Lucid Truth – Was, wenn wir nicht erwachen? - Nina Martin - E-Book

Lucid Truth – Was, wenn wir nicht erwachen? E-Book

Nina Martin

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Beschreibung

Nachdem bei einem Manöver der Traumunion das letzte goldene Tor und mit ihm große Teile Somnas zerstört wurden, gerät die Welt aus ihren Fugen. Die Albträume der Menschen nehmen zu, immer mehr protestieren auf den Straßen, und sogar die Gabe der Traumgänger scheint in Gefahr …  Im Zentrum dieses Machtkampfes müssen Ria und Selena ihre Seite wählen. Während Ria  für die Propaganda der Traumunion eingespannt werden soll, fliegt Selena mit Freundin Mo nach Griechenland. In den Unterlagen ihres Vaters muss es einen Hinweis geben, was nun mit Somna geschehen wird. Und schon bald entspinnt sich ein Wettlauf mit der Zeit, denn plötzlich geschehen Dinge, die es eigentlich nur in Träumen gibt … in Albträumen. Phantastisch, spannend und unfassbar real – Lucid Truth ist Band 2 der traumhaften Contemporary-Fantasy-Trilogie von Nina Martin 

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Seitenzahl: 553

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Nina Martin

Lucid Truth

Was, wenn wir nicht erwachen?

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nachdem bei einem Manöver der Traumunion das letzte goldene Tor und mit ihm große Teile Somnas zerstört wurden, gerät die Welt aus ihren Fugen. Die Albträume der Menschen nehmen zu, immer mehr protestieren auf den Straßen, und sogar die Gabe der Traumgänger scheint in Gefahr … 

Im Zentrum dieses Machtkampfes müssen Ria und Selena ihre Seite wählen. Während Ria  für die Propaganda der Traumunion eingespannt werden soll, fliegt Selena mit Freundin Mo nach Griechenland. In den Unterlagen ihres Vaters muss es einen Hinweis geben, was nun mit Somna geschehen wird. Und schon bald entspinnt sich ein Wettlauf mit der Zeit, denn plötzlich geschehen Dinge, die es eigentlich nur in Träumen gibt … in Albträumen.

 

Phantastisch, spannend und unfassbar real – Lucid Truth ist Band 2 der traumhaften Contemporary-Fantasy-Trilogie von Nina Martin 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nina Martin, Jahrgang 1991, erzählt schon seit ihrer Kindheit Geschichten. Durch eine persönliche Erfahrung mit dem Thema Sterblichkeit, entschied sie, ihren Traum vom Schreiben endlich zu leben. Lucid Night ist ihr Jugendbuch-Debüt. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Schweiz.

 

Weitere Informationen zur Autorin auf Instagram unter ninamartin_books

Inhalt

Prolog

1 Ria

2 Selena

3 Ria

4 Selena

5 Ria

6 Selena

7 Ria

8 Selena

9 Ria

10 Selena

11 Ria

12 Selena

13 Ria

14 Selena

15 Ria

16 Selena

17 Ria

18 Selena

19 Ria

20 Selena

21 Ria

22 Selena

23 Ria

24 Selena

25 Ria

26 Selena

27 Ria

28 Selena

29 Ria

30 Selena

31 Ria

32 Selena

33 Ria

34 Selena

35 Ria

36 Selena

37 Ria

38 Selena

39 Ria

40 Selena

41 Ria

42 Selena

Danksagung

Prolog

Er existiert. Das ist das Einzige, dessen er sich wirklich sicher sein kann. Lebt er? Vermutlich. Ist er noch in Somna? Vielleicht.

Er macht ein paar Schritte durch den unendlichen goldenen Nebel. Nebel, nur Nebel. Weiche, warme Weite. Und dann, immer wieder, feste Konturen, die sich jedoch gleich wieder in goldenen Schwaden verlieren. Nichts bekommt er zu fassen, nichts kann er greifen. Und trotzdem fühlt er sich nicht unwohl, im Gegenteil. Es ist, als würde er schweben – nicht körperlos, aber doch schwerelos. Da ist etwas unter seinen Füßen, aber es ist kein Boden. Er wird umarmt von den goldenen Schwaden, als wollten sie ihm sagen, dass alles gut sei. Dabei hat er keine Angst. Angst hatte er nur, als er durch das Tor gefallen ist. Danach nicht mehr. Und trotzdem kann er nicht hierbleiben. Das weiß er. Doch der Grund dafür entgleitet ihm immer wieder, ebenso wie die Konturen, wenn er danach greift. Da ist etwas, das auf ihn wartet. Jemand. In dem anderen Leben, in der anderen Welt, auf der anderen Seite des Tores.

Aus dem Nebel schält sich eine Stadt heraus. Straßen, die ihm vertraut sind. Und ein Turm, höher als alle anderen Gebäude und mit einer Kugel direkt unter der Spitze. Einen Moment weiß er, warum dieser Turm wichtig ist. Im nächsten ist es ihm wieder entfallen.

Nein. Er darf es nicht vergessen. Darf sie nicht vergessen. Wieder nimmt der Nebel vor ihm Konturen an, und seine Erinnerungen tun es ihm gleich.

Die Schwaden tanzen, formen sich, nehmen Gestalt an. Und noch bevor sie zur Ruhe kommen, weiß er, was sie ihm zeigen werden. Ein Gesicht. Ihr Gesicht. Sie sieht in die Ferne, und ihre Haare liegen wie ein goldener Rahmen um ihre Züge. Ihr Blick geht in seine Richtung und doch an ihm vorbei. Er streckt die Hand aus, möchte ihre Wange berühren, sie in die Arme schließen. Aber er erreicht sie nicht.

Und während sich ihr Gesicht wieder in den goldenen Schwaden verliert, ruft er: »Ria! Ich bin es! Ich werde irgendwie zu dir zurückkommen!«

1Ria

Pressemitteilung

Zwei Wochen sind inzwischen seit der fast gänzlichen Zerstörung der Traumwelt Somna vergangen. Die internationale Traumunion ist nach wie vor intensiv mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Trotz aller Bemühungen bestehen jedoch weiterhin zahlreiche Löcher in Somna und verursachen fortwährende Albträume unter der Weltbevölkerung.

 

Am heutigen Freitagmorgen fand eine Pressekonferenz zu dem Thema statt, an der folgende Personen teilnahmen:

Giacomo Laurenti, Generalsekretär der internationalen Traumunion

Joseph Hoggs, stellvertretender Generalsekretär der internationalen Traumunion

Wolfgang Erlbach, Traumkommissar und Bereichsleiter »Ausbildung«

Gregory Graham, Traumkommissar und Bereichsleiter »Forschung«

Frank Maywald, Leitung Presse und Kommunikation

 

Die internationale Traumunion nimmt die Sorgen der Bevölkerung äußerst ernst. Giacomo Laurenti, Generalsekretär der internationalen Traumunion, äußerte sich auf die Frage einer Journalistin wie folgt: »Ich habe volles Verständnis dafür, dass sich derzeit ein Gefühl der Verunsicherung in der Bevölkerung ausbreitet. Die Veränderungen in Somna erinnern einige an die Geschehnisse vor sieben Jahrzehnten, als durch gezielte Manipulationen in Somna das ausgelöst wurde, was wir heute den großen Traumkrieg nennen. Doch ich kann allen versichern, dass dies eine gänzlich andere Situation ist. Es handelt sich hier nicht um gezielte und politisch motivierte Manipulationen, sondern um die Zerstörung der Traumwelt durch einen illegalen Traumgänger. Bitte geben Sie uns Zeit, Somna wieder zu seiner alten Größe aufzubauen und den schuldigen Traumgänger seiner gerechten Strafe zuzuführen.«

 

Bei dem Traumgänger, der vor zwei Wochen Somna bis auf einen kleinen Bereich in Berlin zerstört und anschließend die Flucht ergriffen hat, handelt es sich um den 28-jährigen US-Amerikaner Eric Clayton. Derzeit ist sein Aufenthaltsort unbekannt. Eine internationale Fahndung läuft und um Mithilfe der Bevölkerung wird gebeten. Im Anhang dieser Pressemitteilung finden Sie ein Fahndungsbild und Informationen zur Höhe der Belohnung für sachdienliche Hinweise.*

 

Nach dem derzeitigen Zustand Somnas gefragt, antwortete Joseph Hoggs, stellvertretender Generalsekretär: »Wir sind Tag und Nacht damit beschäftigt, den alten Zustand der Traumwelt wiederherzustellen. Etliche Erfolge haben wir dabei bereits erzielt. So sind etwa alle Megacitys mit über zehn Millionen Einwohnern wieder zur Gänze aufgebaut worden. Sobald wir den Aufbau der urbanen Traumlandschaften abgeschlossen haben, werden wir uns auch den ländlichen Gegenden widmen. Und dann kann ich Ihnen allen versprechen, dass die Albträume verschwinden und Sie wieder genug Platz für Ihre Träume haben werden. Bis dahin möchten wir an Ihre Geduld appellieren und uns für das in uns gesetzte Vertrauen bedanken.«

 

Neben den jüngsten Ereignissen in Somna thematisierte die Führungsriege der Traumunion auch eine weitere Entwicklung, die derzeit die Öffentlichkeit beschäftigt: der Fall Ria Maywald. Hierzu äußerte sich Wolfgang Erlbach, Traumkommissar und Leiter des Bereichs »Ausbildung«, wie folgt: »Ria Maywald wurde vor wenigen Wochen in die Ausbildung der Traumunion aufgenommen, nachdem man bei ihr eine schwach ausgeprägte Traumgängergabe festgestellt hatte. Es ist äußerst verständlich, dass wir seit Rias Aufnahme unzählige Anfragen von Mädchen und Frauen erhalten haben, die auf die Traumgängergabe getestet werden möchten. Leider muss ich sagen, dass sich keiner dieser Verdachtsfälle bisher bestätigt hat. Bei Ria Maywald scheint es sich um eine genetische Abnormität zu handeln, die derzeit von unserem Expertenteam erforscht wird.«

 

Am kommenden Montagmorgen soll ein Live-Interview mit Ria Maywald stattfinden, bei dem Maywald sich mit der international bekannten Moderatorin Irena Cox unterhalten und ihre Sicht auf die jüngsten Geschehnisse darlegen wird.

