Lucas weint nicht - Marc Maurer - E-Book

Lucas weint nicht E-Book

Marc Maurer

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Beschreibung

Nur ihr neunjähriger Sohn Lucas ist anwesend, als seine Mutter Lydia nach langem Leiden stirbt. Am Abend nach der Trauerfeier erscheint sie ihm ein letztes Mal. Sie liegt mit ihm im Bett und hält ihren geliebten Sohn in ihren Armen. Dabei erzählt sie ihm die Geschichte ihres Lebens. Lydias Eltern, Geraldine und Riccardo Belloni, waren bereits früh auf die außerordentliche Begabung ihrer Tochter aufmerksam geworden. Lydia hatte schon mit vier Jahren die Fähigkeit, ein genaues, detailliertes Bild einer komplexen Materie in ihrem Gedächtnis zu speichern. Die Bellonis lebten in bescheidenen Verhältnissen. Trotzdem hatte Vater Riccardo einen Weg gefunden, für seine talentierte Tochter Lydia ein eigenes Klavier anzuschaffen. Doch schnell bekam die Familienidylle Risse: Lydias Mutter erlebte eine traumatische Geburt. Ihr zweites Kind, ein Sohn, war mit einer angeborenen Gehirnstörung zur Welt gekommen. Zudem stürzte das mysteriöse und bösartige Verhalten ihres Klavierlehrers Lydia in eine tiefe kindliche Depression. Auch als Erwachsene erfuhr Lydia schwerwiegende Turbulenzen und Demütigungen, die nicht ohne Folgen blieben.

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Seitenzahl: 592

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Inhalt

Impressum

Danksagung

Vorwort

Erstes Buch

Vor achtzehn Jahren

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Zweites Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel Ezras Geschichte (1. Teil)

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99038-879-2

ISBN e-book: 978-3-99038-880-8

Lektorat: Mag. Nicole Schlaffer

Umschlagfotos: Kirsty Pargeter, Route55 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danksagung

***

Meiner Lektorin Frau Nicole Schlaffer bin ich für Ihre grosse Arbeit und wertvollen Anregungen verbunden.

Einen ganz besonderen Dank geht an Frau Nina Pfeiler-Galos für Ihre beispielhafte Betreuung.

Einen speziellen Dank spreche ich wiederum dem Grafik-Team

Vorwort

„Ein Junge weint nicht!“, erinnerte mich Peter Landauer an mein Versprechen; er hatte mir meine Zusicherung am Frühstückstisch abgerungen.

Es waren nur einige Verwandte meiner Mutter gekommen. Außer ihnen hatte niemand an diesem feuchtkalten Morgen den Weg zu unserem Vorstadtfriedhof eingeschlagen. Weder Nachbarn noch Freunde waren da. Dies war nicht weiter erstaunlich, hatte doch mein Stiefvater zeitlebens nie Freunde gehabt. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, ob je ein Nachbar etwas mit meinem Stiefvater zu tun haben wollte. Meine Mutter hatte ihre langjährigen Freundschaften schon vor langer Zeit aufgegeben. Landauer hatte es so gewollt. Mein Stiefvater hatte seiner zweiten Frau schon früh jeglichen Kontakt zu ihren Freundinnen und dem lokalen Weibsvolk untersagt. „Ich habe dich geheiratet, weil du mir bei der Arbeit auf dem Hof zur Hand gehen sollst. Das Organisieren von Kaffeekränzchen kannst du jenen überlassen, die reich sind, und nichts Gescheiteres zu tun haben!“ Lydia hatte schon damals nicht gewagt, ihrem Gatten zu widersprechen. In Mutters Augen hatte sie Landauer alles zu verdanken, hatte er sie doch, trotz ihres Gebrechens und samt ihrer Altlasten, wie er uns Kinder zu nennen pflegte, bei sich aufgenommen. Dank Landauer hatten wir seit vier Jahren wieder ein eigenes Dach über dem Kopf. Aber der Preis, den meine Mutter und wir für seine Großzügigkeit bezahlen mussten, war hoch.

Den Kontakt zu seinen drei Geschwistern Jeremias, Rolf und Anna hatte mein Stiefvater schon vor gut drei Jahren endgültig und im Streit abgebrochen. Ich hatte sie alle gekannt, aber an ihre Gesichter kann ich mich nur noch vage erinnern. Es ist schon zu lange her, seit ich den einen oder anderen zum letzten Mal gesehen habe.

Landauers Geschwister wohnten seit ihrer Geburt in Frick, einem großflächigen Bauerndorf im Schweizer Kanton Aargau. Sie waren an diesem Ort auf die Welt gekommen. Und bestimmt würden sie auch dort beerdigt werden. Für kein Geld der Welt hätten sie Frick je verlassen.

Nicht so ihr Bruder Peter. Mein Stiefvater, Peter Landauer, war noch keine 15 gewesen, als er von zu Hause ausgerissen war. Soweit mein Stiefvater sich zurückerinnern konnte, hatte er das gottverlassene Nest und die Einwohner von Frick gehasst. Eines Tages hatte er genug von ihnen, seiner Familie und seinem verschissenen Leben gehabt. Er war mitten in der Nacht, als das Dorf noch im Tiefschlaf gelegen hatte, abgehauen, ohne ein klärendes Wort zu hinterlassen.

Selbstverständlich war das Ausreißen des Jugendlichen nicht lange unentdeckt geblieben. Im Grunde genommen hätte Peters plötzliches Verschwinden die Bewohner in helle Aufregung versetzen sollen, schließlich war es im Dorf noch nie vorgekommen, dass ein Minderjähriger untertauchte, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Aber die Leute hatten ihre eigenen Sorgen. Dem außerordentlichen Ereignis wurde wenig Beachtung geschenkt. Auf die Idee, nach dem Vermissten zu suchen, war keiner gekommen, nicht einmal von Amts wegen. Es hatte auch kein Anlass dazu bestanden, schließlich fehlte der Junge niemandem. Aber auch für Peter hatte es damals in Frick nicht eine einzige Menschenseele gegeben, die er vermisst, oder der er nachgetrauert hätte.

***

„Vermutlich wissen Stiefvaters Geschwister noch gar nicht, dass ihre Schwägerin nicht mehr am Leben ist“, ging es mir durch den Kopf. Ich war traurig und aufgewühlt. „Von wem hätten sie es denn erfahren sollen, wenn nicht von einem Mitglied unserer Familie?“ Zu bemerken sei, dass Landauer uns Kinder bei Strafe verboten hatte, seine Angehörigen zu verständigen, oder sie gar zum Begräbnis einzuladen. Es war nur eine von vielen Peinlichkeiten, derer ich mich an diesem Morgen schämen sollte. Aber am meisten fehlten mir meine Großeltern. Die Eltern meiner Mutter. Sie waren letztes Jahr, innerhalb von nur sieben Monaten, einer nach dem andern gestorben.

Landauer hatte es für unnötig erachtet, im Tagblatt eine Todesanzeige aufzugeben. Auch dem gebührenpflichtigen Aushang im Schaukasten der Gemeindekanzlei und der Kirche hatte er seine Zustimmung verweigert. „Lieber kaufe ich mir eine Kuh, als dass ich mein schwer verdientes Geld zur Druckerei oder zu den Behörden trage“, hatte er Don Claudio, den Pfarrer unserer Vorstadt-Gemeinde wissen lassen. „Ich versichere Ihnen, dass der Nachruf in unserem Pfarrblatt mit keinerlei Kosten verbunden ist“, hatte ihn Don Claudio zu beschwichtigen versucht. „Ich hätte dafür auch nichts bezahlt, schließlich unterhalte ich mit dem vielen Geld, das ich dem Steueramt abliefere, auch Sie und Ihre Kirche!“ Landauers Bemerkung hatte ihr Ziel nicht verfehlt. Don Claudio war tief gekränkt. Trotzdem hatte er einen letzten, verzweifelten Anlauf genommen, um Stiefvaters gemachte Meinung doch noch umzustoßen: „Aber unsere Anzeige erscheint doch erst am Monatsende. Und bis zum Einunddreißigsten fehlen immerhin noch ganze zwölf Tage.“ Es war ein desperater Versuch gewesen, Landauer doch noch von der Notwendigkeit der Schaukasten-Publikation zu überzeugen. „Dummes Zeug! Wer interessiert sich schon dafür? Seit Lydias Tod ist ja bereits ein Tag vergangen, und die Welt dreht sich trotzdem noch. Oder sehen Sie ein Anzeichen dafür, dass sie sich seit gestern nicht mehr dreht, oder gar untergegangen ist? Ganz abgesehen davon – das, was sich gestern ereignet hat, ist heute sowieso nicht mehr aktuell. Wie sagt man doch so schön: Bis zum Morgengrauen verliert der Schnee von gestern seine natürliche Farbe! Wenn Sie begreifen, was ich damit meine.“

Don Claudio hatte es nicht verstanden. Er hatte den Spruch noch nie zuvor gehört, und wollte auch nicht wissen, was es damit auf sich hatte. „Aus Landauers Mund konnte es sowieso nichts Gescheites sein!“

***

Dass Peter Landauer von seinen Angehörigen seit Langem gemieden wurde, konnte man ihnen nicht verübeln. Es war allgemein bekannt, dass mein Stiefvater seine Geschwister beim Aufteilen der elterlichen Hinterlassenschaft aufs Schändlichste getäuscht und hintergangen hatte. Verständlich, dass sie ihm sein unchristliches Verhalten bis zum heutigen Tag weder vergessen noch verziehen hatten. Dass seine Geschwister seit jener üblen Geschichte nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten, kümmerte meinen Stiefvater wenig. Hätte er sich etwa darüber aufregen sollen? Er, der nur Nutzen und Ertrag aus seiner listigen Transaktion geschlagen hatte? Das Einzige, was für ihn zählte, war, dass er, dank seines genialen Schachzugs sein ohnehin schon stattliches Vermögen, auf wundersame Weise hatte vermehren können.

