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Dimas Leben steht Kopf: Nach dem Umzug in das kleine Örtchen Fountainbridge schafft es allein der Nachbarsjunge Luis, ihn von all den Problemen abzulenken, die er in seiner Heimat zurückgelassen hat. Der Dezember ist ein magischer Monat, und zwischen Schlittschuhlaufen, Karaoke-Singen und DIY-Nussknacker-Wettbewerben kommen sich die beiden immer näher. Aber steht Dima überhaupt auf Jungs? Und wie kann er sich sicher sein, dass auch Luis Gefühle für ihn hat? Dima fühlt sich mehr und mehr unter Druck gesetzt, und auch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los. Dabei möchte er doch eigentlich nur herausfinden, wer er wirklich ist. Und vielleicht hat ja dann auch die Liebe eine Chance ...
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Seitenzahl: 443
Cover
Titel
Impressum
Playlist
Widmung
Prolog
1. Dezember
Luis
2. Dezember
Dima
3. Dezember
Luis
4. Dezember
Dima
5. Dezember
Luis
6. Dezember
Dima
7. Dezember
Luis
8. Dezember
Dima
9. Dezember
Luis
10. Dezember
Dima
11. Dezember
Luis
12. Dezember
Dima
13. Dezember
Luis
14. Dezember
Dima
15. Dezember
Luis
16. Dezember
Dima
17. Dezember
Luis
18. Dezember
Dima
19. Dezember
Luis
20. Dezember
Dima
21. Dezember
Luis
22. Dezember
Dima
23. Dezember
Luis
24. Dezember
Dima
25. Dezember
Luis
26. Dezember
Dima
Epilog 26. Dezember, 23:48
Danksagung
Übersetzung aus dem Englischenvon Svantje Volkens
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischen Originalausgabe:
»Forever our beginning«
Für die Originalausgabe:
Copyright ® 2023 by Kai Spellmeier
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ® 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Silvana Schmidt
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Umschlagmotiv: ©Quality Stock Arts/stock.adobe.com; Goldenboy_14/stock.adobe.com; malwa/stock.adobe.com; Gldcreations/stock.adobe.com; Dmitriy Rumyantsev/stock.adobe.com; Natali Snailcat/stock.adobe.com; a4mbs/stock.adobe.com; Zaharia Levy/stock.adobe.com
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-6166-6
Sie finden uns im Internet unter one-verlag.de
Bitte beachten Sie auch luebbe.de
A Little Love – Celeste
Christmas Lights – Walker Burroughs
White Winter Hymnal – Birdy
Last Christmas – Carly Rae Jepsen
Christmas Tree Farm – Taylor Swift
I Saw Mommy Kissing Santa Claus – Amy Winehouse
Spending All My Christmas with You – Tom Odell
Something Stupid – Nicole Kidman, Robbie Williams
Loneliest Time Of Year – Mabel
Santa Tell Me – Ariana Grande
All I Want for Christmas Is You – Mariah Carey
It’s a Marshmallow World – Jo Stafford
Another Year – FINNEAS
Do you want to build a Snowman? – Kristen Bell, Agatha Lee Monn, Katie Lopez
Father Christmas – Harry Gregson-Williams
Real Love – Tom Odell
two queens in a king sized bed – girl in red
Yoü and I, Live from »A very Gaga Thanksgiving« – Lady Gaga
Glittery – Kacey Musgraves, Troye Sivan
Blue Skies – Birdy
Make It To Christmas – Alessia Cara
Both Sides Now – Joni Mitchell
All I Want (For Christmas) – Liam Payne
This Christmas – Dionne Warwick
Silent Night – Gabrielle
Feeling of Christmas – Emilie Hollow
(it wouldn’t be) christmas without you – Wrabel
The First Time Ever I Saw Your Face – James Blake
für Ben,
für immer
Die Geschichte beginnt mit einem Schlüssel in einem Schloss.
Doras Augen haben sie schon vor Jahrzehnten im Stich gelassen, und kurz darauf quittierte auch die linke Hüfte ihren Dienst. Irgendwann verbündeten sich dann ihre Knie mit der verflixten Hüfte, und ihr Rücken weigerte sich, sie ohne Hilfe weiter aufrechtzuhalten. Ihre Erinnerung benimmt sich nicht mehr so, wie sie es soll, und fast immer zittern ihr die Finger, was besonders lästig ist, wenn sie gerade dabei ist, einen Pullover für das Kind der Partnerin ihres Enkelsohns zu stricken. Aber es gibt eine Sache, auf die Dora sich immer verlassen kann, und darauf ist sie besonders stolz, obwohl sie Eitelkeit eigentlich nicht besonders schätzt: ihre Ohren.
Sie mögen zwar zu groß für ihren kleinen Kopf sein und sind mit Falten und Altersflecken bedeckt, aber sie funktionieren genauso gut, wie ein frisch geölter Schlitten auf Neuschnee. Ihr Sohn Edgar sagt manchmal, dass ihr Hörvermögen sogar das ihrer Katzen übersteigen könne, doch Dora ist sich da hundertprozentig sicher. Den Großteil des Tages verbringt sie auf ihrem Sessel neben dem Fenster, wo sie Neuigkeiten ansammelt und sie kurz darauf wieder vergisst. Sie kann hören, wie Edgar nebenan in seinem Schlafzimmer schnarcht. Und wie Luis im Keller zum zigtausendsten Mal diesen einen Popsong hört. Mittlerweile kennt sie den Text auswendig, auch wenn sie ihn nie laut mitsingen würde, da sie befürchtet, ihr Mann könnte sonst einen spontanen Herzinfarkt erleiden. Außerdem kann sie hören, wie ihre Urenkelinnen über die Linien ihrer Ausmalbilder malen. Alles in allem ist es also keine Überraschung, dass Dora hört, wie auf dem Nachbargrundstück jemand mit einer behandschuhten Hand einen Schlüssel aus der Tasche holt. Als er sich im Schloss dreht und zwei Paar Füße über die Türschwelle schreiten, verkündet sie die Ankunft der Neuankömmlinge in ihrer Nachbarschaft laut ihrem Ehemann, der beim Lösen des sonntäglichen Kreuzworträtsels in seinem Rollstuhl eingeschlafen ist. Beim Klang von Doras Stimme fährt er aus dem Schlaf. Sie weist ihn an, einen Kürbisauflauf aus dem Gefrierschrank zu holen, und er begibt sich gehorsam aus dem Raum. Zwei Stunden später, als ihre Kinder, Enkelinnen, Enkel und Urenkelinnen sich vor dem Fenster, das auf den Garten der Nachbarn hinausschaut, versammelt haben, drückt sie Luis den Auflauf in die Hand und scheucht sie aus dem Haus.