 

*Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Pressesprecher Frank Maywald unter [email protected]

Ich schiebe das Tablet mit der Pressemitteilung von mir und stehe so ruckartig auf, dass der Schreibtischstuhl meines Vaters davonrollt. Mit zwei Schritten bin ich bei der großen Fensterfront und lehne die Stirn an das kühle Glas. Das Gefühl grenzenloser Erschöpfung spült durch meinen Körper, und würde die Scheibe mich nicht aufrecht halten, würde ich sicherlich einfach in mich zusammensacken.

Müde blinzele ich. Vor mir zeichnet sich meine eigene Reflektion ab und dahinter das unbeteiligte Vibrieren der Stadt. Autos halten an Ampeln, fahren wieder an. Menschen laufen über die Bürgersteige, genießen die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Sie befinden sich nur wenige Meter unter mir, und doch kommen sie mir so unglaublich weit weg vor. Absolut unerreichbar. Die Tage, in denen ich unbeschwert und vor allem unerkannt durch die Straßen Berlins laufen konnte, sind wohl für immer vorbei. Jetzt bin ich Ria Maywald, die erste weibliche Traumgängerin, und jeder Mensch auf der Welt kennt mein Gesicht. Vermutlich sollte ich noch nicht mal hier am Fenster stehen, wenn ich nicht will, dass mich jemand entdeckt. Aber auf eine seltsam teilnahmslose Art ist es mir auch egal. Gleich findet das Interview statt, und dann wird mich eh jeder sehen können.

Ich starre auf die Blätter der vereinzelten Bäume, die vor den grauen Fassaden farbenfroh leuchten und die ersten Vorboten des Herbstes sind. Es ist, als wäre der Sommer zusammen mit Yunus gestorben.

Wie eine eiserne Faust drückt etwas meinen Magen zusammen. Ich atme tief ein und aus, so wie die Psychologin der Traumunion es mir empfohlen hat, und die Scheibe vor mir beschlägt. Einatmen, ausatmen. Es sind Schuldgefühle, die mich plagen, hat die Psychologin gesagt. Ich gebe mir selbst die Schuld an Yunus’ Tod und an der Zerstörung der Traumwelt, meinte sie. No shit, Sherlock. Ich bin ja auch schuld. Hätte ich nicht vorgeschlagen, Somna fast vollständig zu zerstören, um die illegalen Traumgänger zu fassen, würde jetzt nicht die ganze Welt unter schlimmeren Albträumen leiden als zuvor. Und wäre ich nicht mit Yunus direkt vor dem letzten strahlenden Tor gewesen … Hätte er nicht versucht, mich vor diesem Eric Clayton zu retten … Hätte ich irgendwie verhindert, dass er durch das Tor fällt … Hätte ich nach seinen Händen gegriffen, ihn irgendwie zurückgezogen …

Stopp.

Einatmen.

Ausatmen.

Ich kann es nicht rückgängig machen. Ich kann es nicht rückgängig machen. Immer wieder sage ich mir innerlich diesen Satz. Wenn ich morgens aufwache und in die schmerzhafte Realität zurückkatapultiert werde. Wenn ich versuche, die lähmende Erschöpfung zu überwinden, die seit zwei Wochen in jeder Zelle meines Körpers sitzt. Wenn alles in der Traumunion mich an Yunus erinnert. Wenn ich zum tausendsten Mal durchgehe, was ich hätte tun können, um zu verhindern, dass er durch das Tor stürzt. Ich kann es nicht rückgängig machen.

Ein Kribbeln durchfährt mich. Ruckartig löse ich die Stirn von der Fensterscheibe. Nein. Ich habe es mir eingebildet. Nur eingebildet. Das war nicht Yunus’ Gesicht, das da plötzlich vor mir aufgetaucht ist. Das waren nicht seine braunen Augen, deren sehnsuchtsvoller Blick sich tief in mich gegraben hat. Es war Wunschdenken. Alles nur Wunschdenken. Ein Trick der Sonne oder meines übermüdeten Gehirns.

Ich kann es nicht rückgängig machen. Einatmen, ausatmen.

»Ria?«

Ich zucke zusammen und fahre herum.

Mein Vater steht im Türrahmen seines Büros und sieht mich abwartend an. »Bist du bereit?«

Ich wische mir übers Gesicht und nicke. Ich muss die Erinnerung an Yunus’ Gesicht loswerden, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt zu haben scheint. Sie haben mir extra einen Tag Pause vom Wiederaufbau in Somna gegeben, damit ich fit für das Interview bin. Und was passiert? Anstatt ausgeruhter zu sein, sehe ich Yunus, obwohl er nicht hier ist. Es nie wieder sein wird.

»Du siehst wirklich schön aus!«, sagt mein Vater, während er auf mich zukommt. »Da haben sie ja ganze Arbeit geleistet mit dem Make-up!«

Und so schnell kann man ein Kompliment ruinieren … Fast hätte ich laut aufgelacht, wäre ich nicht so erschöpft.

»Hast du dir die Pressemitteilung noch mal durchgelesen?«, will er wissen.

Mein Blick huscht zurück zu dem Tablet auf dem Schreibtisch. »Ja, habe ich.«

»Gut. Dann ist die offizielle Position also klar für dich?«

Ich unterdrücke ein Schnauben. Als hätte ich die Pressemitteilung noch mal lesen müssen, um zu wissen, was Giacomo Laurenti und die anderen Amtsträger der Öffentlichkeit über mich und die Zerstörung Somnas erzählen. Ich bin nicht unbedingt einverstanden damit. Aber ich spiele mit. Nicht nur, weil ich die Stärke der Traumunion brauche, um Somna wiederaufzubauen und damit einen Teil meiner Schuld wiedergutzumachen, sondern weil ich schlicht keine Energie für Widerstand habe. Die Psychologin hat das als »Zustand der Apathie« beschrieben. Eine nette Formulierung dafür, dass ich so erschöpft bin, dass mir fast alles scheißegal ist.

Also nicke ich. »Ich kann gar nichts und finde es ganz toll, wie die Traumunion gerade Somna wiederaufbaut«, fasse ich zusammen.

Kurz meine ich, den Anflug eines schlechten Gewissens über das Gesicht meines Vaters huschen zu sehen, aber dann ist da wieder die professionelle Fassade. Wie oft habe ich in den letzten zwei Wochen diesen inneren Kampf auf seinem Gesicht beobachtet? Er weiß, dass ich leide. Er muss ahnen, dass da etwas zwischen Yunus und mir lief. Auch wenn ich selbst nicht so genau weiß, was das war. Aber mit mir darüber geredet hat er noch nie. Vermutlich hofft er, dass meine Mutter das erledigen wird, wenn ich sie morgen endlich sehe. Wie so oft spüre ich das Ziehen der Sehnsucht in meinem Inneren, wenn ich an meine Mutter denke.

»Willst du die Interviewfragen auf dem Weg nach oben noch mal durchgehen?«, unterbricht er meine Gedanken. »Die anderen sind schon alle auf dem Dach.« Ohne meine Antwort abzuwarten, nickt er mir auffordernd zu und wendet sich wieder zur Tür.

Ich zwinge mich dazu, ihm zu folgen. Ich muss das hier jetzt hinter mich bringen. Ich werde das jetzt hinter mich bringen. Ein Blick auf die Smartwatch an meinem Handgelenk bestätigt es mir: nur noch ein paar Minuten, bis das Interview beginnt.

Mein Vater läuft bereits den Flur hinunter und hält seinen Mitarbeiterausweis vor einen Sensor, um die nächste Tür zu öffnen.

»Also«, beginnt er, sobald wir die Tür passiert und einen weiteren Korridor betreten haben. »Ich weiß, dass du nicht gern vor der Kamera stehst. Aber es kann gar nichts schiefgehen, wenn du dich einfach an die abgesprochenen Antworten hältst. Ist dir da noch irgendwas unklar?«

Ich schüttele den Kopf, während zu der Enge und dem Ziehen in meinem Inneren auch noch Übelkeit dazukommt. Die Vorstellung, in ein paar Minuten live vor einer Kamera zu stehen, lässt die Galle in meinem Magen gefährlich aufsteigen.

