Kommissar Cervoni - Tessiner Fall - Marc Maurer - E-Book

Kommissar Cervoni - Tessiner Fall E-Book

Marc Maurer

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Beschreibung

"Mysteriöser Todesfall im Castelgrande". Die Zeitungsschlagzeile sorgt für Gesprächsstoff im Kanton Tessin. Doch wer ist das Opfer? War es Suizid, Mord oder gar das Ende eines tragisch verlaufenen Sexabenteuers? Der berühmte Schweizer Kriminalkommissar Cervoni ermittelt. Die komplexen Geschehnisse stellen ihn vor ein großes Rätsel; auch für ihn ist es alles andere als einfach, den Fall aufzuklären. Gibt es Beziehungen zur Mafia? Da kommt unvorhergesehen eine gefährliche, weltweit agierende Sekte ins Spiel. Ist sie der Schlüssel zur Lösung? Kommissar Cervoni sieht endlich Licht am Ende des Tunnels …

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Seitenzahl: 594

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Inhalt

Impressum 5

Widmung 6

Danksagung 7

Bellinzona 8

Lausanne 14

Bellinzona 17

Lausanne 25

Bellinzona 38

Lausanne 146

Bellinzona 157

Lausanne 161

Bellinzona 166

Lausanne 172

Bellinzona 178

Lausanne 188

Bellinzona 192

Lausanne 196

Bellinzona 202

Lausanne 204

Bellinzona 207

Lausanne 210

Bellinzona 217

Lausanne 223

Bellinzona 227

Lausanne 232

Bellinzona/Bern 237

Lausanne 242

Bern 249

Lausanne 253

Bern 261

Bellinzona 267

Lausanne 272

London 274

Chelmsord 280

Bellinzona 284

London 287

Bellinzona 290

London 292

Lausanne–London 295

Bellinzona 300

Lausanne 305

Bellinzona 313

London 316

Lausanne 319

London 322

Lausanne 328

Bellinzona 333

Lausanne 337

Bellinzona 340

Lausanne 343

Bellinzona 354

Lausanne 359

Bellinzona 366

Lausanne 369

Bellinzona 371

Lausanne 384

Bellinzona 386

Lausanne 390

Bellinzona 393

Lausanne 397

Bellinzona 401

Lausanne 406

Bellinzona 409

Lausanne 417

Bellinzona 421

Sarine 428

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-143-1

ISBN e-book: 978-3-99130-144-8

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfoto: Marlon Trottmann, Roger Costa Morera | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für Paola

Danksagung

Meiner Betreuerin, Frau Sansarah Hammer, und meiner Lektorin, Frau Dr. Annette Debold, bin ich für ihre Anregungen sehr verbunden. Ein Dank geht auch an das Grafik-Team und an alle übrigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des novum Verlages.

Bellinzona

Die Notiz beschränkte sich auf gerade mal zehn armselige Zeilen. Aber die Annonce brachte es, und das sollte sich schnell als unheilvoller Beschluss herausstellen, dennoch auf die Frontseite der Bellenzer Tageszeitung La Regione:

„Mysteriöser Todesfall im Castelgrande“

„Merda! Und ausgerechnet an einem Samstag!“, lamentierte der Sindaco der Kantonshauptstadt. Der Magistrat stand mit seiner Überlegung beileibe nicht allein da.

„Exakt zur Hochsaison!“, ärgerte sich auch der regionale Direktor für Tourismus, Aldo Bernasconi: „Als ob wir nicht schon genug Probleme mit den beharrlich sinkenden Fremdübernachtungen hätten!“

Wenn es das Wetter zuließ, und dies war heute, nach einer zweiwöchigen Regenpause, glücklicherweise wieder einmal der Fall, erschien es Aldo Bernasconi opportun, sich am letzten Tag der Woche in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es war nicht etwa so, dass er dies als Leistungssoll empfinden oder ihm solches gar schwerfallen würde. Nein, ihm dies zu unterstellen wäre schlichtweg gelogen! Wer Bernasconi kannte, wusste, dass er es im wahrsten Sinne des Wortes genoss, sich unter das Fußvolk zu mischen; sich da und dort selbst ein Bild über Erfolg oder Fehlschlag seiner vor Monaten gestarteten Werbekampagne zu machen. Ein zeitraubender, mit staatlichen Mitteln geförderter Feldzug, der dem dahinsiechenden Lokaltourismus, so hofften die Initianten, neues Leben einhauchen sollte.

Samstags, und immer um diese Uhrzeit, die Glocke im rechteckigen Turm der unweit gelegenen Chiesa San Biagio hatte soeben neun geschlagen, begegnete man Signor Bernasconi im Peverelli, einem in einem historischen Gebäude untergebrachten und allgemein gut frequentierten Straßencafé auf der Piazza Collegiata.

Aldo Bernasconi hatte die verhängnisvolle Notiz soeben druckfrisch dem Quotidiano entnommen. Im friedlichen und erwiesenermaßen sicheren Ort wie Bellinzona, wo tragische Begebnisse dieser Art Seltenheitswert hatten, war die kühne Mutmaßung des für den Artikel verantwortlichen Reporters, es könnte sich bei dem Vorfall sogar um einen gemeinen Mord handeln, eine geradezu traumatische Meldung; ein journalistischer Reißer, dazu angetan, die Einwohner der Stadt aufzuschrecken und selbstverständlich, wer könnte es ihnen verübeln, die gedruckte Ausgabe zu kaufen. Für den leidgeprüften Bernasconi, Verantwortlicher des Dikasterions für Tourismus, war es bereits der zweite Tiefschlag, den er an diesem Morgen verkraften musste. Den ersten Hieb hatte ihm seine streitsüchtige Ehefrau beim Frühstück geradezu viehisch versetzt; ihm damit, und das war beileibe nichts Außergewöhnliches, den Tag zu vergraulen versucht. „Was ist nur aus dem schüchternen Mädchen von damals geworden, der jungen Frau, die ich vor zweiundzwanzig Jahren mit einem wertvollen Verlobungsring gelockt und an mich gebunden habe?“, fragte sich Bernasconi gelegentlich. Trotz aller Anstrengungen war es ihm bis dato nicht gelungen, eine passende Antwort auf seine zugegebenermaßen nicht ganz haltlose Frage auszuloten.

Der allwöchentlich stattfindende Markt, begünstigt durch das ungewöhnlich vorsommerliche Klima, hatte, wie seit Wochen nicht mehr, unzählige Touristen angelockt. Der Großteil war mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus der deutschsprachigen Schweiz angereist. In wenigen Stunden würden sie wieder geordnet und in Grüppchen, einer Herde Schafe gleich, die wartenden Autobusse besteigen und durch den Straßentunnel des Gotthardpasses zurück in ihre Orte fahren. Aber nicht nur Gäste anderer Kantone, auch viele Einheimische konnte Bernasconi ausmachen. Es waren die üblichen Gesichter, die schon zu früher Stunde bei den Landwirten ihr Gemüse, frische Früchte, Holzofenbrot, grillierte Hähnchen und anderes mehr kauften; um sich dann vielleicht mit ihren gefüllten Einkaufstaschen zum Kaffee oder Aperitif in eines der beschaulichen Restaurants zu einem Schwatz zu setzen. Für ausreichend Gesprächsstoff hatte die heutige Ausgabe der La Regione jedenfalls gesorgt.

Bernasconi spürte das Oszillieren seines mobilen Telefons in der Gesäßtasche seiner Hose. Er hatte das Gerät bewusst auf stumm geschaltet. Das tat er immer so, wenn er unterwegs war. Er nahm sein Handy hervor. Aber bevor er auf die Antworttaste drückte, überprüfte er neugierig das Display mit der leuchtenden Nummer des eingehenden Telefonats. Die Zahlenreihe kam ihm bekannt vor. „Ciao Aldo!“ Es war Sergio Antonioni, ausgewiesener Kriminologe bei der hiesigen Kantonspolizei. Außerdem, und darauf war Bernasconi besonders stolz, durfte er Sergio als einen seiner besten Freunde wähnen. „Hast du heute Morgen die Zeitung schon gelesen?“ „Der Artikel war nicht zu übersehen“, bemerkte Aldo Bernasconi trocken. „Du sagst es, merda!“, fluchte Antonioni. „Ausgerechnet eben, wo ich mir eine Woche Urlaub nehmen wollte. Und jetzt dieses Malheur! Es ist immer dasselbe; wenn ich einige Ferientage programmiere, ereignet sich unweigerlich etwas, das mein Vorhaben zunichtemacht! Meine Gattin wird mich in Stücke reißen.“ „Ist die Identität des oder der Toten schon bekannt?“, erkundigte sich Bernasconi faustisch. Die Frage brannte wie ein angefachtes Zündholz auf seiner Zunge. „Wir haben in der Angelegenheit vorderhand einen Maulkorb verpasst bekommen“, tuschelte Sergio. „Am Telefon darf ich mich dazu im Moment ganz und gar nicht äußern. Aber, solltest du es für einen Sprung nach Bellinzona schaffen, kann ich dich, sagen wir mit zwei oder drei aufregenden Informationen versorgen. Dazu habe ich die Befugnis. Unser Staatsanwalt, Alessio Remonte, hat mich höchstpersönlich dazu bemächtigt. Spätestens, wenn die Angehörigen gefunden und benachrichtigt wurden, wird der Name des Opfers sowieso publik werden.“

Sie verabredeten sich im Croce Federale.

***

Das Croce Federale, ein geschichtsträchtiges Lokal, an Bellinzonas wichtigster Fußgängerzone, der Viale della Stazione, gelegen und mit Blick auf das Kulturerbe der UNESCO – die Bellenzer Schlösser –, war, wie meist um diese Uhrzeit, rappelvoll. Auf der Veranda des Cafés, dort, wo sich Aldo Bernasconi mit Antonioni verabredet hatte, war kein freier Platz auszumachen. Deshalb wartete er im klimatisierten Foyer auf Sergios Auftauchen. Er brauchte sich nicht lange zu gedulden: Minuten später gesellte sich Antonioni zu ihm.