***

„Ein Junge weint nicht!“ Ich hatte Stiefvaters frühmorgendliche Anordnung nicht vergessen. Aber mein Augenwasser war stärker gewesen. Es hatte sich ungehindert seinen Platz durch die Tränenkanäle gesucht, und war nun für jedermann zu sehen.

Landauers scharfer Befehl ließ mich zusammenfahren. Es kam mir vor, als hätte mich soeben ein Blitz aus dem wolkenverhangenen Himmel getroffen. Stiefvaters stahlblaue Augen waren nur noch als zwei unästhetische Schlitze zu erkennen. Ein wahrhaft maskenhafter Ausdruck, vor dem ich mich wie der Teufel vor dem Weihwasser fürchtete! Ich wusste, dass seine grimmige Miene nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ich merkte, dass sich die Situation für mich nun gefährlich schnell zuzuspitzen begann. „Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird mein armer Rücken noch heute Landauers abgetragenen Gürtel zu spüren bekommen. Es ist keine vier Tage her, seit er mich auf diese grausame und unbeschreiblich schmerzhafte Weise bestraft hat.“

Ich versuchte verzweifelt meine berechtigte Angst unter Kontrolle zu bringen. Schnell, und beinahe unauffällig, rieb ich mit meinem linken Hemdsärmel meine nassen Wangen trocken. Es war ein letzter Versuch, mein ungebührliches Verhalten ungeschehen zu machen. Aber nach einigen bangen Sekunden stellte ich erleichtert fest, dass sich Landauers Gesichtszüge allmählich entspannten. Sogar seine Augen fanden wieder zu ihrer natürlichen Form zurück. Nur die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn waren zurückgeblieben.

Ohne weitere Worte zu verlieren, drückte er mir eine kleine Metallschaufel in die Hand. Er vermied es, mich dabei anzusehen, denn er konnte weinende Knaben nicht ausstehen. Wie oft hatte er mir dies schon einzutrichtern versucht, und mich für meine Tränen bestraft? „Du bist weder Weib noch Junge!“, war eine seiner boshaften Feststellungen. Selbstverständlich sagte er solches nur, wenn meine Geschwister zugegen waren. Dass er es sichtlich genoss, wenn er mich vor allen bloßstellen konnte, war nicht zu leugnen. Alles in allem zog ich es vor, seine Schläge zu ertragen, als mich vor meinen Geschwistern erniedrigen zu lassen, obwohl mich danach mein Rücken für mehrere Tage schmerzte.

Stiefvaters massiger Finger zeigte auf das offene Grab. Ich nickte gehorsam, füllte das angerostete Werkzeug mit Erde, und warf den dunkelbraunen Humus in die Gruft. Ich hatte es genauso getan, wie er es mir vorgemacht hatte. Die feinen Körner fielen auf den honigfarbenen Sarg. Ich vernahm das trommelnde Geräusch, das sie bei ihrem Aufprall auf dem Holz hinterließen. Noch Jahre später hörte ich in meinen nächtlichen Träumen diese hässlichen Töne wieder. Ich trat einen Schritt zurück. Jemand nahm mir die Schaufel aus der Hand. Es war Anton. Für Landauer gehörte er nicht zur Familie. „Also ist doch noch jemand von hier gekommen!“, freute ich mich. Ich hatte Anton erst in diesem Augenblick bemerkt. Seiner geistigen Behinderung wegen hatte man Anton ins Altersheim gesteckt, obwohl er erst 44 Jahre alt war. Seine Eltern waren schon früh gestorben und in seiner Verwandtschaft hatte es niemanden gegeben, der sich um ihn kümmern wollte oder konnte. Ab und zu arbeitete Anton auf unserem Hof. Selbstverständlich ohne einen Rappen Geld zu erhalten. Für meine Mutter aber war Anton einer von uns. Gelegentlich, aber nur wenn mein Stiefvater nicht in der Nähe war, steckte sie ihm einige Silbermünzen zu. „Was wird jetzt aus dem armen Anton werden? Er wird bestimmt nie mehr zu uns auf den Hof kommen!“, vermutete ich vergrämt.

Obwohl ich mich vehement dagegen wehrte, füllten sich meine Augen wieder mit Tränen. Mein beinahe aussichtsloser Kampf begann von Neuem. Ich suchte verzweifelt nach einer Ablenkung, um mich von meinen düsteren Gedanken zu befreien.

Aber das Glück kam mir zu Hilfe. Ausgerechnet in diesem Moment fiel mein Blick auf Stiefvaters dreckige Gummistiefel. Von ihrer ursprünglichen Farbe war an besagtem Fußwerk nicht mehr viel zu sehen. Nur da und dort schimmerte noch etwas Grün durch die angetrocknete Erde. Schmutzige Stellen waren auch auf Landauers Hemd auszumachen. Trotz des rauen Wetters trug er das Kleidungsstück weit geöffnet, was unweigerlich den Blick auf seine stark behaarte Brust freigab. „Ein anstößiger Anblick bei einer Trauerfeier!“, fand ich und war mit meinen Gedanken wohl nicht allein. „Solch Skandalöses wäre früher nie vorgekommen. Wäre meine Mutter noch am Leben, würde er nun mit sauberem Hemdkragen, korrekt angezogen, und mit blitzblanken Stiefeln dastehen.“ Obwohl es mir nicht gelang, ein hämisches Grinsen zu unterdrücken, schämte ich mich im Grunde genommen für ihn. „Wäre ich doch ein Wurm! Denn wäre ich ein Wurm, könnte ich mich jetzt auf der Stelle in ein Erdloch verdrücken, und dort ausharren, bis niemand mehr da ist.“ Aber ich war kein Wurm, und es gab, außer Mutters Grab, auch weit und breit kein Loch zu sehen, in das ich hineingepasst hätte.

***

Mit seinem gewichtigen Körper und seiner Größe überragte Peter Landauer die übrigen Trauergäste deutlich. Das wäre an sich nichts Besonderes gewesen. Mit Schuhgröße zweiundfünfzig aber, sonderte er sich definitiv von ihnen ab. Soweit ich mich erinnern kann, hatte mein Stiefvater nie richtige Schuhe getragen. Zugegebenermaßen hatte es nicht allein an ihm gelegen. Nicht zu leugnen war, dass es weder in der Stadt noch auf dem Land ein Paar Schuhe dieser Dimension zu kaufen gab. Aber es war ebenso wahr, dass es meinem Stiefvater nicht einmal im Traum eingefallen wäre, ein Schuhwerk nach Maß anfertigen zu lassen. Wozu auch? „Für mich ist der Kauf von Schuhen aus dem Fenster geworfenes Geld. Den größten Teil des Tages verbringe ich sowieso auf den Feldern oder im Stall. Für die Verrichtung der täglichen Arbeit genügen meine Stiefel allemal!“ Ich konnte mich noch sehr gut an seine Worte erinnern.

Aber wenigstens für die sonntägliche Messe wären ein paar schwarze Schuhe kein unerschwinglicher Luxus gewesen. Auch heute, an Mutters Beerdigung, hätte sie Landauer gut brauchen können. „Gott will in seinem Haus das Gesicht seines Dieners, und nicht dessen Latschen sehen“, hatte Landauer anlässlich eines Kirchgangs zu meiner Mutter gesagt. Damit war das Problem für ihn ein für alle Mal vom Tisch und Mutters Stimme in dieser Sache für immer verstummt gewesen.

***

Die kleine Schaufel wechselte wieder die Hand. Geräuschvoll entleerte sie ihren Inhalt in das offene Grab. Und so ging es weiter, bis sich der letzte der Anwesenden von meiner Mutter verabschiedet hatte.

Don Claudio warf einen prüfenden Blick auf das helle Zifferblatt seiner schicken Armbanduhr. Das Schmuckstück war ein Unikat. Er hatte die Uhr von seiner früh verstorbenen Schwester geschenkt bekommen. Don Claudio trug dem edlen Ding Sorge. Nur sonntags und bei ganz besonderen Anlässen, war sie fester Bestandteil seiner Bekleidung. „Aber heute ist doch nicht Sonntag! Und es ist auch kein besonderer Feiertag! Hat etwa das Begräbnis meiner Mutter den Stellenwert eines besonderen Anlasses für ihn? Es muss so sein, sonst hätte er die Uhr bestimmt in seinem abgeschlossenen Schreibtisch zurückgelassen!“ Die Erkenntnis, dass Don Claudio den Schmuck ihretwegen an seinem Handgelenk trug, erfüllte mich mit Stolz. Es war eine Feststellung, die mir in diesem Augenblick ungemein guttat.

