LUCRECIA515 - Lasha Bugadze - E-Book

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Lasha Bugadze

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Beschreibung

Sandro, ein verheirateter Mittdreißiger aus der Hauptstadt Tbilissi, zählt als Mitbesitzer einer großen Pflaumensaucenfabrik zu den wirtschaftlichen Gewinnern in Georgien. Aber was nützt finanzieller Erfolg in einer patriarchalen Gesellschaft, wenn der Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag den Feierabend mit Frau und Kind zu Hause verbringt? Seine Freizeit widmet Sandro diversen Eroberungen, die er in einer sorgfältig geführten Liste verwaltet: "die Heiratsfixierten", "die Standfesten" und "die Billigen". Mit allen Mitteln der modernen Kommunikation werden diese Affären so organisiert, dass weder jene voneinander noch seine Frau Keti von all dem Wind kriegen. "Lucrecia515" ist das Passwort, mit dem er seine amourösen Abenteuer und Seitensprünge schützt – bis es kommt, wie es kommen muss: Sandros Frau Keti beschließt, das Passwort ihres treulosen Gatten zu knacken … "Schelmisch und selbstironisch, satirisch und sehr lustig: Bugadze hat Talent für humoristisch überzeichnete Szenen und einen Sinn fürs Absurde." (DER TAGESSPIEGEL)

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Sandro, ein verheirateter Mittdreißiger aus der Hauptstadt Tbilissi, zählt als Mitbesitzer einer großen Pflaumensaucenfabrik zu den wirtschaftlichen Gewinnern in Georgien. Aber was nützt finanzieller Erfolg in einer patriarchalen Gesellschaft, wenn der Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag den Feierabend mit Frau und Kind zu Hause verbringt? Seine Freizeit widmet Sandro diversen Eroberungen, die er in einer sorgfältig geführten Liste verwaltet: »die Heiratsfixierten«, »die Standfesten« und »die Billigen«. Mit allen Mitteln der modernen Kommunikation werden diese Affären so organisiert, dass weder jene voneinander noch seine Frau Keti von all dem Wind kriegen. »Lucrecia515« ist das Passwort, mit dem er seine amourösen Abenteuer und Seitensprünge schützt – bis Keti beschließt, das Passwort ihres treulosen Gatten zu knacken …

»Schelmisch und selbstironisch, satirisch und sehr lustig: Bugadze hat Talent für humoristisch überzeichnete Szenen und einen Sinn fürs Absurde.«

(DER TAGESSPIEGEL)

INHALT

1. Wie sollte man anfangen?

2. Die Liste

3. Die B-Kategorie

4. Die C-Kategorie

5. Die D-Kategorie

6. An wen ging die SMS?

7. Sandros Curriculum vitae

8. Der kleine Katechismus

9. Wann sollte man mit einer Chopin-Etüde kommen?

10. Sollte man seinen Ängsten nachgeben?

11. Sollte man mit hinaufgehen?

12. Wie sollten wir die Woche einteilen?

13. Was macht uns besser?

14. Was ist Sünde?

15. Ein Alarmsignal

16. Warum lieben sie uns nicht?

17. Die Prominente

18. Was fliegt uns um die Ohren?

19. Wieso sollten wir ankündigen, dass wir kommen?

20. Ist es so schwer, das Telefon einzuschalten?

21. Wie vermeiden wir Streit?

22. Wie sollten wir aufwachen?

23. Wieso schreibt er so?

24. Wie sollten wir sie lesen?

25. Wie vermeiden wir es, fotografiert zu werden?

26. Bei wem warst du?

27. Der Aufbau eines Romans

28. Wie können wir lernen, unsere Gedanken zu verbergen?

29. Die Sandros

30. Die delikate Art zu gehen

31. Tollwut

32. Wie wichtig ist es, kluge Mitstreiter zu haben?

33. Wie können wir einen Virus aufspüren?

34. Im Namen der Liebe

35. Wie wir unsere Strategie über Bord werfen können

36. (…)

37.

38. Die zweite Etüde

39. Zu welchem Zeitpunkt sollten wir auf die altbewährte Methode des Distanzierens zurückgreifen?

40.

41. Welche ist besser?

42.

43.

44. Wer sollte uns die simple Wahrheit wieder ins Gedächtnis rufen?

45.

46. Passwort

47.

48. Mit welchem Smiley?

49.

50. Wie werden wir die Menschen los, die uns nur Gutes wollen?

51.

52. Die Tür

53. (…)

54. Noch ein weiterer Grund

55. Wann kommt der steinerne Gast zu Besuch?

56. In welchem Register?

57. Lohnt es sich, auf diese Stimme eifersüchtig zu sein?

58.

59.

60. Durch wessen Hand?

61. Wie sollten wir zu Boden gehen?

62. Wenn der steinerne Gast zu kommen vergisst

63. Wie wir bleiben können

64. Spam

65.

66. Wie können wir sie/ihn überzeugen?

67. Wie sollte man anfangen?

1. WIE SOLLTE MAN ANFANGEN?

Der Tag begann mit einer harmlosen SMS:

Wollen wir zusammen einen Tee trinken?

Er war nie ein passionierter Teetrinker gewesen, ganz im Gegenteil, und seitdem er zugenommen hatte, vermied er grundsätzlich Heißgetränke, weil man dabei zu sehr schwitzte – die Einladung zum Tee war einfach nur ein guter Vorwand.

Mit etwas musste man ja anfangen. Bislang hatte er sich zwei Mal mit ihr in der Öffentlichkeit gezeigt, bei irgendwelchen seltsamen Veranstaltungen, auf denen er ihre muntere Art auch öffentlich gelobt hatte (wortgewandt und würdevoll hatte sie dort den Avancen eines aggressiven Alphatiers widerstanden, und das tat sie – darauf legte er besonderen Wert – in einem korrekten Georgisch).