Als Bianca Sharapnova ihre neue Haustür öffnet, sieht sie Folgendes: einen blonden, stupsnasigen Jungen, der etwas in den Händen hält, das vage an eine Lasagne erinnert. Hinter seinen Beinen verstecken sich zwei Mädchen mit Zöpfen und blauen Tintenflecken auf der Stirn. Eins der Mädchen klammert sich an die Hand einer jungen Frau, die rechts von dem Jungen steht. Sie hat das gleiche rotblonde Haar, und auf einer ihrer runden Wangen prangt ein krakeliger blauer Strich. Links steht ein Mann Anfang fünfzig, der bereits kahl wird. Genau wie die anderen hat auch er eine Stupsnase und runde Wangen, und mit seinen großen Augen sieht er ein bisschen wie Winnie Puuh aus. Er lächelt strahlend, und Bianca kann nicht anders, als zurückzulächeln. Sie weiß nicht so recht, was sie sagen soll, und ist erleichtert, als ihr Sohn ebenfalls an die Tür kommt. So fühlt sie sich weniger wie ein Eindringling in ihrem eigenen Garten.
Alle stellen sich vor, tauschen Höflichkeiten und Aufläufe aus, aber die Nachbarsfamilie besteht einfach aus zu vielen Personen, um sich all ihre Namen merken zu können – vor allem, als sie anfangen, von Großeltern, Haustieren und anderen Verwandten zu erzählen, die in der nächsten Woche ankommen sollen. Die Sharapnovas sind zum Abendessen eingeladen (natürlich erst, nachdem sie den Umzug bewältigt haben), und alle scheinen wegen der örtlichen Weihnachtsfestivitäten ganz aus dem Häuschen zu sein. Bianca ist erleichtert, dass nebenan ein netter Junge im Alter ihres Sohnes wohnt. In letzter Zeit hat Dima sich viel zu sehr zurückgezogen und er könnte einen Freund gebrauchen. Sie verabschieden sich mit Händedruck und Winken und einem High-Five für die zöpfchentragenden Mädchen. Die Tür fällt mit einem befriedigenden Klicken ins Schloss, das im leeren Flur widerhallt. Jetzt, da die Nachbarsfamilie den Vorgarten verlassen hat, ist es auf einmal sehr still in Biancas neuem Zuhause.
Dora, die beim Stricken auf ihrem Sessel dem Gespräch gelauscht hat, hört, wie Bianca in einer Sprache, die sie nicht erkennt, mit ihrem Sohn spricht. Die Worte klingen scharf und melodisch – Dora vermutet, es könnte Rumänisch sein oder Portugiesisch. Der Sohn schnaubt nur, und das kann Dora ganz ohne Mühe übersetzen: In dem Schnauben liegt gerade genug Sarkasmus, um seinen Unmut auszudrücken, ohne sich mit seiner Mutter anzulegen. Davon hat sie in ihrem Leben schon mehr als genug gehört. Doras Familie kommt wieder ins Zimmer, und sie machen sich auf jeder freien Oberfläche breit und diskutieren aufgeregt über die Neuen, wobei sie sich ständig gegenseitig unterbrechen. Ist die Frau nicht nett? Und der Junge, so groß und stark, aber ein bisschen wortkarg? Und was haltet ihr von dem schönen Muttermal auf ihrer Wange? Meinte sie nicht, sie sei Ärztin?
Wer ein gutes Gehör hat, weiß, dass die Stille, genau wie die Geräusche auch, Raum braucht, um sich zu entfalten. Jede Stille ist einzigartig und hat ihre eigene Kontur. Sie errichtet Mauern, die die Geräusche am Eindringen hindern. Dora reißt die müden Augen von ihrem Strickzeug los und sucht den Ausgangsort der Assonanz. Ihr Blick fällt auf Luis, der auf der Fensterbank sitzt und gedankenverloren in die Flammen starrt. Und hier, in seinem eigenen kleinen Vakuum, erfüllt sein Herzschlag die Stille. Er ist schneller als sonst, aber nicht wie ein erhöhter Puls beim Schwimmen oder Laufen. Das hier, wird Dora klar, ist besonders. Es ist der Herzschlag von jemandem, der sich in jemanden verliebt, dem er gerade erst begegnet ist.
Schon am folgenden Nachmittag findet Luis sich wieder vor Bianca Sharapnovas Tür wieder. Es ist ein unerträglich langer Sonntag gewesen. Die Zeiger der Uhr im Esszimmer weigerten sich hartnäckig, sich vorwärtszubewegen, egal, wie sehr Luis sie stumm anflehte. Die Minuten zogen sich endlos in die Länge, und als er endlich den Stift auf den abgeplatzten Esstisch fallen ließ und beschloss, seine Mathehausaufgaben aufzugeben, fühlte es sich an, als wäre eine ganze Woche vergangen. Selbst im Gruppenchat, in dem sich gerade eine hitzige Diskussion über den richtigen Aufstrich für einen Scone abspielte, beteiligte er sich kaum. Luis war viel zu abgelenkt, um in die Debatte Clotted Cream gegen Marmelade einzusteigen.
Nur ein einziges Wort hatte er in sein Arbeitsheft geschrieben, in der obersten Zeile, als wäre es der Titel eines Buchs, das darauf wartet, geschrieben zu werden. Ohne zu blinzeln, starrte er das Wort an, und erst nach mehreren Sekunden erkannte er den Namen des Nachbarsjungen. Er lief so rot an, dass Mabel ihn besorgt fragte, ob er gerade eine allergische Reaktion erleiden würde. Nachdem seine Schwester sich wieder den Weihnachtstassen zugewandt hatte, die sie gerade in den Küchenschrank räumte, zerriss Luis die Seite leise in winzige Stücke, sodass niemand jemals von seiner albernen Schwärmerei für einen Jungen erfahren würde, den er erst siebzehn Stunden zuvor zum ersten Mal getroffen hat. Nicht, dass er mitzählen würde.