Meine Mutter hatte zeitlebens beteuert, dass Don Claudios gelegentliche Besuche Glück und Frieden in unser Haus brachten. Obwohl seine letzte Visite schon Monate zurückliegt, kann ich mich an diesen Tag erinnern, als sei es gestern gewesen. Zum Leidwesen meiner Mutter waren Don Claudios Aufwartungen in unserem Haus in letzter Zeit immer seltener geworden. „Euer Hof liegt zu weit vom Gotteshaus entfernt“, hatte ihr der Geistliche jedes Mal zu versichern versucht, wenn meine Mutter ihn deswegen gerügt hatte. Aber wir wussten alle, dass seine Erklärung nur ein dahergeredeter Vorwand gewesen war. Der Grund seiner seltenen Besuche war auf Landauers feindseliges Verhalten gegenüber dem Vertreter Gottes zurückzuführen. Dass Don Claudio sein Heu nicht auf der gleichen Bühne wie mein Stiefvater lagerte, war eine unausgesprochene, aber allgemein bekannte Tatsache. Aber wenn der Seelsorger dann einmal bei uns war, blieb er bestimmt eine Stunde oder zwei schwatzend am Küchentisch sitzen. Er liebte Mutters Gesellschaft. Er kam nicht nur ihretwegen, er kam auch wegen ihres selbstgebackenen Brotes. Er konnte gut und gerne, und sogar ohne Aufstrich, ein viertel Kilo davon essen. In den Augen meines Stiefvaters waren Don Claudios unangemeldete Besuche die reinste Provokation. Er fand es eine Dreistigkeit sondergleichen, dass er meine Mutter von der Arbeit abhielt, und obendrein noch unverschämt viel von ihrem guten Brot verzehrte. Aber obwohl Landauer seine lose Zunge nur selten im Zaun halten konnte, hätte er es nie gewagt, Don Claudio sein Missfallen direkt ins Gesicht zu spucken. Es war Lydia, die nach seinen sporadischen Aufwartungen, regelmäßig Stiefvaters verbale Ausbrüche und Beschimpfungen über sich ergehen lassen musste. Kaum zu erzählen, was sie sich alles von ihm hatte anhören müssen. Landauer trieb es gelegentlich so weit, bis meine Mutter weinend die Küche verließ. „Weshalb hockt er bei uns herum? Will er etwa mit dir ins Bett gehen?“ Es waren diese und andere üble Sprüche, die er, ungeachtet der Anwesenheit seiner Kinder von sich gab. Dass er mit seinen abfälligen Bemerkungen meiner Mutter unsägliche seelische Schmerzen zufügte, hatte ihm offenbar gefallen.

„Weshalb nennen ihn die Leute Don Claudio? Ist das wirklich sein richtiger Name?“ „Es liegt an seiner italienischen Herkunft“, hatte mein Stiefvater an Mutters Stelle geantwortet. „Das ist doch Unsinn! Don Claudio ist durch und durch Schweizer Bürger, genauso wie du und ich. Er stammt aus dem Mendrisiotto, und das Mendrisiotto liegt in der Schweiz, und nicht in Italien!“, hatte sich unsere Mutter aufzulehnen gewagt. Aber es war der Mühe nicht wert gewesen, Landauers haltlose Aussage widerlegen zu wollen. „Habe ich dich um deine Meinung gefragt?“, hatte sie mein Stiefvater angeherrscht. Bestimmt hat er italienische Wurzeln. „Für mich ist und bleibt er einer dieser stinkenden Italiener, die sich in unserem Land breitmachen. Sie stehlen uns Einheimischen die Arbeit weg, und obendrein stellen sie noch unseren Weibern nach! Ich sage dir, diese Italiener sind alle vom Sex besessene Taugenichtse!“ „Bitte versündige dich nicht! Schließlich ist Don Claudio ein Geistlicher!“ Meine Mutter hatte Landauer schlussendlich unter Tränen angefleht, seinen unchristlichen Beleidigungen ein Ende zu setzen. „Du bist nichts anderes als ein dummes Weib! Von dir lasse ich mir zuletzt das Wort verbieten!“, hatte sie mein Stiefvater angeschrien, bevor sich unsere Mutter weinend in die Ställe zurückgezogen hatte.

***

Die kleine Schaufel steckte verloren im Häufchen Erde, das übrig geblieben war. Das Werkzeug hatte seine Pflicht getan. Es würde wieder im Gerätehaus des Friedhofs verschwinden, und dort gelangweilt weiterrostend auf seinen nächsten Einsatz warten.

Don Claudio winkte den Messdiener zu sich und flüsterte ihm hinter vorgehaltener Hand etwas ins Ohr. Sein Gehilfe nickte und verschwand sofort in der Sakristei. Wenige Augenblicke später war er wieder da. Er trug jetzt ein von Hand geflochtenes Körbchen, das er fordernd den Anwesenden hinstreckte. Schnell, als würde er sich vor Landauer fürchten, ging er mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Er wusste, dass es trotz des bedeutenden Ereignisses sinnlos war, auch nur eine einzige Münze von meinem Stiefvater zu erwarten. Landauers Geiz war allgemein bekannt. Eines Tages hatte ein Nachbar erwähnt, dass es sich bei Landauers übertriebener Sparsamkeit um ein pathologisches Problem handeln müsse. In jenem Moment konnte ich allerdings mit seiner Feststellung nicht viel anfangen. „Pathologisches Problem“, war ein Ausdruck, den ich in meinem Alter noch nie zuvor gehört hatte.

Aber weshalb hätte Landauer ausgerechnet heute einen Batzen spenden sollen? Das Begräbnis meiner Mutter bescherte ihm ohnehin schon teuflisch hohe Kosten. Stiefvaters in tiefe Falten gelegte Stirn hatte ihn und seinen Gemütszustand verraten. So unangebracht seine Gedanken in diesem traurigen Moment auch erscheinen mochten, weilten sie doch tatsächlich beim Schreiner und seiner ausstehenden Rechnung für den gelieferten Sarg.

„Es würde mich nicht erstaunen, wenn mich der üble Gauner übers Ohr gehauen hat!“, hatte er uns Kindern schon am Morgen vor Mutters Beerdigung gesagt. Mein Stiefvater war sich seiner Meinung sicher, schließlich sagte man dem Sargbauer nicht viel Gutes nach. Man munkelte sogar, dass er bei Feuerbestattungen den gleichen Sarg ein zweites oder gar drittes Mal verwendet haben soll. Zu seinem Leidwesen hatte Landauer, in der kurzen Zeit, die ihm nach Mutters Tod geblieben war, weit und breit keine andere Schreinerei als diese hier finden können. Also war er wohl oder übel dazu verdammt gewesen, die teure Kiste beim örtlichen Lieferanten zu bestellen.

„In den Vereinigten Staaten entsorgen sie die Leichen in einem dickwandigen Kartonsarg“, hatte sich Landauer am Vortag beim Schreiner wichtig gemacht. „Das kommt nicht nur viel billiger, sondern ist obendrein auch noch umweltfreundlicher! Sie können es mir ruhig glauben, ich hab es mit meinen eigenen Augen in der Zeitung gelesen.“ „Dann müssen Sie Ihre Gattin halt in Amerika begraben“, hatte ihm der Handwerker grinsend geraten. „Wenn Sie Glück haben, lassen die Amis sogar zu, dass Sie Ihre Frau in einem Papiersack entsorgen.“ Dann hatte er, ohne weitere Worte zu verlieren, den verblüfften Landauer samt seinem Kummer bei den ausgestellten Särgen zurückgelassen. Der Handwerker hatte so getan, als zeige er an Landauers Auftrag nicht das geringste Interesse. Die Wirkung auf seine gezielten Worte hatte denn auch nicht lange auf sich warten lassen: Mein Stiefvater hatte schnell, aber zähneknirschend eingesehen, dass er keine andere Wahl hatte, als die Kiste bei diesem Halsabschneider zu bestellen. Noch am selben Abend hatte er das billigste Modell in Auftrag gegeben.

Der Schreiner war beileibe nicht der Einzige im Ort, dem mein Stiefvater Geld schuldete. Sogar das Pfarramt wollte etwas von ihm haben. Peter Landauer konnte nicht einsehen, weshalb die Kirche Geld für Lydias Beerdigung von ihm verlangte. „Bin ich nicht ein guter Katholik, zahle pünktlich meine Kirchensteuer, und gehe jeden Sonntagmorgen mit meiner Familie ins Gotteshaus? Die behandeln mich wie eine Kuh, die sich ungefragt melken lässt!“, ärgerte er sich. „Diese Arschlöcher stecken doch alle zusammen unter einer Decke. Sie haben sich abgesprochen und wollen nur etwas von mir: Geld, Geld, und nochmals Geld! Mein sauer verdientes Geld! Üble Halunken und Aasgeier sind das!“ Wobei an dieser Stelle anzumerken sei, dass seine Überlegungen nicht in jedem Sinne von der Hand zu weisen waren.

***

Don Claudio schnäuzte geräuschvoll seine, vom starken Alkoholkonsum rötlich gefärbte Nase. Er inspizierte gründlich und genüsslich die reiche Ausbeute, die sich an seinem Taschentuch festgesetzt hatte. Dann faltete er das schmutzige Leinen sorgfältig zusammen, und steckte es in die Tasche seiner Sultane zurück. Er war gespannt darauf, zu sehen, was ihm der Messdiener, der soeben seinen Bittgang beendet hatte, bringen würde. Don Claudio hielt den Jungen beim Vorbeigehen einen Moment am Arm zurück, musterte interessiert den kargen Inhalt des Weidenkörbchens, und ließ den Messdiener dann laufen. Die Lippen des Geistlichen waren so schmal geworden, dass sie kaum mehr zu sehen waren.

Don Claudio hatte es plötzlich eilig. „Gott sei mit euch“, versicherte er abrupt und beschloss damit seinen Auftritt. „Amen“, antworteten die Anwesenden irritiert. Mein Stiefvater sagte nichts.

