Der Literaturexpress - Lasha Bugadze - E-Book

Der Literaturexpress E-Book

Lasha Bugadze

3,8

Beschreibung

Was passiert, wenn man hundert mittelmäßig begabte Autoren aus ganz Europa in einem Zug quer durch den Kontinent schickt? Zaza, Autor eines einzigen, wenig erfolgreichen Erzählbandes, bekommt ein überraschendes Angebot: In einem Zug zusammen mit 99 weiteren Autoren soll er Städte wie Lissabon, Madrid, Paris, Brüssel, Frankfurt, Moskau, Warschau und Berlin besuchen. Warum gerade er für diese abenteuerliche Lesereise ausgewählt wurde, ist Zaza schleierhaft. Als kurz darauf der Kaukasuskrieg ausbricht, seine Freundin Elene sich von ihm trennt und er erfährt, dass der hochneurotische Lyriker Zwiad der zweite georgische Autor an Bord sein wird, ahnt er: Diese Reise wird sein Leben auf den Kopf stellen. Im Literaturexpress erwartet ihn eine denkbar ausgefallene Schicksalsgemeinschaft: Da ist die wohlbeleibte Kroatin Danuta mit einer Schwäche für knackige Männerhintern, der Bulgare Borisow, dessen Veröffentlichung im New Yorker eine Mischung aus Erstaunen, Bewunderung und Neid hervorruft, der Student Iliko, der amourösen Abenteuern, Hotelbademänteln und Einwegpantoffeln hinterherjagt, der polnische Übersetzer Maciek und dessen Frau, die schöne Helena - in die sich Zaza unsterblich verliebt … "Der Literaturexpress" ist eine herrliche Satire über den internationalen Literaturbetrieb, eine Liebesgeschichte voller Komplikationen, ein rasanter, paneuropäischer Roadtrip. Dank Nino Haratischwilis brillanter Übersetzung gibt es mit Lasha Bugadze eine der wichtigsten neuen Stimmen der georgischen Gegenwartsliteratur zu entdecken, reich an Sprachwitz, Selbstironie und feiner Beobachtungsgabe.

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Was passiert, wenn man hundert mittelmäßig begabte Autoren aus ganz Europa in einem Zug quer durch den Kontinent schickt?

Zaza, Autor eines einzigen, wenig erfolgreichen Erzählbandes, bekommt ein überraschendes Angebot: In einem Zug zusammen mit 99 weiteren Autoren soll er Städte wie Lissabon, Madrid, Paris, Brüssel, Frankfurt, Moskau, Warschau und Berlin besuchen. Warum gerade er für diese abenteuerliche Lesereise ausgewählt wurde, ist Zaza schleierhaft. Als kurz darauf der Kaukasuskrieg ausbricht, seine Freundin Elene sich von ihm trennt und er erfährt, dass der hochneurotische Lyriker Zwiad der zweite georgische Autor an Bord sein wird, ahnt er: Diese Reise wird sein Leben auf den Kopf stellen. Im Literaturexpress erwartet ihn eine denkbar ausgefallene Schicksalsgemeinschaft: Da ist die wohlbeleibte Kroatin Danuta mit einer Schwäche für knackige Männerhintern, der Bulgare Borisow, dessen Veröffentlichung im New Yorker eine Mischung aus Erstaunen, Bewunderung und Neid hervorruft, der Student Iliko, der amourösen Abenteuern, Hotelbademänteln und Einwegpantoffeln hinterherjagt, der polnische Übersetzer Maciek und dessen Frau, die schöne Helena – in die sich Zaza unsterblich verliebt …

»Der Literaturexpress« ist eine herrliche Satire über den internationalen Literaturbetrieb, eine Liebesgeschichte voller Komplikationen, ein rasanter, paneuropäischer Roadtrip. Dank Nino Haratischwilis brillanter Übersetzung gibt es mit Lasha Bugadze eine der wichtigsten neuen Stimmen der georgischen Gegenwartsliteratur zu entdecken, reich an Sprachwitz, Selbstironie und feiner Beobachtungsgabe.

Für Sophie

Inhalt

1. TBILISSI

2. DAS FLUGZEUG

3. LISSABON

4. DER ZUG

5. MADRID

6. UNTER MACIEK

7. PARIS

8. DIE TOTEN VON PARIS

9. BRÜSSEL

10. FRANKFURT

11. MALBORK

12. IN HELENAS BETT

13. KALININGRAD

14. MOSKAU

15. WARSCHAU

16. BERLIN

17. …

1. TBILISSI

Im August warfen die Russen Bomben auf uns. Im September trennte sich Elene von mir. Im Oktober fuhr ich nach Lissabon.