»Zeig den Leuten einfach, dass du hier in der Union bist und es dir gutgeht«, fordert er mich auf, und ich bin mir nicht sicher, ob er sich der Ironie seiner Worte bewusst ist.

Denn es geht mir nicht gut. So viel steht fest. Aber immerhin ist das nicht die Schuld der Traumunion, es wäre also keine Lüge, das den Leuten zu erzählen.

»Sie wollen dich töten und es wie einen Unfall aussehen lassen.« Aus irgendeinem Grund muss ich plötzlich wieder an das denken, was Eric Clayton mir in Traum-Berlin zugerufen hat. Der illegale Traumgänger hat behauptet, dass die Traumunion die Bösen sind, dass Giacomo Laurenti und seine Kollegen nur an meine Fähigkeiten kommen wollen. Doch bisher hat sich diese Anschuldigung nicht bewahrheitet. Niemand hat mir etwas angetan. Im Gegenteil: Alle haben immer wieder meine Sicherheit beteuert …

»Lil wird sich bestimmt freuen, dich zu sehen!«, sagt mein Vater nun.

Ich kann nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf mein Gesicht stiehlt. Denn er hat recht. Meine beste Freundin wird das Interview sehen. Irgendwie hat das in der Tat etwas Beruhigendes.

Wir erreichen die Fahrstühle, und mein Vater hämmert auf den silbernen Knopf auf der Konsole, als würde das die Kabine schneller erscheinen lassen.

»Also falls du deine Antworten vergessen solltest, denk einfach an unsere Ziele«, fährt er unbeirrt fort. »Wir müssen klarmachen, dass die Traumunion alles im Griff hat. Sie wird Somna wieder so herstellen, wie es einst war. Aber das dauert einfach ein bisschen. Da bittest du um Geduld. Lob auch gern Giacomo Laurenti. Die Leute sollen von ihren abstrusen Rücktrittsforderungen abkommen.« Mein Vater malträtiert ein weiteres Mal den Rufknopf des Fahrstuhls. »Und der zweite Punkt ist fast noch wichtiger: Deine Gabe ist eine Ausnahme, und du bist nicht sonderlich mächtig, alles klar? Wir müssen verhindern, dass uns jetzt die Frauen die Bude einrennen, weil sie glauben, Traumgängerinnen zu sein. Wir brauchen all unseren Fokus auf dem Wiederaufbau Somnas und können uns gerade nicht von so etwas ablenken lassen. Okay?« Er sieht mich an.

Die Ankunft des Fahrstuhls rettet mich vor einer Antwort. Mein Vater schiebt mich in die gläserne Kabine, von der aus man den Innenhof des Hauptgebäudes überblicken kann. Ein paar Menschen eilen über den Kies, alle tragen sie die graue Uniform der Traumunion. Es ist gar nicht so lange her, da war all das hier noch neu für mich – neu, aufregend und verheißungsvoll. Doch jetzt ist es das nicht mehr. Jetzt ist da gar nichts mehr. Kein Gefühl, kein gar nichts. Da wäre er wieder – der »Zustand der Apathie«. Vermutlich gibt es in mir einfach keine Energie mehr für angemessene Emotionen.

Während wir in die Höhe rauschen, spüre ich den Blick meines Vaters auf mir. Er sieht zu mir, sieht weg, sieht wieder zu mir. Dann räuspert er sich. »Wenn das Interview vorbei ist, können wir erst mal schön etwas frühstücken. Ich kann was von diesem Brunch-Restaurant liefern lassen, das du so magst. Was meinst du?« Er bringt tatsächlich einen Tonfall zustande, den man als väterlich beschreiben könnte.

Etwas unbeholfen tätschelt er noch meinen Arm, als uns ein heller Ton aus der Situation erlöst – und ich weiß, dass wir beide erleichtert darüber sind. Die Türen des Aufzugs gleiten auf, und sofort weht Morgenluft zu uns herein, die zu dieser Tageszeit noch frisch riecht und mich leicht frösteln lässt. Ich ziehe die Strickjacke, die sie mir statt der üblichen Uniform gegeben haben, enger um meine Bluse und betrete die Dachterrasse.

Über mir spannt sich der weite Himmel, und darunter liegt die Stadt wie ein scharfkantiges Relief. Einen Moment bleibt mein Blick an dem hohen Fernsehturm in der Ferne hängen, der so ikonisch für Berlin steht wie sonst kaum ein anderes Gebäude. Ich kämpfe gegen die Erinnerungen an, die in mir hochdrängen und atme tief die kühle Luft ein, in der das Versprechen eines sonnigen Tages liegt. Dann wende ich mich dem Treiben in der hinteren Ecke der Dachterrasse zu, und der Knoten, zu dem mein Magen geworden ist, wird noch fester. Da ist nicht nur eine Kamera, so wie ich es mir bisher vorgestellt habe. Nein, da sind drei. Und einige Scheinwerfer. Und riesige, glänzende Reflektoren. Und sehr viel mehr Menschen, als ich es erwartet hätte. Neben der Filmcrew entdecke ich auch Chester Graham und Paul Erlbach, was mich kein bisschen überrascht. Eher ist es überraschend, dass ich sie heute noch nicht gesehen habe, wo sie mich bisher an jedem anderen Tag auf Schritt und Tritt begleitet haben. Wahlweise nenne ich sie Babysitter oder Gefängniswärter. Nur Eugenio Laurenti fehlt – der Dritte im Bunde meiner Babysitter-Slash-Gefängniswärter.

»Da bist du ja!«

Es ist Paul, der mir als Erster entgegenkommt. Auf seinem Gesicht liegt wie üblich dieses gekonnte Lächeln. Seine blonden Haare sind akkurat zurückgegelt, und in der Uniform wirkt er wie der reinste Vorzeige-Traumkommissar.

»Super siehst du aus«, sagt er, als er mich erreicht hat, und seine Erleichterung ist nicht zu übersehen.

Ich schüttele innerlich den Kopf. Was hat er gedacht? Dass die mich hier als der halbtote Zombie aufkreuzen lassen würden, der ich die letzten Tage war?

»Bist du bereit? Hast du dich ein bisschen erholen können? Hat es geholfen, einen Tag Pause vom Aufbau von Somna zu machen?«, plappert er weiter, und mir wird klar, dass er aufgeregt ist. Ob er als Giacomos persönlicher Assistent mitverantwortlich gemacht wird, wenn das hier schiefgeht?

Er legt die Hand auf meinen Rücken und schiebt mich in Richtung des Sets. »Kennst du Irena Cox?«, fährt er fort, obwohl ich immer noch nichts gesagt habe. »Sie wird dich heute interviewen.«

Auch das ist eine rhetorische Frage. Denn jeder, der schon einmal den Fernseher oder sein Handy angeschaltet hat, kennt Irena Cox.

Die langbeinige Blondine wendet sich uns mit strahlendem Lächeln zu und streckt mir die Hand entgegen. »Hallo Ria, ich bin Irena Cox. Moderatorin der Morning Show. Ich werde dich heute interviewen. Freut mich sehr, dich kennenzulernen.«

Seltsamerweise bin ich kaum aufgeregt, als ich die Hand der berühmten Moderatorin schüttele. Es folgen ein paar Floskeln und ein bemühtes Lächeln meinerseits, dann verzieht sich die Moderatorin wieder, um sich noch einmal abpudern zu lassen.

Als auch auf mich ein nett lächelnder Mann mit einer Puderdose zukommt, mache ich einen hastigen Schritt zurück. »Ich bin gleich wieder da«, stoße ich hervor und löse mich aus der Gruppe, ohne auf irgendwelche Reaktionen zu achten.

So schnell ich kann, gehe ich zur anderen Seite der Dachterrasse und klammere mich dort an das Geländer. Einatmen. Ausatmen. Ich habe mich entschlossen, das hier zu tun. Es ist das, was ich machen muss, um die Albträume der Menschen zu beenden. Wir müssen Somna so schnell wie möglich wiederaufbauen, und dabei hilft eine aufgebrachte Bevölkerung, die nur noch mehr Albträume nach Somna bringt, nicht gerade.

Ich lehne mich über das Geländer, beuge mich weit hinaus und sehe auf den Vorplatz der Union hinab, über dem ich mich befinde. Hinter mir höre ich mehrere Menschen meinen Namen rufen. Doch ich ignoriere sie. Konzentriere mich auf das, was unter mir liegt. Es ist, als würde mich etwas dort unten anziehen. Als sollte ich eher dort unten sein als hier oben. Ich starre auf die Plakate, die überall auf dem Vorplatz aufgehängt wurden. Vereinzelt haben sich ein paar Menschen dazugesellt und rufen etwas, das ich von hier oben nicht verstehen kann. Aber einige der Plakate kann ich zumindest lesen. »Wo ist Ria?«, steht auf einem, und auf einem anderen: »Frauen in die Traumunion« – und auf einem weiteren: »Schluss mit der Albtraumunion!«. Ich habe gehört, dass die Plakate schon seit einigen Tagen hier hängen und Giacomo es mittlerweile aufgegeben hat, sie immer wieder entfernen zu lassen. Bisher hatte ich allerdings keine Zeit und keine Energie, sie mir anzusehen. Mein Blick wandert immer wieder über die riesigen Lettern auf den Plakaten und über die Gesichter der Menschen, die von hier oben klein, aber trotzdem sehr energisch wirken.