Jetzt, da Luis nur eine Armeslänge von Dimas Türklingel entfernt steht, hat er allerdings keine Ahnung, was er mit sich anfangen soll. Er weiß, wie man eine Türklingel bedient, schließlich ist er kein komplett hoffnungsloser Fall. Was ihm Sorgen bereitet, ist das, was nach dem Klingeln kommt. Seine Nichten sind ganz versessen auf den Film Die Eiskönigin, weshalb er ihn bereits häufiger gesehen hat, als er Haare auf dem Kopf hat. Und jetzt gerade fühlt er sich wie die kleine, hoffnungsvolle Anna, die an Elsas Tür klopft und fragt, ob sie einen Schneemann bauen können. Er ist sich nicht sicher, ob er es ertragen könnte, abgewiesen zu werden.
Vorhin, als er vergeblich versuchte, Gleichungen zu lösen, die keinen Sinn ergaben, weil der Junge von nebenan sich ständig in seine Gedanken schlich, beschloss er, ihn zu fragen, ob er mit Luis ausgehen wolle. Natürlich nicht ausgehen in dem Sinne, so waghalsig ist selbst Luis nicht, aber vielleicht würde Dima sich darüber freuen, wenn jemand ihn in die Traditionen der Stadt Fountainbridge einführte. Doch der kurze Weg zwischen ihren beiden Häusern genügte bereits, um sein Selbstvertrauen ins Wanken zu bringen. Vielleicht hatte Dima schon andere Freundschaften geschlossen? Mit Leuten, die cool waren, die keine neugierigen Familien oder Löcher im Mantel hatten, die von kindischen Aufnähern verdeckt wurden. Luis dreht seinen Arm, sodass das Rentier am Ellbogen seiner grünen Jacke nicht mehr sichtbar ist. Es war schon nicht süß, als er noch zwölf war, und vier Jahre später ist es das erst recht nicht. Er sollte Dora diese Aufnäher wirklich mal wegnehmen und sie durch etwas ersetzen, das nicht schreit: »Mach dich über mich lustig, weil wir zu arm sind, um uns neue Winterklamotten leisten zu können ... und weil meine Oma Tiere mit Geweihen liebt.«
Oder vielleicht – und das wäre noch viel schlimmer, als dass Dima coolere Freundschaften schließt – hat er einfach keine Lust, Zeit mit Luis zu verbringen, und tut stattdessen so, als hätte er »Hausaufgaben« oder ein »wichtiges Telefonat« oder einen »Arzttermin«. Vielleicht hat er schon wieder vergessen, wer Luis überhaupt ist. Luis ist kurz davor, die Mission abzubrechen, aber das Einzige, was peinlicher ist, als fünf Minuten lang bewegungslos vor jemandes Haus zu stehen, ist zu gehen, ohne an der Tür zu klingeln.
Bevor er es sich anders überlegen kann, stolpert Luis einen Schritt vor und drückt den kleinen silbernen Knopf. Das Klingeln hallt durchs Haus, aber nichts regt sich. Keine Fußschritte, keine Lichter, die angeschaltet werden. Jetzt, wo er darüber nachdenkt, hat er im ganzen Haus keine Lichter gesehen. Er tritt ein paar Schritte zurück und sieht sich nach einem Lebenszeichen um, aber jedes einzelne Fenster ist dunkel. Plötzlich hört er hinter sich ein Kichern und fährt herum. Zwei vertraute Gestalten stehen am Tor zu Luis' Haus und grinsen auf eine Art, die ihm verrät, dass sie absolut alles gesehen haben. In Momenten wie diesem hätte er gerne das Talent, sich in Luft auflösen zu können.
»Hat ja lange genug gedauert«, sagt Hannah. Sie versucht nicht einmal, ihre Freude über Luis' Blamage zu verstecken. Sie hat gerade Zähne, lange Gliedmaßen und spitze Ellbogen, die sie Luis gerne in die Seite rammt, wenn er ihr auf die Nerven geht, was bedeutet, dass er ständig blaue Flecken an den Rippen hat. Ein paar Haarsträhnen, die sich spitz und schwarz gegen ihre blasse Haut abzeichnen, lugen unter ihrer Pudelmütze hervor. An der Art, in der Alecs Lippen zucken, kann Luis ablesen, dass er wenigstens versucht, seine Belustigung zu verbergen. Er ist fast einen Kopf kleiner als Hannah, und in seiner viel zu großen Daunenjacke sieht er aus wie ein rundes Bonbon mit zwei kurzen Strichbeinchen.
»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass ein gewisser Jemand nicht zuhause ist«, sagt Alec, und dabei bilden sich in seinen Augenwinkeln belustigte Falten.
»Für wen wolltest du uns sitzenlassen?«, will Hannah wissen.
Luis stapft aus dem Vorgarten der Sharapnovas und bleibt ein paar Schritte vor Alec und Hannah stehen. In diesem Moment hört er ein vertrautes Trippeln auf dem Gehweg, und einen Moment später schnüffelt eine behaarte Nase an Luis' Beinen.
»Ich wollte euch nicht sitzen lassen«, erklärt Luis wahrheitsgemäß und geht in die Hocke, um den leicht molligen, sehr weichen Beagle hinter den Ohren zu kraulen. »Ich dachte nur, dass ihr vielleicht den neuen Jungen kennenlernen wollt.«
»Wie selbstlos von dir«, sagt Hannah, die ihm ganz offensichtlich kein Wort glaubt.
Luis ignoriert ihre Bemerkung und drückt Bryan einen Kuss auf die Stirn, was ihm einen Mund voll Hundehaare einbringt. Vor acht Jahren war ein dreifarbiger Welpe unter Alecs Weihnachtsbaum aufgetaucht, und seitdem ist er ein launisches Mitglied ihrer Gruppe. Bryan, nicht Alec. Alec ist einer dieser bewundernswerten, aber auch ein wenig seltsamen Menschen, die sich selten von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Das einzige Mal, dass er ausgeflippt ist, war in der Grundschule, als seine Großmutter wieder nach Malaysia zurückgezogen ist, und er eine Woche lang nicht aufhören konnte, zu weinen. Aber ansonsten ist er das wahre Abbild der Fröhlichkeit. Hannah hingegen ist eine wahre Griesgrämin, deren Spezialgebiet Sarkasmus ist.
»Wir sollten los, sonst verpassen wir es«, sagt Luis nun und gibt Bryan das Signal, ihm zu folgen.