Bevor die Trauergäste ihre eigenen Wege gingen, reichten sie mir die Hand. Schön einer nach dem anderen. Eine Tante fuhr mir mit ihren behandschuhten Fingern durchs Haar. Eine weit entfernte Verwandte murmelte unverständliche Worte. Dann küsste sie mich schmatzend auf beide Wangen. Sie roch stark nach Rosenöl; ihr abgetragener Mantel nach Paraffin. Von Peter Landauer verabschiedete sich niemand. Ich beobachtete ihn verstohlen. Es schien ihm nichts auszumachen. Mehr als ein spöttisches Grinsen hatte er für die Verwandten meiner Mutter und für den armen Anton sowieso nie übrig gehabt. Aber bestimmt ärgerte es ihn, dass sie mir ihr Mitleid und ihre Zuneigung so offen zeigten. Die unerwartete Erkenntnis erfüllte mich mit unbändiger Zufriedenheit, ja sogar mit Stolz. Ich hasste meinen Stiefvater! Und seit meine Mutter da unten in ihrem billigen Sarg lag, hasste ich ihn noch mehr als je zuvor! Eines Tages würde ich mich für ihren frühzeitigen Tod an ihm rächen! Ich schwor es bei allem, was mir in diesem Moment heilig war. Dann versuchte, ich Landauers ironisches Lächeln zu imitieren. Zu meinem Leidwesen hatte er es nicht bemerkt.

Der Wind begann mit den Blättern am Boden zu spielen. Er ließ sie lustig im Kreise herumtanzen, trieb sie zusammen, um dann sein Werk sogleich wieder zu zerstören. Der Regen nahm plötzlich an Stärke zu, nässte die Blätter, machte sie schwer, und beendete damit erbarmungslos des Windes ausgelassenes Spiel.

Der harte Druck an meiner linken Schulter ließ mich zusammenfahren. Landauer wollte mir damit zu verstehen geben, dass für mich der Pflichtteil nun vorüber sei. „Du wirst mich jetzt nach Hause begleiten!“, sagte er streng. Es war offensichtlich, dass er meine Tränen noch nicht vergessen hatte.

„Nach Hause? Nach Hause! Wessen Zuhause?“ Alles in mir schrie. Eine unbeschreibliche Schwere lastete plötzlich auf dem bedeutungsvollen Ausdruck „nach Hause“. Es war wie ein Schatten, der ihm seine Signifikanz und Wärme stahl, und es plötzlich fremd und unwirklich erscheinen ließ. Jetzt, da unsere Mutter nicht mehr bei uns war, würde es für uns Kinder nie mehr ein Zuhause geben! Für mich hatte das Wort für immer seine Bedeutung verloren.

***

Endlich war alles vorüber und vorbei. Nur der Friedhofsangestellte war am offenen Grab zurückgeblieben. Er war beinahe so traurig wie ich. Man konnte es ihm ansehen. Aber es lag nicht an der verstorbenen Frau, die da unten in ihrem Sarg lag. Er hatte sie ja kaum gekannt. Eine Einwohnerin wie viele andere, die hier ihre letzte Ruhe fand. Nein, es lag am heftigen Regen, der die Trauernden vorschnell aus dem Friedhofgelände vertrieb. Die Einsicht, dass bald niemand mehr da sein würde, vergällte dem Gemeindearbeiter die Freude an seinem Auftrag. Im Grunde genommen liebte er seine Arbeit. Denn wenn er ehrlich sein wollte, musste er zugeben, dass ihm seine Beschäftigung in all den Jahren mehr Vorzüge als Nachteile gebracht hatte. Gelegentlich kam es sogar vor, dass er bei einem Begräbnis von den Hinterbliebenen mit einem großzügigen Trinkgeld, oder sogar mit einer warmen Mahlzeit belohnt wurde. In diesem Zeitpunkt aber stand für ihn bereits fest, dass er heute weder auf das eine noch das andere hoffen durfte. Er hasste Regen, er hasste die Kälte aber vor allem hasste er die Feuchtigkeit, die der Regen mit sich brachte. Am Abend würden seine Kleider durchnässt am Ofen hängen, und bis zum kommenden Morgen nicht mehr zu gebrauchen sein. Und wenn der Teufel es wollte, würde er sich sogar einen bösen Schnupfen oder sonst eine dieser lästigen Krankheiten holen. Es wäre nicht das erste Mal in seinem langen Arbeitsleben, dass ihm die Launen des Wetters einen Husten oder sogar eine Bronchitis einbrachten. In Gedanken sah er seine Gattin, wie sie ihm übelriechende Medikamente einflößte. Er sah den kalten Fiebermesser, den sie unter seine Achselhöhle steckte. Und er sah, wie sie ihm mit ihrem aufopfernden Tun das Dasein schwer machte.

***

„Das Leben muss weitergehen!“, versicherte mein Stiefvater, als wir wieder auf seinem Gut waren. Ein schwer deutbares Grinsen unterstrich seine Feststellung. Es gelang mir nicht, seinen Worten einen Sinn abzuringen. Wollte er mich etwa trösten, oder war seine Bemerkung vielmehr als Befehl zu verstehen, den es strikt zu befolgen galt? Ich entschied mich für die zweite Variante. Etwas anderes konnte ich mir nur schwer vorstellen, schließlich war der Mann außerstande, irgendwelche tiefgründigen Gefühle zu zeigen. Er hatte es nie gekonnt, und es war zu befürchten, dass er für den Rest seines Lebens auch nie zu solcherlei fähig sein würde. Aber wären tröstende Worte nicht gerade da in diesem schwierigen Moment angebracht gewesen? Es war zwecklos, sich diese einfache Frage zu stellen. Wer Landauer kannte, wusste, dass emotionsgeladene Ausbrüche weder mit seinem Charakter, noch mit seinen unantastbaren Prinzipien vereinbar gewesen wären.

Ich musste einsehen, dass ihn zurzeit andere, weitaus bedeutendere Sorgen quälten. Landauer fehlte schlicht die Zeit, um sich um das Seelenheil seiner Kinderschar zu kümmern. Es zermürbte ihn, dass ihm durch das Ableben meiner Mutter eine kaum zu ersetzende Arbeitskraft verloren gegangen war. „Ein nicht wieder gutzumachender Verlust!“, sagte er jedem, der es hören wollte. Auch in den darauf folgenden Tagen beklagte er sich mehrmals bitter über das ungerechte Schicksal, das ausgerechnet ihm widerfahren sei. Aber weshalb hat er Mutter zu Lebzeiten nie gesagt, wie wertvoll und unersetzlich sie für ihn und seinen Hof sei? Man konnte es drehen, wie man wollte, ein Eingeständnis dieser Art passte ganz einfach nicht zu ihm. Betrachtete man aber Stiefvaters gegenwärtige Schicksalslage von der richtigen Seite, musste man dennoch einräumen, dass er allen Grund hatte, vergrämt und besorgt zu sein. Es war eine nicht zu leugnende Tatsache, dass es für ihn schwierig werden dürfte, eine andere Frau zu finden. Eine willige Arbeiterin, die auch nur annähernd Lydias Qualitäten auf sich vereinen konnte. Außerdem, wer würde schon das gewagte Abenteuer eingehen, und einen Mann im Alter von beinahe sechzig Jahren und obendrein noch mit vier unmündigen Kindern heiraten?

***

„Du bist der Älteste und schon beinahe erwachsen. Bis ein neues Weibsbild hier einzieht, bist du für deine Geschwister verantwortlich!“, befahl mein Stiefvater. Er hatte mich nicht um meine Meinung gefragt. Es war seine alleinige Entscheidung! Der unerbittlich scharfe Ton seiner Stimme ließ einen Einwand bereits im Ansatz ersticken. Sein folgenschwerer Vorsatz aber traf mich dermaßen hart und unerwartet, dass es mir nur schwer gelang, die Tränen zurückzuhalten. Es war beileibe nicht der richtige Zeitpunkt diese Worte auszusprechen! Ich war zutiefst enttäuscht und verletzt. Wie konnte er, nur wenige Stunden nachdem wir uns von unserer Mutter in diesem Leben getrennt haben, so gefühllos sein, und schon an eine Nachfolgerin für sie denken? Aber weshalb sollte ich gekränkt sein und mich über seine unbedachten Äußerungen aufregen? Seine respektlose Art, die Dinge zu sehen, war schließlich typisch für ihn. Ich dachte wehmütig an meine Mutter. Für Landauer war sie nie mehr als eine willige, und vor allen Dingen, eine äußerst billige Dienstmagd gewesen. Wobei hier anzumerken sei, dass das Wort „billig“ einen falschen Eindruck hinterlassen könnte. Denn zwischen meiner Mutter und den übrigen Angestellten hatte es immerhin einen gewichtigen Unterschied gegeben: Die Arbeiterinnen hatten, wenn auch in unregelmäßigen Abständen, immer ihren Lohn erhalten. Meine Mutter dagegen hatte für ihre Mühen nie etwas anderes als Beschimpfungen, Schläge und freudlosen Sex bekommen.

In einer Beziehung musste ich meinem Stiefvater aber recht geben: Es war naheliegend, dass ich als Ältester die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister übernehmen musste. Aber was für mich eine erschreckende Vorstellung war, hatte in Landauers Augen seine Selbstverständlichkeit.

„Deine Schwester Rosalie wird dir bei deiner neuen Aufgabe helfen“, schwächte Landauer ganz unerwartet seine strenge Order ab. Hatte er etwa meine Gedanken erraten? Sein plötzliches Einlenken kam für mich überraschend. Es war sonst nicht seine Art, auch nur einen einzigen Millimeter von einem einmal gesprochenen Befehl abzuweichen. Aber heute war sowieso alles anders als an einem normalen Tag.

***

Rosalie war knapp ein Jahr jünger als ich. Die Zwillinge Johanna und Lena hätten vor drei Tagen ihren zweiten Geburtstag bejubeln sollen. Aber wir hatten den Anlass nicht gefeiert. Was jedoch in unserem Haus nichts Außergewöhnliches war. Ein Ereignis dieser Art war bei Landauers noch nie glorifiziert worden.