Kein Wunder, dass Giacomo und die anderen wollen, dass ich dieses Interview gebe und damit die Leute da draußen beruhige. Nur so können wir Somna ungestört wiederaufbauen. Oder etwa nicht?

Oder etwa nicht?

Unwillkürlich frage ich mich, was Yunus an meiner Stelle tun würde. Sind das da unten nicht genau die Zweifel und die Forderungen, die auch er immer hatte?

Jemand tritt neben mich, und ich zucke zusammen.

»Alles gut bei dir?« Paul lächelt mich an, doch ich sehe die Besorgnis auf seinem Gesicht. Vermutlich hat er Angst, dass ich meinen Auftritt vermasseln werde.

Ich nicke knapp, was ihm ein Lächeln abringt.

»Du schaffst das schon«, sagt er zuversichtlich, und als ich nicht antworte, fährt er fort: »Du hast das echt super gemacht die letzten Tage. Das wollte ich dir eigentlich schon längst mal sagen. Ohne dich wären wir echt total aufgeschmissen.«

Ach, im Ernst?

Paul scheint meinen Gesichtsausdruck zu bemerken, denn in einem sanfteren Tonfall fügt er hinzu: »Ich weiß, das ist scheiße, dass du im Interview nicht erzählen darfst, dass du es bist, die Somna aufbaut und dass wir das ohne dich gar nicht hinkriegen würden. Aber ich bin sicher, du verstehst das … In den nächsten Tagen werden wir uns übrigens auch verstärkt wieder dem Aufbau der goldenen Tore in Somna widmen. Du hast das letzte Tor ja sofort wieder aufgebaut, nachdem du es zerstört hattest. Aber ein paar mehr von den Dingern können nicht schaden, glauben wir. Okay?«

Er lächelt mich an, als hätte er mir gerade ein Geschenk gemacht, aber ich sehe in seinen Augen, dass er ganz genau weiß, wie ich mich fühle: Ich habe keine Lust auch noch ein einziges weiteres von diesen strahlenden Toren zu erschaffen, die früher überall in Somna rumstanden. Yunus ist hinter einem solchen Tor gestorben.

»Gibt es mittlerweile nicht genug?«, knurre ich. »Ich bin schließlich nicht die Einzige, die die Tore erschaffen kann, und da scheint ja schon jemand recht fleißig zu sein.«

Paul verzieht das Gesicht, als hätte er auf etwas Ekliges gebissen, doch einen Moment später hat er sich wieder im Griff. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen Clayton und diese beiden illegalen Traumgängerinnen, die bei ihm waren, schon noch«, sagt er.

Das ist absolut nicht das, was ich meinte, aber ich habe jetzt keine Kraft für Diskussionen. Mit einem hat er allerdings recht: Es können nur Eric Clayton oder dieses dunkelhaarige Mädchen gewesen sein, die in Somna-Berlin bei ihm war, die derzeit überall in Somna die strahlenden Tore erschaffen. Sie sind meines Wissens die Einzigen, die dieselbe Fähigkeit wie ich besitzen, permanente Veränderungen in Somna zu bewirken. Aber wieso sollten die illegalen Traumgänger die Tore wieder aufbauen, wo sie sie zuvor selbst zerstört haben? Oder gibt es noch jemanden mit meinen Fähigkeiten?

Ich wende mich von Paul ab und starre abermals hinunter zu den Plakaten der Demonstrierenden.

»Hör zu.« Paul legt die Hand auf meinen Arm, und instinktiv zucke ich zurück. »Ich weiß, dass das alles gerade nicht leicht ist für dich. Aber auch wenn ich mich wiederhole, wir sind dir wirklich alle so dankbar für das, was du gerade in Somna tust. Das ist nicht selbstverständlich, und es tut mir echt leid, dass wir es vorerst geheim halten müssen. Aber Yunus hätte es genauso getan, da bin ich mir sicher. Er wäre stolz auf dich, weil du das tust, was das Beste für Somna ist. Das ist es doch, was er immer wollte.«

Ich schlucke, aber komme nicht gegen die Enge in meiner Kehle an. Hätte Yunus das tatsächlich getan? Mein Blick geht zu dem Stehtisch, an dem Irena Cox und ich in ein paar Minuten unser Interview führen werden, und weiter zum Fernsehturm direkt dahinter.

Es gibt nichts, das mich mehr an Yunus erinnert als dieser Turm. Yunus hätte es genauso getan. Er wäre stolz auf dich. Das Beste für Somna. Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Doch dann ist da noch etwas anderes. Etwas, das Yunus einmal zu mir gesagt hat: »Du musst dir überlegen, ob du bei deren Spiel mitspielen willst, Ria.«

Ich schlucke. Ja, das muss ich wohl.

2Selena

Ich atme tief ein. Wenn ich die Augen schließe und die Erschöpfung in meinen Gliedern ausblende, kann ich mir vorstellen, dass noch immer alles so ist, wie es sein soll. Die weiten, unberührten Landschaften Somnas, die sich bis zum Horizont und weit darüber hinaus erstrecken. Die leichte Unschärfe, die daher rührt, dass kaum ein Träumer in der Nähe ist. Die unendlichen Möglichkeiten dieser Welt, in der jeder seinen Platz findet.

Ein harter Stoß in meinen Rücken erinnert mich daran, dass nichts von dem, was ich mir gerade vorgestellt habe, noch der Realität entspricht. Ich stolpere nach vorne und pralle schmerzhaft mit dem Knie gegen die Mauer vor mir. Genervt sehe ich mich um, aber hinter mir herrscht ein solches Menschengedränge, dass es unmöglich ist zu sagen, wer mich gerade angerempelt hat. So viel also zu meiner gewünschten Idylle. Vermutlich sollte ich das als Zeichen sehen, hier abzuhauen. Jemand könnte mich über die niedrige Mauer und den Hang hinunterstoßen. Oder noch schlimmer: Jemand könnte mich erkennen.

Widerwillen regt sich in meinem Bauch, und ich stemme mich auf die Mauer vor mir und lasse die Beine über dem Abhang des Hügels baumeln. Nur schwer kann ich ein Seufzen unterdrücken. Früher war das hier einer meiner Lieblingsorte in Somna: eine verfallene Festung, irgendwo in Albanien, vor der sich weite grüne und vor allem verlassene Täler erstreckten. Jetzt sieht es hier, gelinde gesagt, anders aus.

Nun entfährt das Seufzen doch meiner Brust. Ich werde weitermachen müssen, immer weiter. Werde unzählige Landschaften aufbauen müssen, bis irgendwann genügend Platz in Somna ist, damit ich und alle anderen uns endlich wieder frei bewegen können. Egal, wie groß die Erschöpfung ist, die sich deswegen in jeder Zelle meines Körpers einnistet.

»Selena!«

Die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, und ich wirbele herum. Fast will ich aufspringen und in Verteidigungshaltung gehen, als ich erkenne, wer nach mir gerufen hat. Sofort entspannt sich mein Körper wieder.

»Mo!«

Ich beobachte, wie sie auf dem Weg zu mir mehreren Träumern und Gesteinsbrocken ausweicht. Sie trägt den ausgebeulten Hoodie ihrer New Yorker Uni, und ihre schwarzen Haare stehen verstrubbelt aus ihrem Pferdeschwanz. Sie sieht aus, als wäre sie gerade aufgewacht – was sie vermutlich auch ist.

»Sag mal, spinnst du?«, fragt sie, während sie einem weiteren Mauerrest ausweicht. »Du kannst doch nicht einfach in einem Flugzeug voller Menschen nach Somna einsteigen! Was, wenn dich jemand gesehen hat!«

»Die haben doch alle geschlafen!«, gebe ich zurück.

»Und was, wenn nicht?«

»Der Typ neben mir ist so riesig, da hat bestimmt niemand gesehen, dass ich verschwunden bin. Und du warst auf der anderen Seite von mir. Irgendeinen Vorteil muss der Mittelplatz auf einem Langstreckenflug doch haben, oder?«

Mit einem missmutigen Geräusch lässt Mo sich neben mir auf die Mauerreste sinken. »Als wäre das hier nicht schon alles riskant genug.« Sie schüttelt den Kopf.

Ich verkneife mir den Kommentar, dass sie selbst ja auch gerade hier ist und jemand auch ihren Einstieg nach Somna hätte beobachten können. »Tut mir leid. Ich fliege einfach nicht gern. Zumindest nicht in Corpora. Nicht im Flugzeug.«

Ich ernte einen säuerlichen Blick. »Na ja, ist ja nicht so, als wäre diese Reise meine Idee gewesen.«

Da hat sie recht. Mo wollte in New York bleiben, in dem kleinen Apartment, das uns ihr Kumpel Eddy organisiert hat und in dem wir die letzten zwei Wochen verbracht haben. Von dort aus wollte sie unauffällig mehr herausfinden, nach Eric suchen und vor allem unter dem Radar der Traumunion bleiben. Aber ich konnte nicht länger warten. Ich brauche Antworten. Denn meine Liste an Fragen ist lang: Wo ist Eric? Er muss wieder nach Corpora zurückgekehrt sein, aber in New York konnten wir ihn nirgends finden. Hat er die Wahrheit gesagt, dass die Traumgänger mit der Zerstörung der Tore ihre Gabe verlieren werden? Mo kann zwar noch traumgehen, aber was, wenn es ein schleichender Prozess ist? Und was ist mit dem Tod? Eric hat behauptet, dass mit den Toren auch der Tod verschwinden würde. Bisher wirkt es allerdings nicht so, als hätten wir ihn abgeschafft. War das bloß eine Lüge oder stehen die wahren Folgen unseres Handelns noch aus? Sind die Tore am Ende doch nur bloße Todesfallen, so wie ich es anfangs geglaubt habe?

