro deutete mit dem Kopf zu Ben, »ist siebzehn. Genauso wie Daniele.«
»Achtzehn ist doch perfekt«, flüsterte Jennifer nicht ganz so leise, wie sie vermutlich beabsichtigt hatte, und zwinkerte Allegra zu.
»Ab heute gibt es keine Enttäuschungen mehr«, hatte sie sich vorgenommen und sie schien diesen Vorsatz halten zu wollen. Hoffentlich steigerte sich Jen da nicht in was hinein.
Alessandro schmunzelte und strich sich nahezu schüchtern die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Im Zentrum dieser Art von Aufmerksamkeit zu stehen, war ihm wohl nicht geheuer und Allegra war irgendwie gerührt.
»Ja … also …«, stammelte Alessandro, das Gegenteil des coolen Italieners, als den sie ihn bisher kennengelernt hatten. »Was genau wollen wir noch unternehmen? Zum Mittagessen sollten wir auf jeden Fall wieder im Castello sein.« Er stand von seinem Stuhl auf und sofort taten es ihm Ben und Daniele gleich. War er irgendwie ihr Chef oder so?
Allegra dachte sofort an Gangs aus Filmen. Die Verbindung zwischen den Dreien schien aber auch irgendwie merkwürdig, Allegra konnte es jedoch nicht näher erklären. Nachdem ihre männlichen Begleiter bereits standen, blieb den Frauen nichts anderes übrig, als sich ebenfalls zu erheben.
Auf einen Wink von Alessandro eilte Ben davon und sprach mit dem Kellner. Dieser nickte kurz und Ben kehrte zurück. »Die Rechnung geht ans Castello. Deine Mutter wird sich freuen«, flüsterte er Alessandro zu. Laut genug jedoch, dass Allegra jedes Wort verstehen konnte.
Alessandro verzog das Gesicht. »In diesem Fall bestimmt. Sie ist es, Benedetto, da bin ich mir sicher«, antwortete er flüsternd.
Ben schüttelte nur den Kopf. »Das sagst du jedes Mal.«
»Wollen wir noch zum Palazzo rüber? Da dürften wir um diese Zeit noch ungestört sein«, schlug Daniele vor und machte einen Schritt auf Alessandro und Ben zu.
»Ungestört?«, hakte Jen nach und sah Allegra dabei mit erhobener Augenbraue an.
»Die Touristen!«, sagte Ben schnell. »Nicht mehr lange, und man stolpert bei jedem Schritt über einen von denen.« Daniele nickte eifrig, was ihn umso verdächtiger machte.
»Okay, lasst uns gehen.« Ohne auf eine Antwort von Jen und Allegra zu warten, ging Alessandro durch das Café zurück in die Gasse, aus der sie gekommen waren, und schlüpfte in das auf den ersten Blick völlig unscheinbare Nachbargebäude. Ben und Daniele begleiteten die beiden Frauen.
Allegra stockte der Atem, als sie von der Wärme des Sommermorgens in das kühle Gebäude trat. Für einen Moment war es stockdunkel. Lediglich am Ende des länglichen Raumes drang Licht durch eine Tür und jeweils ein Fenster rechts und links davon. Wie ferngesteuert glitt ihr Blick zur Decke. Sie geriet ins Taumeln, als sie versuchte die große Deckenmalerei zu erfassen, die sich weit über ihr ausbreitete. Ein geflügelter Löwe, darunter zwei Wappen. Allegras Herz pochte immer schneller und erneut wurde ihr schwindelig. Schnell sah sie nach vorne zu Daniele, Ben und Jen, die in diesem Moment bereits durch die offene Tür ins Freie traten. Mit langsamen Schritten folgte Allegra ihnen. Sie wurde das Gefühl nicht los, hier schon einmal gewesen zu sein. So verrückt der Gedanke auch war. Dieser Ort gehörte zu etwas Großem und sie war ein Teil davon, sagte ihr das Etwas in ihrem Inneren.