Dass ich beim Literaturexpress dabei sein würde, hatte man mir bereits im Frühjahr angekündigt, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nicht vorstellen können, dass uns die Russen im August bombardieren würden.

Und auch Elenes Drohungen nahm ich damals nicht allzu ernst. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass sie eine solche Prinzipienreiterin sein würde. Es kam alles sehr unerwartet und schnell. Erst teilte man mir mit, dass ich mit neunundneunzig anderen Autoren durch Europa reisen sollte, kurz darauf sah es so aus, als würden die russischen Bomben mich umbringen, und am Ende stellte sich auch noch heraus, dass ich nicht das Unschuldslamm war, für das Elene mich gehalten hatte.

»Wie ich die mit dir vergeudete Zeit bereue!« Das war das Letzte, was ich von ihr zu hören bekam. Dann schaltete sie ihr Telefon aus. Ich schrieb ihr zwei armselige SMS und ließ es darauf beruhen. Ich versuchte weder zu betteln noch sie irgendwie zu überzeugen. Die russischen Fliegerbomben hatten mir den letzten Rest an Kraft geraubt.

Zuvor hatte mich ein gewisser Koka vom Kulturministerium angerufen, mir etwas von einem sogenannten Literaturexpress erzählt und mich anschließend ins Ministerium bestellt.

Der Literaturexpress erwies sich als ein Zug. In ihn sollten hundert Autoren aus verschiedenen Ländern einsteigen, um einen Monat lang halb Europa zu durchqueren.

Aus einem mir nicht ersichtlichen Grund wandte sich das Kulturministerium mit der Einladung an mich. Koka teilte mir recht freimütig mit, dass die Wahl nur deshalb auf mich gefallen war, weil der Lyriker Khavtasi (einer unserer senilen Idioten) abgesagt hätte. Die Einladung galt für insgesamt zwei georgische Autoren. Koka erzählte weiter, dass ursprünglich zwei Lyriker vorgesehen waren (der Minister soll gesagt haben, dass diese einer solchen Reise größeren Charme verleihen würden), aber dann wurde in Form von meiner Wenigkeit ein Prosaautor reingeschmuggelt. Und so sollten wir die Reise zu zweit antreten: ein Lyriker und ich.

Bis heute ist es mir ein Rätsel, warum dieser Koka und seine Vorgesetzten ausgerechnet auf mich kamen. Wessen Idee war es gewesen, mich auf diese Reise zu schicken? Wer hatte bestimmt, dass ich der Richtige war, um nach Lissabon zu fahren?

Es gibt hierzulande Autoren mit gleich zwanzig Büchern, also wieso unbedingt ich mit meiner armseligen (und vor allem einzigen) Kurzgeschichtensammlung? Wer verlieh mir in einer solch kleptokratischen Organisation, wie das Kulturministerium eine ist, den Status eines ernstzunehmenden Schriftstellers?

Ich tippe auf jenen Koka (der stellvertretender Minister oder etwas in der Art war), diesen weichlichen, Koteletten tragenden und milde aggressiven Landburschen. Angeblich war er vor Ort, als man mir die Auszeichnung verlieh. (Ich hatte für meine Kurzgeschichtensammlung einen lokalen Literaturpreis erhalten.) Und gleich am nächsten Tag nach der Preisverleihung hätte er mein Buch gekauft, es gelesen, und es hätte ihm sogar gut gefallen. Zumindest erzählte er es mir so.

Noch am selben Tag schrieb ich Heinz, einem der Hauptveranstalter der Reise. Als Antwort bekam ich eine offiziell-freundschaftliche E-Mail mit der Reiseplanung. Sie begann mit folgender Ansprache: Dear Mr. or Mrs. Zaza!

Allem Anschein nach wusste man nicht, ob es sich bei mir um einen Mann oder eine Frau handelte. Mein Name hatte ihn ganz offensichtlich überfordert. Ich schrieb, dass ich ein Mr. wäre und in Georgien alle Zazas ausschließlich Männer seien. Natürlich setzte ich ein paar Smileys darunter (diese lächelnden, hinternähnlichen Gesichter).

Die für unseren Zug vorgesehene Route ließ mich in eine Schockstarre fallen. Als ich realisierte, dass der mit Prosautoren und Lyrikern vollbeladene Zug sieben Länder durchfahren sollte, war ich bereits müde und erschöpft, ohne überhaupt einen Fuß in den Zug gesetzt zu haben.