„Denkst du nicht auch, dass es noch ein wenig früh für ein Bianchino ist?“, fragte er seinen Freund augenzwinkernd. „Dann machen wir eben heute eine Ausnahme von der Regel“, schlug Bernasconi verschwörerisch vor und bestellte beim vorbeieilenden Cameriere „Due Frizzanti, per favore“. „Sobald sich hier etwas bewegt, werde ich Ihnen einen Tisch freimachen“, versprach der Kellner, der ihnen, bis es so weit sein würde, ein erstes Getränk an der Bar servierte.

„Also“, schnitt Aldo das brisante Thema an. „Heraus mit der Sprache! Wer ist das Opfer?“ Antonioni gab sich bedeckt. Es bereitete ihm augenfällig Vergnügen, seinen Freund ein Weilchen schmoren zu lassen. Nach einer schmerzlichen Schweigeminute, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass auch ja niemand ein Quäntchen ihres Gesprächs mitbekommen konnte, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand: „Es handelt sich um eine hiesige Persönlichkeit, männlichen Geschlechts. Den meisten Bewohnern Bellinzonas ist sein Name ein Begriff!“ Bernasconi rutschte ungeduldig auf seinem Barhocker. „Scheißkerl! Mach es nicht so spannend! Wer ist der große Unbekannte?“ Antonioni schmunzelte. „Anselmo!“ „Don Anselmo? Doch nicht etwa Anselmo Pizzantini?“ Aldo schaute seinen Freund verstört an, als hegte er Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. „Du hast es auf den ersten Anhieb erraten!“, erlöste ihn Antonioni aus seiner Erstarrung. „Aber nicht nur die Identität des Opfers ist spektakulär. Auch der Ort, wo man seine Überreste aufgefunden hat, ist eher außergewöhnlich. Der Custode des Castelgrande, Nunzio Papardellis, hat Anselmos Leiche gestern am späteren Nachmittag während seines obligaten Rundgangs in der Torre Nera entdeckt. Aufgehängt wie ein geschlachtetes Schwein vor seiner Zerteilung!“ „Doch nicht etwa Selbstmord?“, unterbrach ihn Bernasconi. „Wenn es so einfach wäre! Ein Suizid würde mir ehrlich gesagt besser in den Kram passen“, beteuerte Antonioni. „Auch wenn ich mir noch keinen Reim darauf machen kann, weshalb er für seinen Abgang ausgerechnet die ‚Torre Nera‘ auserkoren hat, bestehen für mich etliche Zweifel, dass er aus eigenem Antrieb aus dem Leben geschieden ist. Dafür spricht der Zustand, in dem man seine Leiche lokalisiert hat. Und, nicht zu vergessen, der Ort des tragischen Geschehens. Alles Fakten, die meines Erachtens die Eventualität eines Suizids von vorneherein als Todesursache ausschließen. Nur, und damit war zu rechnen, ist Alessio Remonte, der Bellenzer Staatsanwalt, einmal mehr anderer Meinung.“

Bernasconi hatte sich wieder gefangen. Der anfängliche Schock verebbte und trat seinen Platz der Neugier ab. „Du sagst unter anderem, dass der Zustand der gefundenen Leiche Bedenken an einem Freitod zulässt. Die Natur hat mich mit einer gewissen Vorstellungskraft ausgestattet, aber ehrlich gesagt, ohne weitere Angaben kann ich deiner Argumentation nicht ganz folgen. Was genau willst du mit dem Wort Zustand sagen?“, drängte Bernasconi.

Antonioni ließ sich auch jetzt nicht in die Karten schauen: „Bevor ich zu den unappetitlichen Details komme, gilt es zu betonen, dass wir es bei meiner Überlegung vorerst mit einer eher lapidaren, aber ganz persönlichen Mutmaßung zu tun haben. Allein, es gilt zuerst das Resultat der Autopsie abzuwarten, bevor ich mich definitiv auf die eine oder andere Theorie festlege. Pizzantinis Leichnam befindet sich zurzeit in der Pathologie in Locarno. Genaueres wird uns der Gerichtsmediziner, so hoffe ich wenigstens, in ein bis zwei Tagen eröffnen. Nun zu den versprochenen Einzelheiten, die eigentlich schnell aufgezählt sind: Don Anselmo wurde erhängt. Aus unerklärlichen Gründen wurde ihm zuvor ein Plastiksack über den Kopf gestülpt. Zum augenblicklichen Zeitpunkt steht noch offen, ob der Tod durch Erhängen oder durch Ersticken eingetreten ist. Meines Erachtens eine nicht unwesentliche Frage. Ist Don Anselmo zuerst erstickt, können wir davon ausgehen, dass er schon tot war, als man ihn aufknüpfte. Bis zum endgültig vorliegenden Bericht der Pathologie ist jedoch nichts bewiesen. Damit nicht genug! Ein nicht unbedeutendes und eher ärgerliches Problem stellt das Verschwinden von Don Anselmos Gattin und ihrer Söhne dar. Wir hoffen, Ihnen ist nichts zugestoßen. Zurzeit sind die Spezialisten der forensischen Abteilung daran, den Turm, in dem man Pizzantinis leblosen Körper geortet hat, nach verwertbaren Indizien abzusuchen. Viel erwarte ich mir allerdings nicht davon. Ich habe selbst einen Augenschein vorgenommen und nichts Abnormes bemerkt.“

Lausanne

Kommissar Piero Cervoni hatte sich im Café Romand, am Place Saint François, mit Béatrice, seiner Assistentin, verabredet. Sie traf mit vertretbarer Verspätung im überfüllten Bistro ein. Seine Kollegin brauchte etwas Geduld, um ihn im düsteren Lokal auszumachen. „Ich wollte mich soeben davonstehlen“, scherzte Piero, als sie spürbar nervös vor ihm stand. Vermutlich, aber ungewollt war der Ton seiner Bemerkung etwas zu streng ausgefallen, denn Béatrice ereiferte sich das Motiv ihrer Nachzeitigkeit sofort klarzulegen: „Diesmal trifft mich ganz bestimmt keine Schuld! Zuerst hat mich die Vermieterin meiner Wohnung wegen einer banalen Sache, der Neuorganisation der Terminagenda für die sich im Gemeingebrauch befindliche Waschmaschine, aufgehalten, und dann ist mir auch noch die Metro direkt vor der Nase davongefahren.“ Ihre aufgesetzten Wimpern klimperten tonlos im Rhythmus ihrer Stimme. „Schon gut!“, versicherte Cervoni. „War ja nur als Scherz gedacht. Übrigens, du siehst reizend aus.“ Sein Kompliment war ehrlich gemeint. Wegen ihres leichten Sommerkleidchens und ihres zu einem Pferdeschwanz gezähmten Haares hätte man ihren Jahrgang leicht auf unter zwanzig geschätzt. Dabei war sie schon beinahe dreißig und, was eher ungewöhnlich für ihre attraktive Erscheinung war, noch zu haben. Ihre Eltern hätten ihre Tochter gerne in einem soliden Verhältnis gewusst. Und vor allen Dingen warteten sie sehnsüchtig auf Nachwuchs. Ein frommer Wunsch, der sich wohl nicht so schnell würde befriedigen lassen. Darauf angesprochen, war Béatrice nicht verlegen ausreichende und vor allen Dingen evidente Gründe aufzuzählen, die allesamt gegen den Bund fürs Leben sprachen. Ihr Beruf und ihre Unabhängigkeit waren ihr im Moment weitaus wichtiger als die vielgepriesene Sicherheit, die eine Trauung – wollte sie vehementen Befürwortern der ehelichen Verbindung Glauben schenken – mit sich bringen würde. Der Beweis, dass sich dieser Zustand eines Tages doch noch einstellen würde, war nirgends niedergeschrieben. Zudem, einen festen Partner und obendrein zwei, drei lebhafte Kinder konnte sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorstellen. Die wären zum jetzigen Zeitpunkt nur lästig. Wenn sie an ihre familiengestressten Schulkameradinnen von damals dachte, konnte sie an ihrer eigenen Lage in der Tat wenig Nachteiliges ausmachen. Es war nicht etwa so, dass sie eine versteckte lesbische Veranlagung in sich herumtrug. Nein, daran lag es ganz bestimmt nicht! Aber nach zwei gescheiterten, nur wenige Monate dauernden Liebschaften konnte sie ihrer wiedererlangten Freiheit bloß Positives abgewinnen. Das Entscheidende an ihrem Singledasein war, dass sie sich voll und ganz ihrem Beruf widmen konnte. Und da gab es noch ein weiteres Motiv, das ebenso wichtig wie das Vorhergesagte war: Ein markanter Teil ihrer Freizeit gehörte den Pferden. Sie liebte diese Tiere, ihren Geruch, ihre Sensibilität und bedingungslose Verbundenheit. Pferde waren ihr sogar bedeutungsvoller als ihre eigene Familie. Eine Grundwahrheit, die sie gegenüber ihren Eltern und ihrem einzigen Bruder selbstverständlich nie eingestanden hätte. Jeden Abend, und besonders sonntags, wenn sie nicht Dienst leistete, verbrachte sie in den Ställen oder ritt auf ihrem Lieblingspferd Acacia über die breiten Felder und durch die tiefen Wälder oberhalb Lausannes.

„Nein ehrlich“, bekräftigte Piero, „du siehst total umwerfend aus. Ein Jammer nur, dass wir beruflich liiert sind, sonst hätte ich dich längst schon umworben!“ Béatrice konnte Cervoni gut leiden. Sie arbeitete nun schon etwas mehr als zwei Jahre mit ihm zusammen. In dieser Zeit hatte sie ihn durchschaut und vor allen Dingen gelernt, seine charmanten Komplimente nicht allzu ernst zu nehmen, obwohl sie sich eine etwas tiefergehende Beziehung gut hätte vorstellen können. Wohl wissend, dass es Piero mit der Treue nicht so genau nahm, wollte sie keine seiner sich stetig wechselnden Liebschaften werden. Schließlich hatte ihre Vorgängerin, eine Kollegin, nach einer kurzen Liaison mit Piero, das Handtuch geworfen und sich in eine andere Abteilung versetzen lassen. Die Bemitleidenswerte arbeitete seit jenem verhängnisvollen Moment bei der Police Municipale de Lausanne, in einem Gebäude, das genug weit vom Kommissariat entfernt war, um Cervoni nicht täglich über den Weg laufen zu müssen. Trotzdem, und das darf hier ruhig ausgesprochen werden, war Béatrice gegenüber Pieros Komplimenten nicht abgeneigt, denn mehr als nur eine Spur Ehrlichkeit steckte durchwegs in seinen Worten. Aber eben, Piero und sie waren nur Arbeitskollegen. Und das war allemal gut so!