Ich klammere mich an die Hoffnung, dass meine Mutter wenigstens einen Teil der Antworten kennt. Immerhin war sie jahrelang mit meinem Vater zusammen – und der stand Eric sehr nahe. Zumindest diesen Teil von Erics Behauptungen zweifle ich nicht an. Am Telefon wollte meine Mutter nicht recht mit der Sprache rausrücken, aber wir beide waren noch nie gut im Telefonieren. Ich hoffe, dass es anders sein wird, wenn ich direkt vor ihr stehe.

»Sel. Du tust es schon wieder.«

Ich sehe auf. »Was?«

»Du ziehst dich zurück und machst dieses Gesicht. Als würde die Last der ganzen Welt auf dir liegen.«

»Tut sie ja auch. Ich muss das hier wiedergutmachen.« Ich mache eine Handbewegung, die die gesamte Szene um uns herum einschließt.

Mo zieht die Augenbrauen zusammen. »Du musst aufhören, dir die Schuld an all dem zu geben. Es war Eric, der dich dazu gebracht hat, die Tore zu zerstören. Er war es, der schuld daran ist, dass Somna jetzt so klein ist. Wenn die Leute so viele Albträume haben, dass sie überall mitunter tödliche Unfälle bauen, dann hat er das zu verantworten! Also sollte auch er es sein, der Somna wiederaufbaut!«

Ich lache hohl. »Na, dann lehnen wir uns doch einfach zurück und warten darauf, dass Eric wieder rückgängig macht, was er verursacht hat. Blöd nur, dass ich ihn hier gerade nicht sehe.«

»Du weißt, wie ich das meine«, gibt Mo zurück und wendet den Blick ab. Sie lässt die Fersen immer wieder gegen die Mauer unter uns schlagen, und sofort bohrt sich das schlechte Gewissen in mich.

»Ich weiß. Tut mir leid.«

Einen Moment sitzen wir still da und sehen auf das Tal unter uns hinab, bevor ich sage: »Die Traumunion baut Somna auch gerade auf. Zumindest einige Megacitys haben sie schon wiederhergestellt. Eddy hat neulich von Kuala Lumpur geträumt.«

Mo legt den Kopf schief und saugt an ihrer Unterlippe. »Dann ist Ria Maywald auf jeden Fall die dritte Morphistin, oder? Ich meine, ansonsten könnte die Union Somna ja gar nicht mehr wiederherstellen. Sie brauchen jemanden, der Somna permanent verändern kann.«

Ich nicke. »Ja. Entweder Ria ist die Morphistin oder ein anderer Traumgänger aus ihren Reihen … Sie könnten sie auch schon umgebracht haben.«

Plötzlich schüttelt Mo vehement den Kopf. »Das kann nicht sein. Bevor wir losgeflogen sind, habe ich gesehen, dass für heute ein Live-Interview mit Ria angekündigt wurde. Also muss sie noch am Leben sein.«

Ich sehe einem Vogel nach, der über dem Hügel kreist und dann in der Ferne in Richtung einer hohen Bergkette verschwindet.

»Ich checke einfach nicht«, sage ich langsam, »auf wessen Seite sie steht.«

Mo seufzt, und ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass ich diese Frage in den letzten Tagen schon unzählige Male gestellt habe, oder an der Tatsache, dass wir einfach keine Antwort auf sie finden.

»Sie hat versucht, uns zu helfen, als wir in Somna-Berlin waren, oder nicht?«, wiederholt Mo einen unserer oft angeführten Punkte.

»Ja. Aber wieso bleibt sie dann bei der Traumunion?«

»Weil sie gezwungen wird? Weil sie unter Schock steht? Weil sie doch auf der Seite der Union ist?«, rattert Mo die Erklärungen herunter, die wir in den letzten Tagen gesammelt haben.

»Hm«, mache ich tonlos. Dann fällt mir etwas ein. »Weißt du, was ich dir noch gar nicht erzählt habe? Als ich in Kuala Lumpur war, habe ich ein Tor gesehen. Also kein normales, sondern ein … du weißt schon. Ein Tor eben. Und ich hab das ganz bestimmt nicht erschaffen. Das heißt, es muss Ria gewesen sein. Ich glaube, sie versucht auch, die Tore wiederherzustellen.«

Mos Augen werden noch schmaler und ihre Lippe weiß, so fest beißt sie darauf. »Liegt eigentlich ja auch nahe, oder? Durch die Zerstörung der Tore wurde ein großer Teil Somnas zerstört. Also ist es nur logisch, dass sie die Tore wiederherstellen, um Somna wiederherzustellen.«

»Meinst du …«, murmele ich und weiß, dass ich mich mit meinen nächsten Worten auf dünnes Eis begeben werde. »Meinst du, dass sie gemerkt haben, dass sie ihre Fähigkeiten verlieren, seit die Tore zerstört wurden?«

Wie erwartet, versteift Mo sich. »Wenn das überhaupt stimmt. Vielleicht hat Eric sich da ja geirrt. Oder gelogen.«

Ich höre die verzweifelte Hoffnung in ihren Worten und kann es ihr nicht verübeln. Wenn die Traumgänger der Union ihre Gabe verlieren, wird sie es ebenfalls tun. Laut meinem letzten Gespräch mit Denise verhält es sich bei mir jedoch anders – bei mir und Eric. Und bei Ria. Unsere Kräfte sind irgendwie besonders. Aber bei Mo … Keine Ahnung, wie ich mich fühlen würde, wenn es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis ich meine Traumgängergabe verliere … Nie wieder als Traumgängerin nach Somna gehen zu können … Nie wieder die absolute Selbstbestimmung in der Traumwelt zu haben … Ich will gar nicht darüber nachdenken.

Wieder frage ich mich, wohin Denise so plötzlich verschwunden ist. Sie hat Eric durch ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse überhaupt erst darauf gebracht, dass die Zerstörung der Tore zur Zerstörung der Traumgängergabe führen könnte. Ich bin mir sicher, dass sie uns vieles erklären könnte.

Als ich in New York in einem Apartment mit Mo, Eric und Denise gelebt habe, hätte ich niemals gedacht, Denise einmal so sehnlichst zu vermissen. Na gut. Ich vermisse nicht alles an ihr – ich kann ganz gut ohne ihre Awkwardness und ihre Löwenhausschuhe klarkommen –, aber ihren schlauen Kopf könnte ich jetzt ganz gut gebrauchen. Ob Eric sich das auch gedacht hat und sie irgendwie dazu gebracht hat, sich ihm anzuschließen?

»Also ich glaube, er hat sich geirrt«, sagt Mo unvermittelt und reißt mich damit abermals aus meinen Gedanken. »Ich bin hier. Ich kann traumgehen. Offensichtlich lag er falsch.« Auf ihren Lippen liegt ein Lächeln, doch ihre Augen flehen mich an, mich ihrem Optimismus anzuschließen.

»Oder es ist einfach noch nicht so weit«, murmele ich und verfluche mich sofort selbst dafür.

Das Lächeln in Mos Gesicht bröckelt.

Warum verdammt musste ich das sagen? Natürlich weiß sie, dass sie sich in einer zweifelhaften Sicherheit wiegt. Aber ich hätte ihr diesen kleinen Augenblick Optimismus nicht nehmen sollen.

Jetzt bin ich es, die ein Lächeln auf mein Gesicht zwingt. »Los, komm. Wir nutzen das richtig aus, dass wir in Somna sind!«

Eric, die Tore und die etlichen Augenpaare, die uns beobachten, sind mir plötzlich egal. Jetzt zählt nur, dass ich meinen Fehler von soeben wiedergutmache. Ich stoße mich von der Mauer ab, schieße in die Luft und wirbele über die Köpfe der Menschen.

»Los!«, rufe ich Mo zu, dann fliege ich zum Fuß des Hügels.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis Mo mich eingeholt hat. Gemeinsam schießen wir durch die Luft, weichen fliegenden Träumenden aus und lassen den Hügel weit hinter uns. Unter uns erstrecken sich Felder und Straßen und in der Ferne die Bergkette. Ich weiß, dass sich hinter diesen Bergen das große Nichts befindet. Denn als ich diese Landschaft erschaffen habe, hat meine Kraft nicht weiter gereicht.

Ich versuche, den Gedanken zu verdrängen. Jetzt geht es darum, Mo abzulenken. Sie soll Somna genießen – wer weiß, wie viel Zeit ihr dafür noch bleibt. Ihr Hoodie bläht sich im warmen Gegenwind und lässt sie wie eine dieser muskelbepackten Actionfiguren aussehen, die meine Cousine Eleni bei sich im Zimmer hat. Ich muss lachen.