Ich erinnere mich, dass ich meine Ängste auch Elene mitteilte, die wiederum in ihrer typisch mütterlich-pädagogischen Art anfing, mich zu ermahnen:

»Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen. Wer weiß, wann du noch einmal solch eine Gelegenheit bekommst! Man muss schon ein Idiot sein, um sich so eine Chance entgehen zu lassen.«

Auch erinnere ich mich daran, wie Elene und ich die geplante Route auf der Landkarte studierten. Wir nahmen den alten Globus meines Großvaters wie ein kleines Kind mit in unser Bett, legten ihn zwischen uns und begannen nach den Städten zu suchen, in denen der Literaturexpress haltmachen sollte.

Der Zug fuhr von Lissabon nach Madrid und weiter nach Paris, Brüssel, Frankfurt, Malbork (die Stadt konnte ich auf dem Globus nicht finden), nach Kaliningrad und Moskau (von der Stadt verabschiedete ich mich schon auf dem Globus, denn Russland stellte keine Visa an Georgier aus), und nach Warschau; Endstation sollte schließlich Berlin sein. Halb Europa würden wir also durchqueren.

»Für die Zukunft ist auch eine euroasiatische Literaturtour geplant«, verkündete uns Heinz später. »Dieses Mal hat die Finanzierung nur für die eine Europahälfte gereicht.«

Übrigens: Auch als der russische Flieger die Bombe auf den Machata-Berg warf, lagen Elene und ich im Bett. Es war um fünf Uhr in der Früh. Wir wurden vom ohrenbetäubenden Lärm einer Explosion geweckt. Zuerst dachte ich, dass jemand den Fernsehturm in die Luft gejagt hätte (der Fernsehturm steht quasi bei uns um die Ecke), und stellte mir vor, wie dieses brennende Metallmonster auf unser kleines Haus stürzte.

Elene riss die Fenster auf und sah zum Fernsehturm hoch.

»Nein«, sagte sie, »er steht noch.«

»Wo ist die Bombe dann eingeschlagen?«, fragte ich sie, durchaus erleichtert.

Sie ging auf den Balkon hinaus, und aus irgendeinem Grund umschloss sie ihren Kopf mit beiden Händen und blickte erschrocken zum Himmel.

»Weiß nicht, kann von hier aus nichts sehen!«, rief sie mir vom Balkon aus zu.

Dann zogen wir uns an, suchten unsere Pässe, stopften sie in Elenes Handtasche und nahmen vor dem Fernseher Platz.

»Wenn sie noch eine abwerfen, kriechen wir unter die Treppe«, beschloss sie. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter.

»Hauptsache, wir haben noch Handyempfang«, sagte ich.

Ich erinnere mich, dass ich mir wirklich große Mühe gab, Ruhe zu bewahren. Ich gähnte laut, witzelte mit ihr herum und zeigte mich erstaunt darüber, dass sie sich so schnell angezogen hatte. Die Angst hatte mich in Aufruhr versetzt.

»Und du hast dich noch darüber beklagt, die Zugfahrt könne anstrengend werden. Du spinnst, oder?«, sagte Elene.

Recht hatte sie schon, aber damals wusste ich ja auch noch nicht, dass die Russen mich im August umbringen wollen würden …

Am Morgen erfuhren wir, dass die Bombe in ziemlicher Entfernung von unserer Wohnung auf das andere Flussufer gefallen war, nahe des Tbilisser Sees.

In dieser Nacht noch glaubte ich, dass es niemanden geben könnte, der mir so nahe stand wie Elene. Wir waren vor dem Fernseher eingeschlafen. Elene hatte ihre kleine Handtasche auf die Knie gelegt, und ich lehnte mit dem Kopf an ihrer Schulter.

Einen Monat später trennten wir uns.

Ich trinke selten, aber wenn ich trinke, dann wird’s gefährlich. Nicht, dass ich aggressiv werde, nein, ich lache viel, will nicht, dass der Tag zu Ende geht. Kurz gesagt, und so absurd es klingen mag, aber betrunken hatte ich im Schlaf gesprochen.

Am nächsten Morgen erwartete mich Elene bereits in der Küche. Sie saß am Fenster und sah mich mit einem ironisch-verachtungsvollen Blick an.

»Wer ist Maka?«, fragte sie.

Ich dachte zuerst, dass sie eine SMS von ihr abgefangen hätte oder etwas in der Art.