Béatrice hatte sich soeben ein Gläschen Weißwein bestellt, als sich Cervonis Handy brummend bemerkbar machte. Piero wechselte betont leise zwei, drei Worte mit dem Anrufer und unterbrach dann das Gespräch abrupt. „Programmänderung: In spätestens einer halben Stunde muss ich mich im Kommissariat melden. Sieht verdammt nach einem verpatzten Wochenende aus.“ Cervoni zog seine Kollegin an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was die anwesenden Gäste im Lokal nicht mitbekommen sollten.

„Kommt gar nicht infrage, dass ich allein hierbleibe, während du deine Freizeit opferst. Schließlich sind wir ein Team!“, protestierte Béatrice. „Ich werde dich begleiten, ob es dir passt oder nicht. Mit Ausreiten wird heute sowieso nichts. Acacia lahmt seit zwei Tagen.“ „Hoffentlich nichts Ernstes?“, erkundigte sich Piero ehrlich besorgt. Er wusste, wie viel ihr Acacia bedeutete. Wenn es der Stute schlecht ging, war Béatrice unausstehlich; ihre Laune nur schlecht zu ertragen. „Nein, nein, nur eine kleine Quetschung, die sich Acacia vermutlich im Stall zugezogen hat. Dr. Bennoit, ihr Veterinär, der sie gestern untersuchte, meint, dass sie in drei bis vier Tagen wieder auf dem Damm sein wird. Etwas Schonung wird ihr nur guttun. Außerdem würde es mir die alte Dame übel nehmen, wenn ich mit einer anderen Stute eine Runde drehen würde. Sie ist in diesen Dingen etwas eigen und überaus nachtragend.“ Piero konnte sich ein Grinsen nicht verwehren. Vor einigen Wochen erst hatte ihm Béatrice voller Stolz ihren Schimmel vorgeführt. Die Erinnerung an ihren gemeinsamen Besuch in den Stallungen, hoch über Lausanne, war noch präsent, so als wären seither erst Stunden vergangen.

Bellinzona

Sonntag. Eigentlich hätte Sergio Antonioni heute dienstfrei gehabt. Nur, der gravierende Todesfall, den die Behörden seit Freitag in Atem hielt, war Grund genug, seinen Urlaubstag und das damit verbundene Programm auf einen ruhigeren Moment zu verschieben. Commissario Sergio Antonioni verbrachte deshalb die ersten Arbeitsstunden des frühen Morgens anstatt bei seiner Angetrauten an seinem mit Papieren beladenen Schreibtisch. Er war unschlüssig, wie er den neusten Fall angehen sollte. Das Ärgerliche an der Angelegenheit war, dass bis zu diesem Moment der Aufenthaltsort von Pizzantinis Ehefrau, Raffaella Lavizzari, nicht hatte ausfindig gemacht werden können. Don Anselmos Dienerschaft, bestehend aus einem Hausmädchen und dem Gärtner – beides langjährige Angestellte der Familie – behauptete, anlässlich ihrer vortägigen Kurzeinvernahme, nicht das Geringste über den Verbleib ihrer Arbeitgeberin zu wissen. Antonioni, der sie einzeln befragt hatte, war den Eindruck nicht losgeworden, sie hätten ihm in dieser Sache nicht die Wahrheit gesagt. Er sah aber auch kein Gegenargument, das ihre doch eher verwunderlichen Aussagen definitiv infrage stellte.

Das erste, bisher einzige Einvernahme-Protokoll, das ein Kollege am Vorabend mit dem Custode der Schlösser, Nunzio Papardellis, aufgenommen hatte, lag offen vor ihm. Sergio hatte das zweiseitige Dokument wieder und wieder durchgelesen, ohne darin etwas Gehaltvolles ausmachen zu können; nichts, das ihn in seinen Demarchen einen Fetzen weitergebracht hätte. Solange der detaillierte Bericht der Pathologie nicht vorlag, fühlte er sich in seinem Tun blockiert. Im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten ging er persönlich nach wie vor nicht von einem Selbstmord aus. Zudem ergab es für ihn keinen wirklichen Sinn, weshalb sich Don Anselmo ausgerechnet die Torre Nera für seinen Suizid auserkoren haben sollte. Einen Turm, für dessen Eingangstüre nachgewiesenermaßen nur zwei Schlüssel existierten. Die nochmalige Rückfrage bei den städtischen Behörden ergab, dass ursprünglich ein dritter Sicherheitsschlüssel existierte, der aber vor Kurzem verloren gegangen und bis dato nicht wiedergefunden worden sei. Da es sich bei der Torre Nera um ein amtliches Gebäude handelt, war dazumal, und das entsprach einer hinlänglichen Vorschrift, ein entsprechender Verlustbericht erstellt worden. Eine Kopie davon hatte, auf Antonionis Ersuchen hin, inzwischen auch Einlass in die Dokumentation der Bellenzer Polizei gefunden. Durfte man Papardellis’ Aussage Glauben schenken, war der Turm, als er freitags dort ankam, abgeschlossen gewesen. Dass sich der städtische Beamte irrte, oder sich nicht mehr an dieses Detail erinnern konnte, wollte Sergio nicht a priori ausklammern. Wobei hier anzumerken sei, dass Papardellis’ direkter Vorgesetzter, anlässlich einer telefonischen Rückfrage, nicht eine Minute die Gewissenhaftigkeit seines Bediensteten angezweifelt hatte. Eine schriftliche, dieser Aussage entsprechende Bestätigung war in aller Eile erstellt und Pizzantinis Akte einverleibt worden. Sergio Antonioni hegte große Hoffnung in die zu erwartende Aussage Anselmos persönlicher Sekretärin, die, gemäß glaubhafter Aussage einer Kollegin, irgendwo in Süditalien in den Ferien weilte, am kommenden Montag aber ihre gewohnte Tätigkeit an ihrem Arbeitsplatz wieder aufnehmen sollte.

***

Signorina Melinda Leonardi gab sich beschäftigt. Ihr längliches Gesicht war braun gebrannt. Eklatant waren ihre langen Wimpern und wasserblauen Augen. Eine Sehbrille mit auffallend dicken Gläsern verriet eine markante Fehlsichtigkeit. Signorina Leonardi war keine Schönheit im eigentlichen Sinne. Ihren unnatürlich langen Hals versuchte sie mit ihren blond gefärbten Haaren, die sie offen trug, zu kaschieren. Aber ihre Figur war tadellos. Ihre langen Beine steckten, und dies trotz der vorsommerlichen Temperaturen, in feinseidenen schwarzen Strümpfen.

„Was kann ich für Sie tun, Signor Antonioni?“, gab sie sich überrascht. Seinen Familiennamen hatte sie zuvor auf der Visitenkarte gelesen. Überdies hatte er ihr seinen Dienstausweis gezeigt, den sie, bevor sie ihn wieder zurück in seine Hand legte, eingehend studierte, als bestünden Zweifel an dessen Echtheit.

„Es wäre wünschenswerter, wenn wir uns unter vier Augen und in einem geschlossenen Raum unterhalten könnten. Das Problem, das ich mit Ihnen zu besprechen habe, ist einstweilen nicht für jedermanns Ohren gedacht“, sagte er mit einem Blick auf die übrigen Angestellten, die ihn stumm und unverhohlen neugierig beäugten. „Aber selbstverständlich! Wenn Sie mir dann bitte folgen wollen, Commissario“, antwortete sie, öffnete die Tür zu ihrem persönlichen Arbeitszimmer und ließ Sergio an ihr vorbei. Sie bat ihn Platz zu nehmen und setzte sich ihm gegenüber. Antonionis Karte legte sie in eine Schale zuoberst auf ihrem Pult, in der schon ein gutes Dutzend steckten. Sergio fühlte sich nach wie vor beobachtet. Nicht zu Unrecht! Von seinem Stuhl aus blickte er direkt in die fragenden Gesichter der Anwesenden. Nur eine mauerhohe, transparente Öffnung aus Panzerglas trennte Signora Melindas Büro von dem Gemeinschaftsraum und ihren schaulustigen Kollegen. Sergio kam sich wie eine Schaufensterpuppe vor. Vermutlich hatte Signorina Leonardi seine Gedanken erraten, denn sie schälte sich abrupt aus ihrem ledergefassten Fauteuil, ging zu der gläsernen Luke und ließ die darüber angebrachte Jalousie an ihren Schnüren hinuntergleiten. Für Sergio war der Moment gekommen, sich endlich ungestört und vor allen Dingen unbeobachtet mit Signorina Leonardi zu unterhalten.