Luis biegt links ab, weg vom Stadtkern und in Richtung Lindenbuckel, ein sanfter Hügel, von dem man die ganze Stadt sehen kann. Das Licht verschwindet allmählich aus dem wolkenverhangenen Himmel, sodass die Umrisse des Hügels vor dem grauen Hintergrund verschwimmen. Die Ansammlung alter, knorriger Bäume auf dem Gipfel sieht wie eine schiefe Krone aus.
»Ich glaube, er will uns ablenken«, flüstert Alec.
»Hat nicht funktioniert«, entgegnet Hannah laut.
Sie holen Luis ein und flankieren ihn auf beiden Seiten, sodass er sich wie ein Verbrecher fühlt, der gerade zu seiner Gerichtsverhandlung eskortiert wird, wo er sich für das Vergehen verantworten muss, erfolglos mit seinem Nachbarn ausgehen zu wollen. Er ignoriert ihre Seitenblicke und sieht stattdessen zu Bryan, der ab und zu anhält, um an einem Zaun zu schnüffeln oder einen Laternenpfahl zu markieren.
»Du bist heute ziemlich still«, sagt Alec, aber diesmal klingt er aufrichtig. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, alles ist super«, antwortet Luis, was auch größtenteils stimmt.
Er ist ein bisschen enttäuscht, dass Dima nicht zuhause ist, und genervt, dass Hannah und Alec seinen Versuch beobachtet haben, an Dimas Tür zu klingeln, aber heute ist der erste Dezember. Und das bedeutet: Es ist offiziell Weihnachtszeit. Und dieses Jahr wird er nicht zulassen, dass irgendein Junge ihm die Feststimmung ruiniert. Davon hatte er letztes Jahr schon mehr als genug.
Sie erreichen den Wald, von wo aus sie ein kurzer, mit Tannenzapfen und abgestorbenen Blättern bedeckter Pfad zum Fuß des Lindenbuckel führt. Der Nachmittag ist schnell in den Abend übergegangen, der die Bäume jetzt in Schatten hüllt. Bryans weißer Schwanz blitzt vor ihnen in der Dunkelheit auf. Alec öffnet den Mund, aber Luis kommt dem Versuch zuvor, ihm weitere Informationen zu entlocken.
»Clotted Cream«, sagt er.
»Nein!«, ruft Hannah.
»Was?«, fragt Alec entsetzt.
»Scones brauchen eine vernünftige Clotted-Cream-Basis, und obendrauf eine Portion Marmelade. Alles andere ist einfach nur falsch«, erklärt Luis.
»Blasphemie«, grummelt Hannah.
Sofort fangen Alec und Hannah an, sich zu kabbeln, was Luis ganz recht kommt, denn er hat gerade ein Pärchen entdeckt, das kurz vor ihnen den Hügel erklimmt. Die Dämmerung lässt alles um sie herum grau aussehen, aber Luis würde wetten, dass die Ohrenwärmer des Jungen grün sind. Und das würde bedeuten, dass er Luis' Ex ist, und das Mädchen neben ihm ist ... Luis wird langsamer. Er will so viel Distanz wie möglich zwischen sie bringen. So viel dazu, sich nicht die Stimmung von Typen ruinieren zu lassen.
»Hey, glaubst du, dieser Dima ist in unserer Klasse?«, fragt Alec.
»Das hofft Luis bestimmt«, antwortet Hanna.
»Tu ich gar nicht«, lügt Luis und schubst Hannah vom Pfad. Sie revanchiert sich, indem sie ihn mit mehr Kraft zurückrammt, als nötig gewesen wäre. Luis stolpert in Alec hinein, Alec kreischt auf, Bryan fängt an zu bellen, und Hannah sieht sehr zufrieden mit sich selbst aus.
»Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass meine Schuhe Kollateralschaden von euren kleinlichen Streitigkeiten davontragen! Wenn sie schlammig werden, schuldet ihr mir ein neues Paar«, warnt Alec sie.
»Oder wir könnten sie einfach zur Reinigung bringen«, bemerkt Hannah, stellt aber trotzdem die Versuche ein, Luis vom Pfad zu schieben.
»Er sieht irgendwie älter aus«, nimmt Luis ihr Gespräch über Dima wieder auf. »Vielleicht ist er ein Jahr über uns. Dann wäre er in Thoms Klasse.«
So, wie Alec und Hannah das Pärchen vor ihnen ansehen, haben sie Thom und Maya auch bemerkt. Luis versucht schon seit einem Jahr, Thom zu vergessen, aber in einem so kleinen Dorf wie Fountainbridge ist es schwierig, Ablenkung zu finden. Vielleicht ist dieser Dima deswegen so aufregend? Vielleicht hat das gar nichts mit ihm selbst zu tun, sondern einfach nur mit der Sehnsucht nach einer Fluchtmöglichkeit. Irgendetwas, das Luis von seinem alten Schmerz ablenken kann. Und bis zum Ende der Woche wird die Aufregung über den neuen Nachbarn bereits verflogen sein, und Luis wird sich nur noch um das Weihnachtsfestival scheren, was eh besser ist als irgendwelche Jungs.
Als sie weiter den Hügel hinaufstapfen, wird die Luft um sie herum frischer, und je höher sie kommen, desto besser wird die Aussicht auf die Stadt. Fenster und Straßenlaternen sehen wie kleine Lichtflecken aus, die allein in der Dunkelheit leuchten, und man kann gerade eben noch die Rauchfahnen erkennen, die von den Kaminen aufsteigen. Stimmen wehen ihnen entgegen, als sie auf den Gipfel des Lindenbuckel zukommen, auf dem sich bereits Menschen unter der Linde versammelt haben, die in der Mitte gespalten ist. Sie stehen in Grüppchen eng zusammen, um sich vor der Kälte zu schützen, die ihnen langsam unter die Handschuhe und in die Wollsocken dringt.
Luis nickt und grüßt auf dem Weg bekannte Gesichter, während er versucht, seinem Ex aus dem Weg zu gehen. Auf einmal klammert sich etwas Kleines an Luis' Bein und kreischt seinen Namen. Luis grinst und bückt sich, um Theodora, seine vierjährige Nichte, auf den Arm zu nehmen. Und wo ein tollkühnes T ist, kann das andere nicht weit sein. Er sieht sich um und entdeckt Bryan, der gerade stürmisch von Tabitha umarmt wird.