Maka hatte ich während des Augustkrieges über Skype kennengelernt. Sie hatte eine Riesenangst und kokettierte damit auf eine ziemlich idiotisch-hysterische Weise. Bis dahin war mir noch nichts Vergleichbares begegnet. Sie schrieb Texte, die ungefähr so klangen: »Wenn die Russen in Tbilissi einmarschieren, bringe ich mich um … Sag mir jetzt nicht, dass du nicht auf blauäugige Mädchen stehst? Welche Augenfarbe hast du überhaupt?« Es war mir klar, dass sie etwas leicht Billiges an sich hatte, aber hässlich war sie nun wirklich nicht.

In wenigen Worten: Ich hatte kurzweiligen, therapeutischen Sex mit ebendieser armen Maka, die ständig heulen wollte und bei der ich ständig Gewissensbisse hatte, weil ich Elene so übel mitspielte.

Insgesamt trafen wir uns drei- oder höchstens viermal. Ich gab mir große Mühe, aber es gelang mir nicht, sie auch nur ein einziges Mal kommen zu lassen. Vielleicht hatte sie ja genau deswegen ständig heulen wollen. Ich weiß es nicht.

Wir müssen uns besser kennenlernen, wir müssen uns besser kennenlernen, hatte sie dauernd wiederholt.

Wie viel besser sollte ich sie noch kennenlernen?

Hätte ich nicht im Schlaf gesprochen, hätte niemand je von dieser Maka erfahren. So etwas war mir, soweit ich mich erinnern kann, noch nie passiert. Natürlich hatte ich Elene im Schlaf nur deswegen so bereitwillig Auskunft erteilt, weil ich sturzbetrunken war (es ist auch so verdammt leicht, mich zum Sprechen zu bringen, denn ich bin ja schließlich kein Medium). Bedauerlicherweise war mir in meinem Zustand nicht wirklich bewusst gewesen, wo genau ich mich befand und wer mich diesem schicksalhaften Verhör unterzog.

Anfangs konnte ich es gar nicht glauben. Ich dachte, jemand hätte ihr etwas gesteckt, sie hätte irgendeine zweifelhafte SMS in meinem Handy gelesen, aber dann habe ich es einfach laufen lassen. Was passieren soll, soll passieren, habe ich mir gedacht, denn tief in meinem Inneren wusste ich ja längst, dass Elenes und meine Krise nicht erst durch diese nächtliche Beichte ausgelöst wurde.

»Ich bin es leid, dich hinter mir herzuziehen«, hatte sie mir vor einem Jahr am Meer gesagt und wahrscheinlich schon damals angefangen, über eine Trennung nachzudenken. Denn das, was ihr anfangs an unserer Beziehung noch so sympathisch erschien (der ganze Schriftstellerkram, die Art zu leben, meine süße Infantilität), war ihr mittlerweile zu einer bedrückenden und ermüdenden Realität geworden.

Andere Leute schreiben stapelweise Bücher und haben trotzdem kein Geld, woher also sollte die Kohle in meinem Fall schon kommen? Mein einziges Buch ist vor zwei Jahren erschienen, und bis heute wurden nur vierhundertfünfzig Exemplare davon verkauft. »Es müssten schon mindestens tausend Exemplare verkauft werden, damit man von einem Bestseller sprechen kann.« Das hatte mir damals mein Verleger mitgeteilt.

Mein Gehalt reichte gerade mal für die Zigaretten (solange ich noch rauchte). Ich besitze zwar einen Literaturpreis, liege aber bis heute meinen Eltern auf der Tasche. Ich gehe morgens um vier ins Bett, wache um zwölf Uhr mittags auf, und das auch nur aus Höflichkeit, denn ich könnte leicht bis eins oder zwei durchschlafen. Früher schämte ich mich für diesen Lebensstil vor Elene, und auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, schäme ich mich, diese Tatsache zuzugeben. Ich gehe zweimal die Woche arbeiten, schreibe ein paar Werbetexte, mache etwas Blödsinn und komme wieder nach Hause. Und jetzt auch noch irgendeine Maka! Genau betrachtet stelle ich für Elene ein komplexes Problem dar. Oder besser gesagt: Ich stellte es für sie dar.

»Mit dir habe ich schlechte Laune«, gestand sie mir an jenem Morgen. »Ständig trägst du irgendwelche Probleme mit dir herum, und ich soll sie für dich lösen. Solch ein Engel bist du nun auch nicht, dass ich mich für dich aufopfern wollte.«

Die Schlüssel für unsere gemeinsame Wohnung (die ich ausgesucht habe, Elene kam für die Miete auf), die die Augustbomben mit uns überstanden hatte, gab ich zwei Wochen nach Elenes Fortgang an den Vermieter zurück.