Mit noch immer klopfendem Herzen trat auch sie aus dem Gebäude in den Garten. Sie schien in einer anderen Welt gelandet zu sein. Der Garten war ein Traum. Gepflegt, mit meist runden Beeten, die absolut symmetrisch angelegt waren. Die riesigen Palmen darin wurden teilweise von bunten Stauden oder akkurat gestutzten Hecken eingerahmt. Eine helle Steinmauer schützte die Besucher vor dem Sturz in den Lago di Garda.
Erneut hatte Allegra das Gefühl, all das schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht im Geschichtsunterricht oder beim Recherchieren, was sie am Gardasee unbedingt besichtigen mussten? Etwas Wichtiges war hier passiert, da war sie sich sicher.
Jens lautes Lachen durchbrach die Stille. Sie waren die einzigen Besucher hier, genau wie Ben versprochen hatte. Jen nutzte die traumhafte Kulisse für ein paar Modelposen. Daniele und Ben stellten sich gerne als Fotograf zur Verfügung und schmeichelten ihr in einer Tour. Jens Stimmung schien wieder die alte zu sein und sie hatte offensichtlich Spaß, was Allegra zum Lächeln brachte.
Jen rief sie zu sich und sie posierten gemeinsam für ein paar Erinnerungsfotos, mal mit den Jungs, mal ohne. Dann bat Jen Alessandro, mit ihr ein paar Fotos zu machen. Etwas zögerlich nickte Alessandro und ging zu ihr. Sie zog ihn profimäßig an sich, was ihm unangenehm zu sein schien. Er sah ständig zu Allegra, was auch Jen nicht entging.
»Hey, wir gehen hier nicht weg, ehe ich ein Foto von uns habe, auf dem du lächelst.« Sie sagte es in humorvollem Ton, meinte es jedoch todernst.
Alessandro hatte den Mund schon zur Antwort geöffnet, als ein lautes Grollen durch die Gassen von Malcesine bis zu ihnen in den Garten drang. Es klang beinahe wie ein Gewitter.
»Wir sollten gehen. Sofort.« Bens Stimme ließ keine Diskussion zu. Er zog Allegra bereits mit sich.
Auch Alessandro war in Alarmbereitschaft. Er wollte sich von Jen lösen, die hielt es jedoch für einen Scherz oder vielleicht eine Ausrede zu entkommen. Aber auch Allegra stellten sich die Nackenhaare auf und sie spürte eines so deutlich wie nie zuvor in ihrem Leben: Gefahr.
Das Dröhnen wurde immer lauter, während sich Ben und Daniele links und rechts von Allegra aufstellten. Alessandro hatte sich von Jen gelöst, die schmollend und vor sich hin schimpfend hinter ihm her auf Allegra zulief. Nun fand der Lärm seinen Höhepunkt. Allegra konnte das Geräusch in dem Moment zuordnen, in dem drei Motorräder nacheinander durch den Palazzo geschossen kamen und auf dem Kiesbett, das die Beete umfloss, zum Stehen kamen.
Die Motoren brummten immer noch bedrohlich, die drei Maschinen sahen aus wie Raubtiere direkt vor dem Angriff. Das in der Mitte war schwarz wie sein Fahrer, sogar das Visier des Helms war undurchdringlich dunkel, passend zum schwarzen Helm. Von Allegra aus rechts stand ein froschgrünes Motorrad mit einem ebenso dunklen Fahrer. Das dritte Motorrad war knallrot. Der Fahrer in der Mitte ließ den Motor noch einmal aufheulen.
»Wir sollten gehen«, zischte Ben der Gruppe zu. Allegra konnte ihn hören, jedoch schienen die Worte ihre Bedeutung verloren zu haben. Sie war völlig gebannt von dem Bild, das sich ihr bot. Die drei Motorräder, inmitten dieser unwirklichen Kulisse, im Hintergrund der Palazzo, der aus einer anderen Zeit stammte. Sie konnte sich unmöglich von diesem Anblick lösen. Selbst als Alessandro seine Hand auf ihren Rücken legte, um sie langsam vor sich herzuschieben.