Gerne, lautete Anas Antwort.

Selbstverständlich gefolgt von einem wohlwollenden Smiley.

Bevor Sandro sich mit ihr auf Ort und Zeit einigen konnte, musste er genau überlegen, welche Gefahr dabei von seiner Frau ausging: Es galt zuerst, Ketis Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, dann erst durfte er Ana schreiben. Die verlockende Freiheit konnte er nur dann genießen (und auch das nur für maximal anderthalb Stunden), wenn er sich auf einem vor seiner Frau abgesicherten Terrain befand.

Sandro lief in Gedanken die Straßen ab (dabei hielt er den zitternden Daumen erwartungsvoll über die Tastatur, bereit, Ana zu schreiben), nervös versuchte er, sich an Cafés und Restaurants zu erinnern, in die Keti niemals gehen würde, und wählte aus mehreren sicheren Optionen ein bereits erprobtes, Glück verheißendes Restaurant mit einem vielfältigen gastronomischen Angebot aus.

Es wäre übertrieben zu behaupten, dass alles fantastisch für ihn lief – den ganzen Abend musste Sandro seinen Bauch einziehen und sich bemühen, einen recht schmalen Eindruck zu hinterlassen. Doch seine Bedenken waren unnötig. Ana mochte ihn bereits – mitsamt seines Bauches.

Auch wenn Ana Männer nicht nach ihrer Kleidung beurteilte, so waren ihr doch einige Details nicht entgangen. Für gewöhnlich traf sie sich mit eher nachlässig gekleideten Männern, doch mit Sandro hatte sie einen edel und geschmackvoll angezogenen Menschen vor sich, der stets glänzte wie eine Werbetafel. Jedes Mal wenn sie ihn sah, war er auf die gleiche Weise gekleidet. Fast hätte sie ihn gefragt, ob er nur dieses eine Outfit besitze; Sandro ging damit auf Nummer sicher, und tatsächlich stand ihm sein blauer Anzug mit Weste und roter Krawatte so außerordentlich gut, dass Ana schnell sämtliche leger gekleideten und auch die entkleideten Männer ihres vorigen Lebens vergaß.

Ja, genau das brauchte sie. Einen Mann in Erfolgskleidung. Sandro schien im Licht eines unsichtbaren Werbeslogans zu stehen: Wohlstand, Stabilität, Optimismus.

Ana gehörte nicht zu der Kategorie von Frauen, die, bevor sie zu einem Entschluss kommen, zuerst den Hintern des Mannes begaffen müssen, den sie grade kennengelernt haben. Aber dieses Mal – aus purer Neugier – blieb ihr Blick an Sandros Rückansicht haften, und sie urteilte ohne jede Zielvorstellung: »Der Hintern ein wenig flach, aber insgesamt ein cooler Typ.«

Anas Parameter hatte Sandro bereits am Tag des Kennenlernens überprüft. Diesmal studierte er möglichst unauffällig und durchaus mit einem gewissen Taktgefühl jene Details, deren Begutachtung ihm in einem weniger intimen Rahmen nicht möglich gewesen wäre. Seit Tagen beschäftigte ihn die eine Frage: Trug Ana einen gepolsterten BH, oder war das ihre natürliche Oberweite? Sandro schwankte zwischen Angst und gesundem Interesse hin und her. Doch wovor fürchtete er sich eigentlich?

1. Dass Keti unerwartet auftauchte.

2. Dass Keti anrief.

Letzteres, also Punkt B, kümmerte ihn weniger, da er in dem Fall eine bewährte und nachvollziehbare Antwort parat hatte: Bin in einem Meeting, rufe zurück.

Da müsste man schon nicht ganz richtig ticken, um nach solch einer Ansage den viel beschäftigten und mit Terminen beladenen Mann weiter auszuquetschen: Wo steckst du? Mit wem bist du unterwegs?

Klar wäre es für ihn viel entspannter, das Handy auszuschalten, aber wenn man etwas niemals tun durfte (kategorisch nicht tun durfte), dann genau das: Ein ausgeschaltetes Handy weckt automatisch gefährliche Zweifel und würde sogar die entspannteste Ehefrau der Welt in Rage versetzen und somit die Heimkehr erschweren. Also sollte er lieber nicht über diese Option nachdenken. Er sollte sich nur um einen angemessenen Tonfall bemühen, nämlich um einen natürlichen, ruhigen, vertrauten Tonfall, der keinesfalls Ketis Misstrauen erwecken würde.

Dieses Mal hatte er eine volle Stunde und fünfundzwanzig Minuten geschenkt bekommen. Genau diese Zeit verbrachten die beiden im Restaurant. Wenn man von Omar absah, der sich geschickt versteckt hielt (aus irgendeinem Grund wollte Sandro nicht, dass Ana ihn mit seinem Chauffeur sah), traf er auch draußen auf niemanden, der eine Gefahr darstellte.

Er geleitete Ana schnell und elegant zum Taxi, und da er es eilig hatte, blaffte er den Taxifahrer ein wenig mehr als nötig an.

Ana fuhr friedlich davon.

Jetzt konnte Sandro endlich frei atmen und streckte den Bauch raus.

2. DIE LISTE

Mindestens zwei Mal im Jahr wechselte Sandro seine Passwörter. Das tat er, seit seine letzte Geliebte seinen Account geknackt hatte. (Oder vielleicht hatte sie ihn auch gar nicht geknackt.)