»Wo ist eure Mami?«, fragt Luis Theo, während er ihre Zwillingsschwester im Blick behält. Bryan ist, abgesehen von seinem mürrischen Gesichtsausdruck, ein ziemlich entspannter Hund, aber »entspannt« ist nicht unbedingt das Wort, mit dem Luis die Zwillinge beschreiben würde. Theo zeigt an der gespaltenen Linde vorbei, und zusammen gehen sie los. Als sie bei Mabel ankommen, die in einem abgetragenen Mantel und einer von Doras Strickmützen eingemummelt ist, hält Luis überrascht inne. Neben Mabel steht Bianca Sharapnova und zittert trotz ihrer dicken Handschuhe und ihres weihnachtlichen Schals vor Kälte. Und wenn sie hier ist, dann ... Luis lässt den Blick schweifen, aber er ist nicht groß genug, um über die Köpfe der anderen Menschen hinwegzusehen. Vielleicht ist er gar nicht gekommen. Vielleicht hat er sich mit Bruno Benedict zum Lake Constantine geschlichen und raucht dort mit seinen coolen neuen Bekanntschaften Gras. Luis spürt Hannahs fragenden Blick auf sich und hört sofort damit auf, nach Dima Ausschau zu halten.
»Luis«, sagt Mabel, als sie ihn entdeckt. Sie lächelt Hannah und Alec freundlich an, aber in ihrer Stimme liegt ein anschuldigender Ton. Vorhin, als sie im Wohnzimmer den Adventskalender aufgehängt haben, hatte sie Luis gefragt, ob er ihr dabei helfen könne, die Zwillinge auf den Gipfel des Lindenbuckel zu bringen. Luis hatte nein gesagt, und dass er vielleicht überhaupt nicht gehen würde, weil er noch Hausaufgaben erledigen müsse. In Wirklichkeit wollte er nur die Gelegenheit nutzen, Dima einzuladen, ohne dass die tollkühnen Ts ihn direkt abschreckten.
»Hallo, Luis«, sagt Dimas Mutter mit einem leichten Akzent.
»Hi, Mrs Sharapnova«, antwortet Luis.
»Ach, bitte nenn mich Bianca«, sagt sie herzlich.
Bevor Luis antworten kann, schnürt Theo ihm vor Aufregung fast die Luft ab und zeigt auf den Hang. »Guck, Luis!«, ruft sie, als nach und nach jedes Licht in der Stadt erlöscht. Auf dem Hügel ist es auf einmal ganz still, und die Menge dreht sich zur Stadt, die am Fuße des Hügels schläft. Luis kämpft darum, vom plötzlichen Sauerstoffmangel nicht ohnmächtig zu werden, also ist er sich nicht sicher, ob er es sich nur einbildet, oder ob Dima wirklich gerade neben seiner Mutter aufgetaucht ist. Er hat dunkles, kurz geschorenes Haar und dicke Augenbrauen über seinen braunen Augen. Seine Jacke ist offen, und trotz der eisigen Temperatur hat er keinen Schal und keine Mütze dabei. Entweder ist er zu cool für angemessene Winterkleidung, oder er ist einer dieser Typen, denen nie kalt zu sein scheint – so wie Bruno, der 365 Tage im Jahr kurze Hosen anhat und auch im Winter mit dem Fahrrad zur Schule fährt.
Luis wirft ihm einen letzten Blick zu, als die Stadt endgültig dunkel wird und die Schatten Dimas Gesicht verschwimmen lassen. Sein angespannter Ausdruck zerfließt zu weichen Blau- und Schwarztönen, die seine Stirnfalten glätten und seine Kieferpartie weicher aussehen lassen. Es dauert nur eine Sekunde, bis Dimas Blick sich in Luis' bohrt und ihn festnagelt. Luis' Herz steht still, sein Atem gefriert zu Eis, und alles, was er sehen kann, sind Dimas Augen, zwei schimmernde Reflektionen des Nachthimmels, in dem sich die Sterne spiegeln. Das allerletzte Licht erlischt, als hätte der Wind eine schwache Flamme ausgepustet, und alles, was bleibt, ist schwärzeste Dunkelheit und das Echo von Dimas Sternenaugen. Luis ist sich schon fast sicher, dass er gestorben sein muss, als Theos Gewicht plötzlich aus seinen Armen verschwindet und auf einmal wieder Sauerstoff in sein Gehirn fließt.
»Liebling, lass deinen Onkel bitte atmen, okay?«, flüstert Mabel. Das Rascheln eines Schneeanzugs gegen den Stoff eines Wintermantels verrät Luis, dass Theo es sich in den Armen ihrer Mutter bequem macht. Luis hat kaum Zeit, sich von Theos Schwitzkastengriff und der Intensität von Dimas Blick zu erholen, denn er will diese paar Sekunden nicht verpassen, in denen Fountainbridge jedes Jahr von der Nacht höchstpersönlich eingehüllt wird, und die Welt einen Moment lang stillsteht.
Es beginnt mit einem Glockenschlag. Er rast durch die Nacht wie ein Bote, der verkündet, dass gleich etwas Magisches geschehen wird. Als der fünfte Schlag verklingt, fühlt es sich an, als hielte die gesamte Stadt erwartungsvoll den Atem an. Im Stadtzentrum klimmt nach und nach eine Reihe von Lichtern eine riesige Tanne empor. Als sie an der Spitze ankommen, erhellt ein gleißendes Licht die Dunkelheit und flutet den Marktplatz. Das Leuchten breitet sich auf die umliegenden Gebäude aus und lässt die Lichterketten und Weihnachtsbeleuchtungen aufflammen, die die Türrahmen, Fensterbänke und Dächer schmücken. Immer weiter entfaltet sich das Licht, erhellt den Glockenturm und lässt die Statue von Willem Addler aufleuchten. Es fließt die Straßen entlang, die vom Stadtzentrum fortführen und überzieht jeden Straßenpfeiler, jede Bank und jeden Feuerhydranten mit einem warmen Schimmer. Jede Statue und jeder Wasserspeier, die die Häuser des Dorfes schmücken, erstrahlt im Glanz der Weihnachtsbeleuchtung. Pubs und Restaurants, die über und über mit Lichtern bedeckt sind, konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Publikums, während Schulgebäude und Wohnungen sich ihnen anschließen, um die Dunkelheit zu vertreiben. Wie ein perfekt synchronisierter Waldbrand wird Fountainbridge innerhalb von Sekunden zu einer Oase aus Licht. Es glitzert und flackert wie ein Stern im Nachthimmel.