»Allegra, wir müssen gehen. Der Morgen ist nicht unsere Zeit.« Was er mit dieser kryptischen Aussage meinte, wollte Allegra ihn später fragen. Sie ließ sich langsam an den Beeten entlangführen, ließ den Fahrer des schwarzen Bikes jedoch nie aus den Augen. Dieser verfolgte ebenfalls jede ihrer Bewegungen, sein Kopf drehte sich mit Allegra. Erneut ließ er den Motor aufheulen, um alle zur Eile anzutreiben.
Allegra wollte gerade durch die Tür in den Palazzo treten, Alessandros Hand noch immer am Rücken, als die Motoren alle in derselben Sekunde verstummten. Allegra konnte nicht anders. Sie sah sich um. In genau diesem Moment öffnete der mittlere Fahrer das Visier und Allegra sah sie: die eisblauen Augen, vor Zorn zusammengekniffen, doch unverkennbar die Augen aus ihren Träumen. Die Augen des Jungen, den sie kurz zuvor noch als göttlich beschrieben hatte. Und genauso imposant war auch der Zorn, der ihr entgegenschlug. Wut. Hass. Allegra konnte nichts anderes mehr spüren. Sie trieb auf einer Welle von Emotionen, die sie nicht steuern konnte, die nicht ihre eigenen waren. Sie ignorierte den Druck in ihrem Rücken, der immer stärker wurde, und starrte wie gebannt zu dem Fahrer des schwarzen Motorrads. Er öffnete lässig den Verschluss des Helms und zog ihn über den Kopf.
Nun musterte er Allegra von oben bis unten. Sie spürte seinen Blick auf jedem Zentimeter ihres Körpers – und ein Gefühl, das sich am besten mit besitzergreifend beschreiben ließ.
Wie in Zeitlupe stieg der Mann vom schwarzen Motorrad. Die anderen beiden sprangen von ihren Bikes und machten sich bereit. Um ihn zurückzuhalten? Ihm zu helfen? Wo waren Allegra und Jen da nur reingestolpert? In einen Machtkampf unter Gangs?
»Al, komm!«, erklang Jens Stimme aus dem Palazzo, gefolgt von einem Echo. »Die sehen aus, als würden sie Ärger machen.«
»Die sehen nicht nur so aus«, kommentierte Ben trocken.
Der Mann mit den eisblauen Augen trat nach vorne. »Startest du einen neuen Versuch, Capulet?« Sein Ton war neutral, aber die Arroganz und den unverhohlenen Hass, der mitschwang, konnte auch das falsche Lachen nicht wettmachen.
»Geht dich nichts an, Luca«, antwortete Alessandro.
Hass. Zorn. Allegra fühlte Dinge, die sie nicht fühlen sollte. Sie kannte diese Leute doch gar nicht.
Der Fahrer des schwarzen Motorrads, Luca, musterte Allegra erneut. Die dunkle Augenbraue über seinem rechten Auge machte einen kleinen Knick nach oben, so dass es aussah, als hätte er sie fragend erhoben. Das irritierte Allegra mindestens genauso wie die Gefühle, die nicht ihre eigenen waren. Warum sollte sie Wut und Hass empfinden, wenn sie ihn endlich gefunden hatte?
Luca kniff wieder die Augen zusammen, jedoch eher neugierig oder angestrengt. Die leichte Rötung um seine Augen lässt sie noch mehr leuchten, dachte Allegra und verbannte die falschen Gefühle damit für einen Moment.
»Weiß sie, was auf sie zukommt, Capulet?« Luca lachte auf und die beiden an seiner Seite taten es ihm nach. Die drei wirkten auf Allegra wie eine Kopie von Alessandro, Daniele und Ben.
»Sie gehört mir!« Mein! Das Wort übertönte alle Emotionen in Allegra. Ihr Blick glitt zu Alessandro an ihrer Seite. Sie wollte eben fragen, ob er verwirrt war oder irgendetwas falsch verstanden hatte, als Luca erneut loslachte. »Sie weiß also noch gar nichts davon. Na dann, viel Spaß, Capulet.«
Auf einmal wurde alles rot. Die Wut überkam Allegra und schoss durch jede Zelle ihres Körpers. Sie konnte nicht schnell genug reagieren, da stürzte sich Alessandro schon auf Luca. Dieser hat den Angriff kommen sehen und verteidigte sich mit der Faust. Er traf Alessandro mit solcher Wucht an der Stirn, dass sofort Blut in Strömen aus der geplatzten Augenbraue hervorlief. Er wischte es achtlos mit dem Handrücken weg, verschmierte das Blut bis zum Haaransatz.