»Kannst gern bleiben, irgendjemand wird sich schon finden, der dir die Miete bezahlt«, hatte der Vermieter zu mir gesagt. Aber ich wollte nicht bleiben. Alles in der Wohnung erinnerte mich an Elene. So beschloss ich, zurück zu meinen Eltern zu ziehen, in die Zelle meiner Teenagertage.

Es waren nur zwei SMS, die ich an sie schrieb. Ich zeigte mich nicht hartnäckig.

Und im Oktober nahm ich gemeinsam mit dem Lyriker Zwiad Meipariani den Flieger nach Lissabon.

Zwiad hatte eine Literaturzeitung mitgebracht, in der wir beide von einem Rezensenten wüst beschimpft wurden. Er kritisierte Koka (und seinesgleichen vom Kulturministerium), uns ausgewählt zu haben, und fragte sich: Was sind das überhaupt für Autoren? Warum wurden nicht andere, berufenere Schriftsteller an ihrer Stelle auf die Reise geschickt? Er äußerte die Meinung, dass in meinem Fall sicherlich meine Mutter dafür gesorgt hätte (meine Mutter ist Vizepräsidentin unseres Schachverbandes), Zwiad kritisierte er etwas kultivierter: Er ist ganz passabel, aber es gibt Dichter hierzulande, die Millionen Mal besser sind. Ich bekam von ihm eindeutig mehr Fett ab. Ein paar Zeilen weiter bezeichnete er mich als Autor einer herzlosen Broschur.

»Lass uns drauf scheißen!«, schlug Zwiad weise vor. »Wir sitzen bereits im Flieger, und er verrottet in seiner lausigen Redaktion wie der letzte Arsch!«

Mir war es so oder so egal, mit Zwiads Kommentaren oder ohne, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich die Kritik durchaus zu Herzen nahm und sich durch seine Beschwichtigungen vor allem selbst beruhigen wollte.

Erst später fand ich heraus, dass er sich überhaupt nicht wegen des Artikels aufregte. In Wahrheit litt er unter einer heftigen Flugangst und sah sich deshalb gezwungen, wie jeder Georgier in solch einer Situation, Unmengen an Alkohol in sich hineinzukippen.

Ich hatte Angst, dass er mich bei der Landung vollkotzen würde, aber zum Glück gab es keine Turbulenzen, wir hatten einen ruhigen Flug.

Wenn ich mich richtig entsinne, hatte ich bereits im Flieger beschlossen, einen Tagebuchroman zu schreiben. Ich wollte alle Eindrücke festhalten, das Gewesene und das Bevorstehende. Irgendwo musste ich mit dem Krieg und mit Elene ja hin. Auch Zwiad mutierte in meinem Kopf schon zu einer literarischen Figur.

Was ich damals noch nicht ahnte, war, dass die Hauptfigur meines Romans eine andere Elene werden sollte.

Dies ist das Tagebuch meiner einmonatigen Jagd nach Helena.

2. DAS FLUGZEUG

Doch Helena war noch weit entfernt. Während ich irgendwo durch die Lüfte schwebte, war sie vielleicht mit ihrem Mann gerade auf dem Weg zum Athener Flughafen.

Unter uns lag Wasser – das Schwarze Meer.

Die Flieger gen Europa starten bei uns regelmäßig im Morgengrauen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass der Nachthimmel billiger ist als der Taghimmel. Dieser Grund wiederum reicht vollkommen aus, dass unsere Vampir-Fluggesellschaften das Tageslicht so leidenschaftlich meiden. Auch für uns wurde selbstverständlich keine Ausnahme gemacht. Unser Flug ging um vier in der Früh.

Zwiad hatte sich sehr dafür eingesetzt, dass wir bereits drei Stunden vor dem Abflug am Flughafen waren. Nicht zwei, sondern gleich drei Stunden vorher. Dass man sich zwei Stunden vor Abflug am Flughafen einfinden soll, das weiß ich, seitdem ich klein bin, ich habe auch nichts gegen diese heilige Tradition, nichts gegen diese Zwei-Stunden-davor-Regel, aber diese Drei-Stunden-davor hatten mich ein wenig aufhorchen und gar aufschrecken lassen, denn genau zu diesem Zeitpunkt ahnte ich bereits, dass es sich bei diesen Drei-Stunden-davor um die typisch männlich-georgische Überforderung handeln und mir ein einmonatiger Kampf mit Zwiads Neurosen bevorstehen könnte. Ja, vielleicht bedeutete dieses Drei-Stunden-davor erst den Anfang größeren Übels?