Lydia hatte den Geburtstag ihrer Kinder nicht mehr erlebt. Sie war am Vorabend, nur wenige Minuten nach achtzehn Uhr, gestorben. Gott und der Tod hatten Erbarmen mit unserer Mutter gehabt, und sie von ihrem langen Leiden erlöst. Aber die letzten Stunden ihres kurzen Lebens hatte sie mit mir geteilt. Ich hatte auf einem Stuhl neben ihrem Bett gesessen, und ihre magere Hand gehalten. Ich hatte mit ihr geredet und mit ihr geweint. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war es das erste Mal gewesen, dass wir so lange und ungestört miteinander geplaudert hatten. Und dann war sie plötzlich nicht mehr bei mir gewesen. Sie hatte ihre wunderschönen Augen geschlossen und mich und ihre Familie für immer verlassen. Als sie starb, war mein Stiefvater nicht dabei gewesen. Er hatte das Abschiednehmen mir überlassen.

***

Es war kurz nach elf Uhr, als mein Stiefvater endlich im elterlichen Schlafzimmer verschwand. Einen Moment hielt ich horchend vor seiner Tür inne. Glücklicherweise dauerte es nur wenige Minuten, bis ich gut deutlich sein dröhnendes Schnarchen hören konnte. Erleichtert und möglichst leise, schlich ich in Mutters Kammer. Seit jenem Tag, da Landauer wusste, dass seine Frau demnächst sterben würde, hatte er sie aus ihrem gemeinsamen Schlafgemach vertrieben. In meinen Ohren hör ich jetzt noch den furchterregenden Streit, der ihrer unfassbaren Verbannung vorausgegangen war. Landauer hatte seine Frau Lydia derart laut angeschrien, dass ich seine harten Worte in meinem eigenen Zimmer vernehmen konnte: „Solange dieser widerliche Geschmack deiner Medikamente an dir klebt, wirst du in einem der Angestelltenzimmer schlafen!“ Ihre schwere Krankheit hatte meine Mutter derart geschwächt, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, sich seinem Diktat zu widersetzen.

Auf der Kommode in Mutters Kammer stand eine halb gefüllte Arzneidose. Ich wühlte in dem Behälter und las die Etiketten der verschiedenen Medikamente. Nach wenigen Sekunden hatte ich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Ich presste vorsichtig eine rosafarbene Tablette aus der Folie, schob sie in den Mund, und spülte sie mit etwas Wasser hinunter. Die hellblaue Packung mit dem restlichen Sedativum verschwand sogleich im Stoff meiner linken Hosentasche. „Man kann nie wissen!“, sagte ich mir. „Vielleicht werde ich die Pillen eines Tages noch gebrauchen können.“

Ich stieg auf Mutters Bett. Die Matratze war kalt. Das Zimmer war kalt. Aber ich spürte die Kälte kaum. Meine Lippen liebkosten, und meine Hände streichelten das Kopfkissen, auf dem meine Mutter zuletzt geruht hatte. Ich war allein und unbeobachtet. Die Zeit war gekommen, den Gefühlen der Trauer ihren Platz zu überlassen. Meine Tränen hatten schon zu lange auf den erlösenden Moment warten müssen. Aber in meinen Ohren hallten immer noch Landauers mahnende Worte: „Ein Junge weint nicht!“ In Gedanken sah ich seine zusammengekniffenen Augen, seine tief in Falten gelegte Stirn und seinen abschätzend bösen Blick. Mir war, als wollte er mich, ungeachtet seiner Abwesenheit, nochmals bestrafen. Aber vor allem kam es mir so vor, als wollte er mich für immer der Erinnerungen an seine Frau Lydia berauben. „Aber ich bin doch noch keine neun Jahre alt!“, verteidigte ich mich in Gedanken, obwohl dies jetzt und an dieser Stelle nicht notwendig gewesen wäre. Gibt es für einen Jungen eine Altersgrenze, ab der es sich nicht mehr gebührt, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen? Ich wusste es nicht, aber es war in diesem Augenblick auch nicht von Bedeutung für mich. Ich war mit meinen Gedanken und Sehnsüchten endlich allein und musste niemandem Rechenschaft über mein Tun und Lassen ablegen. Meinem Stiefvater nicht und auch meiner Schwester Rosalie nicht. Hier in Mutters Kammer war ich frei wie ein Vogel im Himmel! Ich konnte mich ungehemmt meinem Kummer, meinen Tränen und den Erinnerungen an meine Mutter hingeben.

„Wie es wohl jetzt in Rosalies Herz aussieht?“ Diese traurige Frage stellte ich mir immer und immer wieder. „Arme Rosalie! Bestimmt hat sie sich irgendwo auf dem Hof oder in den Ställen versteckt.“ Landauer hatte meiner Schwester Rosalie schon am frühen Morgen zu verstehen geben, dass sie uns nicht zur Trauerfeier begleiten durfte. Arme Rosalie!

„Bis wir von der Beerdigung zurück sind, hast du ausreichend Zeit, hier in der Küche für etwas Ordnung zu sorgen!“, hatte er ihr aufgetragen. Mein Bestreben, unseren Stiefvater im letzten Moment doch noch umzustimmen und Rosalies Anwesenheit bei Mutters Bestattung zu erflehen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. „Aber sie ist doch ihre Tochter, so wie ich ihr Sohn bin! Und schließlich ist sie nur ein Jahr jünger als ich!“, hatte ich meinen Stiefvater angefleht. Aber es war mir nicht gelungen, Rosalie mit meinem Einwand doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen. „Schluss jetzt! Noch ein einziges Wort, und ich gehe allein, und ohne dich dorthin!“ Mit seiner unmissverständlichen Drohung hatte mir unser Stiefvater mein stummes Einverständnis abgetrotzt.

Außer Landauer war ich also der Einzige unserer Familie, der bei der Feier dabei sein durfte. „Ein Privileg“ sei dies, hatte mir mein Stiefvater weißzumachen versucht. Aber für mich war es unmöglich gewesen, seinen Worten einen Sinn abzuringen.

In Gedanken sah ich die rostige Schaufel und die dunkle Erde, die ich an diesem Morgen auf Mutters honigfarbenen Sarg geworfen hatte. Ich hörte wieder das unschöne Geräusch, das sie beim Aufprallen auf das Holz hinterlassen hatten. Ich sah meine Verwandten und hörte ihre tröstenden Worte. Sogar Don Claudio und seine wertvolle Armbanduhr wanderten in meinen Gedanken wieder an mir vorüber.

***

Plötzlich hörte ich Mutters Stimme. „Ein Traum?“, überlegte ich. Mein Atem stockte. „Es muss sich um eine Halluzination handeln! Vermutlich bin ich seelisch schon so krank, dass ich mir einbilde, ihre Stimme zu hören.“

Aber ich war nicht krank, es war keine Wahnvorstellung, und ich weilte auch noch nicht unter den Toten. Meine Mutter war hier in diesem Raum. Sie saß aufrecht neben mir. Ich spürte ihre warme Hand, wie sie durch mein volles Haar fuhr, und atmete den lieblichen Geruch ihrer Haut. Alles war so, als wäre sie nie von uns weggegangen. Als wäre sie noch am Leben, und hier mit mir zusammen in diesem tapetenlosen, unfreundlich kalten Zimmer.

Vor lauter Angst, sie wieder zu verlieren, hielt ich meine Augen fest zusammengepresst. Ich wagte es nicht einmal, sie einen Spaltbreit zu öffnen. Aber Mutter ging nicht fort; sie blieb hier bei mir, legte sich neben mich aufs Bett, und zog mich behutsam und zärtlich an sich und in ihre Arme. „Weine mein Sohn, weine nur, es wird dir guttun!“, sagte sie mit ihrer gewohnt sanften Stimme. Ich fasste Mut und öffnete meine Augen. Es war kein Trugbild, und es war auch kein Traum. Mutter lag wirklich neben mir. Aber ihr Gesichtsausdruck war verändert. Er war nicht mehr derjenige, an den ich mich zuletzt erinnern konnte. Ihr Antlitz war wieder jugendlich frisch, und von faltenloser Reinheit. Die Spuren, die die böse Krankheit auf ihr Gesicht gezeichnet hatte, waren wie weggezaubert.

Lydia lächelte. Ihre unvergleichbar schönen Augen strahlten wie Sterne, genauso wie sie es früher, vor langer, langer Zeit immer getan hatten. Es ist Jahre her, seit ich meine Mutter das letzte Mal so glücklich gesehen habe. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt der eines verträumten Mädchens. Einer jungen Frau, die alle Zeit und die Freuden und Genüsse des Lebens noch vor sich hatte.

Mutters Stimme war sanft wie Velours, als sie nach einer kurzen Pause wieder zu mir sprach. „Lucas, mein geliebter Sohn. Gott hat meinem Wunsch entsprochen, und mich ein letztes Mal auf die Erde und zu dir kommen lassen. Aber meine Zeit ist kostbar und kurz bemessen.“ Ich begann erneut zu weinen und presste meinen Körper noch fester an sie. In meiner großen Verzweiflung klammerte ich mich an ihre Arme und versuchte, sie so für ewig bei mir zu behalten. „Weshalb kannst du nicht für immer hier bei mir bleiben? Ich habe solche Angst ohne dich weiterleben zu müssen. Ich fürchte mich vor meinem Stiefvater und ich fürchte mich vor meinem Leben!“

„Du brauchst dich nicht zu ängstigen, mein Kind! Auch wenn du mich auf Erden nie mehr sehen wirst, werde ich gleichwohl zu jeder Zeit in deiner Nähe sein. Und so Gott es will, werde ich über dich wachen, dir helfen, und für immer alles Böse von dir fernhalten. Und ich werde dort oben im Himmel auf dich und deine Geschwister warten.“

„Kannst du dich noch an meine lustigen Geschichten erinnern, die ich dir als kleiner Junge immer vor dem Einschlafen erzählt habe?“ „Ja“, flüsterte ich. „Wie hätte ich das vergessen können?“ Ich konnte mich noch gut an ihre Erzählungen erinnern, obwohl seither etliche Jahre vergangen waren. Es war in jener Zeit, in der mein eigener Vater noch da, und die Welt für uns alle voller Glück und Sorglosigkeit gewesen war.