Luis dreht sich diskret zu Dima um, der hektisch blinzelt, um die Augen trotz der plötzlichen Helligkeit offen zu halten. Die Falten auf seiner Stirn sind verschwunden, und etwas, das man fast ein Lächeln nennen könnte, hat sich in seinen Mundwinkeln eingenistet.
»Das war unglaublich«, flüstert Alec andächtig. Luis stimmt ihm leise zu, aber Hannah schnaubt nur verächtlich.
»Dasselbe wie jedes Jahr«, sagt sie mürrisch.
»Noch nicht einmal du kannst diesen Moment ruinieren, Hannah«, gibt Luis zurück, während er aus dem Augenwinkel Dima beobachtet. Er überlegt, was er sagen könnte, irgendetwas, um Dima in ein Gespräch zu verwickeln. Aber als Dima seinen Blick auf Luis richtet und ihn dabei ertappt, wie er ihn anstarrt, verschwindet Dimas Lächeln, und er sieht Luis böse an. Luis' Herz rutscht ihm in die Hose. Schnell wendet er sich ab und tut so, als würde er den Hang hinter Dima betrachten, bis Hannah seinen Blick einfängt.
»Können wir jetzt gehen? Mir ist megakalt.«
Das muss sie ihn nicht zweimal fragen. Er würde zwar gerne mehr über seinen neuen Nachbarn herausfinden, aber Dima hegt Luis gegenüber offenbar nicht dieselben Gefühle. Also ist Rückzug angesagt. Luis ist zu höflich und, wenn er ehrlich ist, viel zu eingeschüchtert von Dimas Missmut, um sich jemandem aufzudrängen, der nichts mit ihm zu tun haben will.
»Tschüss, Bryan!«, rufen die Zwillinge, als Hannah, Alec und Luis ihnen zum Abschied winken und sich an den Abstieg machen. Kaum sind sie außer Hörweite, stupst Alec Luis an und grinst.
»Das ist also der Neue, ja?«
»Genau, das ist er«, antwortet Luis und versucht dabei, lässig zu klingen.
»Ich mag ihn nicht«, bemerkt Hannah.
»Echt? Das hätte ich nie vermutet«, entgegnet Luis. Bryan kläfft aufgeregt und verschwindet in Sekundenschnelle in einem Feld neben dem Pfad.
»Du hast noch nicht mal mit ihm gesprochen. Woher willst du wissen, dass du ihn nicht magst?«, fragt Alec.
»Ich muss gar nicht mit ihm sprechen. Er ist ein Arsch. Hat noch nicht einmal Hallo gesagt.«
Luis will Dima in Schutz nehmen, aber dann muss er an den bösen Blick denken, den er eben geerntet hat, und schluckt die Worte hinunter. Vielleicht hat Hannah ja recht. Vielleicht ist er einfach der Neuste in einer langen Kette von süßen Jungs, die Luis nie auch nur eines Blickes würdigen würden.
»Du hast auch nicht Hallo gesagt«, erinnert Alec Hannah.
»Ich muss auch nicht freundlich sein, ich hab schließlich schon genug Freunde«, antwortet Hannah.
Luis bleibt wie angewurzelt stehen und sagt: »War das etwa ...«
»... ein Kompliment?«, vervollständigt Alec mit hochgezogenen Augenbrauen seinen Satz.
»War es gar nicht«, schnaubt Hannah, ohne stehen zu bleiben.
»Du magst uns«, säuselt Alec.
»Ich kann euch gerade so aushalten. Aber noch einen Jungen ertrage ich nicht.«
»Darüber musst du dir, glaube ich, keine Gedanken machen«, sagt Luis, und schafft es nicht ganz, die Bitterkeit aus seiner Stimme zu verbannen. Er ist ein bisschen genervt, dass er einen ganzen Tag damit verschwendet hat, über einen Jungen nachzudenken, der ganz offensichtlich nichts mit ihm zu tun haben will. Er hätte schwören können, dass zwischen ihnen ein Funke übergesprungen war, als sich ihre Blicke oben auf dem Hügel begegnet sind, aber das hat er sich wohl nur eingebildet. Den winzigen Hoffnungsschimmer, der immer noch in seinem Inneren keimt, ignoriert er geflissentlich.
Als sie wieder den Wald erreichen, ist es bereits so dunkel, dass sie kaum die einzelnen Bäume voneinander unterscheiden können. Alec muss fünfmal pfeifen, bevor Bryan an seiner Seite auftaucht. Im Schein seiner Taschenlampe sehen sie, dass Bryan von oben bis unten besudelt ist. Hat er sich etwa in einem Kuhfladen gewälzt? Alec stöhnt auf, aber Bryan sieht rundum zufrieden aus. Auf dem Weg zu Luis' Haus müssen Hannah und Luis immer wieder loskichern, während Alec mit seinem Beagle schimpft. Luis hat seinen besten Freund zwar immer um seinen Hund beneidet, aber es hat manchmal auch Vorteile, keinen zu besitzen. Luis' Katzen sind wenigstens sauber – nur das Kaninchen der Zwillinge riecht manchmal etwas streng.
Sie bleiben vor dem Holztor stehen, das Luis und sein Dad vor ein paar Jahren rot gestrichen haben. Die Farbe blättert langsam ab, und Luis zupft ein Stück ab, um dabei zuzusehen, wie es sich in seiner Hand auflöst. Alec, der sicherheitshalber einen großen Abstand zu Bryan hält, wirft einen Blick auf das Nachbarhaus, in das die Sharapnovas gerade eingezogen sind. Es ist aus Stahl und Glas gebaut, mit riesengroßen Fenstern, die genug Licht ins Haus lassen. Es sieht makellos aus, was man von dem Haus, in dem Luis wohnt, nicht behaupten kann. Nachdem Generationen der Familie Winter ihre Spuren daran hinterlassen haben, fehlt dem Dach hier und da ein Ziegel, die Veranda ist voll mit rostigem Werkzeug und verbeultem Spielzeug, und es braucht dringend einen neuen Anstrich. Und trotzdem würde Luis nichts ändern wollen. Ein einziger Blick auf das windschiefe, an vielen Stellen notdürftig reparierte Haus verrät, dass Luis' Familie nicht viel Geld hat, aber der Anblick erfüllt ihn mit einem warmen Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn er das Wort »gemütlich« definieren müsste, würde er einfach auf sein Haus zeigen, das jetzt, da Weihnachtsbeleuchtung und Papiersterne in den Fenstern funkeln, besonders einladend aussieht.