Allegra kannte das Bild. Genau so hatte Alessandro in diesem Weiß ausgesehen. Und Luca … In diesem Moment traf Alessandro Lucas Lippe. Sie platze auf, wie sie es bereits gesehen hatte. Allegra schrie, rannte zu den Kämpfenden und brüllte sie an. Lucas Begleiter zerrten an Luca und versuchten ihn von Alessandro loszureißen. Doch Alessandro setzte hinterher und platzierte erneut einen Schlag. Allegra tat das Schlimmste, was sie – die mit Faustkämpfen nichts am Hut hatte – an dieser Stelle tun konnte: Sie stellte sich vor Luca und wollte Alessandro zurückhalten. Der Schlag, der sie in den Magen traf, holte sie von den Beinen. Sie kam hart auf dem Boden auf, konnte ihren Kopf jedoch im letzten Moment oben halten, so dass er nur einen leichten Schlag abbekam, als er ins Kiesbett fiel.
Jen kreischte irgendwo, zuerst entfernt, dann näher. Sie beschimpfte die sechs Männer, die um Allegra herumstanden, aufs Äußerste und keiner wagte etwas zu entgegnen. Allegra fühlte die Übelkeit in sich aufsteigen, sie war kurz davor, sich vor ihrem Traummann zu übergeben. Also schloss sie vorsichtshalber die Augen.
»Ist der Padre schon da?«, rief jemand, dessen Stimme Allegra unbekannt war. Dann hörte sie Schuhe durch den Kies stampfen. Wenig später kamen die Schritte zurück. Gefolgt von weiteren.
»Was ist passiert? Bei den Göttern!« Die Stimme klang älter, tief und rau. Allegra musste nachsehen, wem sie gehörte. Ein fünfzig oder sechzig Jahre alter Mann – Allegra war schlecht im Schätzen – kniete neben ihrem Kopf und musterte sie mit besorgtem Blick. Seine Schläfen waren bereits ergraut, er hätte gut die etwas ältere Version von George Clooney spielen können.
»Er hat angefangen«, sagte Alessandro kindisch und Allegra hätte am liebsten die Augen verdreht. »Sie sind zu früh da.«
»Könnt ihr euch nicht einmal zusammenreißen, wenn Außenstehende dabei sind?«, schimpfte der Padre weiter, während er Allegras Kopf untersuchte. Er nickte zufrieden und sah ihr dann direkt in die Augen. »Geht es dir gut?«, fragte er.
Doch Allegra konnte nicht antworten. Sie starrte das silberne Leuchten an, das sich um die Pupille des Mannes zog und in seinen Augen zu rotieren schien wie eine Galaxie. Dann kniff er die Augen zusammen und das Leuchten war verschwunden. Allegra blinzelte, sie musste sich das eingebildet haben.
»Versteht sie uns?«, fragte der Mann über ihren Kopf hinweg.
»Natürlich versteht sie. Sie ist Italienerin«, sagte Jen und nun kam auch ihr Kopf in Allegras Blickfeld. »Alles in Ordnung, Süße? Macht doch mal Platz, sie kann ja gar nicht aufstehen, selbst wenn sie wollte.«
Der Kies knirschte, als alle Jens Befehl folgten. Nur der alte Mann und Jen waren jetzt noch bei Allegra. Sie setzte sich auf, gestützt von einer starken Hand und Jen. »Mir geht es gut, danke.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, merkte jedoch selbst, dass es ihr nicht gelang.
»Zu wem gehört sie?«, fragte der ältere Mann weiter und musterte einen der Jungen nach dem anderen.
»Zu mir!«, sagte Alessandro mit fester Stimme. Mein!