„Bitte!“, forderte Signorina Leonardi Antonioni auf und setzte sich wieder hin. Für den Fall der Fälle holte sie aus einer Lade einen Notizblock hervor, riss das bekritzelte Deckblatt ab und entsorgte es im farbenreichen Papierkorb unter ihrem Pult. Darauf schraubte sie behutsam die Klappe ihres Füllers weg und blickte Sergio auffordernd an. Antonioni, der ihr Tun interessiert mitverfolgt hatte, räusperte sich etwas verlegen. „Nun“, sagte er, „Sie brauchen sich vermutlich keine Notizen zu machen.“ Melinda Leonardi schaute ihn gespannt an. Sie hatte ihre Brille abgenommen, zusammengefaltet und rechts von ihr auf dem Schreibtisch deponiert. „Nun, was führt Sie zu uns, Signor Commissario?“, fragte sie. „Wie ich vorgängig erwähnte, untersteht das, was ich Ihnen bedauerlicherweise mitteilen muss, der uneingeschränkten Schweigepflicht, an die Sie ab sofort gebunden sind.“ „Sie machen mir Angst, Signor Antonioni! Was ist denn passiert?“ Melinda Leonardis Augen weiteten sich. War das offene Angst, die Sergio in ihnen zu lesen glaubte? „Bevor ich zur Sache komme, müssen Sie mir versprechen, dass kein Wort von dem, was ich Ihnen anvertraue, diesen Raum verlassen wird. Je nachdem, wie sich die Angelegenheit entwickelt, handelt es sich bei dieser Blockade vermutlich nur um wenige Stunden. Trotzdem können wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass ich Sie aber erst nach Tagen von Ihrem Gelöbnis erlösen werde.“ „Sie haben mein Ehrenwort“, versicherte Melinda Leonardi leicht verwirrt und mit plötzlich auffallend leiser Stimme. „Ich danke Ihnen für Ihre Loyalität“, sagte Sergio und kam gleich zur Sache: „Ich bedaure sehr, dass ich Ihnen die traurige Nachricht vom Hinschied Ihres Vorgesetzten, Signor Anselmo Pizzantini, überbringen muss. Er ist Freitag vergangener Woche, während Sie in Italien in den Ferien weilten, verstorben. Das vermuten wir wenigstens. Der genaue Zeitpunkt seines Todes konnte noch nicht eindeutig festgelegt werden.“ Sergio machte eine Pause. Er war neugierig auf Signorina Leonardis Reaktion. Sein Blick ruhte auf ihren Augen, dem Spiegelbild ihrer Seele. „Anselmo tot? Das kann ich nicht glauben!“ Ihr Entsetzen wirkte echt. „Sein Herz?“ Melinda atmete schwer. Tränen netzten ihre Wangen, hinterließen schwarze Spuren ihrer Wimperntusche. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Lade ihres Schreibtisches öffnete. Sie brach ein frisches Set Taschentücher an und schniefte in das flockige Papier. „Haben Sie eine Ahnung, wo sich Signor Pizzantinis Ehefrau, Signora Raffaella Lavizzari, aufhält? Wir konnten ihre Bleibe bisher nicht ausfindig machen. Es ist der Anstoß, weshalb wir Signor Pizzantinis Tod noch geheim halten müssen.“ „Da bin ich offen gestanden überfragt. Anselmo sprach höchst selten über private Angelegenheiten, weder über seine Gemahlin noch über seine beiden Söhne. Manchmal kommt es mir so vor, als würden sie für ihn gar nicht existieren, obwohl man sie sonntags meist zusammen in der Kirche sieht. Ich kann Ihnen da, wie gesagt, beim besten Gewissen nicht weiterhelfen.“ „Sie haben mich zuvor gefragt, ob Signor Pizzantini an einem Herzversagen verstorben sei. Hatte er denn gesundheitliche Probleme?“ „Nur so eine Vermutung von mir“, relativierte Signorina Leonardi. „Es liegt schon einige Zeit zurück. Aber der Zwischenfall beschäftigte mich während Tagen. Anselmo sah damals sehr mitgenommen aus. Ich wollte ihn darauf ansprechen. Nur, es steht mir nicht zu, mich in seine privaten Angelegenheiten zu mischen. Deshalb habe ich ihn auch nicht danach gefragt. Früher hatte er immer einen gesunden, braunen Teint. In letzter Zeit aber war er oft sehr blass. Ich habe mir deswegen schon Sorgen gemacht. Ich kann mich erinnern, dass ihm einmal eine angebrochene Schachtel Digoxin aus der Manteltasche gefallen ist. Er hatte es nicht bemerkt. Ich habe gewartet, bis er das Kleidungsstück in der Garderobe aufgehängt und sich in sein Büro zurückgezogen hatte. Erst dann habe ich die Packung wieder unbemerkt in seine Manteltasche gesteckt. Den Namen des Medikaments aber habe ich mir notiert und später bei Wikipedia alles darüber erfahren, was ich wissen wollte.“ Spricht so eine Mörderin? Eine Frau, die eventuell etwas mit Pizzantinis Ableben zu tun hat? Sergio schloss diese Möglichkeit schon zu diesem Zeitpunkt aus. Obwohl er das eigentlich nicht hätte tun sollen, verriet er stückweise, was sich vier Tage zuvor in der Torre Nera zugetragen haben musste. Die groteske Art aber, in der man Signorina Leonardis Arbeitgeber entdeckt hatte, verschwieg er. Ein gewisses Misstrauen gegenüber ihrer Person war opportun, und dies ungeachtet des positiven Eindrucks, den sie auf ihn machte.

Sergios Fragenkatalog war der übliche, den es in einer solchen Situation abzuarbeiten gab: „Hatte Ihr Arbeitgeber Feinde? Gab es eine oder mehrere Personen, die mit Signor Pizzantinis Tod aus irgendeinem Grund in Verbindung gebracht werden können? Wie war sein Verhältnis zu den Angestellten, insbesondere zu einem gewissen Salvatore Zazza? Haben Sie eine Ahnung, wo sich sein Geschäftspartner zurzeit aufhält? Wir hatten noch keine Gelegenheit, ihm von Signor Pizzantinis Tod Kenntnis zu geben.“ Sergio Antonioni war Melindas veränderter Gesichtsausdruck nicht entgangen, als er Zazzas Namen ins Spiel gebracht hatte. Ein kurzes Flackern ihrer Augen nur. „Und wie ist Ihr Verhältnis zu Signor Zazza?“ Die Frage hatte sich geradezu aufgedrängt. „Wollen Sie eine ehrliche Antwort?“ Sergio nickte erstaunt. Er fühlte ihre zuvor gezeigte Reaktion bestätigt. „Ich bitte darum!“ „Ich kann den Kerl nicht ausstehen! Nicht als Mensch und nicht als Arbeitskollege. Glücklicherweise habe ich nur selten mit ihm direkt zu tun. Ich bin Anselmos persönliche Sekretärin und nur ihm gegenüber verantwortlich. Müsste ich das ganze Jahr über mit Signor Zazza zusammenarbeiten, hätte ich meinen Arbeitsvertrag schon längst gekündigt!“ „So? Das müssen Sie mir schon etwas genauer erklären“, insistierte Antonioni. „Jedes Mal, wenn dieser Mann hier auftaucht, habe ich das Gefühl, mich nächstens übergeben zu müssen. Wenn ich an ihn denke, bekomme ich augenblicklich Gänsehaut. Signor Zazza hat seine geilen Finger überall; fasst mir beim Vorbeigehen an den Hintern. Ich bin seine widerlichen Anbiederungsversuche schon lange satt und habe mich deswegen bei Anselmo vor Kurzem beschwert, obwohl ich zugeben muss, dass ich mich vor diesem Bittgang gefürchtet habe, wie noch selten vor etwas. Aber Anselmo hatte es gut aufgenommen und mir versprochen, sich meine Ferienabwesenheit zunutze zu machen, und sich mit Zazza auszusprechen. Er hat mir sogar versichert, dass er unter keinen Umständen auf mich und meine Mitarbeit als Sekretärin verzichten wolle. Keine Ahnung, ob er vor seinem Tod noch dazu gekommen ist, mit Signor Zazza zu sprechen. Aber eines steht jetzt schon mit absoluter Sicherheit fest: Sollte dieser erbärmliche Mensch Anselmos Nachfolge antreten, bedeutet das gleichzeitig das Ende meines aktuellen Arbeitsverhältnisses. Mein Kündigungsschreiben wäre unvermeidlich. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass es hier in Bellinzona im gegenwärtigen Zeitpunkt alles andere als einfach ist, eine neue Anstellung zu finden. Aber lieber eine Weile auf Stellensuche und ohne Beschäftigung dastehen, als auch nur eine Minute mit diesem Ferkel zusammenarbeiten zu müssen!“ „Ich hoffe für Sie, dass sich eine zufriedenstellende Lösung ergibt“, sagte Antonioni mitfühlend. Melinda Leonardis kämpferische Art hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Frau gefiel ihm zusehends mehr. „Zudem, Signorina Leonardi, es gibt Gesetze! Belästigungen am Arbeitsplatz, seien diese sexueller oder physischer Natur, wie zum Beispiel beim Mobbing, werden in der Schweiz schwer geahndet! Und das ist gut so! Wir von der Polizei warten schon lange darauf, einen wirklich ernst zu nehmenden Fall an die Öffentlichkeit bringen zu können. Es ist an der Zeit, dass endlich etwas Konkretes in dieser Richtung geschieht. Frauen sind schließlich kein Freiwild! Ich kann Ihnen versichern, dass Sie bei uns immer offene Türen und Ohren vorfinden werden, sollte Sie dieser Signor Zazza abermals belästigen.“

Nach und nach entspannten sich Melinda Leonardis Gesichtszüge. Sogar ein leichtes Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zwar. Dann wirkte sie erneut traurig. Der Schatten des Augenblicks hatte sie wieder eingeholt.

„Ich würde gerne einen Blick in Signor Pizzantinis Arbeitszimmer werfen, sofern dies jetzt möglich ist.“ Sergio hatte sich erhoben. „Ich finde, das ist keine gute Idee!“ „So?“ Antonioni reagierte verblüfft auf Signorina Melindas unerwarteten Einwand. „Und aus welchem Grund halten Sie das für keine gute Idee, wenn ich mir die Frage erlauben darf? Sie machen mich neugierig.“ „Ich dachte nur so.“ Melinda Leonardi pflückte ein frisches Papiertaschentuch aus der angebrochenen Packung, besah sich ihr Gesicht im Wandspiegel und trocknete sorgsam die verlorene Wimperntusche weg. „Nun, sagten Sie nicht zuvor, dass Signor Pizzantinis Tod im Moment nicht publik gemacht werden soll?“ Sergio nickte zustimmend. „Dann ist es wohl besser, wir unterbrechen hier unsere Unterhaltung und führen sie zu einem späteren Zeitpunkt fort, bevor meine Kollegen etwas spitzbekommen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie relativ schnell Gelegenheit haben werden, ungestört Anselmos Arbeitsraum zu besichtigen.“ „Das hat keine Eile“, beruhigte sie Antonioni. „In erster Linie ging es mir darum, das Grundsätzlichste mit Ihnen zu besprechen. Im Moment habe ich eine Unmenge an Informationen zu verarbeiten, die wichtig sind und unweigerlich Vorrang haben. Es wird also etwas dauern, bis ich auf Ihren Vorschlag eintreten werde. Ich gehe aber jetzt schon davon aus, dass dies noch diese Woche geschehen wird, falls nicht etwas Bahnbrechendes dazwischenkommt. Aber eine abschließende Bitte habe ich an Sie: Falls Sie einen Schlüssel zu Signor Pizzantinis Büro haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Raum bis zu meiner Rückkehr abschließen würden.“ „Wird erledigt“, versicherte sie. Antonioni hatte den Eindruck, etwas Verschwörerisches in ihrem Blick entdeckt zu haben. „Ah, noch ein letztes Detail“, erwähnte er: „Ich werde für die Besichtigung des Büros einen Kollegen beiziehen. Es könnte sein, dass er ein Protokoll erstellen muss, falls wir in Signor Pizzantinis Arbeitsraum auf Dokumente oder Gegenstände stoßen, die wir beschlagnahmen müssten. Aber, wenn das Glück auf unserer Seite steht, wird Frau Lavizzari wiederauftauchen, und wir können uns diesen Aufwand vielleicht sogar ersparen. Für Ihr Stillschweigen und Ihre Bereitwilligkeit, falls erforderlich, uns sein Büro zu zeigen, bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar. Und sollten Sie das Arbeitsklima hier nicht mehr aushalten, können Sie sich immer noch an mich wenden. Nicht auszuschließen, dass sich in unserer Administrativabteilung ein geeignetes Plätzchen für Sie finden lässt.“