Ich muss gestehen, dass auch ich vor Antritt einer Reise von dieser Reisehysterie befallen werde, mir vorstelle, wie ich auf den großen Flughäfen verlorengehe oder noch schlimmer – von Grenzpolizisten für einen Terroristen gehalten werde, die ich mit meinem wilden Englisch keineswegs überzeugen kann, doch jemand ganz anderer zu sein. Ich hasse diese Momente, wenn ausländische Beamte meinen Pass kontrollieren (vor einheimischen Beamten habe ich keine Angst). Ich hasse diesen Augenblick auf der anderen Seite des Glases, wenn ich auf den Einlass ins Paradies warten muss, den mir ein Mitglied eines fremden Stammes mit grüner Kopfbedeckung gewähren soll.

In solchen Situationen versuche ich, möglichst vertrauenerweckend auszusehen. Ich will, dass sie von meinem Gesichtsausdruck ablesen, wie bedauerlich es ist, dass sie mich nicht persönlich kennen und daher nicht wissen, dass ich nichts Böses anstelle und genauso gesetzestreu bin wie sie selbst.

Ich vermute, dass Europäern solche Komplexe fremd sind. Man muss schon ehemaliger Sowjetbürger sein und vier Kriege hinter sich haben, um solche Ängste nachvollziehen zu können. Die Angst vor irgendwelchen Fehlern. Die Angst, sich falsch zu verhalten. Die Angst, auf dem Wiener Flughafen irrtümlicherweise auf dem Behindertenklo zu pissen und daraufhin seine Ersparnisse als Bußgeld abdrücken zu müssen. Sie, Herr Bürger, warum haben Sie Ihr Geschäft bei den Behinderten verrichtet?

Kurz gesagt habe ich vor Antritt einer Reise durchaus meine kleine Unruhe, aber der Lyriker Z. Meipariani übertrieb es sichtlich in diesem Belang: Vor der Abreise rief er mich fünf- oder sechsmal an, um seine Flugdaten mit meinen abzugleichen, wiederholte dabei wie ein Mantra, dass sein Schwager uns zum Flughafen fahren würde, und als er erfuhr, dass ich ernsthaft erwog, mich am Abend vor dem Abflug noch schlafen zu legen, gestand er mir in einem verzweifelten Tonfall, dass bei ihm seit zwei Tagen an Schlaf nicht mehr zu denken sei und er überhaupt seine ganze Lebenslust eingebüßt habe.

Zuletzt hatte er wohl im Alter von sechzehn in einem Flugzeug gesessen, seine Onkel hatten ihn damals nach Moskau mitgenommen, um die tote Schwester der Oma abzuholen. Dementsprechend waren seine Flugerinnerungen nicht die angenehmsten. Aber immerhin hatte er damals sein erstes Gedicht geschrieben, auf dem Flugzeugklo. »Es war ein komisches Gefühl«, erzählte er. »Wir waren in der Luft und im Koffer lag die tote Schwester meiner Oma.«

Mit dem Trinken begann er schon am Flughafen.

Erst fand er seinen Pass nicht rechtzeitig, dann drängelte er sich im Gang an der pseudoenergischen, künstlich lächelnden Puppe von Stewardess vorbei, und auf dem Sitz schlug er kräftig mit den Knien gegen die Rückenlehne des Vordermanns. »Scheiße, er hat beschlossen, zu rebellieren«, stellte ich verzweifelt fest und bereute bereits, dieser Reise zugestimmt zu haben. Denn ich wurde den Gedanken nicht los, dass Zwiad erst den Anfang eines kommenden Unheils darstellte.

Morgens neige ich sowieso zu depressiver Stimmung, umso mehr morgens um vier. Außerdem hatten mich der Krieg, Elenes Fortgang, unausgeschlafene Fluggäste, die aufblasbare Weste, der unrealistische Rettungsplan der Stewardess, die Kotztüte und der betrunkene Zwiad so niedergeschlagen, dass auch ich von der typischen überforderten Unruhe der georgischen Männer erfasst wurde, der Angst vor allem Neuen.

»Ich ersticke«, ging es mir durch den Kopf, als ich meine Stirn dem dünnen Luftstrom entgegenstreckte, der aus der kleinen Düse von oben kam.