„Lucas, mein geliebter Sohn. Hör mir jetzt aufmerksam zu. Ich werde dir eine ganz besondere Geschichte erzählen. Sie soll dir helfen, den Tod zu begreifen und deiner Zukunft einen Sinn zu geben. Meine Erzählung wird dir vieles erklären, das für dich bis jetzt im Dunkeln gelegen hat. Aber meine Geschichte soll dir auch Kraft und Mut geben. Es sind wichtige Elemente, die du für dein weiteres Leben brauchst.“

Aber diesmal war es kein Märchen, und es war auch keine von Mutters selbst erfundenen Geschichten, die sie mir vor dem Einschlafen oft erzählt hatte:

Erstes Buch

Vor achtzehn Jahren

Es war der fünfte Tag im Monat Juni des Jahres 1954. Lydia hatte die Zahl auf dem Abreißkalender in der Küche mit dicker, roter Farbe eingekreist. Heute war ihr vierzehnter Geburtstag. Das Besondere daran war, dass für sie ausgerechnet an diesem Tag ein lang ersehnter Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Lydia hielt das wichtige Schreiben in ihren Händen. Die nervenaufreibende Zitterpartie, die sie seit Monaten in Schach gehalten hatte, war für immer vorbei und endgültig überstanden.

„Ich kann es immer noch nicht glauben!“, sagte sie überglücklich. Aber da stand es schwarz auf weiß geschrieben: Sie gehörte der Gruppe Auserwählter an, die sich um einen Platz an einer der renommiertesten Musikschulen der Schweiz bewerben durfte.

Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte ihre Mutter keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Lydia die Vorausscheidung überstehen würde.

***

Es war ein Zeichen der Zeit, dass die Verantwortlichen des Konservatoriums bereits zum zweiten Mal den allseits geächteten „Numerus clausus“ anwenden mussten. Aber in diesem Jahr war die Ursache des Übels für einmal nicht finanzieller Art. Die Kredite für den Um- und Ausbau des schon lange geplanten Schulgebäudes waren gesichert. Sie waren schon vor Monaten durch die Eidgenossenschaft und den Kanton Zürich gesprochen worden.

Diesmal war die Beschneidung der Studienplätze zum einen beim fehlenden Lehrpersonal, und zum anderen bei der beschränkten Raumkapazität der Schule zu suchen. Die Hauptschuld trugen die festgefahrenen Verhandlungen im Zusammenhang mit der Vergabe der Neu- und Ausbauarbeiten der bestehenden Gebäude. Auch Interessenskonflikte, unnötige Einsprachen, und andere, weniger wichtige Probleme, hatten schon seit Längerem die definitive Vergabe der Aufträge blockiert. Man hoffte jetzt, mit dem Anrufen eines Schiedsgerichts, endlich einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Aber bis es so weit sein würde, würden bestimmt noch mehrere Monate ins Land gehen.

Das für die Auswahl der Kandidaten zustehende Gremium befand sich in einer noch schwierigeren Lage als im Jahr zuvor. Man suchte angestrengt nach einem Ausweg, um sich nicht erneut der öffentlichen Kritik aussetzen zu müssen. Nur zugut erinnerten sich die Verantwortlichen der gehässigen Artikel, die im Vorjahr die lokale Tagespresse während Tagen beherrscht hatten. Von Misswirtschaft, Nepotismus und fehlender Transparenz war die Rede gewesen. Geblieben waren viele unbeantwortete Fragen und ein verständliches Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Führungsteam des öffentlich-rechtlichen Instituts.

Der Geistesblitz, die angehenden Studenten mithilfe eines Wettbewerbes auszuwählen, stammte von einem aktiven Schüler des Konservatoriums. Im ersten Moment wurde seine Idee belächelt und als schwer realisierbar, oder zu aufwendig abgetan. Der Dekan war der Einzige gewesen, der ein Ohr für den Studenten gehabt, und seinen Vorschlag nicht vorzeitig zur Makulatur hatte verkommen lassen. Obwohl die Zeit relativ kurz bemessen war, war er der Ansicht gewesen, man sollte sich dennoch mit der Eingabe befassen. Nach einigen Überlegungen hatte er seine Lehrkräfte angewiesen, ein Konzept in diesem Sinne auszuarbeiten. „Sollte der Wettbewerb tatsächlich durchführbar sein, werde ich die Sache selbst in die Hand nehmen und in die Tat umsetzen“, hatte er dem Studenten versprochen. Mit seinem ansteckenden Enthusiasmus war es ihm schließlich gelungen, auch den Skeptikern vorerst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Verständlicherweise hatten es seine Untergebenen nicht gewagt, ihrem ranghöchsten Vorgesetzten zu widersprechen, und dies, obwohl sich zuvor eine Vielzahl gegen das Projekt ausgesprochen hatte. Nach einer turbulenten und selten langen Nachtsitzung, an der auch der Direktor des Konservatoriums und ein Mitglied der kantonalen Behörde teilgenommen hatten, konnte der Dekan auch noch die letzten Zweifler von seinem Vorhaben überzeugen.

Es waren hauptsächlich jene Lehrer, die kurz vor ihrer Pensionierung gestanden hatten, die sich zuerst vehement gegen die Umsetzung der Idee gewehrt hatten. Erstaunlicherweise waren sie es, die in der Folge mit dem größten Elan an der Weiterentwicklung des Gedankengutes arbeiten sollten.

Nach etwas weniger als zwei Wochen nahm der Vorschlag des Studenten konkrete Formen an. Weitere vier Tage später stand das definitive Konzept fest. Kurz darauf wurde folgendes Schreiben an die Interessierten versandt:

Sehr geehrte Kandidatin, sehr geehrter Kandidat,

Herzliche Gratulation! Die von Ihnen eingereichten Unterlagen und der Nachweis Ihrer bisherigen Ausbildung konnten berücksichtigt werden. Ihre Anmeldung für das kommende Semester wird demzufolge definitiv zugelassen.

Insgesamt sind bei unserem Sekretariat über zweihundert Bewerbungen eingegangen. Wir bedauern sehr, dass wir auch in diesem Jahr die Zahl der Zulassungen zu unserer Schule stark einschränken mussten. Einem ersten Evaluationsverfahren fielen leider bereits zweiundsiebzig Kandidaten, die sich für den Wettbewerb angemeldet haben, zum Opfer.

Leider stehen für das anstehende Semester pro Instrumentenkategorie nur je acht Studienplätze zur Verfügung. Eine bedauerliche und äußerst unbefriedigende Situation. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich die Lage vermutlich schon im nächsten Jahr spürbar entspannen wird. Wenn alles nach Plan verläuft, wird bis zu diesem Zeitpunkt der vorgesehene Neubau fertiggestellt sein. Bis es aber so weit ist, und wir die neuen Unterrichtsräume beziehen können, müssen wir uns mit den wenigen Studienplätzen begnügen, die uns zurzeit zur Verfügung stehen. Diesem Umstand wurde Rechnung getragen, indem wir auch in diesem Jahr das Prüfungsniveau nochmals leicht angehoben haben.

Um den verbleibenden Kandidaten die Chancengleichheit zu gewährleisten, wurde Folgendes beschlossen:

An sechs aufeinanderfolgenden Tagen wird den Auserwählten die Gelegenheit geboten, ihr Können unter Beweis zu stellen. Die zuständige Jury, die die Leistungen beurteilen wird, setzt sich aus sieben externen Lehrern, Experten und Musikkritikern zusammen. Nach Abschluss der Veranstaltung werden sie die Entscheidung treffen, wer ab nächstem Semester sein Studium an unserem Konservatorium aufnehmen wird.

Im Anhang erhalten Sie den Organisationsplan. Ihr Name und Ihre Kandidatennummer finden Sie in jener Instrumentenkategorie, für die Sie sich beworben haben.

Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass der Wettbewerb öffentlich ist. Es wäre für uns eine besondere Freude, wenn wir Ihre Angehörigen, Freunde und Verwandten an diesem wichtigen Anlass begrüßen dürften. Wie Sie sicher bereits aus der Presse erfahren haben, sind auch die Einwohner der Stadt Zürich berechtigt, als Zuschauer an unserer Veranstaltung teilzunehmen. Der Eintritt ist selbstverständlich frei. Angesichts der beschränkten Platzverhältnisse müssen wir Sie aber bitten, uns bis zum 20. Juli 1954 die Anzahl Personen bekannt zu geben, die sie zum erwähnten Anlass begleiten werden.

Für die bevorstehende Aufgabe wünschen wir Ihnen viel Freude und Erfolg.