Lausanne

Kommissar Cervoni saß vertieft über seinen Aufzeichnungen. Der Wohnungsbrand vom vergangenen Samstag, an der Avenue de Montchoisi, wäre an sich ein Routinefall gewesen, wären die Feuerwehrleute bei ihrem Einsatz nicht auf die Überreste eines verkohlten Leichnams gestoßen. Bis zum aktuellen Zeitpunkt war nicht bekannt, ob es sich bei dem oder der bis zur Unkenntlichkeit versengten Toten um eine Person männlichen oder weiblichen Geschlechts handelte. Mit absoluter Sicherheit stand nur fest, dass die Ursache des Brandes weder auf Fahrlässigkeit noch auf ein technisches Problem zurückzuführen war. Bevor das Feuer nämlich entfacht wurde, hatte man das Opfer mit einer entflammbaren Flüssigkeit übergossen und dann in Brand gesteckt. An der Wohnung und der Einrichtung selbst war erstaunlicherweise nur geringer Schaden entstanden.

Eine Hausbewohnerin, die auf die starke Rauchentwicklung aufmerksam geworden war, hatte sofort die übliche Notnummer gewählt. Dank ihres Telefonats und des raschen Einsatzes der Genfer Feuerschutzpolizei war der Brand schnell unter Kontrolle gebracht, und eine Ausbreitung der Feuersbrunst auf das übrige Gebäude hatte vermieden werden können. Alle Mieter, die das Haus hatten verlassen müssen, durften nach nur zwei Stunden wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Die Identität des Opfers war, wie vorerwähnt, bis zu diesem Moment nicht bekannt. Falls der oder die Unglückliche Ausweispapiere bei sich getragen hatte, waren sie mitsamt den Kleidern in Flammen und Asche aufgegangen. Schnell war in Erfahrung gebracht worden, dass die in Mitleidenschaft gezogene Wohnung durch die Vermittlung der Régie de la Fontaine, eine angesehene und seriös arbeitende Lausanner Immobilienverwaltung, an eine gewisse Madame Zaira Hakan vermietet worden war. Während bei ihr das Feuer wütete, hätte sich Madame Hakan, gemäß Aussage ihres direkten Nachbarn, bestimmt außerhalb ihrer Wohnung aufgehalten. Sie sei übrigens seit Tagen oder vielleicht sogar Wochen nicht mehr anwesend gewesen. Beweis dafür sei, dass ihr auffällig luxuriöses Auto schon seit Längerem nicht mehr gesichtet worden war. Aber wer ist dann die oder der Tote, wenn nicht die Mieterin der Wohnung selbst? Das Detail mit dem Fehlen ihres persönlichen Fahrzeugs hatte für Cervoni wenig Gewicht: Die Dame hätte sich genauso gut zu Fuß oder mit dem Taxi bis zu oder von ihrem Domizil wegbewegen können. Aus Pieros in aller Eile zusammengestellter Dokumentation ging hervor, dass es sich bei Zaira Hakan um eine Frau balkanischer Abstammung handelte. Aktenkundig war, dass sie über eine unbeschränkt gültige B-Aufenthaltsbewilligung verfügte und aus diesem Grund einer beruflichen Tätigkeit nachgehen musste. Wohl die wichtigste Voraussetzung für Ausländer zur Erlangung der begehrten Genehmigung. Man konnte nur hoffen, dass ein Angehöriger Madame Hakan schon bald als vermisst melden würde. Es wäre, wenn auch nur ansatzweise, ein Hinweis auf die Leiche, die man in ihrer Lausanner Wohnung gefunden hatte.

Cervoni wollte soeben sein Büro verlassen, für einen Sprung im gegenüberliegenden, seit einer Woche erst unter neuer Leitung geöffneten Bistro einen Espresso trinken, als sich der Polizeiarzt im Türrahmen breitmachte. „Hallo Piero“, rief er ins Zimmer. „Ich habe mir gedacht, dass du vermutlich nichts dagegen einzuwenden hast, wenn ich dir die Neuigkeit selbst und dazu noch ofenwarm überbringe“, grinste der stark übergewichtige Mediziner, der seine ganze Karriere bei der waadtländischen Polizei absolviert hatte. „Auch wenn es sich nur um ein Teilresultat handelt, hoffe ich doch, dass es dich in deinen Recherchen ein gutes Stück weiterbringen wird.“ „Ich bin für jedes fehlende Mosaiksteinchen dankbar!“, seufzte Piero. „Denn viel Brauchbares habe ich bis jetzt nicht vorzuzeigen.“ „Na dann! Ich werde mich kurzfassen“, meinte der Mediziner mit besorgtem Blick auf seine Armbanduhr. „Habe heute nämlich verdammt viel zu tun. Es ist zum Verrücktwerden! Immer wenn ich meine Assistentin am dringendsten brauche, ist die Gute krankgeschrieben. Kommt mit akkurater Regelmäßigkeit jeden Monat einmal vor. Kann mir schon denken, was es mit ihren zyklischen Absenzen auf sich hat. Wobei ich nicht unterschlagen will, dass die Gute sonst die Pünktlichkeit in Person und, wenn sie nicht ihre Tage hat, sogar für unbezahlte Überstunden zu haben ist. Aber verbleiben wir beim Thema: Du sagtest, bei der Mieterin der Wohnung handle es sich um eine Frau.“ Cervoni nickte. „Wir sind davon ausgegangen, weil die Wohnung von einer weiblichen Person gemietet wurde.“ „Nun, dann hat die Dame nochmals Glück gehabt!“ „Wie soll ich das verstehen?“, unterbrach ihn Piero verdutzt. „Weil sich diese Person dann vermutlich noch unter uns Lebenden befindet! Die verbrannte Leiche ist zweifellos dem männlichen Geschlecht zuzuteilen. Schon bei meinem ersten Augenschein an der Avenue de Montchoisi hatte ich diese Impression. Es gab da gewisse Elemente, wie zum Beispiel der Knochenbau der Leiche, der, auch wenn stark verkohlt, gewisse Rückschlüsse auf das Geschlecht zuließ. Die Anatomie des weiblichen Beckens unterscheidet sich deutlich von jenem des Mannes. Das männliche Becken ist hoch, eng und schmal, während bei der Frau die beiden Beckenschaufeln gut sichtbar ausladender sind und das Hüftbeinloch eine dreieckige Form aufweist. Wäre das nicht der Fall, würde das Kind bei der Geburt nicht durch den Geburtskanal passen. Ein weiteres Merkmal ist der Schädel, der bei einer weiblichen Person in neunundneunzig Prozent der Fälle eine zierlichere Anatomie aufweist als jener des Mannes. Zu guter Letzt sind die dicken Knochenwülste über den Augen anzuführen, die nur beim männlichen Schädel so ausgeprägt wahrzunehmen sind. Weitere Einzelheiten werde ich dir frühestens in vier bis fünf Tagen liefern können.“ Piero wollte etwas einwenden, versuchen den Polizeiarzt zu bedrängen, aber er kam ihm zuvor. „Vielleicht schaff ich es auch in nur drei Tagen. Mich aber auf ein genaues Datum festzulegen wäre zum jetzigen Zeitpunkt etwas unvernünftig. Nur schon die Auswertung des Knochenmaterials ist eine aufwendige und langwierige Angelegenheit. Um an zusätzliche Informationen zu gelangen, muss mindestens ein Knochen des Opfers zersägt werden. Mittels chemischer Untersuchungen können wir aus dem Knocheninhalt dann unter anderem sein Alter bestimmen, vorhandene oder überstandene Krankheiten herausfinden, ja sogar nachweisen, ob der Tote Vegetarier oder Alkoholiker war. Auf jeden Fall eine Unmenge an Daten, die, zu einem Gesamtbild zusammengefügt, zur Identitätsbestimmung herangezogen werden können. Und nicht zu vergessen: sein Gebiss. Die Stellung der Zähne. Reparaturmerkmale oder Prothesen sind zweifellos wichtige Hinweise bei der Suche. Was wir benötigen, sind bestehende Röntgenbilder. Zähne sagen zudem einiges über den Gesundheitszustand des Verblichenen aus.“ Und mit einem zweiten besorgten Blick auf seine auffallend poppige Armbanduhr: „Höchste Zeit, dass ich mich davonmache! Ich hoffe doch sehr, dass für dich und deine Arbeit trotzdem etwas Verwertbares von meiner Stippvisite übrig bleibt.“ Der Polizeiarzt hatte schon die Tür hinter sich geschlossen, als sie sich ein zweites Mal öffnete und Monsieur Le Docteur seinen fülligen Körper nochmals ins Zimmer zwängte. „Ah, beinahe hätte ich etwas Wichtiges wieder ins Labor getragen“, entschuldigte er sich. „Es handelt sich um dieses unscheinbare Ding hier. Sieht etwas mitgenommen aus, nicht wahr?“ Er legte Cervoni ein arg lädiertes Projektil in die Hand. „Steckte im vierten Halswirbel unseres Opfers. Hätte das Individuum den Brandanschlag überlebt, würde er mit einer Tetraparese, oder einfacher gesagt, einer vermutlich kompletten Lähmung weitervegetieren müssen. Noch mal Glück gehabt, der Arme!“, spottete er und machte sich diesmal endgültig davon.