Zurück bei der Arbeit, checkte er seinen passwortgesicherten Rechner, und nachdem er seiner Mitarbeiterin T. L. eine dezent leidenschaftliche Frage gestellt hatte (»Kommt es mir nur so vor oder hast du etwas mit deinen Haaren gemacht?«), fügte er der Liste Zum näher Kennenlernen auch Anas Namen hinzu. Diese Liste war in Nach der Offenbarung und Vor der Offenbarung unterteilt. Unter den Namen der Geoffenbarten waren Eindrücke festgehalten, neben den Anwärterinnen aus Vor der Offenbarung kleine strategische Pläne angemerkt:

1.

Sofio K. (Habe ihr bereits an die zwanzig SMS geschickt, treffe sie Ende März in Telawi. Wenn alles gut läuft, wird sie bereits im Hotel die Beine breit machen. Mittwochs und freitags fastet sie. Telawi an allen anderen Tagen möglich.)

2.

Lela O. (Einmal geknutscht. Der Ehemann stellt ein Problem dar. Holt sie ab, ruft ständig an.)

3.

Tiko Tsch. (Seit zwei Monaten in SMS-Kontakt. Lebt in Hannover. Kann auf keinen Fall hinfliegen. Habe sie dazu gekriegt, vorm Bildschirm ihr Shirt hochzuziehen. Redet zu viel. Wenn bis Mai keine Perspektive in Sicht – löschen.)

4.

Ana M. (Erstes Treffen bereits gehabt. Ab heute bombardiere ich sie mit Kurznachrichten. Wird höchstwahrscheinlich beim dritten Treffen klappen. Kein boshafter Charakter. Weiß, wie sie tickt.)

Die Frauen waren nach Saison, Datum und Wohnort unterteilt. Zum Beispiel:

Die Saison 2010/11

1.

Irma N. (9. Februar, Bakuriani. Geht so. Ist zudem schnell beleidigt.)

2.

Mariana K. (22. März, Amsterdam. Wirkt im Bett sehr unglaubwürdig.)

3.

Anuka L. (14. Juli, Tbilissi. Lässt mich nicht schlafen. Trinkt. Quatscht.)

4.

Vika E. (2. September, Tbilissi. Ließ mich nicht in Ruhe.)

Sandros pedantischer Natur entsprechend, gab es sogar eine zusätzliche Liste für seine Misserfolge. Hier waren all die Frauen aufgelistet, die er aus den verschiedensten Gründen nicht hatte zum Sex überreden können. Außerdem befanden sich auf dieser Liste die Namen jener Mädchen, auf die er während seiner Schulzeit scharf gewesen war und die für ihn trotzdem unerreichbar geblieben waren. Diese Einträge wiederum waren folgendermaßen unterteilt:

Die in Erinnerung Gebliebenen

Die aufs Heiraten Fokussierten

Fatal Sture

Damals zu Sture

Schreckhafte

Hochstaplerinnen

Leicht zu Habende (Für Notfälle)

Die dritte Kategorie – Supermärkte, Banken, Apotheken

Die Flopsaisons

Als missglückt galten die Monate Oktober bis August der Saison 2005/06, denn genau zu diesem Zeitpunkt hatte er nach fünf Jahren Beziehung seine damalige Freundin verlassen und Keti geheiratet.

Anfangs hatte er diese Liste aus Spaß angelegt. Er schwelgte in Erinnerungen, schrieb alles auf und las seinen engen Freunden (natürlich nur den männlichen) daraus vor; doch dann ergriff ihn eine ungewohnte Glückseligkeit, wenn er die Zeit dafür fand, die Einträge zu ergänzen und zu lektorieren – nicht selten saß er staunend davor.

Ausgehend von dieser Liste, hätte man einen ganzen Roman schreiben können.

3. DIE B-KATEGORIE

Die Mitarbeiterin am Kassenschalter trug ein Namensschild auf der Brust. Sein Blick blieb auf den lateinischen Buchstaben haften: MEGI.

»Leider steht da nicht Ihre Telefonnummer unter Ihrem Namen«, sagte Sandro lächelnd. Megi lächelte höflich zurück und druckte die Quittung aus.

»Bitte unterschreiben Sie hier«, sagte sie.

Es war bereits das dritte Mal, dass sie sich sahen.

Megi hatte ihre Unterschrift anscheinend noch nicht unter eine Eheurkunde gesetzt, da Sandro keinen Ring an ihrem kräftigen Finger erkennen konnte – deswegen wurde er wagemutiger:

»Für Sie unterschreibe ich doch überall …«

Sehr banal, sicherlich, aber irgendwas musste er ja sagen.

Megis Gesicht wurde von einem ziemlich großen Mund zweigeteilt, um das Schlüsselbein baumelte elegant eine Goldkette, und unter ihrem Ohr war ihr Hals – wegen der Hitze oder wegen eines unverschämten Kunden – vielsagend gerötet. Megi saß hinter einer dicken Glasscheibe, Sandro stand vor ihr am Schalter. Megi zählte das Geld, während Sandro ihr zwischen die Knöpfe starrte, wo sich seinen Blicken eine fingernagelgroße Fläche nackter Haut offenbarte.

Am gleichen Tag war er noch engagiert genug, sie nach der Arbeit abzupassen. Die Bank machte um sieben zu, doch Megi ließ sich noch eine halbe Stunde Zeit. Sandro blieben demnach nur noch zwei Stunden, bis er zu Hause zu sein hatte. (Danach würde Keti höchstwahrscheinlich anfangen, Fragen zu stellen.)

Zum Glück erschien Megi dann irgendwann, allerdings nur zur Hälfte.

Gesicht und Oberkörper gehörten jener Kassiererin, die er erwartet hatte, aber anstelle ihres Unterkörpers schleppte sie etwas höchst Unpassendes mit sich, als hätte man zwei verschiedene Körper miteinander verbunden. Nichts vollkommen Unakzeptables, aber Megis Schenkel waren auf traurige Weise zu kräftig geraten, und ihre Waden steckten in dicken Wollsocken, wie bei einem Hirten.