Ich wusste nicht, warum ich diese Reise überhaupt machte, warum ich für einen Monat meine gewohnte Umgebung verließ, was ich hier, umgeben von all diesen fremden und aggressiven Psychopathen, so früh am Morgen zu suchen hatte!

Ja, ich fühlte mich schlecht, richtig schlecht, aber trotz allem wurde mir eine Sache zum Glück rechtzeitig klar: Dem betrunkenen Zwiad und der Stewardess mit dem falschen Lächeln konnte ich nur im Schlaf entrinnen, ich musste sofort einschlafen, ich durfte mich nicht länger aufregen!

»Hey, Zaza, sind wir schon gestartet?« Zwiad drehte sein geschwollenes, rot angelaufenes Gesicht zu mir.

»Noch nicht«, gab ich zur Antwort. Ich wusste, er traute sich nicht, aus dem Fenster zu schauen.

»Welch unglückliche Kreaturen wir Menschen doch sind!«, murmelte er mit dem verzweifelten Pathos eines König Lear und versank wieder in seinen Ängsten. Mit zugekniffenen Augen zuckte er mit den Lippen und wackelte wie ein Jazzfan mit dem Kopf. Der neben uns sitzende Ausländer – er hatte gefärbte Haare – sah etwas erschrocken zu mir herüber. (Dass er Ausländer war, erkannte man an seiner unnatürlich glatten Augenpartie und seinem aufgesetzten Lächeln). Er konnte Zwiads Verhalten nicht einordnen.

So gesehen hatten wir alle Angst: ich vor der ungewissen Zukunft, der Ausländer vor Zwiad und Zwiad selbst vor dem Fliegen. Mein armer Kollege wusste nicht einmal, dass er es bereits geschafft hatte, zu einer Angstvorstellung für einen anderen zu werden. Denn es hätte durchaus sein können, dass auf sein merkwürdiges Murmeln etwas weitaus Gefährlicheres folgte! Vielleicht war sein Genuschel nichts anderes als Beten? Und wie sehr sich die ordentlichen Angelsachsen vor Gebeten, gerade Gebeten in Flugzeugen, fürchten, ist allseits bekannt. Selbst wenn man sich in einem Flugzeug befand, das von einem christlichen Land aus startete. Laut gesprochene Gebete können überall Gefahr bedeuten!

Was sich unser Sitznachbar beim Anblick dieses dunkelhaarigen Mannes (der Dichter Z. Meipariani) nicht alles vorgestellt haben könnte: Würde er sofort vom Sitz aufspringen, sobald wir in der Luft wären? Mit einer geübten Handbewegung die Stewardess mit einem Messer abstechen (und das ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie uns mit ihrer enervierenden Stimme einen Apfelsaft anbot: »With iccccceeee?«), anschließend den Piloten zwingen, das Flugzeug in irgendein arabisches Land zu steuern oder von mir aus zu den christlichen Kopten nach Afrika?

Der Sitznachbar sah Zwiad mit einem derart erschrockenen Gesichtsausdruck an, dass ich schon befürchtete, er würde gleich zu seinem Handy greifen und seiner Frau eine Abschiedsnachricht schreiben. Wahrscheinlich mit folgenden Worten: Wir wurden entführt, ich liebe dich, ich wünschte, ich hätte es dir öfter gesagt!

»Zwiad!« Ich stieß meinen Ellenbogen in den noch immer mit dem Kopf wackelnden Lyriker.

»Was ist?« Er öffnete die Augen.

»Betest du etwa?«

»Nein, wieso?«

»Was machst du dann?«

»Nichts. Muss nur dringend pissen.«

»Der Mann glaubt, du seist ein Terrorist, bitte hör auf damit.«

»Welcher Mann?« Er richtete sich auf.

»Der da.« Ich deutete mit dem Kopf zum Ausländer, der sofort anfing, uns mit glasigen Augen zuzulächeln.

»Was mach ich denn?« Zwiad erwiderte sein Lächeln.

»Du wackelst mit dem Kopf und schmatzt mit den Lippen.«

»Ich schreibe ein Gedicht«, lachte er. »Ich hätte doch gar nicht den Arsch in der Hose für diesen ganzen Terroristenkram!«

Dann öffnete er den Gurt, um sich zu erheben.

»Du darfst noch nicht aufstehen.« Ich hielt ihn am Ärmel fest.