***

Ungeachtet der immediaten Ausschreibung zur Fahndung, konnte Frau Hakans Aufenthaltsort nicht eruiert werden. Auch die Befragung der übrigen, im gleichen Gebäude wie sie wohnenden Mieter hatte diesbezüglich keine relevanten Anhaltspunkte erbracht. Die meisten gaben an, wenn überhaupt, Madame Hakan nur vom Sehen her zu kennen. Eine attraktive Blondine. Aber unnahbar, so wurde getuschelt, die bewusst jeder Causerie aus dem Weg ging. Geläufig war, dass sie sich höchst selten in ihrem Lausanner Appartement aufhielt. „Ist meist für mehrere Wochen verreist“, wusste eine ihrer Nachbarinnen zu berichten. Bei der Régie war in Erfahrung zu bringen, dass es sich bei ihr um eine höchst willkommene Bewohnerin handle, die ihre Miete für das Logis regelmäßig für sechs Monate im Voraus bezahle, niemals etwas beanstande und auch sonst zu keinerlei Reklamationen Anlass gebe. Die absolute Wunschmieterin jeder Immobilienverwaltung! Ob Madame Hakan einer geregelten Arbeit nachging, war allerdings nicht in Erfahrung zu bringen. Weshalb auch? Solange sie ihren finanziellen Verpflichtungen nachkam, interessierte sich offenbar niemand dafür. Das Rätselhafte an der Sache aber war, dass selbst bei der städtischen Einwohnerkontrolle diesbezüglich keine klärenden Informationen zu holen waren. Ob da wohl jemand geschlampt hat? Cervoni überflog eine entsprechende Notiz, die ihm ein Kollege zurückgelassen hatte. Er wiederum hatte sie von einer Angestellten des betreffenden Amtes erhalten. Irgendetwas ist an dieser telefonischen Auskunft faul, argwöhnte Piero. Eine nebulöse Eingebung sagte ihm, dass er dem Geschriebenen nicht trauen und ergänzende, auf jeden Fall weitreichendere Informationen bei Lausannes Einwohnerbehörde einholen sollte. Aber er sah nicht ein, weshalb er deshalb vor Ort vorsprechen und dadurch sinnlos viel Zeit einbüßen sollte, die ihm anderswo dienlicher war. Deshalb beauftragte er die Telefonistin der Polizeizentrale eine direkte Verbindung zum Chef der vorgenannten Abteilung herzustellen. Nur wenige Sekunden später hatte er den richtigen Mann in der Leitung. Cervoni brachte sein Anliegen vor und erklärte seine Bedenken hinsichtlich der erhaltenen Auskunft. „Bin ganz Ihrer Meinung“, bestätigte der Chefbeamte. „Nur, ich brauche etwas Zeit, um an Madame Hakans Daten zu kommen und Ihnen die relevanten Auskünfte zu geben. Der Grund dafür ist folgender: In unserem getrennten Computersystem speichern wir nämlich nur die zentralsten Angaben über Lausannes Einwohner. Es sind jene Informationen, über die Sie bereits verfügen. Die detaillierten Personendaten befinden sich in Papierform in unserem Archiv. Es wird sonach etwas dauern, bis ich diese organisiert habe. Ich rufe Sie so bald als möglich zurück. Kann ich Sie auch in Zukunft unter dieser Nummer erreichen?“

Knappe zwanzig Minuten später kam Cervoni in den Besitz der fernmündlichen Bescheinigung. Einer Bestätigung, die, wie er richtig vermutete, den Rapport seines Kollegen in einem in jeglicher Hinsicht provisorischen Licht erscheinen ließ. Verdammte Schlamperei! Ein Ärgernis, das er mit erwähntem Mitarbeiter, angesichts dessen jungen Alters und mangelnder Erfahrung, unter vier Augen aus dem Weg zu schaffen gedachte. Die übrigen Mitglieder seines Teams brauchten davon nichts mitzubekommen!

An dieser Stelle sei bemerkt, man halte Piero zu Recht oder zu Unrecht vor, er misstraue etwas zu oft der Arbeit und Effizienz seiner Gruppe. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass er zuerst unbedeutend anmutende Fakten hinterfragen musste und sich später genötigt sah, sie entsprechend zu revidieren. Das nun vorliegende Ergebnis bewies einmal mehr, dass auch in diesem Fall seine Zweifel opportun gewesen waren. Durch die ergänzende Auskunft der Einwohnerkontrolle hatte das Bild zu einem neuen Rahmen gefunden. Der amtliche Eintrag besagte nämlich insbesondere, dass es sich bei Madame Hakans Mietwohnung nicht um den Haupt-, sondern lediglich um ihren Zweitwohnsitz handelte. Deswegen also ihre häufigen Abwesenheiten! Als Erst- und Steuerdomizil hatte Zaira Hakan eine korrekte Adresse im Kanton Tessin, oder besser gesagt im mondänen Ascona, angegeben. Es war also davon auszugehen, dass sie dort einer geregelten Arbeit nachging. Der Grund, weshalb sie in Lausanne eine Zweitwohnung unterhielt, blieb allerdings ohne Antwort. Dank seines Telefonats war Cervoni aber unverhofft in den Besitz einer gescannten Farbfotografie der Gesuchten gelangt. Der Chef der Einwohnerbehörde hatte sie in Frau Hakans Dossier gefunden und noch gleichentags persönlich einen Abzug davon ins Kommissariat gebracht. Nicht ganz uneigennützig, ging es ihm doch vornehmlich darum, Kommissar Piero Cervoni persönlich kennenzulernen. Die Bekanntschaft mit dem hochrangigen Beamten konnte für seine weitere Karriere ein gewichtiger Vorteil sein. Der junge Mann kam, so wie er sich das erhofft hatte, voll auf seine Kosten: Seine Geschäfts- und Mobiltelefonnummern hatten Einlass ins Polizeiregister und sogar in Cervonis privates Handy gefunden.

***

In Begleitung seiner Assistentin fuhr Piero ein zweites Mal an die Avenue de Montchoisi; erlöste vorübergehend den vor der Türe Wache schiebenden Beamten von seinem trivialen Auftrag. „Wir werden hier für einige Zeit zu tun haben“, schätzte Cervoni. „Gehen Sie unterdessen einen Kaffee trinken. Sie haben ihn sich verdient.“ Piero schlug dem sichtlich erfreuten Gendarmen kameradschaftlich auf die Schulter. „Wenn wir unsere Erhebungen beendet haben, wird Sie meine Kollegin auf Ihrem Handy anrufen. Ist das o. k.?“ Béatrice speicherte seine Nummer. Piero wartete, bis sich ihr Kollege davongemacht hatte. Erst dann entfernte er vorsichtig das amtliche Sperrsiegel an der Tür. Er würde es anschließend durch ein neues ersetzen lassen. Im Grunde genommen wusste Cervoni selbst nicht, wonach er suchte. Es war auch nicht so, als würde er die Gewissenhaftigkeit und Effizienz der Mitarbeiter der forensischen Abteilung, die sich bis vor Kurzem noch in der Wohnung aufgehalten hatten, in Zweifel ziehen. Alles ausgesuchte Spezialisten! Ihre Resultate zu hinterfragen wäre nicht nur unkollegial, sondern geradezu vermessen. Piero ging es vielmehr darum, sich zu vergewissern, ob ihm selbst bei seinem ersten Augenschein vor Ort auch ja nichts von Bedeutung entgangen sei. Sich und seine eigenen Rückschlüsse immer wieder in Zweifel zu ziehen, Überlegungen neu zu überdenken und definieren und Meinungen innerhalb seines Teams generell in seine Fazits miteinzubeziehen waren typische Charaktereigenschaften, die Cervonis Vorgesetzte, aber auch seine Kollegen an ihm zu schätzen wussten.

Als Cervoni und Béatrice die Tür zu Madame Hakans Wohnung öffneten, schlug ihnen der bestialische Gestank von Rauch und Verbranntem erbarmungslos entgegen. Piero hatte den Eindruck, es rieche vornehmlich nach verkohltem Fleisch. Seine Kehle schnürte sich zu; brannte. Ein längerer Hustenanfall folgte. Beinahe hätte sich Cervoni übergeben. Von Panik erfasst eilte er zum nächstgelegenen Fenster, riss beide Flügel auf, lehnte seinen Oberkörper für einen langen Moment weit hinaus und sog die frische Luft tief in seine Lungen ein. Straßenlärm schlug ihm entgegen.

Das luxuriös möblierte Appartement verfügte über zwei generöse Schlafzimmer, einen schätzungsweise vierzig Quadratmeter großen Salon, zwei Nasszellen und eine matt weiß lackierte dänische Designerküche. In einer separaten Speisekammer stand ein zweiteiliger Wäscheturm. Tumbler und Waschmaschine waren leer. Eine Schiebetür aus getöntem Glas trennte sie vom Esszimmer. Nahrung und andere Vorräte waren keine zu sehen. Im Wohnraum hing ein teurer Ghom. Der Seidenteppich war angesengt, hatte dem Brand aber zum größten Teil standgehalten. Die Feuerwehrleute waren seiner Totalzerstörung zuvorgekommen. Auch die erlesenen Landschaftsbilder an den geschwärzten Mauern wiesen lediglich minime Rauch- und Wasserschäden auf. Ein antiker Sekretär aber hatte den Anschlag nicht überlebt. Er lehnte in Schieflage am Mauerwerk; das einzig übrig gebliebene Holzbein grotesk von sich streckend. Zwei in silbernen Einfassungen gehaltene Porträts lagen auf dem Boden daneben. Es war anzunehmen, dass sie vor ihrem Fall auf der Fläche des kleinen Schreibtisches gestanden hatten. Die dicken Gläser und ihre Rahmen waren unversehrt. Sie hatten die Bilder geschützt und vor der Destruktion bewahrt.