Sandro hatte mit einem solchen Missverhältnis unter keinen Umständen gerechnet. Deswegen verwarf er sein Vorhaben und verließ wortlos den Ort.

Er fand es schade, die verbleibenden zwei Stunden ungenutzt zu lassen, und wählte die in seinem Telefon kurz und knackig unter ihrem Nachnamen Gvazava abgespeicherte Nummer, über deren Körper er eine vollständige, wenn auch bis dahin nur theoretische Vorstellung besaß.

Bei Gvazava fehlte ihm nur noch der eine, entscheidende Schritt, und wenn nicht heute, so würde er ihm in naher Zukunft gelingen. Gvazava ging nicht ans Handy, sondern schrieb vielsagend:

Bin auf der Probe. Kannst kommen, wenn du willst, kommst durch den Hintereingang rein.

Welchen Hintereingang meinte sie? Was sollte Gvazava schon groß proben? Sie sang mit ihrer traurigen Sopranstimme bloß im Chor des Opernhauses und kämmte ab und an die staubige Perücke der Amneris.

Gut, er würde hinfahren, sie würde runterkommen, sich zu ihm in den Wagen setzen, er würde die Scheinwerfer aus- und die Musik einschalten. Um Gvazava rumzukriegen, sollte die Autoromantik völlig ausreichen. Doch Gvazava zeigte sich unkooperativ und schrieb:

Komm rein, ist keiner da.

Klar war es besser, wenn sie rauskam. Andererseits war es vielleicht auch denkbar, mit ihr in der Garderobe zu verschwinden? Zog sich eigentlich der gesamte Opernchor in der gleichen Garderobe um? Hauptsache, er traf keinen Bekannten oder jemanden, der eine Verbindung zu Keti hatte. Aber wen sollte Keti schon in der Oper kennen?

Beim Reingehen fiel Sandro ein, dass er Gvazavas Vornamen nicht erinnerte.

»Zu Gvazava«, teilte er dem Pförtner mit.

»Dem Tenor?«

Nein, so schlimm war es um ihn nun auch nicht bestellt …

»Nein, sie ist eine Sopranistin«, erwiderte er etwas zögernd.

Man ließ ihn rein. Es war unmöglich, Sandro nicht zu vertrauen. Seine Kleidung, sein Teint, seine etwas überlangen Koteletten, die rosig-gesunden Wangen – all das schloss ein Nein in jeder Hinsicht aus.

Sandro ging Richtung Hinterbühne und traf schon im Gang auf dickliche und überschminkte Bauern und Blumenverkäufer, die alle gleich gekleidet schienen. Gleichzeitig vernahm er dumpf den Klang des Orchesters. Um ein Haar wäre Sandro auf der Bühne gelandet, also bog er in einen engen Korridor rein und rief Gvazava an.

»Bin im Zuschauerraum«, flüsterte sie. »Und wo bist du?«

»Keine Ahnung, ich glaube irgendwo auf der Hinterbühne.«

»Wo denn genau?«

Sandro sah sich um. Vor ihm stand eine kopflose, grau gestrichene Pappstatue, die ihre riesige Hand auf einem Schwert abstützte.

»Hier steht so ein Kerl rum, ohne Kopf«, sagte er.

»Okay, warte, ich bin gleich da«, antwortete Gvazava.

Sandro sah Richtung Bühne, wo gerade ein bärtiger Typ mit Maske dabei war, eine Frau in blonder Perücke, die mindestens zwei Köpfe größer war als er, ziemlich grob zu betatschen. Die Frau entkam relativ schnell Richtung Sandro, dann rannte ein Rentner auf die Bühne, mit Wuschelhaaren, einem Schwert und einer Kerzenattrappe ausgestattet. Aus der Tür, durch die man anscheinend in den Zuschauerraum gelangte, kam einer der Blumenverkäufer, passierte den neben der kopflosen Statue stehenden Sandro und marschierte Richtung Bühne.

»Gvazava«, flüsterte Sandro. Ja, er sprach sie mit Nachnamen an, als wären sie zwei alte Klassenkameraden. Das war definitiv besser, als sie mit einem falschen Vornamen anzusprechen.

»Hier bist du also?« Sie schien sich zu freuen.

Sandro nahm sich vor, sie auf den Mund zu küssen (er hatte eh genug Zeit mit ihr vergeudet), aber Gvazava schaffte es noch rechtzeitig, ihm die mit Schminke überzogene gelbliche Wange hinzuhalten.

»Was hast du denn an?« Er musste schmunzeln. Gvazava strich ihre Schürze glatt.

»Ich spiele die Freundin von Zerlina.« Derweil gelang es dem Maskierten, den Rentner umzubringen, er stieg über ihn und lief Richtung Hinterbühne davon.

… Taci, non mi seccar …

Gvazava bewegte sich Richtung Tür.

»Ich sitze im Zuschauerraum, willst du nicht auch mit zugucken?«, fragte sie.

Langsam wurde Sandro ärgerlich. Dieses Mädchen forderte von ihm Aufmerksamkeit und einen unangenehm in die Länge gezogenen zwischenmenschlichen Austausch, er aber wollte nach dem heutigen Schock vor der Bank – und einfach Mal aus Gründen der Gerechtigkeit – etwas Handfestes, bevor er sich nach Hause trollte. Deswegen sprang er sie übereilt an und drückte ihr einen Kuss zwischen Hals und Wange.

»Warte mal!«, Gvazava schien beleidigt.