Mit freundlichen Grüßen

Musikkonservatorium der Stadt Zürich

Der Direktor – Prof. Doktor H. Meier

Organisationsplan:

Montag, 11. August: 07.30–19.30: Holzblasinstrumente

Dienstag, 12. August: 07.30–19.30: Saiteninstrumente

Mittwoch, 13. August: 07.30–19.30: Tasteninstrumente

Donnerstag, 14. August: 07.30–19.30: Streichinstrumente

Freitag, 15. August: 07.30–19.30: Blechblasinstrumente

Samstag, 16. August: 07.30–19.30: Perkussionsinstrumente

Sonntag, 17. August: 14.30: Abschlussfeier

***

Diesmal hatte sich die Presse mit kritischen Kommentaren zurückgehalten. Entgegen allen Erwartungen hatten sich die Journalisten ausnahmslos auf die Seite der Organisatoren gestellt. Sie lobten die Verantwortlichen für ihre originelle Idee, die Aufnahme der Studenten ins Konservatorium, von einem Wettbewerb abhängig zu machen. Bei so vielen Vorschusslorbeeren wurde man das Gefühl nicht los, sie versuchten damit, die Unterstellungen des Vorjahres wieder wettzumachen. Positiver Nebeneffekt war, dass sie mit ihren durchwegs affirmativen Artikeln für hochwillkommene und kostenlose Publizität für das Konservatorium sorgten.

***

Die ersten Tage des zweiten Ausscheidungsverfahrens gehörten bereits der Vergangenheit an. Unerwarteter Weise zeigte sich Lydia an diesem Morgen besonders nervös, was gar nicht ihrem Charakter entsprach. Ihr Auftritt war für den kommenden Nachmittag geplant. Trotz Geraldines Vorbehalte hatte sie bis spät in die Nacht hinein verbissen an ihren musikalischen Werken herumgefeilt. Obwohl sie die Musikstücke meisterhaft beherrschte, war sie mit ihrer Leistung dennoch nicht vollauf zufrieden.

Lydia hockte lustlos am Frühstückstisch und bohrte mit dem langstieligen Löffel ein Loch in ihr dickflüssiges Fruchtmus. „Ich habe keine Ahnung, weshalb ich so aufgeregt bin“, gestand sie ihren Eltern. „Ein ungutes Gefühl sagt mir, dass ich versagen werde. Ich habe es sogar geträumt.“

„Ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, dass du es schaffen wirst!“ Geraldine versuchte ihrer Tochter Mut zu machen. Aber es gelang ihr nicht, sie zu beruhigen. „Falls es dich nervös machen sollte, werde ich selbstverständlich darauf verzichten im Publikum zu sitzen. Ich kann ebenso gut im Vorraum warten und dir dort die Daumen drücken. Ich bin mir sicher, dass bestimmt alles gut gehen wird!“ Geraldine konnte an Lydias ernstem Gesichtsausdruck ablesen, dass ihre sorgfältig gewählten Worte das erhoffte Ziel ganz offensichtlich verfehlt hatten.

„Du enttäuschst mich!“, sagte sie nach einer langen Schweigeminute. „Was ist nur aus deiner beinahe schon legendären Selbstsicherheit geworden?“ Geraldine war gereizt. Es war nicht das erste Mal, dass sie Lydias Perfektionswahn in Wallung brachte. „Du bist aufs Beste vorbereitet! Entscheidend ist, dass du nicht vergisst, kurz vor dem Spiel dein mentales Training durchzuführen. Es wird dir wie immer helfen, dich zu entspannen, deine Konzentration anzuregen und die Menschen um dich herum zu vergessen. Kannst du dich noch an den Kinderwettbewerb in Basel erinnern? Obwohl das Ganze nun schon etliche Jahre zurückliegt, kann ich das Ereignis bis heute nicht vergessen. Du warst damals genauso nervös gewesen und trotzdem hast du es bis zum Finale gebracht. Wäre da nicht die Sache mit dem leidigen Unfall gewesen… Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen. Jetzt gilt es, an heute und an die tolle Herausforderung, die dich erwartet, zu denken.“

***

Lydias Auftritt war für 14 Uhr vorgesehen. Bis zu ihrem Debüt blieben ihr also noch gut sechs Stunden Zeit. Dass Lydia diese nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, war vorauszusehen gewesen. Sie bat um Erlaubnis, den Frühstückstisch verlassen zu dürfen. „Ich an deiner Stelle würde das nicht tun“, riet Geraldine. Sie hatte Lydias Absicht erraten. „Wenn du jetzt wieder in die Tasten greifst, wird es dich noch nervöser machen, als du es ohnehin schon bist.“ Aber Geraldine gelang es nicht, ihre Tochter von ihrem Vorhaben abzuhalten. „Bitte, bitte Mum“, flehte sie, setzte sich, ohne Geraldines Antwort abzuwarten, auf den noch warmen Klavierstuhl und begann nochmals diejenigen Musikstücke zu repetieren, die sie für den Wettbewerb vorgesehen hatte.

„Ausgezeichnet! Absolut fehlerfrei!“, versicherte Lydias Mutter. Obwohl sie dagegen gewesen war, hatte sie aufmerksam am Küchentisch sitzend das Spiel ihrer Tochter mitverfolgt. Ihre Begeisterung und ihr Lob waren echt. „Wenn du heute Nachmittag nur annähernd so gut spielst wie jetzt, wirst du bestimmt mühelos die übrigen Kandidaten in deinem Fach ausstechen!“ „Du bist die beste Mutter der Welt!“, lachte Lydia, küsste Geraldine auf die linke Wange und tanzte wie wild durch den Raum. Auch sie war nun endlich davon überzeugt, dass ihr ihre Aufgabe gelingen wird.

***

„Ich bin außerordentlich glücklich, Sie im Haus der Künste begrüßen zu dürfen“, versicherte der Leiter des Gremiums. Seine Stimme war sanft und von einer wohltuenden Wärme. Lydia war irritiert. Sie versuchte, den ihr unbekannten Mann unter den Jurymitgliedern auszumachen. Die Stimme gehörte Ezra Goldsteyn. Mit seinen erst 32 Jahren zählte er bereits zur Elite der europäischen Violinisten. Es war als besonderes Ereignis zu werten, dass es der Schule gelungen war, ihren ehemaligen Studenten als Experten kurzfristig unter Vertrag zu nehmen. Für das Konservatorium war Ezra Goldsteyn ein Hochwillkommener, wenn auch nicht ganz billiger Werbeträger. „Die Direktion hat mir aufgetragen, mich bei meinen einleitenden Bemerkungen kurz zu fassen. Da ich mir mit der Gewalt des Wortes sowieso schwer tue, beschränke ich mich darauf, Ihnen für den bevorstehenden Wettbewerb von Herzen viel Erfolg zu wünschen. Meine Kollegen und ich sind gespannt auf Ihre Darbietungen.“

***

Die ersten Kandidaten hatten ihren Auftritt in Lydias Kategorie hinter sich gebracht. Nun war Geraldines Tochter an der Reihe, ihr Können unter Beweis zu stellen. Ezra Goldsteyn rief Lydia Belloni auf, sich zum Klavier zu begeben.

Geraldines Prognose wurde schon nach wenigen Takten zur absoluten Gewissheit: Ihre Tochter überraschte und überzeugte beinahe augenblicklich mit ihrem außergewöhnlich brillanten Spiel. Kaum hatte Lydia das erste Musikstück beendet, wurde sie mit stürmischem Applaus aus dem Saal belohnt. Ezra Goldsteyn und die Mitglieder der Jury tauschten vielsagende Blicke. Die meisten Zuhörer hatten sich von ihren Sitzen erhoben und klatschten Lydia lautstark Beifall. Lydia hatte ihr Selbstvertrauen offensichtlich wiedergewonnen. Sie erhob und verneigte sich locker vor der Jury und ihrem Publikum, als hätte sie in ihrem jungen Leben nie etwas anderes getan. Dann setzte sie sich erneut ans Klavier. Ihre schlanken, langen Finger tanzten wieder auf den Tasten und verwöhnten und überraschten die Anwesenden mit ihrem perfekten Spiel. Lydia reizte die vorgegebene Zeit bis zur letzten Minute aus. Genau dreißig Minuten und keine Sekunde mehr!

Das Licht der Scheinwerfer verließ die Szene und schwenkte zur Jury. Ezra Goldsteyn hatte sich erhoben und ging zum Rednerpult. Einige Augenblicke hantierte er erfolglos an der Stange seines Mikrofons herum. Für seine Körpergröße war es eindeutig zu tief eingestellt. Ein weiteres Mitglied der Jury eilte ihm zu Hilfe. Nach einigen Sekunden der Nervosität ließ sich das Gerät dann doch noch in die gewünschte Position bringen.

„Ich war noch nie besonders begabt in technischen Angelegenheiten“, entschuldigte sich Goldsteyn grinsend. „Es steht mir nicht zu dem Urteil der Jury vorzugreifen. Aber ich darf mit gutem Gewissen sagen, dass mir Fräulein Bellonis Darbietung besonders gut gefallen hat. Wie ich feststellen konnte, ist das Publikum hier unten im Saal ganz meiner Meinung. Die Leistung dieser jungen Dame hat ohne Zweifel das Prädikat ‚bemerkenswert‘ verdient.“

Lydia war das wilde Flackern in Goldsteyns Augen nicht entgangen. Und wieder war sie irritiert. Ihr Herz klopfte dermaßen laut, dass sie Angst hatte, jedermann im Raum könne es hören. Vor wenigen Minuten noch hatte sie am Klavier gesessen, selbstsicher und unbeschwert. Und jetzt hatte sie das Gefühl, als balanciere sie auf einer schwimmenden Eisscholle, von der sie jeden Augenblick ins eiskalte Wasser fallen konnte. „Bestimmt haben es alle gesehen, wie ich ihn angestarrt habe!“, dachte sie beschämt. „Was ist nur mit mir los?“

Der kräftige Applaus schien kein Ende zu nehmen. Das Klatschen des Publikums und ihre Rufe nach Zugabe rissen Lydia aus ihren Gedanken. „Darf ich Sie nochmals kurz ans Klavier bitten?“, fragte Goldsteyn. „Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie uns eine kleine Zugabe offerieren könnten. Sie bereiten damit nicht nur unserem charmanten Publikum, sondern auch mir und der Jury ein ganz besonderes Vergnügen.“

Lydia bedankte sich mit einem kurzen Knicks. Dann setzte sie sich wieder an den Konzertflügel. Sie fühlte sich plötzlich frei wie ein Vogel. Vorbei die Angst des Versagens. Sie hatte den obligatorischen Teil ohne Fehler hinter sich gebracht. Ein überschäumender Enthusiasmus nahm von ihr Besitz. „Chopin! Wie hätte es anders sein können? Selbstverständlich Chopin!“, frohlockte Geraldine unten im Saal. Sie war wieder einmal den Tränen nahe.