Cervoni streifte sich blaue Nitril-Schutzhandschuhe über, schob auf der Rückseite des Rahmens die schwarzen Klammern nach außen in Richtung Bildrand und löste zuerst die Hartfaserplättchen und danach die Fotografien sorgfältig heraus. Ein Porträt zeigte einen Mann mittleren Alters. Braun gebrannt und mit ergrauten Schläfen. Er war sportlich gekleidet. Seine Hände hielten einen Golfschläger, bereit zum Abschlag. Ein Goldring mit einem erstaunlich großen, antik geschliffenen Diamanten zierte den Kleinfinger seiner linken Hand. Auf der zweiten Aufnahme waren ein Junge und eine Frau zu sehen. Cervoni schätzte das Alter des Knaben auf vier oder fünf Jahre; die elegant gekleidete Dame auf Mitte dreißig. Piero steckte die Bilder in eine Plastikhülle und verschloss sie hermetisch. Die Haarbürste, die Piero in einer der beiden Nasszellen behändigte, versank in einer separaten Schutzfolie. Ein grauer Wandtresor erregte seine Aufmerksamkeit. Er war zugesperrt. Das Sicherheitsschloss wies deutliche Spuren einer älteren Gewaltanwendung auf. Jemand muss erfolgslos versucht haben, an den Inhalt des Geldschranks zu gelangen. Die Schlafzimmer waren vom Brand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Nach Auskunft der Feuerwehr hatten sie beim Eindringen in die Wohnung die Türen zum Zimmer und der Wohnküche abgeschlossen vorgefunden. Cervoni öffnete die Wandgarderobe. Wahrscheinlich teure Damenkleider hingen an einer ausziehbaren Stange. Größe sechsunddreißig war auf einer ins Futter eingenähten Etikette einer französischen Nobelmarke zu lesen. Sie hätten zu der zierlichen Frau auf der Fotografie gepasst. Im Schubfach auf der rechten Seite des Kastens lag, fein säuberlich geordnet, vielfarbige Damenunterwäsche. In einer anderen warteten, noch in ihrer Originalplastikhülle verpackt, schwarze Strümpfe aus Seide auf ihren ersten Einsatz. Im untersten Schubfach entdeckte Piero eine Schatulle mit Modeschmuck. Nichts Wertvolles. Zudem eine Schwarz-Weiß-Aufnahme mit dem Porträt eines unbekannten Mädchens; auf der Rückseite der Aufnahme der Stempel mit dem Namen eines sizilianischen Fotostudios ohne Datum. Auch dieses Bild wurde gesichert. Piero nahm sich vor, den italienischen Urheber der Fotografie ausfindig machen zu lassen, obwohl er sich nicht allzu viel von seinem Vorhaben versprach. Béatrice wird sich darum kümmern. „Während du hier weiter ermittelst, werde ich nach dem Concierge der Immobilie Ausschau halten. Vielleicht arbeitet er gerade irgendwo hier in der Gegend. Ich denke, dass zu dieser Wohnung ein Kellerabteil und eventuell auch eine Garage gehören. Wenn dem so ist, könnte ich noch heute einen Blick hineinwerfen, falls wir den Mann ausfindig machen können.“ Piero hatte Glück: Er fand den Concierge der Liegenschaft nur wenige Augenblicke später. Der in einen grauen Overall gekleidete Hausangestellte war gerade dabei, die Dichtung eines tropfenden Wasserhahns, an der Außenwand des Nachbargebäudes, auszutauschen. „Sie sind von der Polizei!“, vermutete Monsieur Delors richtig. „Verflucht unangenehme Sache, die da passiert ist“, bedauerte er, noch bevor Cervoni dazu kam, sich vorzustellen und ihm einen Blick auf seinen Ausweis zu erlauben. „So ist es“, bestätigte Piero und fragte: „Kennen Sie die Mieterin des zu Schaden gekommenen Appartements persönlich?“ Monsieur Delors schüttelte entschieden sein kahles Haupt. „Persönlich kennen wäre etwas übertrieben, wenn ich mir die Feststellung erlauben darf. Ich habe ein einziges Mal, und auch nur zwei, drei Worte mit Madame Hakan gewechselt. Ganz offiziell, weil es eben sein musste! Es war am ersten April letzten Jahres. Es war der Tag, an dem ich Madame die Schlüssel zu ihrer frisch renovierten Wohnung aushändigte. Die Vormieter hatten das Appartement in einem derart desolaten Zustand zurückgelassen, dass eine Vollsanierung notwendig war.“ „Und weshalb erinnern Sie sich so präzise an das Datum, den ersten April?“, wollte Cervoni wissen. „Ganz einfach: Der erste April und der erste Oktober sind die obligaten Zügeltermine“, erklärte er. „Es ist eher selten, dass es an anderen Daten zu einem Mieterwechsel kommt. Da muss schon jemand verstorben sein oder so. Also es war bestimmt am ersten April vergangenen Jahres“, wollte der Concierge nochmals festhalten. Hat er den Eindruck, ich schenke seiner Aussage keinen Glauben? „Nun, Madame Hakan hält es seither nicht mehr für erforderlich, mich zu grüßen“, fuhr er redselig fort. „Wenn wir uns auf der Straße oder in der Immobilie über den Weg laufen, tut sie so, als würde sie mich nicht wiedererkennen. Mir macht das nichts aus, das dürfen Sie mir glauben. Ich habe nämlich beobachtet, dass die feine Dame sich gegenüber allen Mietbewohnern dieser Liegenschaft so verhält. Ist bestimmt verdammt reich. Glaubt wohl etwas Besseres als unsereins zu sein, nur weil sie einen teuren Schlitten fährt. Einen Mercedes GT Roadster. Ich kenne mich da aus“, versicherte er wichtig. „In diesem Zusammenhang ist mir noch etwas aufgefallen, was für Sie gegebenenfalls von Interesse sein kann: Die Limousine trägt ein Tessiner Kfz-Kennzeichen.“ „Dann haben Sie sich bestimmt auch die Nummer eingeprägt?“, stoppte Piero Delors Worterguss. Der Concierge überlegte lange, sehr lange; erklärte sich schlussendlich und mit Bedauern außerstande, sich an die Zahlenreihe entsinnen zu können. Sein verlegener Gesichtsausdruck verriet, dass er sich über seine Vergesslichkeit aufregte. Vermutlich schämte er sich sogar.

Die anschließende Besichtigung des der Wohnung zugewiesenen Kellerraums erwies sich wider Erwarten als reine Zeitverschwendung. Er war nämlich, von einigen inhaltslosen und nicht etikettierten Plastikbehältern abgesehen, vollkommen leer. „Madame hat das Abteil nie genutzt“, lamentierte der Concierge und rümpfte missbilligend die Nase. „Sie könnte das Lokal wenigstens freigeben und anderen Leuten zur Verfügung stellen oder weitervermieten! Die Autoabstellplätze und Einzelgaragen sind dort drüben“, präzisierte er. „Ich werde Sie gerne hinbringen. Selbstverständlich verfügt Madame Hakan über eine Einzelgarage, die sie aber, so viel mir bekannt ist, nie benutzt. Wenn sie gelegentlich mal hier aufkreuzt, stellt sie ihren Wagen für gewöhnlich auf einem der Besucherplätze ab. Keine Ahnung weshalb. Kann mir aber vorstellen, dass es etwas mit der Größe der Garagen zu tun haben muss. Sie sind ein wenig eng bemessen und nicht für Boliden gedacht, wie Madame einen fährt.“

Monsieur Delors kam Pieros Aufforderung nach und öffnete mit seinem Passepartout das Tor zu Madame Hakans gemietetem Autoeinstellplatz. War die Besichtigung des Kellers enttäuschend verlaufen, entpuppte sich nun die Inspektion dieses Rauminhalts als echte Überraschung: Große, zum Teil aus Holz gefertigte Behälter türmten sich bis hin zur Decke. Für ein Fahrzeug, auch kleinformatig, wäre da wohl kein Platz gewesen. Deshalb also Madame Hakans Vorliebe für die Besucherparkplätze. Cervonis Neugier war geweckt. „Was haben wir denn da Interessantes?“, fragte er laut, obwohl er jetzt allein war. Der Hauswart hatte sich wegen eines Anrufs auf seinem Handy für unbestimmte Zeit entfernen müssen, ein Umstand, der Cervoni gelegen kam. Gedankenverloren malträtierte er sein Ohrläppchen. Wie immer ein ernst zu nehmendes Zeichen, wenn ihn das Gefühl überkam, vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen, oder sich gar etwas Entscheidendes anzubahnen drohte.

Abgesehen von den Holzkisten standen mehrere, von der Größe her unterschiedliche Kartonbehälter zur Auswahl; ein gutes Dutzend an der Zahl. Bevor Piero sich an einer der zahlreichen Kisten zu schaffen machte, überlegte er, welche er zuerst aufmachen sollte. Er entschied sich für eine der kleineren. Cervoni nutzte die Okkasion des Alleinseins, klappte sein Sackmesser auf und entfernte vorsichtig die Sicherheitsplombe, die Deckel und Körper der Holzkiste zusammenhielt. Die Schachtel barg einen in Seidenpapier eingewickelten, vermutlich handgefertigten Kultgegenstand aus Bronze. Abgesehen von seinem Alter, in Cervonis Augen nichts Aufsehenerregendes! In einem zweiten Behälter lagen vier siebeneckige versilberte Kerzenhalter, vermutlich jüdischer Herkunft und, nach Pieros Einschätzung, auch nicht besonders wertvoll, weil bestimmt keine hundert Jahre alt. Wobei er wohlbemerkt in diesen Dingen nicht besonders bewandert war.