»Ich kann da jetzt nicht mit rein«, sagte Sandro. Eigentlich war sie ihm egal, deswegen konnte er es sich auch leisten, Fehler zu machen. Er könnte sie gegen ihren Willen küssen, seine Hand zwischen ihre Titten schieben, und wenn sie nachgab, so konnte er später eventuell etwas mehr einfordern, zum Beispiel eine schnelle Fellatio. Dunkle Ecken gab es ja hier genügend. Mit etwas gutem Willen hätte man sich auch hinter der kopflosen Statue zusammenhocken können – die Statue war auf der Rückseite ausgehöhlt, höchstwahrscheinlich, um einem Sänger dort ein Versteck zu bieten.

»Bloß eine Sekunde, eine Sekunde«, begann Sandro ihr zuzuflüstern. »Bitte.«

»Du machst mein Kostüm kaputt, warte …«

Mit Mühe ließ er sie den Mund öffnen, fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und berührte mit der Hand ihren Oberschenkel. Gvazava stieß ihn mit dem Ellenbogen.

»Spinnst du? Was soll das?«

Das war jetzt wirklich beleidigend. Er sah sie angewidert und vorwurfsvoll an, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er eben gekommen war. Auf der Bühne wurde gerade die Frau mit der blonden Perücke wiederbelebt, und der Tenor hielt ein in Spiritus getränktes Stofftaschentuch vor ihre Nase.

… Anima mia … consolati … fa cuore …

Zwanzig Minuten später saß er Keti gegenüber und berichtete ihr den exklusiv für sie erdachten Abendverlauf.

Später schickte er N. T. eine SMS.

Der Tag war schließlich noch nicht zu Ende.

Was?, kam von N. T. zurück.

Hatte plötzlich Sehnsucht nach dir, antwortete er.

All das fand ein Jahr vor Ana statt.

4. DIE C-KATEGORIE

Sie wechselten in ein anderes Café. Er hätte nicht erwartet, dass sie ihn auffordern würde, hierhin umzuziehen. Denn Sandro passte weder mit seiner Kleidung noch vom Erscheinungsbild in dieses Ambiente: Niemand außer ihm trug eine Krawatte, und kein anderer hatte dort einen dermaßen hochroten Kopf. Natürlich war es für ihn riskant, sich an solch einem Ort aufzuhalten, nichtsdestotrotz blieb er stoisch neben der verzogenen Neunzehnjährigen und ihren vier Freundinnen sitzen. Allmählich hatte er genug von diesem Kind, war diese Infantilität und diese Klugscheißerei leid, aber er wollte sich auch nicht von seiner Hoffnung verabschieden. Wie ein Idiot folgte er ihr also den ganzen Abend auf Schritt und Tritt.

»Gleich platzt mir der Kopf.« Lächelnd schrie er Taso D. diesen Satz ins erhitzte Gesicht. (Im Café lief ohrenbetäubend laute Musik.) Taso legte ihr Handy nicht aus der Hand: Unabhängig davon, ob sie sich unterhielt, herumsprang, saß oder stand, schaffte sie es trotzdem, irgendwie Satzfetzen und Smileys zu tippen.

»Geh doch, wenn du müde bist«, erwiderte Taso halb vorwurfsvoll.

»Bist du verrückt? Wo soll ich denn hin?« Er trotzte sich ein erzwungenes Lächeln ab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Taso zog die Schultern hoch, »Ooohhh«, als wäre sie grade von einer Mücke gestochen worden.

»Bist du müde?«

»Nein«, er versuchte leicht melancholisch zu klingen, musste die Antwort aber trotzdem brüllen: »Ich wünschte nur, wir könnten uns in Ruhe unterhalten!«

»Wir können uns doch hier unterhalten.«

»Kann hier so nicht … Lass uns nachher ein wenig rumlaufen.«

»Wo denn?«

»Irgendwo.«

Taso sprang auf, nahm ihrer Freundin K. S. die Minzlimonade aus der Hand, trank daraus und setzte sich wieder zu Sandro.

Das Kleid war bis zum Steißbein hochgerutscht, sie presste ihre glänzenden, sonnengebräunten Beine (im Licht sah er die zarten, goldenen Härchen darauf glänzen) mit einer naiven Ungeschicktheit und einer gewissen Ungezähmtheit gegen Sandro, als beherrschte sie ihren Körper nicht, und tippte mit ihren Daumen in atemberaubender Geschwindigkeit eine Textnachricht.

»Wem schreibst du denn ständig?« Sandro versuchte, einen Blick auf die Nachricht zu erhaschen.

»Niemandem. Hier.« Sie drehte das Handy zu ihm und zog es dann schnell wieder zurück.

»Habe nichts gesehen«, sagte Sandro. Taso zeigte sich genervt.

»Ist nichts …«

Wenn sie mit Sandro redete, hatte sie eine völlig andere Stimme, als wenn sie sich mit ihren Freundinnen unterhielt. Wenn sie mit ihren Freundinnen sprach, hatte sie diesen bestimmten jugendhaften Tonfall eines eitlen Pfaus, mit Sandro wurde ihre Stimme tiefer und gereizter.

Sandro starrte ihre Beine an. Die anderen Mädchen nahmen ihn nicht mehr wahr. Sie hatten ihn bereits im vorigen Café observiert. Er versuchte auch nicht mehr, sie zu unterhalten – er hatte bereits seine Pflicht erfüllt, schließlich hatten sie sich auf seine Kosten vollgefressen. Er hätte nie gedacht, dass so viele Mädchen in seinem Auto Platz finden könnten.

»Hey, Schlange!«, schrie eines von ihnen.

Wer ist denn bitte Schlange?

Schlange entpuppte sich als ein aggressiver Wurm – gewunden wie ein Fragezeichen: ein Junge mit dem Aussehen eines Wiederholungstäters und einer piepsigen Stimme.