Der Ausländer wagte nicht mehr, ihn anzusehen. Er starrte auf die Rückenlehne des Vordersitzes und verwandelte sich in einen Passagier aus Stein.

»Wenn ich nicht sofort pissen kann, platze ich«, sagte Zwiad und begann, über den Ausländer zu steigen, drückte seinen Hintern in dessen Gesicht und watschelte dann den Gang entlang Richtung Toilette.

Ich bin ein egoistisches Geschöpf. Elene ist vor meinem Egoismus geflohen und nicht vor mir. Obwohl das eine ganz andere Geschichte ist. »Ist mir doch egal, was er anstellt!«, ging es mir durch den Kopf, und ich richtete meinen Blick auf die Zeichen über uns: eine mit einem X durchgekreuzte Zigarette, ein durchgestrichenes Handysymbol und der rote geschlossene Gurt waren noch sehr deutlich erleuchtet.

Die Stewardess mit den dicken Beinen holte Zwiad noch vor der Toilette ein. Ich stopfte mir fingernagelgroße Ohropax in die Ohren und redete mir ein: »Ich bin allein, Zwiad existiert nicht.«

Zwei strenge Sätze, die die Stewardess an Zwiad richtete, reichten vollkommen aus, damit er auf der Stelle umkehrte und zu seinem Sitz zurückeilte. Und ich bin davon überzeugt, dass er sich nur deswegen so mühelos fügte, weil wir uns nicht in einem Flieger einer georgischen Airline befanden. In einem georgischen Flugzeug, da bin ich mir sicher, hätte er Diskussionen angezettelt und sich dann sogar auf der Flugzeugtoilette eine Zigarette angezündet.

»Ich hätte nicht trinken sollen«, sagte er, als er wieder neben mir Platz genommen hatte. Ich stellte mich schlafend, es interessierte mich nicht, was er hätte tun und was lassen sollen. Zufrieden über meine erfolgreiche Ignoranztaktik, schlief ich ein.

Bald wurde ich von einem leichten Ruck geweckt. »Wohl eine Turbulenz«, dachte ich und sah zu dem armen Zwiad hinüber, der jedoch mit offenem Mund schlief. Vielleicht hatte er sich sogar eingenässt und es war keinem aufgefallen. Der Angelsachse mit den gefärbten Haaren saß immer noch wie von einem bösen Zauberer verhext zu Stein erstarrt. In der Kabine begann sich Essensgeruch auszubreiten. Ich drückte mein Gesicht gegen das ovale Flugzeugfenster und sah hinunter. Wir überflogen das Schwarze Meer.

Ich erinnere mich, dass ich, bis ich wieder einschlief, überlegte, was ich alles über dieses Meer schreiben könnte. Kennt ihr viele georgische Autoren, die Erzählungen, Romane, Gedichte und Stücke über dieses Meer geschrieben haben? Unter mir lag ein sich über zwei Stunden erstreckendes, noch nicht beackertes literarisches Feld.

Wie es oft der Fall ist, wenn ich vollkommen untätig bin, fing ich an, über ein neues Thema nachzudenken. Ich wollte mir irgendeine maritime Handlung einfallen lassen. Aber es wollte mir, wie aus Trotz, nicht gelingen. Nur eine einzige Szene blieb in meinen Gedanken haften, vielleicht aber auch nur, weil ich schon wieder im Halbschlaf vor mich hindämmerte: ein Dorf am Meer, eine Frau mittleren Alters, die, ohne ihr Kleid auszuziehen, ins Meer geht. Ich selbst war schon einige Male Zeuge dieser äußerst moralischen Tradition geworden: Die Dorfbewohnerinnen ziehen ihre Kleider nicht einmal dann aus, wenn sie ins Wasser steigen, sehr tief gehen sie eh nicht hinein, denn in den Armen halten sie ihre nackten kleinen Enkelkinder mit steifen Pimmeln und kichern dabei voller Glückseligkeit …

Ich erinnere mich jedenfalls, dass ich mich selbst im Schlaf noch darüber ärgerte, dass meine Fantasie, obwohl das Meer ja groß genug war und genug Stoff bieten würde, nicht einmal über diese Frauen hinauskam …

3. LISSABON

Der Lyriker Z. Meipariani und ich standen am Flughafenausgang und hielten Ausschau nach einem Menschen mit einem Schild mit unseren Namen in den Händen. Mit uns waren noch Hunderte andere Passagiere hinausgekommen, überall standen Wartende mit Pappen, aber unsere Namen und Nachnamen fehlten. Überall fremde Namen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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