Cervoni war soeben daran, sein Tun vorübergehend einzustellen, als sein geübtes Auge auf eine unifarbene Holzkiste fiel, die sich in Form, Volumen und Material deutlich von den anderen Verpackungen abhob. Vermutlich lag es auch an der rötlichen, siegelartigen Masse, die den Behälter wie eine schützende Hülle umgab, sodass er sich für den Fund interessierte. Piero nahm erneut sein Messer zu Hilfe. Ein vorsichtiger Blick durchs geöffnete Garagentor bestätigte, dass er nach wie vor allein und unbeobachtet war. Es brauchte seine Zeit, bis sich das zähe Material wegkratzen und die Holzkiste am Ende öffnen ließ. Piero hob den Deckel an und legte das in einen Seidenschal gewickelte Gerät frei. Hatte Piero an seinen bisherigen Entdeckungen wenig bis gar nichts Interessantes ausmachen können, zeigte sich diesmal der Inhalt als geradezu spektakulär. Cervonis Herz raste vor Verblüffung. Vorsichtig löste er die Vasa sacra aus ihrer Verpackung und hielt sie beinahe devot ans Tageslicht, das durch die geöffnete Garagentür ins Innere fiel. Das liturgische Schaugerät, eine kostbare aus Gold und Edelsteinen gestaltete Monstranz, enthielt in ihrem Fensterbereich eine konsekrierte Hostie. Piero schätzte das Gewicht des barocken Gegenstandes auf mehrere Kilogramm. Die Monstranz, mit ihrem aufwendig verarbeiteten und gestalteten Strahlenkranz, ihrer reichen Ornamentik, weckte Erinnerungen an seine Zeit als Ministrant. Bevor er das sakrale Gerät wieder in den Seidenschal einwickelte und in die Holzkiste zurücklegte, hielt er es fotografisch auf dem mobilen Telefon fest. Cervoni konsultierte seine Armbanduhr. Er überlegte, ob er den Inhalt einer weiteren Schachtel oder Kiste inspizieren sollte. Das Jagdfieber hatte ihn dermaßen gepackt, dass es ihn einiges an Überwindung kostete, an diesem Punkt seine Arbeit zu unterbrechen. Im Grunde genommen wäre der Zeitpunkt gekommen, ein, zwei Kollegen aufzubieten und sie mit dem Abtransport des gesamten Materials zu beauftragen. Dazu brauchte es aber die Zustimmung seines Vorgesetzten respektive des Staatsanwaltes. Er wollte soeben im Kommissariat anrufen, André LeGrands und eventuell Eric Bonvins Einverständnis einholen, als sein Handy oszillierte. Es war Béatrice. „Bist du sehr beschäftigt?“, erkundigte sie sich. Piero hörte, wie sie um Atem rang. „Ich bin in Madame Hakans Autounterstand. Werde vermutlich noch eine Weile hier zu tun haben“, antwortete er. „Kannst du vielleicht trotzdem einen Moment deine Sucherei unterbrechen? Nicht, dass es etwa sehr dringend wäre! Aber ich habe etwas Sensationelles gefunden, das ich dir, bevor ich hier weitermache, unter allen Umständen zeigen muss.“ Béatrices Stimme überschlug sich vor lauter Aufregung. Cervoni fiel es schwer, seine Neugier in Zaum zu halten. „Wir haben etwas gemeinsam“, verriet er. „Auch ich habe etwas aufgespürt, das es in sich hat. Gib mir drei Minuten, dann komme ich zu dir. Mal sehen, was du zutage gefördert hast. Deine Entdeckung hat freilich Vorrang.“ „Unverbesserlicher Schmeichler“, kam ihre prompte Antwort. Darauf kappte Béatrice die Verbindung. Sie konnte es kaum erwarten, Piero mit ihrer Ausbeute zu verblüffen. Es war vorauszusehen, dass ihr Kollege und Vorgesetzter begeistert sein würde.

Bellinzona

Mit dem späten Anrufer hatte Sergio Antonioni nicht gerechnet. „Piero? Piero Cervoni?“, fragte er ebenso ungläubig wie erfreut. „Das ist aber eine gelungene Überraschung, und um diese Uhrzeit! Es sind Monate her, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben.“

Während ihres gemeinsamen fünftägigen Seminars im Vorjahr in Interlaken, an dem ein gutes Dutzend höhere Polizeibeamte aus der ganzen Schweiz teilnahmen, hatten sich Antonioni und Piero angefreundet, seither aber eine eher lockere Beziehung gepflegt. Ein Kontakt, der sich in der Vergangenheit auf einige unregelmäßige Telefonate, Gedankenaustausche und Geburtstagsglückwünsche beschränkte.

„Soll dein längst überfälliges Telefonat etwa bedeuten, dass du dein Versprechen am Ende doch noch einlösen und einige Tage Ferien im Tessin verbringen wirst?“, scherzte Sergio. „Zwei, drei Tage Urlaub könnten beileibe nicht schaden“, seufzte Piero. „Nur hat mein Anruf mit Erholung kaum etwas gemeinsam.“ Mit wenigen Worten klärte er seinen Tessiner Kollegen auf, was es mit seinem nächtlichen Anruf auf sich hatte.

Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als die Tür zu Sergio Antonionis Arbeitsraum in dieser Nacht definitiv ins Schloss fiel.

***

Der Schnellzug, den Cervoni zu früher Morgenstunde bestiegen hatte, fuhr mit vertretbaren drei Minuten Verspätung im Bellenzer Bahnhof ein. Sergio Antonioni erwartete ihn am Ende des Perrons. Er war zu zeitig dort eingetroffen und deswegen etwas aufgeregt. Vorfreude? Piero hatte ihn als überpünktliche Person in Erinnerung, was sich einmal mehr wahr machte. Die Freunde hatten sich seit erwähntem Seminar nicht mehr gesehen, dementsprechend fiel ihre Begegnung stürmisch aus. Sie umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf Schultern und Arme. Piero versetzte Sergio einen kameradschaftlich sanften Boxschlag in die Brust. „Deine Neue scheint eine gute Köchin zu sein“, meinte Cervoni mit einem Blick auf Antonionis sich im weißen Hemd auffällig abzeichnendes Bäuchlein. Sergio hatte ihm bei einem ihrer gelegentlichen Telefongespräche verraten, dass er des Alleinseins überdrüssig sei. Er gedenke, trotz einiger Vorbehalte, nochmals den Sprung ins Unbestimmte zu wagen. „Ich hätte dich bei der Ziviltrauung gerne dabeigehabt. Aber außer zu einer bescheidenen Zeremonie auf dem Standesamt und einer Pizza in einer Trattoria reicht es leider nicht“, hatte er damals, kurz vor seiner Vermählung, aufrichtig bedauert. Piero war ihm deswegen nicht böse gewesen, wusste er doch um Sergios pekuniäre Verhältnisse. Wegen der definitiven Trennung von Antonionis erster Gemahlin, und des finanziellen Desasters, das die Ehescheidung mit sich gebracht hatte, würde seine schlaffe Geldbörse wohl noch für längere Zeit an Magersucht leiden.

***

Sergio Antonioni hatte gut daran getan, für diesen Abend im Grotto San Michele einen Tisch zu reservieren. Bei warmem Wetter, und insbesondere an Wochenenden, war das charakteristische Tessiner Lokal zumeist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Das nicht nur von Touristen, sondern auch von Einheimischen geschätzte Gasthaus stand seit Tagen aber aus einem anderen Grund im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Befand es sich doch nur wenige Schritte von der Torre Nera, dort wo sich das Ungeheuerliche zugetragen haben soll, entfernt. Das plötzliche Schweigen der Presse und der Behörden in diesem Fall war ein geradezu idealer Boden für das Sprießen von Spekulationen übelster Art. Der Pächter des Betriebes sah sich ab der ersten Stunde wiederholt hinlänglichen Fragen ausgesetzt, die er, zur allgemeinen Enttäuschung seiner Gäste, ausnahmslos mit einem bedauernden Achselzucken beantwortete. Er hatte weitaus Wichtigeres zu tun, als sich an der brodelnden Gerüchteküche zu beteiligen. Ein falsches Wort, eine leicht dahergeredete Mutmaßung, und schon wäre das Malheur angerichtet. Ein Schaden, der seinem Etablissement bestimmt nicht einträglich sein konnte.

„Bringen Sie uns bitte eine Flasche Castagneto“, orderte Antonioni. Sergio wusste um Cervonis beinahe mythische Weinkenntnisse. Dass er bei seinem Freund mit dem Tessiner Chardonnay trumpfen würde, war vorauszusehen. Piero hielt das Glas neugierig gegen das Licht. „Erstaunliche Farbe“, meinte er ehrlich überrascht, bevor er den intensiv gelb schimmernden Wein verkostete. „Wirklich bemerkenswert“, wiederholte er. „Nimmt man beim Abgang ein feines Holz- und Röstfinale wahr, was zweifellos auf den partiellen Barriqueausbau zurückzuführen ist, spürt man nichts mehr von dem Zitrus- und Ananasgeruch, der mir beim Schwenken sofort in die Nase gestochen ist.“ Der Patron des Lokals, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seinen Gästen den Nektar höchstpersönlich zu servieren, zeigte sich beeindruckt. „Du solltest deinen Beruf wechseln!“, gab Antonioni von sich. Er konnte nicht verhehlen, dass ihn Pieros Freundschaft mit Stolz erfüllte. „Es geht mir keineswegs darum, deine kriminalistischen Fähigkeiten in den Schatten zu stellen. Gott behüte! Aber dass der perfekte Sommelier an dir verloren gegangen ist, kannst nicht mal du in Abrede stellen.“ Cervoni lächelte verlegen.

Die Freunde ließen sich zu einer Variation luftgetrockneter Spezialitäten aus der Region, kredenzt mit Tessiner Feigensenf und ofenwarmem, hausgemachtem Brot, verleiten. Piero war besonders auf die Hauptspeise gespannt, ein knusprig braun geröstetes Spanferkel, begleitet von Salbei-Bratkartoffeln, eine kulinarische Besonderheit des Hauses. Sergio hatte beim Aufstieg zum Schlossrestaurant in allen Tönen von dem Leckerbissen geschwärmt. „Es ist das beste maialino da latte, das ich in meinem Leben je serviert bekommen habe“, pflichtete ihm Piero schon nach dem ersten Bissen bei. Für Sergio war es eine Selbstverständlichkeit, seinem Freund diesmal die Wahl des Rotweins zu überlassen. „Eine echte Trouvaille“, versicherte der Pächter des Restaurants und goss den edlen Tropfen, einen Stella del Pastore, ein Merlot aus dem Valle di Blenio, zum Verkosten in Pieros Trinkglas.