Mo sieht zu mir herüber. »Was ist?«

»Nichts.«

»Sag!«

Sie bleibt in der Luft stehen, doch ein Grinsen zupft an ihren Mundwinkeln. Unser Flug hat alle Schläfrigkeit und auch alle Sorge aus ihrem Gesicht vertrieben, und ihre helle Haut glänzt im warmen Licht der Abendsonne. Plötzlich sieht sie kein bisschen mehr aus wie die Actionfigur, an die ich eben noch denken musste. Im Gegenteil. Sie sieht einfach nur aus wie Mo. Meine Mo. Und sie lächelt. Als sich ein Kribbeln in mir ausbreitet, reiße ich den Blick von ihr los.

»Schau mal!« Ich deute in Richtung der Bergkette, die im Licht der warmen Abendsonne regelrecht glüht. Davor steigen etliche Heißluftballons in die Höhe, zwischen denen wiederum etliche Funken zu tanzen scheinen.

Ja, ich war es, die diese Landschaft aus dem endlosen Nichts zurückgeholt hat. Aber diese wunderschöne Szenerie da vor mir, all die Heißluftballons und die staunenden Menschen in den Körben – das ist allein das Werk der Träumenden. Das ist der wahre Zauber Somnas.

Mos Augen glänzen, als sie die bunten Ballons betrachtet. Es müssen Hunderte sein.

»Los, komm!«, rufe ich erneut und schieße in Richtung der Ballone davon, und mit jedem Meter wird das Zischen in der Luft lauter. Doch einen Moment später erkenne ich, dass es nicht nur die Feuer der Ballone sind, von denen dieses Zischen ausgeht – das, was ich soeben noch für Funken gehalten habe, die zwischen den Ballons umhertanzen, stellt sich beim Näherkommen als etwas ganz anderes heraus: Es sind Vögel.

»Ah!«, schreie ich unwillkürlich, als sengende Hitze meinen Arm entlangfährt. Ein langer, orange glühender Schweif rast an mir vorbei und verschwindet zwischen zwei Ballons, in deren Körben eine Handvoll Träumende dem Tier hinterhergucken. Ungläubig wende ich mich Mo zu, die in diesem Moment meine Seite erreicht.

Mit offenem Mund steht sie in der Luft und sieht sich um. »Phönixe.« Das Wort ist mit einem Glucksen aus ihrem Mund geschlüpft, und endlich ist es da – das Lachen, das ich so gern wieder auf ihr Gesicht holen wollte. »Sel! Das sind Phönixe!«

Ich kann meinen Blick kaum von Mo nehmen. »Phönixe?«

»Ja! Guck doch! Siehst du die langen Schwanzfedern und die Funken? Das ist genau wie in den alten Sagen! Nur sind sie viel kleiner, als ich erwartet hätte.« Sie zuckt mit den Schultern und schüttelt ungläubig den Kopf. »Vielleicht sind es noch Babys.«

»Und wo sind dann die Eltern?«, frage ich grinsend.

Mo wirft mir nur einen kurzen Blick zu. »Phönixe werden aus ihrer eigenen Asche geboren. Die Frage ist nur, was zuerst da war. Der Vogel oder die Asche. Sie tauchen schon in der ägyptischen Mythologie auf und dann in etlichen weiteren Sagen.«

Fast hätte ich über die Begeisterung auf Mos Gesicht gelacht. Ich habe die Phönixe zwar nicht erschaffen, aber ich hätte auf keine bessere Idee kommen können, um Mo von ihren Sorgen abzulenken. Sie hat eine Passion für Literatur und insbesondere für alte Sagen. Im Stillen danke ich der Person, deren Unterbewusstsein die Vögel erschaffen hat.

Abermals schießt ein funkensprühender Vogel an mir vorbei. Ohne lange nachzudenken, schließe ich die Augen und lasse mich von Leichtigkeit und Entschlossenheit durchströmen. Als ich die Augen wieder öffne, wiegt sich hinter uns ein leerer Heißluftballon in der Luft. Ich lasse mich in den Flechtkorb gleiten, und kurze Zeit später folgt Mo mir. Über uns zischt der Gaszylinder, und das Feuer strahlt eine angenehme Wärme ab.

»Das ist so schön«, haucht Mo und greift nach meiner Hand.

Ich spüre ihre Finger zwischen meinen, warm und schlank. Instinktiv halte ich sie fest, und am liebsten würde ich sie nie wieder loslassen. Doch plötzlich versteift sie sich neben mir.

»Was ist los?«, flüstere ich und beobachte, wie der Schatten auf ihr Gesicht zurückkehrt.

»Was ist, wenn ich doch meine Gabe verliere, Sel? Wenn das hier einer meiner letzten Ausflüge nach Somna ist?«

Obwohl es eine Frage ist, sieht sie mich nicht an.

Ich schlucke, um den Kloß in meiner Kehle loszuwerden. Die Stille zieht sich in die Länge. Schließlich fällt mir nichts anderes ein, als zu sagen: »Auch als Träumerin kannst du nach Somna.«

Sie wirft mir einen Blick zu, der mich wünschen lässt, die Worte zurücknehmen zu können. Wieso sage ich heute immer das Falsche? Das muss die Erschöpfung sein.

Ich nehme ihre Finger in beide Hände, streiche sanft über ihre Haut und betrachte ihr Gesicht im warmen Licht der Sonne. »Mo. Ich werde alles dafür tun, dass du deine Traumgängerkräfte nicht verlierst«, sage ich mit so viel Nachdruck, wie ich aufbringen kann. »In Griechenland werden wir mehr über die ganze Sache rausfinden. Wir können mit meiner Mutter sprechen und das Buch meines Vaters lesen. Wir werden etwas finden, das alles wieder in Ordnung bringt. Das verspreche ich dir.«

Als sie sich mir zuwendet, glänzen ihre Augen. Sie scheint keine Worte hervorbringen zu können. Sieht mich nur an.

Abermals zischt ein Phönix an uns vorbei, und ich blinzele irritiert, als er innehält und vor uns auf der Korbbrüstung Platz nimmt. Er legt den Kopf schief und blickt uns aus klugen, dunklen Augen an. Aus seinem Kopf sprießen glühende Federn, die sich sacht im Wind wiegen. Das Schönste an dem Tier ist jedoch, dass seine Silhouette leicht unscharf ist. Wir sind die Einzigen hier. Es ist kein Träumer in der Nähe, dessen Blick den Vogel verändern könnte.

»Wie der Phönix aus der Asche«, flüstere ich, ohne über meine Worte nachzudenken.

»Wie bitte?«, höre ich Mo. Auch sie hat die Stimme gesenkt, als würde sie fürchten, das Tier vor uns zu verscheuchen.

»Somna. Es war fast kaputt. Aber wir lassen es wiederauferstehen«, sage ich und sehe zu Mo. »Vielleicht merken die Leute das, und ihr Unterbewusstsein lässt deshalb die Phönixe entstehen.«

Ein trauriges, aber irgendwie nicht minder schönes Lächeln tritt auf Mos Lippen. »Vielleicht«, erwidert sie. Dann schließen sich ihre Finger fest um meine. »Wir werden es wiedergutmachen, oder, Sel?«

Bei dem Flehen und der Hoffnung in ihrer Stimme zieht sich mein Herz zusammen, und so blende ich alle Zweifel aus, als ich sage: »Natürlich werden wir das. Wir lassen uns Somna nicht nehmen.«

Ihr Blick ist so tief, dass ich drohe, darin unterzugehen. Da ist eine Vertrautheit zwischen uns, die … die …

Mein Herz rast los, als wollte es flüchten. Abrupt mache ich einen Schritt zurück.

»Wir sollten zurück nach Corpora«, bringe ich hervor. »Sonst lösen wir doch noch einen Tumult im Flugzeug aus. Kommst du?«

Mo blinzelt irritiert, doch ehe sie irgendetwas sagen kann, schließe ich die Augen und rufe mir in Erinnerung, wo ich mich vor meinem Ausflug nach Somna befunden habe. Einen Moment später höre ich das dumpfe Rauschen des Flugzeugs und das dröhnende Schnarchen meines Sitznachbarn. Noch während ich die Augen aufreiße, kämpfe ich um Gleichgewicht, um nicht mit dem Gesicht voran auf den Bauch des Mannes zu fallen. Ich halte mich an der nächstbesten Lehne fest, die ich zu fassen bekomme, und lasse mich dann zurück auf meinen Sitz fallen. Umständlich fische ich den Gurt unter mir hervor und sehe mich um. Niemand hat Notiz von meinem plötzlichen Auftauchen genommen. Im Flugzeug sind noch immer die Lichter gedimmt, und der Mann neben mir ist nicht der Einzige, der mit zurückgeneigtem Kopf und offen stehendem Mund vor sich hin schnarcht. Doch einen Moment später ändert sich das.

»Ah!« Ich kann nicht verhindern, dass mir die Silbe entschlüpft. Doch ich bezweifele, dass es das ist, was meinen Sitznachbarn nach Luft schnappen und aufwachen lässt. Vielmehr ist es Mo, die in diesem Augenblick halb auf mir, halb auf dem Mann erschienen ist.