»Bist du dir da sicher?«, fragte der Mann stirnrunzelnd, sah Allegra noch einmal ganz genau an und schüttelte anschließend den Kopf.
»Ich gehöre zu niemandem!«, sagte Allegra bestimmend. Dieses ganze Gespräch war absurd, ebenso dieses »Mein!«, das durch ihre Gedanken zog, oder die völlig falschen Gefühle, die sie beim Anblick von Luca gespürt hatte.
»Sie gehört zu mir und sonst zu keinem! Seid ihr alle verrückt geworden?« Jens Stimme überschlug sich fast und Allegra spürte tiefe Dankbarkeit für ihre Freundin.
»Begleite mich kurz ins Sprechzimmer, ehe ihr geht.« Das war keine Frage, die der Mann Allegra stellte, sondern eine Aufforderung. Allegra wusste, dass sie dieser nachkommen musste. Sie hatte keine Wahl.
Während sie dem Mann folgte, sah sie sich zu Jen um. Ben und Daniele hatten sich schützend vor sie gestellt, so dass sie den größtmöglichen Abstand zu Luca und seiner Gang hatte. Hoffentlich würde es nicht noch einmal zum Kampf kommen.
»Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich ruhig verhalten«, sprach der Mann beruhigend auf Allegra ein, als hätte er ihre Sorge erkannt. »Wie alt bist du?«, fragte er dann, als er eine schmale Tür öffnete und auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle deutete.
Allegra setzte sich. »Neunzehn.«
»Und du stammst aus Italien?« Auch er nahm Platz.
Allegra nickte. Sie hatte das Gefühl, diesem Mann alles erzählen zu können. Er war vertrauensvoll, sagte ihr Inneres. »Meine Mamma ist kurz nach meiner Geburt mit mir nach Deutschland gezogen.«
Der Alte riss die Augen auf, die Galaxie darin war nun wieder deutlich zu sehen. »Wie heißt du?«
»Allegra Casari.«
»Bei den Göttern!«, stotterte der Mann.
»Was ist?«, fragte Allegra nun beunruhigt.
Sofort war der Ausdruck des Mannes wieder gefasst. »Ich kannte deine Mutter«, lächelte er. »Bestell ihr Grüße.«
Plötzlich hatte Allegra das Gefühl, dass es nichts mehr zu sagen gab. Sie erhob sich, verließ den kleinen Raum und ging zu Jen und den anderen zurück.
Jen zog sie eng an sich und bat sie flüsternd, dass sie so schnell wie möglich verschwinden mögen. Allegra nickte zustimmend, und ohne auf Alessandro oder die anderen zu achten, durchquerten sie den Palazzo und machten sich auf den Weg zur Fähre. In Allegras Innerem tobte ein Sturm. Es war so viel passiert. Was war überhaupt passiert? Warum hatte sie nicht den fremden Mann gefragt? Sie schüttelte den Kopf und wollte die Fragen auf später verschieben, wenn sie allein war. Sie waren gerade am Fähranleger angekommen und reihten sich in die Schlange der Wartenden ein.
Jen war es, die während der Überfahrt damit anfing: »Warum sagt er, dass du zu ihm gehörst?«
Allegra schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. »Ich … Irgendetwas passiert mit mir, Jen.« Allegra legte den Kopf gegen Jens Schulter. »Vorhin, als mir schwindelig wurde, habe ich es gesehen.«
»Was gesehen?«
»Die Prügelei. Alessandros blutige Stirn. Diesen Luca. Wie Alessandro ihm die Lippe blutig schlägt.« Allegra hob den Kopf wieder, um die Reaktion ihrer Freundin nachverfolgen zu können.
Jen rümpfte die Nase und legte die Stirn in Falten. Dann schüttelte sie den Kopf. »Zufall«, entschied sie schließlich.
»Ich habe diesen Luca vorher noch nie im Leben gesehen. Und trotzdem träume ich seit fast einem Jahr von seinen Augen. Ich habe dir doch davon erzählt.«
»Von denen würde ich auch gerne träumen«, lachte Jen.