»Ihr beide wollt euch nicht zufällig freiwillig melden, um Bryan den Dreck aus den Ohren zu waschen?«, fragt Alec niedergeschlagen.
»Nein, aber ich gucke dir gerne dabei zu«, entgegnet Hannah süffisant.
»Hey, es ist doch nicht alles schlecht«, sagt Luis. »Denk einfach an morgen!«
»Morgen ist Montag, und montags ist Schule«, sagt Hannah, aber Alec grinst breit.
»Schnee?«, fragt er.
»Schnee«, bestätigt Luis, und er fühlt, wie sich die Aufregung in seinem Magen regt.
»Pff, ich hau ab«, grummelt Hannah und wendet sich zum Gehen. Alec und Bryan hasten ihr nach, und Luis betritt das Haus. Er überlegt, früh ins Bett zu gehen, um am nächsten Tag den weißen Wintermorgen genießen zu können. Jungen mögen ihn zwar immer wieder enttäuschen, aber auf den Schnee kann er sich verlassen. Zumindest in Fountainbridge, wo es immer in der ersten Dezembernacht schneit, so verlässlich, wie in den kitschigen, heteronormativen Weihnachtsfilmen in jedem Fernsehprogramm nach Halloween. Selbst der Klimawandel kommt nicht dagegen an. Es mag zwar keinen Sinn ergeben, aber das tun Wunder selten.
Dima wacht in einer Welt auf, die wie in Watte gepackt ist. Er ist daran gewöhnt, beim Einschlafen die Stimmen der Menschen in der Bar unter ihrer Wohnung zu hören, und von Bremsen, die schrill quietschen, und lautem Hupen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Die Abwesenheit von Geräuschen ist ihm unheimlich, aber sie ist bei Weitem nicht das Einzige, was ihn nachts wachhält. Heute morgen fühlt sich die Stille besonders dicht an. Ein silbriges Licht fällt durchs Fenster in sein Zimmer. Dima begutachtet den Stapel Kartons, den er immer noch nicht ausgepackt hat, und entdeckt eine verstaubte rote Nase, die aus einem von ihnen ragt. Früher waren Rentiere seine Lieblingstiere gewesen. Als er fünf war und gerade in England angekommen war, kaufte seine Mutter ihm ein Rudolph-Stofftier, das er bestimmt zwei Jahre lang überall mit hingenommen hat. Jetzt, mehr als zehn Jahre später und nach einem weiteren Umzug ins Unbekannte, tröstet ihn der Anblick des Stofftieres aus seiner Kindheit gerade genug, um unter der Bettdecke hervorzukrabbeln und zum Fenster zu gehen, das in den Vorgarten hinausblickt. Alles ist mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen wie ein Set für einen Weihnachtsfilm aus, zu perfekt, um echt zu sein. Der Schnee ist noch rein und unberührt, bis auf ein Paar Fußspuren, die von ihrer Haustür wegführen. Seine Mutter ist bereits für ihre Frühschicht im Krankenhaus aufgebrochen.
Er schnappt sich sein Handy vom Nachttisch und hofft, wie jeden Morgen, seit sie umgezogen sind, dass Gabriel endlich auf seine Nachricht geantwortet hat. Aber alles, was er auf seinem Sperrbildschirm sieht, ist eine Spam-E-Mail und eine Erinnerung an eine Party, auf die er nicht mehr gehen kann. Er hat eh genug von Partys. Auf einmal ist seine Stimmung im Keller.
Dima duscht schnell und putzt sich die Zähne, bevor er nach unten geht. Die Küche sieht bewohnter aus als Dimas Zimmer. Benutzte Tassen sammeln sich im Waschbecken, eine Schüssel mit Physalis steht neben der Kaffeemaschine, und seine Mutter hat bereits zwei Magnete und ein Foto an den Kühlschrank geheftet. Ein Magnet sieht aus wie ein Willkommensschild, das stolz die Stadt Fountainbridge ankündigt, und ein zweiter in Form eines roten Kreuzes hält ein Selfie von einem viel jüngeren Dima und seiner Mutter fest, das sie an dem Tag zeigt, an dem sie ihr Medizinstudium abschloss. Sein Herz schwillt vor Stolz an, als er an den Tag zurückdenkt. Er erinnert ihn daran, dass all das hier es wert ist, selbst wenn es bedeutet, dass er sein bisheriges Leben hinter sich lassen und wieder von vorne anfangen muss. Das heißt nicht, dass ihm der plötzliche Umzug gefällt, aber das Ergebnis akzeptiert er um ihretwillen. Was daran schlimm ist, ist das schreckliche Gefühl, jemanden verloren zu haben, von dem er dachte, dass er ihn immer an seiner Seite haben würde. Er wirft einen weiteren Blick auf sein Handy, aber der Bildschirm bleibt dunkel.
Frustriert stopft Dima sich eine Physalis in den Mund und wirft ein paar zusätzliche Früchte in seine Schultasche. Er zieht sich seine Jacke über und öffnet die Tür, wo er von einem eisigen Windstoß und glitzerndem Schnee begrüßt wird. Er sieht auf seine Füße hinab, die nur in Socken stecken, und denkt darüber nach, statt Sneakern heute Stiefel anzuziehen. Aber schließlich siegt doch seine Faulheit, denn er hat keinen blassen Schimmer, in welchem der vielen Kartons in seinem Zimmer sich seine Stiefel verstecken. Während er in seine Sneaker schlüpft, hört er irgendwo eine Tür aufgehen. Eine kurze Sekunde lang überwältigt ihn Kindergeschrei und eine bellende Frauenstimme, die ihnen befiehlt, sich sofort ihre Hosen anzuziehen. Dann fällt die Tür wieder ins Schloss, und er hört knirschende Fußschritte auf frisch gefallenem Schnee.
Dima hält inne. Er will es so lange wie möglich vermeiden, in Gespräche verwickelt zu werden, aber er hat den leisen Verdacht, dass er an seinem ersten Tag an der neuen Schule nicht viel Frieden finden wird. Als er aus dem Haus tritt, sieht er den blonden Jungen von nebenan, der mit einer viel geflickten Tasche auf der Schulter in Richtung Stadtzentrum stapft. Luis, fällt Dima ein. Er erinnert sich an keinen anderen Namen der seltsamen Nachbarsfamilie, aber Luis ist ihm im Gedächtnis geblieben. Gestern gab es einen Moment, oben auf dem Hügel, in dem sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde trafen, bevor die Dunkelheit sie verschluckte. Bei der Erinnerung läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Entweder das oder ein kalter Luftzug ist ihm unter die Jacke gedrungen.