Schlange küsste alle nacheinander zur Begrüßung mit einer derart großen Ernsthaftigkeit, als müsste er alle Probleme der Welt schultern. Sandro grüßte er nicht … vielleicht wegen seiner Krawatte.

»Und, was treibt ihr so?« Schlange grinste wie ein Schwachkopf. Taso streckte ihm mit einer einladenden Geste die Arme entgegen.

»Setz dich doch«, flötete sie ihm zu.

Steht sie auf ihn? Hat er sie schon flachgelegt?

Schlange wand sich noch mehr.

»Nee, sind da drüben«, antwortete er. Taso verlor augenblicklich das Interesse an ihm und widmete sich wieder ihrem Handy.

»Und was macht ihr so?«, fragte Schlange.

»Sitzen rum«, gab die Dickliche zur Antwort, die im Sitzen zur Musik hin und her wippte. Schlange bewegte sich nicht vom Fleck, schien weder gehen noch sich setzen zu wollen.

Er soll sich verpissen!

Schlange ersparte es sich, den aufgesetzt lächelnden Sandro eines Blickes zu würdigen, und beinahe hätte man ihm den Satz von der Stirn ablesen können: »Irgendein Vollarsch in blauem Anzug.« Schlange und Sandro lagen ganz offensichtlich so weit auseinander, dass nicht einmal ein Hauch von Verlegenheit aufkam. Friedlich zog er davon. Langsam und bedeutungsschwanger.

»Heißt er wirklich Schlange?«, wandte sich Sandro an Taso.

»Ja, ist mit einer Freundin von mir zusammen.«

»Und wieso heißt er Schlange?«

»Hey, Mako, wieso heißt Schlange Schlange?« Taso sah zu ihrer sitztanzenden Freundin.

»Ich glaube, der ist voll schlau oder so, weiß nicht mehr genau«, antwortete diese.

Der Abend war in einer Sackgasse angekommen. Nichts geschah. Sandro hatte auf einmal Lust, nach Hause zu gehen, aber die golden glänzenden Beine hielten ihn zurück.

Endlich war er mal alleine zu Hause. Keti war nicht da. Wie konnte man solch eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?

»Hab Hunger«, sagte Taso. Diese Irren brachen vor Müdigkeit fast zusammen, und doch fanden sie kein Ende. Sie würden die ganze Nacht so weitermachen.

Geht weg! Um die kümmere ich mich!

Eigentlich müsste er sie mit nach Hause nehmen. Es wäre die schiere Ungerechtigkeit, alleine heimzukehren!

Drei Tage zuvor hatte er mit ihr im Auto geknutscht. Sie hatte nach Tabak geschmeckt, aber es war trotzdem gut gewesen.

Das erste Mal hatte er sie auf dem Wiener Flughafen getroffen. Er schleppte ihre Tasche, teilte mit ihr den Sessel in der VIP-Lounge und versuchte die ganze Nacht, sie rumzukriegen. (Der Flieger startete mit vier Stunden Verspätung.) Nun war er schon die zweite Woche hinter ihr her. Sogar tanzen musste er wegen ihr. Taso hatte gefragt: »Und, tanzt du?« Dabei sah er sich ängstlich um, ob ihn jemand beobachtete. Draußen wartete Omar auf ihn. Sandro ging davon aus, dass er noch am gleichen Abend mit ihr Sex haben würde. Mit der Hand fummelte er an ihrer Hose herum.

»Ich habe Hunger«, wiederholte Taso. Sandro tat so, als hätte er es nicht gehört, schämte sich aber gleichzeitig dafür.

»Gut, ich bestelle dir was«, sagte er. Bestellen, warten, dann zusehen, wie sie fertig gegessen hatte … Noch eine Stunde, mindestens!

Taso verzog das Gesicht.

»Hier ist das Essen voll scheiße.«

Okay, dir kaufe ich was zu essen, diesen Kühen hier – nicht.

Sie erhoben sich. Samt den Kühen. Sandros Laune war im Eimer. Erst nach einer ganzen Weile fanden sie ein Restaurant, dessen Küche vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Sie schlugen sich die Mägen mit Sandwiches voll und wurden nüchterner. Irgendein Typ rief derweil Taso an, sie zählte die Namen sämtlicher Anwesenden auf und schlug ihm vor vorbeizukommen. Sandro war beleidigt.

Dann tauchten ein gewisser Jumberiko, Lana und Schulze auf. Im Unterschied zu Schlange entpuppte sich Jumberiko als ein kontaktfreudiges und gutmütiges Walross. Schulze hingegen hatte denselben schlangenähnlichen verschlagenen Blick eines Wiederholungstäters und lächelte wie eine Leiche. Es stellte sich heraus, dass auch Jumberiko und Lana Hunger hatten, und Sandro musste noch zwei Sandwiches nachbestellen. (Zusätzliche fünfzehn Minuten!)

»Sandro, hast du schon ein Kind?«, fragte die Dickliche.

»Er hat sowohl ein Kind als auch eine Frau«, gab Taso als Antwort. Sandro lächelte sie an: »Mach dir darüber keine Gedanken.«

Du Idiot, was hast du mit diesen Bastarden zu tun, steh jetzt endlich auf, was willst du von dieser Ziege …

»Wo bist du so braun geworden?« Schulze starrte unverschämt Tasos Beine an.

»Bei mir auf dem Balkon.«

»Regnet es bei dir nicht?«

»Ich akzeptiere den Regen nicht!« Schulze musste lachen.

»Sie ist so weiß«, Jumberiko blickte auf Lana. »Ich schäme mich schon, mit ihr unter Leute zu gehen.«

Die Sandwiches wurden gebracht. Jumberiko aß auch noch die Hälfte von Lanas Sandwich auf.