Mit aufgerissenen Augen rappelt sie sich hoch, und während wir versuchen, unsere Gliedmaßen zu entwirren, stößt sie hervor: »Entschuldigen Sie. Entschuldigung. Ich habe das Gleichgewicht verloren.«

Endlich hat sie es geschafft, sich auf den Sitz zu meiner Linken fallen zu lassen und die genervten Entgegnungen meines Sitznachbarn mit einem beschwichtigenden Lächeln abzuwiegeln. Der Mann grunzt und schließt wieder die Augen, um weiterzuschlafen.

Mos Blick streift meinen, als sie sich anschnallt. Von dem Leuchten in ihren Augen ist nur noch ein leerer Glanz geblieben. Und ich weiß ganz genau, weswegen.

»Warum hast du mir keinen Platz gelassen?«, zischt sie. »War doch klar, dass ich direkt auf dir lande!«

Ich weiß, dass die Verletztheit in ihrer Stimme nichts mit unserer Landung in Corpora zu tun hat.

»Sorry«, flüstere ich, gerade laut genug, dass Mo es über das Rauschen des Flugzeugs verstehen kann. Wofür ich mich genau entschuldige, weiß ich auch nicht. Ebenso wenig weiß ich, warum ich Somna gerade so abrupt verlassen habe. Es war eher eine Flucht als alles andere. Mein Herz rast noch immer. Ich bin vor Mo geflohen. Wieso? Was ist los mit mir? »Ich glaube, uns hat sonst niemand bemerkt«, füge ich hinzu, einfach, um die Stille zu füllen.

Mo macht ein Geräusch, das mir sagt, dass sie zwar nicht überzeugt ist, aber das Thema erst mal ruhen lassen wird.

Ich hebe die dünne Decke der Airline vom Boden auf und lege sie mir über die Beine. Als ich Mo wieder ansehe, ist sie damit beschäftigt, ebenfalls ihre Decke auszubreiten und sich die Kapuze ihres Hoodies über den Kopf zu ziehen. Dann lehnt sie sich zum Schlafen zurück.

Ich tue es ihr nach und versuche, mein verwirrtes Herz zu beruhigen. Was war es an Mos Blick, das mich so aus der Fassung gebracht hat? Ich kann nicht darüber nachdenken. Darf nicht darüber nachdenken. Ich kann nur hoffen, dass meine Erschöpfung groß genug ist, um mich so schnell wie möglich aus diesem Flugzeug hinaus in einen traumlosen Schlaf zu tragen.

3Ria

»Ria. Du bist also eine Traumgängerin. Wie fühlt sich das an?«

Ich blinzele in das helle Licht der Scheinwerfer, und das Gesicht der Moderatorin tanzt vor meinen Augen. Hatte sie vorhin auch schon so knallroten Lippenstift, oder kommt mir das erst jetzt so vor? »Wie bitte?«

»Na ja, außer dir gibt es ja keine Frauen, die traumgehen können, nicht wahr?« Jetzt verziehen sich die knallroten Lippen zu einem vertraulichen Lächeln.

Ich versuche, mich zusammenzureißen. Das hier ist ein Live-Interview, das gerade in allen möglichen Shows der Welt ausgestrahlt wird. »Kopf hoch, Brust raus, und lächeln!« Das würde meine beste Freundin Lil jetzt vermutlich zu mir sagen. Aber leichter gesagt als getan. Meine schweißnassen Finger rutschen über den Stehtisch vor mir, und mein Herz klopft so schnell, dass man es sicherlich hören kann. Ich kann nur hoffen, dass die Stylistin mir genug Make-up auf den Hals gekleistert hat, damit man meine roten Stressflecken nicht sieht.

»Ähm. Nein«, sage ich. »Vermutlich bin ich die einzige.«

»Woran, glaubst du, liegt das?«

Ich atme tief ein. »Die Wissenschaftler der Traumunion sind sich da nicht ganz einig. Vermutlich ist es eine …« Ich stocke. Verdammt. Soll ich wirklich mit den auswendig gelernten Antworten fortfahren? Während des Gesprächs mit Paul und auch danach habe ich überlegt, all das sausen zu lassen und einfach die Wahrheit zu sagen. Aber mein kurzzeitiger Mut ist in dem Rauschen in meinen Ohren untergegangen, sobald die roten Lichter über den Kameras aufgeleuchtet haben. Ich presse die nächsten Worte hervor. »Vermutlich ist es eine genetische Abnormität. Auf jeden Fall scheint es ein Einzelfall zu sein.«

»Ein Einzelfall?«

Ich nicke. »Ja. Die Traumunion geht natürlich allen Hinweisen nach weiteren weiblichen Traumgängerinnen nach. Aber bisher bin ich tatsächlich die einzige.«

Hinter einer der Kameras steht mein Vater und reckt den Daumen nach oben. Die Übelkeit in mir wird immer größer. Was würde wohl passieren, wenn ich mich vor laufenden Kameras auf die teuren Designerschuhe meiner Interviewerin übergebe?

Irena Cox lächelt weiterhin. Offensichtlich ist sie sich nicht bewusst, in welcher Gefahr ihre Schuhe gerade schweben.

»Nun, was auch immer der Grund ist«, fährt sie fort. »Du bist eine Traumgängerin. Du beugst dich über einen schlafenden Menschen und – schwups – bist du in der Traumwelt, nicht wahr?«

»So in der Art, ja.«

»Also eins muss ich sagen, Ria: Das klingt nach ziemlich viel Spaß.«

Ich räuspere mich. »Na ja, primär ist es eine große Verantwortung. Ich möchte etwas dazu beitragen, dass Somna ein sicherer Ort bleibt. Man hat ja vor zwei Wochen gesehen, was passiert, wenn sich illegale Traumgänger in Somna einmischen.«

Kann man hören, dass alle meine Sätze auswendig gelernt sind? Vermutlich. Ich war noch nie eine sonderlich gute Schauspielerin.

Irena macht ein ernstes Gesicht. »Du warst dabei, als der illegale Traumgänger Somna angegriffen hat. Richtig?«

Ich schlucke. Nicht an Yunus denken. Jetzt bloß nicht an Yunus denken.

»Ja. Ich war in Somna. Der illegale Traumgänger hat weite Teile Somnas zerstört, aber die Traumunion konnte das Schlimmste verhindern. Leider ist er geflohen. Aber die Traumunion setzt alles daran, ihn zu schnappen und Somna wiederaufzubauen.«

Die Worte klingen hohl in meinen Ohren. Als würde in ihnen das Echo all der Dinge nachhallen, die ich verschweige. Zum Beispiel, dass es sich nicht nur um einen illegalen Traumgänger gehandelt hat, sondern um drei – und dass zwei davon Mädchen waren. Oder dass ich selbst es war, die die Idee hatte, die Tore zu zerstören. Und dass auch ich es war, die das letzte Tor zerstört hat, und dass ich jetzt die Einzige in der Traumunion bin, die Somna wieder aufbauen kann.

»Dann drücken wir alle die Daumen, dass der Wiederaufbau nun möglichst schnell vorangeht.« Irenas Lächeln wackelt, und mir schießt durch den Kopf, dass auch sie unter Albträumen leiden muss. Dann verschwindet ihr Lächeln gänzlich. »Was würdest du zu den Menschen sagen, die das Ganze für eine Verschwörung halten und behaupten, dass die Traumunion selbst Somna zerstört hat, um es jetzt nach ihren eigenen Vorstellungen wiederaufzubauen?«

Wie aufs Stichwort schallen ein paar Rufe von der Straße zu uns herauf. Ich kann zwar nicht verstehen, was sie sagen, aber sie lassen mich an die Protestschilder vor dem Eingang der Traumunion denken.

»Verschwörungstheorien wird es immer geben. Dagegen können wir nichts machen«, sage ich. Die Antwort fällt mir nicht schwer. Ich traue der Traumunion viel zu, aber die Zerstörung Somnas geht nicht auf ihr Konto – sondern auf meines. »Die Traumunion tut alles, um Somna zu beschützen. Wie es laut den Gründungsstatuten auch ihr Auftrag ist. Es ist ihr oberstes Ziel, politisch motivierte Manipulationen von Somna und damit von unser aller Unterbewusstsein zu verhindern. Denn so wurde ja damals der große Traumkrieg ausgelöst. Hier handelt es sich um einen schändlichen Angriff, aber nicht um eine gezielte Manipulation. Da kann ich alle beruhigen.«

Irena nickt. »Das ist schön zu hören. Wir würden auf keinen Fall einen weiteren Traumkrieg wollen.«

»Genau«, stimme ich ihr grimmig zu.

Die Interviewerin bleibt ernst. »Aber neben den Wiederaufbauarbeiten in Somna gibt es noch ein anderes trauriges Thema, das viele unserer Zuschauenden beschäftigt.«

Ich halte die Luft an. Nein. Das war nicht abgesprochen. Es hieß, dass Irena nichts zu Yunus fragen würde! Das war meine Bedingung für das Interview! Aber was kann sie sonst meinen? Mein Blick zuckt zu meinem Vater, und ich sehe seinem versteinerten Gesicht an, dass auch er überrascht ist. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich gegen die Frage zu wappnen, von der ich weiß, dass sie kommen wird. Doch ich schaffe es nicht. Irenas nächste Worte treffen mein Inneres wie ein Schlag.