***

Geraldine hatte ungeduldig im angrenzenden Foyer auf ihre Tochter gewartet. Kaum hatte sie Lydia entdeckt, bahnte sie sich einen Weg durch den überfüllten Raum. „Ich bin so stolz auf dich“, versicherte sie ihrer Tochter und empfing sie in ihren weit geöffneten Armen. Den Kampf gegen ihre Tränen der Freude und des Glücks hatte sie schon lange aufgegeben. Selbst Lydia gelang es nur schwer, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie dachte an ihr Spiel, aber auch an das mysteriöse Licht in Ezra Goldsteyns grünen Augen.

Obwohl es für eine junge Frau in ihrem Alter absolut normal war, dass sie für das andere Geschlecht Interesse zeigte, versetzte sie der Gedanke daran in helle Aufregung. Ihr Verstand sagte, dass sie nicht mehr an Goldsteyn denken, und ihn und seine Augen so schnell wie nur irgend möglich vergessen sollte! Sie hatte ihre Familie und sie hatte ihre Musik. Für einen Mann war da noch für lange Jahre kein Platz zu vergeben! Aber je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger wurde es für sie, sich von ihren Gedanken an den attraktiven Mann zu lösen. In diesem Moment stand für sie bereits fest, dass ihr die unerwartete Begegnung mit Goldsteyn eine schlaflose Nacht bescheren würde.

***

Auf eine außergewöhnlich warme Nacht folgte ein strahlender Sonntagmorgen. Die Kandidaten des Musikwettbewerbs waren eingeladen worden, sich um zehn Uhr im großen Saal des Konservatoriums einzufinden.

„Ich will Sie nicht länger als unbedingt notwendig auf die Folter spannen“, versicherte Professor Dr. Meier, Direktor des Konservatoriums. Die letzten Worte der Begrüßung und ein kurzer Kommentar zum Wettbewerb waren schnell gesprochen.

„Kommen wir also zum Resultat unseres diesjährigen Wettbewerbs: Folgende Kandidatinnen und Kandidaten haben sich mit ihrem Einsatz definitiv einen Studienplatz an unserer Schule gesichert.“ Dann las er bedächtig, in alphabetischer Reihenfolge und nach Kategorie, die Namen der Auserwählten. Lydia hielt den Atem an.

„In der Kategorie Tasteninstrumente hat die Jury ihre Stimme folgenden Anwärtern gegeben: „Andina Pièrre, Abderhalden Franca, Belloni Lydia, Kästli Anna, Langenegger Franz, Niederberger Erwin und Steinegger Hans.“

„Liebe Kandidatinnen liebe Kandidaten. Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich sage, dass ihre Leistungen ausnahmslos lobenswert waren. Sie dürfen mir Glauben schenken, wenn ich Ihnen sage, dass ich am liebsten alle Teilnehmer des Wettbewerbs als zukünftige Studenten an unserer Schule begrüßt hätte. Zu meinem Leidwesen ist dies, wie schon mehrmals erwähnt, auch diesmal nicht möglich. Wie Sie unserem Schreiben entnehmen konnten, musste die Messlatte für die Zulassung auch in diesem Jahr erneut auf einem sehr hohen Niveau angesetzt werden. Diejenigen unter euch, die nicht zu den Glücklichen zählen, bitte ich um Nachsicht. Angesichts ihrer durchwegs guten Darbietungen bin ich aber zuversichtlich, dass sie es im nächsten Jahr schaffen werden. Ich fordere die nicht berücksichtigten Kandidaten deshalb auf, sich diese Gelegenheit unter keinen Umständen entgehen zu lassen. Schreiben Sie sich nächstes Jahr nochmals bei uns ein. Ihnen bleibt jetzt ausreichend Zeit, Ihr Können zu verbessern und sich intensiv auf ein erneutes Vorspielen vorzubereiten. Den Teilnehmern und Teilnehmerinnen aber, die es in diesem Jahr geschafft haben, gratuliere ich herzlich und beglückwünsche sie zu ihrer ausgezeichneten Leistung. Der Moment, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, liegt aber auch für sie noch in weiter Ferne. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass das Studium, das hier ab nächstem Semester auf die Auserwählten wartet, sehr, sehr anspruchsvoll sein wird. Aber lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen. Omen Printmedium diffizile!Alle Teilnehmer am diesjährigen Wettbewerb, ihre Freunde und Angehörigen, lade ich herzlich ein, sich am Nachmittag um vierzehn Uhr zur großen Abschlussfeier in unserer Aula einzufinden. Lassen Sie mich Ihnen nochmals für Ihren außerordentlichen Einsatz danken. Ich wünsche Ihnen, sei es nun an dieser Schule oder sonst irgendwo auf dieser wunderbaren Welt, beste Gesundheit und viel Glück für Ihre weitere Zukunft.“

***

Die Abschlussfeier fand in der Aula des Konservatoriums statt. Das Auditorium, berühmt für seine außergewöhnliche Akustik, war zum Bersten voll. Der Anlass gehörte ausschließlich den Kandidaten, ihren Angehörigen und Freunden. In der vordersten Reihe sah man die höchsten Vertreter der städtischen Behörden. Lydias Eltern hatte man einen Ehrenplatz zugewiesen; sie saßen neben dem Stadtrat und der jungen Gattin des Direktors der Schule. Noch wussten Geraldine und Riccardo nicht, weshalb man ausgerechnet diese Plätze für sie reserviert hatte.

Pünktlich um 14 Uhr eröffnete der Direktor des Konservatoriums den offiziellen Teil der Feier. Er bedankte sich nochmals bei den Teilnehmern, ihren Eltern und Verwandten für das große Interesse, das sie seiner Schule entgegenbrachten.

„Ich erteile nun dem Leiter der Jury, Herrn Ezra Goldsteyn, das Wort. Wie Sie bestimmt wissen, ist er ein ehemaliger Schüler dieses Instituts. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass es für unser Konservatorium eine ganz besondere Genugtuung ist, dass uns Herr Goldsteyn trotz seiner reich gefüllten Agenda mit seiner Anwesenheit beehrt und an diesem Wettbewerb teilgenommen hat.“ Er schüttelte Goldsteyn die Hand, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, und überließ ihm dann den Platz am Rednerpult.

„Liebe Gäste, liebe Teilnehmer an diesem Wettbewerb. Ich schätze mich glücklich, dass ich an diesem ganz besonderen und beeindruckenden Anlass teilhaben durfte. Ich danke meinem ehemaligen Lehrer, Herrn Professor Dr. Meier, dass er mich mit dieser, wirklich nicht leichten Aufgabe betraut hat. Was ich hier in den vergangenen Tagen zu hören bekommen habe, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Die Interpretationen lagen auf einem Niveau, das für Kandidaten in diesem Alter als außergewöhnlich hoch bezeichnet werden darf. Wie dies bei jedem Wettbewerb der Fall ist, gibt es auch hier bei uns einige glückliche, aber leider noch mehr enttäuschte Gesichter. Jenen Teilnehmern, die in diesem Jahr nicht berücksichtigt werden konnten, darf ich versichern, dass ihre Aufführungen ohne Ausnahme vielversprechend waren. Lassen Sie sich nicht entmutigen. Arbeiten Sie weiterhin fleißig an sich und an ihrem Talent. Der Erfolg ist Ihnen jetzt schon sicher!

Bevor wir nun zur offiziellen Feier und zur Übergabe der Zulassungspapiere schreiten, bitte ich Fräulein Lydia Belloni, hier zu mir auf die Bühne zu kommen.“ Lydia war sichtlich irritiert. Sie zitterte am ganzen Leib. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie sich aufgeregt. Ihre Gedanken rasten. Panik erfasste sie. „Bitte schön“, wiederholte Goldsteyn mit einer einladenden Handbewegung. Lydia erhob sich zögernd. „Keine Angst, meine junge Dame, bei mir sind Sie gut aufgehoben“, ermutigte sie Goldsteyn. Amüsiertes Lachen erfüllte den Saal.

Lydia mühte sich die wenigen Stufen zur Bühne empor. Ezra Goldsteyn hatte ihre Gemütsbewegung bemerkt. Er kam ihr sofort entgegen, nahm ihre Hand, und führte sie in die Mitte der Szene. Als ihr Goldsteyn nun direkt gegenüberstand, entdeckte Lydia wieder das leidenschaftliche Licht seiner grünen Augen. Sie spürte die unheimliche Faszination, die von diesem Mann ausging. Lydia fühlte sich unwohl, ertappt und ihrer ganz persönlichen Gefühle beraubt. Am liebsten wäre sie auf der Stelle davongerannt.