»Brrr«, er gab einen rülpserartigen Laut von sich. »Tschuldigung!«

»Er ist ein Idiot!« Lana erhob sich.

Sandros Geduldsfaden begann zu reißen.

»Bitte«, er wandte sich an Taso. »Komm kurz mit mir mit. Will dir was zeigen … Und ich versuche es dir den ganzen Abend schon zu sagen … wirklich …«

»Sag’s doch jetzt«, zierte sich Taso.

»Du hast es mir doch versprochen.«

»Was denn?«

»Den ganzen Abend warte ich auf dich …«

»Wo?«

»Was wo? Hier.«

»Wir sind unter Leuten, Sandro, willst du, dass sie sich den ganzen morgigen Tag die Mäuler darüber zerreißen?«

»Und wenn die gehen? Dann auch nicht?«, fragte er hilflos, doch an diesem Punkt wollte er nicht mehr nachgeben.

»Du willst doch schlafen …«

»Nein, lass uns nachher reden, bitte …«

»Na gut«, gab sie leise als Antwort.

Sandro beruhigte sich. Sicherlich konnte er sich doch noch ein wenig in Geduld üben. Allerdings war er später auch noch dazu genötigt, einen in der Metrostation eröffneten Musik-Bunker aufzusuchen.

Das Furchtbarste war, dass Schulze dort auf seinen Doppelgänger Schlange traf. Wieder dieser Schlange! Immer noch die gleiche Nacht! Nur jetzt noch durch Schulze, Jumberiko und Lana bereichert!

Vielleicht kann ich sie auf die Toilette locken, und wir vögeln dort? – Sandro verspürte Hoffnung. Er musste sie unbedingt betrunken machen.

»Kann nicht trinken, eine Lebensmittelvergiftung«, sagte sie. Die anderen tranken. Alle waren betrunken, außer Taso. Dafür tanzte sie wie eine Irre. Sie war einfach nicht müde zu kriegen. Der Schweiß färbte ihre Achseln dunkel.

Wo soll ich sie hinlocken? Wo ist hier das Klo? Sandro sah sich um.

»Wo arbeiten Sie?«, fragte ihn Schulze.

»In einer Fabrik«, gab er als Antwort. Die Mädchen mussten lachen. Was gab es da zu lachen? Er konnte alle sechs samt Familienmitgliedern, Verwandtschaft und Nachbarn kaufen.

»Bist du also ein Fabrikarbeiter?«, wollte Jumberiko wissen. Dieses Tier hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, dass in der georgischen Grammatik auch eine Höflichkeitsform existierte.

Taso hörte endlich auf herumzuhüpfen, wedelte sich mit der Hand Luft ins Gesicht und hockte sich unvermittelt auf Jumberikos Schoß. Sandro warf einen Blick auf Lana, doch der war es anscheinend scheißegal, wo sich Taso hinsetzte. Schulze näherte sich Taso und Jumberiko, ging vor ihnen in die Hocke und redete leise auf die beiden ein.

Sandro hatte das Gefühl, dass dieser Schulze sich in einer ähnlichen Lage wie er selbst befand – vermutlich hatte auch er eine konkrete, höchstwahrscheinlich physische Erwartung an dieses blöde Mädchen.

Na gut, in fünf Minuten stehe ich auf und gehe …

»Oh, mein Bein ist eingeschlafen«, klagte Jumberiko. Taso sprang auf und rannte Richtung Korridor.

Das Klo ist in der gleichen Richtung, freute sich Sandro und erhob sich langsam. Er folgte ihr. Er nahm durchaus wahr, dass ihm alle hinterhersahen, aber gerade interessierte es ihn einen Scheißdreck, was Schlange, Schulze oder diese Dickliche dachten. Er blieb vor der Frauentoilette stehen, wollte zuerst dort auf sie warten, aber dann öffnete er vorsichtig die Tür und sah sie dort ihre Hände trocknen.

»Was machst du?«, fragte er. Es war niemand zu sehen. Er trat ein und versuchte sie in den Arm zu nehmen.

»Warte, hier sind doch Leute …«

»Du hast es doch versprochen.«

»Lass das …«

»Niemand ist hier.«

»Doch, irgendein Mädchen …«

»Wo denn?«

»Drinnen.«

»Scheiß drauf, sie hört uns eh nicht.«

»Sie ist am Kotzen …«

»Kann auch einen Arzt holen. Komm für zehn Minuten mit, ich sag dir was, und dann bringe ich dich auch gleich wieder zurück …«

»Kann nicht.«

»Ich werde echt gekränkt sein.«

»Kann nicht …« Tasos Stimmung veränderte sich, sie wirkte nahezu boshaft.

»Warum kannst du nicht mitkommen?«

»Kannst nicht selber draufkommen, warum nicht?«

»Steht dieser Schmidt auf dich?«

»Wer?«

»Schmidt oder Schulze …«

»Was hat das damit zu tun?«

Taso bewegte sich Richtung Ausgang, Sandro ergriff ihren Ellenbogen.

»Lass mich los, was soll das?«, schrie sie ihn an.

Stand es ihm bevor, wieder in dieser Runde zu sitzen?

»Den ganzen Tag sitze ich wie ein Volltrottel unter diesen Halbstarken«, Sandro hatte die Nase gestrichen voll. »Was sollen diese Spielchen? Erst sagst du: Ja, ich komme, ich komme, und dann lässt du mich betteln!«

»Lass mich los!«

»Komm fünf Minuten mit!«

Wofür hatte er den ganzen Tag geopfert? Sandro zog sie Richtung Waschbecken, hob sie hoch, unternahm einen Versuch, sie darauf zu setzen, und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Ich schreie gleich, du Arschloch!« Taso begann zu flennen. Sie schien wirklich erschrocken, und vor Schreck schossen ihr die Tränen in die Augen. Sandro erstarrte. Aus der Toilettenkabine trat eine verschlafene Frau heraus, mit in der Stirn hängendem Haar wankte sie Richtung Ausgang. Taso hüpfte wieder vom Waschbecken runter.