»Yunus Dede«, sagt sie, »den wir alle gekannt und geliebt haben, ist bei der Konfrontation mit dem illegalen Traumgänger leider gestorben.«

»Ja«, krächze ich.

Irenas Gesicht ist ein einziger Ausdruck des Mitgefühls. Ihre tadellos gezupften Augenbrauen sind besorgt zusammengewandert, und ihre Augen glitzern in perfekt inszenierter Trauer. »Du kanntest ihn gut, Ria, oder?«

Ich bringe keinen Ton heraus, presse nur meine Lippen aufeinander. Aber offenbar erwartet Irena keine Antwort von mir.

»Was glaubst du, würde Yunus jetzt sagen, wenn er hier wäre?«, raunt sie in vertraulichem Tonfall – in genau der richtigen Lautstärke, dass alle Zuschauer sie verstehen können.

Was, glaube ich, würde Yunus jetzt sagen? Die Scheinwerfer blenden mich. Oder ist das die Sonne? Ich wende den Blick ab, und da sehe ich ihn wieder: den ikonischen Fernsehturm, der sich an diesem Frühherbstmorgen in den Dunst des Berliner Himmels erhebt. Seine Silhouette wird durch die feuchte Luft weichgezeichnet, und fast sieht es so aus, als wären wir in Somna.

Die Erinnerungen stürzen auf mich ein: Yunus und ich über den Dächern Berlins bei unserem ersten Aufenthalt in der Traumwelt. Die Art, wie er mich dort oben auf der Spitze des Turms angesehen hat. Der Kuss im Treppenhaus des Neuköllner Mietshauses, in dem er mit seiner Familie wohnte. Wir beide direkt vor dem strahlenden Tor auf dem Tempelhofer Feld. Sein Blick, als er durch ebenjenes Tor gefallen ist. Und all die dunklen Tage danach, in denen ich versucht habe, mit meiner Schuld klarzukommen.

Ich blinzele hektisch, aber die Tränen lassen mein Sichtfeld nur immer mehr verschwimmen. Kannte ich Yunus gut? Ich hatte ihn gerade erst kennengelernt, da wurde er mir auch schon wieder genommen. Und mit ihm alles, was wir hätten sein können. Nun werde ich nie herausfinden, was sich zwischen uns noch entwickelt hätte. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich ihn kannte. Ihn wirklich kannte. Seine Art, das Leben nicht ganz ernst zu nehmen. Seine Liebe für seine Familie. Sein Misstrauen gegenüber einigen wichtigen Köpfen der Traumunion. Seinen Drang, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

»Du musst dir überlegen, ob du bei deren Spiel mitspielen willst.«

Und da weiß ich, was er in diesem Moment gesagt hätte, wenn er hier wäre.

Ich wende mich wieder Irena Cox zu, die mich noch immer mitfühlend betrachtet. Mein Mut ist zurück und drängt die nächsten Worte regelrecht aus meinem Mund. »Er würde sagen, dass ich aufhören soll, bei deren Spiel mitzuspielen und endlich sagen soll, was ich wirklich denke.«

Irenas Miene erstarrt.

Doch jetzt, da ich es einmal ausgesprochen habe, kann ich den Rest der Wahrheit nicht mehr zurückhalten. »Es stimmt nicht, dass ich die einzige weibliche Traumgängerin bin. Es gibt noch andere, noch weitere. Ich selbst habe zwei von ihnen kennengelernt. Aber die Traumunion will nicht, dass das an die Öffentlichkeit kommt. Ein paar Traumgänger verfolgen weibliche Traumgängerinnen sogar und versuchen, ihnen ihre Gabe abzunehmen.«

»Aus! Stopp!«, befiehlt jemand, und nur vage bekomme ich mit, wie das rote Licht über einer der Kameras erstirbt.

»Es gibt weibliche Traumgänger! Und Yunus wollte das beweisen!«, schreie ich. Dann sind da nur noch Hände, die mich vom Stehtisch wegzerren, und wütende Gesichter. Doch es ist mir egal. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen.

Aber ich kann weitermachen.

4Selena

Ich hätte es wissen müssen. An Einschlafen ist nicht zu denken. Nachdem ich mich eine Weile lang auf meinem unbequemen Sitz herumgewälzt habe, gebe ich auf. Ich tippe auf dem kleinen Bildschirm vor mir herum und klicke mich durch die Filmauswahl der Airline. Alle möglichen Sitcoms, Liebesschnulzen und Actionfilme stehen zur Auswahl. Während Mo neben mir weiterhin ruhig atmet, beginne ich schließlich eine Dokumentation über Tiefseetiere, doch auch sie kann mich nicht von meinem Unwohlsein ablenken. Ich mag Flugzeuge einfach nicht. Es sind mir zu viele Menschen und zu wenig Platz, um mich zu bewegen. Meine Gedanken sind hier eingesperrt – zwischen Mo und dem Mann neben mir –, und sie halten mich wach, lassen mich an unseren letzten Aufenthalt in Somna und meine abrupte Rückkehr nach Corpora denken. Was war nur los mit mir? Ich sehe Mos sanften und dann irritierten Blick immer wieder vor mir. Was daran hat mich so aus der Fassung gebracht? Wir haben in den letzten Wochen so viel Zeit miteinander verbracht. Wie kann es da sein, dass ihre Nähe plötzlich eine Art Fluchtimpuls in mir geweckt hat?

Irgendwann gebe ich es auf, mich mit der Doku ablenken zu wollen. Ich folge meinem Drang nach Bewegung und schnalle mich los. Umständlich klettere ich über den Mann neben mir, der ein Grummeln von sich gibt, ansonsten aber weiterschläft, und mache mich auf den Weg in Richtung der Toiletten. Überall schlafen Menschen in den unterschiedlichsten Körperhaltungen. Nur ab und zu flackert der Schein eines Bildschirms über ein müdes Gesicht.

Jäh wackelt es heftig, und ich greife reflexartig nach einer Rückenlehne, ehe ich mich weiter durch den Gang schiebe.

Wovon die Leute wohl träumen? Ich weiß, dass die Albträume seit der fast völligen Zerstörung Somnas noch deutlich schlimmer geworden sind. Kein Wunder. In dem Gedränge in Somna sind nicht jedem Träume von Heißluftballonfahrten und Babyphönixen vergönnt.

Kurz darauf ziehe ich die Tür der Klokabine auf und zwänge mich in den engen Raum dahinter. Wie immer gibt es hier gerade mal genug Platz, um sich einmal um sich selbst zu drehen.

Als ich mit der Benutzung der Toilette fertig bin und mir die Hände wasche, geht ein erneuter Ruck durch das Flugzeug. Ich verliere das Gleichgewicht und knalle mit dem Kopf gegen den Spiegel. Desorientiert reibe ich mir die schmerzende Stirn. Als das Flugzeug ein weiteres Mal abrupt absackt, kann ich gerade noch rechtzeitig die Hände um das Waschbecken krallen, um mich aufrecht zu halten.

Ein Knacken klingt durch den Lautsprecher in der Decke, gefolgt von einer Frauenstimme. »Wir durchqueren derzeit einige turbulente Luftströme. Bitte halten Sie ihren Gurt geschlossen, solange die Anschnallzeichen leuchten. Vielen Dank.«

Ich stöhne, wende mich der Tür zu, um das Schloss aufzuschieben. Doch der Griff bewegt sich nicht. Ich rüttele daran und muss mich einen Augenblick später wieder am Waschbecken festhalten, als eine weitere Turbulenz das Flugzeug erschüttert. Mein Magen macht einen Satz, und Adrenalin flutet meine Adern. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Wenn ich träumen könnte, dann wäre ein Flugzeugabsturz sicherlich einer meiner Albträume. Aber nein. Das hier ist kein Absturz. Nur Turbulenzen. Nervige, aber harmlose Turbulenzen.

Doch meine Versuche, mich selbst zu beruhigen, lösen sich in Nichts auf, als ich beim nächsten Ruck Menschen in der Kabine aufschreien höre. Ich kämpfe mich vom Klodeckel empor, auf dem ich unsanft gelandet bin. Mo! Bestimmt ist sie aufgewacht und weiß jetzt nicht, wo ich bin. Bei diesen Turbulenzen kann mit Sicherheit keiner mehr schlafen.

Mit aller Kraft rüttele ich am Schieberegler des Schlosses, aber er bewegt sich nicht. Ich werfe mich gegen die Tür, doch auch das bringt natürlich nichts.

Es knackst im Lautsprecher über mir, und die Flugbegleiterin fordert mich erneut dazu auf, mich anzuschnallen. Was ich ja gern machen würde – wenn ich könnte!

Meine Sinne sind hellwach, und das Adrenalin vertreibt auch den letzten Rest Erschöpfung. »Du gehst jetzt auf!«, zische ich die Tür an. Gleichzeitig zerre ich an dem Schloss und spüre, wie der Riegel zwischen meinen Fingern weich zur Seite gleitet – buchstäblich.

Einen Moment starre ich den verformten Hebel an. So sah der doch gerade noch nicht aus, oder? Dann geht ein erneuter Ruck durch das Flugzeug, und ich taumele nach draußen.

Jetzt so schnell wie möglich zurück zu meinem Platz.