»Tut mir leid«, versuchte er sich zu erklären. »Hatte kurz eine Art Blackout …«

»Du Schwein!«

»Ich war heute schon an fünf verschiedenen Orten mit dir, du gehst einfach so kindisch mit mir um, und da habe ich die Fassung verloren …«

»Dann verpiss dich!«

»Sag so was nicht zu mir …« Er versuchte sie erneut zu küssen.

»Geh«, sie schubste ihn weg, wenn auch ziemlich kraftlos. Sandro nahm ihre Hand und legte sie auf seinen ausgebeulten Hosenschlitz.

»Guck mal, was mit mir los ist, guck mal …«

»Interessiert mich nicht!«

»Will es dir nur zeigen, nur zeigen …«

»Will nicht. Mann, du spinnst, echt …«

»Ich kann nicht mehr, schau mal …«

Mit einer Hand zog er den Reißverschluss runter. Taso kniff die Augen zusammen.

»Schau mal, nur eine Sekunde …«

Aus der Hose sprang ein hochroter sehniger Penis.

»Will nicht, geh …«

Sandro presste sich gegen Tasos Bauch.

»Fass ihn an, bitte …«

»Ich schlag dich gleich …«

»Nicht schlagen, mir geht’s wirklich beschissen …«

Taso zierte sich weiterhin mit zusammengekniffenen Augen. Anfassen wollte sie ihn auch nicht. Sandro stellte sich auf Zehenspitzen und ergriff ihren Nacken, wobei er gleich merkte, dass er in dieser Position ihren Mund nicht erwischen würde. Also drückte er sich wieder gegen ihre Schenkel. Und dann auf einmal, ohne selbst damit zu rechnen, kam er auf ihrem Kleid.

»Du Idiot!«, begann sie wieder zu schreien und setzte sich mit einem Hüpfer auf das Waschbecken.

»Oh Gott …«, sagte Sandro erschrocken.

»Spinnst du?«

»Tut mir leid, bitte … Es ist deine Schuld, den ganzen Tag starre ich dich an …«

»Wie soll ich das Zeug vom Kleid abkriegen?«

Sandros Penis schwoll fast unverschämt schnell wieder ab. Taso bespritzte das Kleid mit Wasser.

»Alles klebt.« Sie begann noch lauter zu flennen.

»Jetzt übertreib nicht, du wirst davon doch nicht schwanger …«

»Er bringt mich um …«

»Wer?«

Wie eine Verrückte spritzte sie Wasser auf das Kleid. Er steckte seinen abgeschwollenen Penis zurück in die Hose und verließ die Toilette. Am Ausgang fiel ihm noch ein, dass es noch die Rechnung für die Cocktails zu begleichen gab (er vermied den Blick Richtung Mädelstisch), aber er kehrte nicht mehr um.

An der Treppe stand Schlange. Sandro lächelte ihm zu. Schlange erwiderte das Lächeln nicht. Null Reaktion.

Ich gehe in aller Ruhe hinauf …

Schnaufend rannte er die Treppen hoch.

Ob es hier Kameras gab? Zum Beispiel in den Toiletten? Er sprang ins Auto.

Ob sie ihr etwas ansehen werden? Sich nie wieder auf Halbwüchsige einlassen …

Es war immerhin etwas gewesen. Viel mehr war vielleicht gar nicht nötig. Den Rest sollte Schmidt erledigen oder Schulze.

Sandro erhielt eine SMS:

Wo steckst du?

Es war Taso. Er antwortete nicht. Er musste das Geschehene möglichst schnell aus dem Kopf kriegen.

All das fand zwei Jahre vor Ana statt.

5. DIE D-KATEGORIE

»Sie haben das Video seiner Frau gezeigt. Anscheinend gab es da Kameras. Sie waren im Hotel. Von der Frau sieht man nur die Beine, er liegt auf ihr drauf.«

Sandro blickte eher ängstlich als mitleidig zu K. S. rüber, der bleich und mürrisch an der Treppe stand. Man sprach über K. S. Alle wussten, was ihm passiert war. Sie hatten die schwarz-weiße, körnige Aufzeichnung seiner Frau gezeigt (dann sogar ins Netz gestellt), in der man erkennen konnte, wie er sich die Socken und die Unterhose auszog, sich auf den Rücken legte, irgendeine Frau streichelte, wie er sie umdrehte und sich auf sie legte … und wie durch ein Wunder blieb das verborgen, was man eigentlich unbedingt hätte sehen müssen.

K. S. wurde erpresst, weil er die Koalition verschiedener politischer Parteien finanzierte, doch er weigerte sich beharrlich zuzugeben, dass dieses keuchende, schwarz-weiße Wesen er selbst war.

Sie waren gerade bei der Totenwache für die Großmutter eines Mitarbeiters. Sandro steckte im Eingang fest, K. S. war gegen die Wand gepresst, alle waren gezwungen, Kreise um ihn zu drehen, statt das, wie es Brauch war, um den Sarg zu tun.

»An seiner Stelle würde ich mich nicht nach draußen wagen«, sagte Menabde zu ihm.

»Wo hat seine Frau es gesehen?«

»Sie bekam eine CD zugeschickt.«

Die Verstorbene sah erheblich besser aus als K. S. Zumindest war ihr Ausdruck ruhig und friedlich.