Er beschließt, Luis in sicherem Abstand zu folgen. Er weiß, dass es zur Schule nur zehn Minuten Fußweg sind, aber er hat sich nicht die Mühe gemacht, den Weg vorher nachzuschauen. So schwer kann es nicht sein, in einer kleinen Stadt wie Fountainbridge die Schule zu finden. Schließlich gibt es hier noch nicht einmal einen Bahnhof. Was es gibt, ist ein Kino mit genau einem Saal, ein Freibad an einem See mit irgendeinem komischen Namen, und, zu seiner Überraschung, drei verschiedene Buchläden. Vielleicht lesen die Leute mehr, wenn es sonst nichts zu tun gibt, als in die Luft zu starren. Ach, und dann ist da noch Weihnachten, worauf die Leute hier total abzufahren scheinen. Ja, okay, das mit den Lichtern war ganz nett, aber als Dima an einem Haus nach dem anderen vorbeikommt, fühlt er sich, als sei er durch den Kaninchenbau direkt ins Winterwunderland gefallen. Er kommt an winkenden Weihnachtsmännern und singenden Wichteln und mehr nackten Babyengeln vorbei, als er in seinem Leben eigentlich sehen wollte.
Als Dima an einem Park vorbeigeht und es endlich schafft, den Blick von einem Rentier von fast schon beängstigender Größe loszureißen, das darin thront, als wäre es ganz normal, fällt ihm Luis ins Auge, der gerade um eine Ecke verschwindet. Dima joggt ihm hinterher und kommt vor einem Gebäude an, das wohl die Schule sein muss – und schäbig sieht sie nicht gerade aus. Das Gebäude ist imposant, mit hohen Fenstern, mehreren Türmchen und schneebedeckten Wasserspeiern, die unter der Dachkante hocken. Manchen hängen bereits Bärte aus Eiszapfen von den Schnauzen. Dima entdeckt Luis, der mit zwei Menschen spricht, die wie das genaue Gegenteil voneinander aussehen. Die eine Person strahlt fast schon zu viel Positivität für diese Tageszeit aus, und die andere sieht so aus, als hätte der Weihnachtsmann dieses Jahr alle Festivitäten abgesagt.
»Schnee, Mann!«, sagt der Junge in dem lila Mantel, als Dima ihnen die Treppe hinauf zum Eingang folgt. Drinnen bleibt Dima stehen, um den Ort zu begutachten, an dem er fast jeden Tag der nächsten zweieinhalb Jahre verbringen wird. In den Fluren drängeln sich Kinder und Jugendliche, und die Schule ist überraschend gemütlich, mit von bunten Bannern geschmückten Wänden und Plakaten für ein Schultheaterstück, die an die Schließfächer geklebt sind. Luis' Freundin, die große mit dem Haar, das die Farbe einer tintenschwarzen Regenwolke hat, wirft einen Blick auf die trüben Pfützen, die sich auf den Fliesen sammeln, und verzieht angewidert das Gesicht.
»Ich hasse Schnee«, sagt sie, als könnte man ihren Unmut nicht schon aus mehreren Kilometern Entfernung an ihrem Gesicht ablesen.
»Was kann an Schnee überhaupt schlecht sein?«, gibt Luis zurück. »Wenn es geschneit hat, sieht alles aus wie Zuckerwatte und Marshmallows und Schlagsahne.«
»Er schmilzt«, antwortet sie und stampft mit den Füßen auf den Boden, um den Schnee von ihren Schuhsohlen zu lösen.
»Und der Geruch, so sauber und süß.«
»Er ist nass.«
»Schnee ist im Prinzip gefrorene Magie.«
»Er ist verdammt nochmal kalt.«
Der kleinere Junge bemerkt, dass Dima sie beobachtet, und verdreht die Augen in Richtung der beiden anderen. Hitze kriecht Dima den Nacken hoch, und er wendet den Blick ab. Er wollte ihre Unterhaltung überhaupt nicht belauschen, aber jetzt sieht es so aus, als hätte er genau das getan. Bevor er sich aus dem Staub machen kann, stößt jemand mit ihm zusammen, sodass er fast auf dem nassen Boden ausrutscht. Dima findet die Balance wieder, und Erleichterung durchströmt seinen Körper. Mit dem Gesicht zuerst in einer Pfütze aus schlammigem, geschmolzenem Schnee zu landen, ist nicht unbedingt der erste Eindruck, den er hinterlassen will. Er ist schon bereit, sich bei der Person zu beschweren, die ihn fast umgerannt hat, beißt sich aber im letzten Moment auf die Zunge. Denn es war kein tollpatschiger Teenager, sondern ein Lehrer. Ein schneebedeckter Lehrer, der einen Pelzmantel trägt, von dem Dima inständig hofft, dass er nicht aus echtem Pelz besteht, zusammen mit einer Mütze, die auch auf den Kopf eines russischen Milliardärs passen würde – pelzige Ohrenklappen inklusive –, aber der für das hagere Gesicht darunter zu groß aussieht. Der Lehrer nimmt seine beschlagene Brille ab und klopft Dima entschuldigend auf die Schulter.
»Tut mir leid, so sollte die Begrüßung eigentlich nicht aussehen. Sie sind unser neuster Schüler! Dima Sharapnova, nicht wahr?« Dima nickt. Er hält den Mund lieber geschlossen, denn er hat die Beleidigungen, die ihm auf der Zunge lagen, noch nicht ganz heruntergeschluckt.
»Ich bin Schulleiter Charles«, stellt er sich vor, als er sich die Brille wieder auf die dünne Nase setzt. Hellblaue Augen blinzeln ihn ein paarmal an, bevor sie sich auf die Menge richten, die sich um sie versammelt hat. »Alle in ihre Klassenzimmer«, ruft er und winkt auch Luis und seine Freundesgruppe weg, als die Schulglocke klingelt. Dima will das Klingeln zum Anlass nehmen, sich ebenfalls zurückzuziehen, aber Schulleiter Charles hat andere Pläne. »Nicht Sie, Dima. Sie kommen mit in mein Büro, damit ich Ihnen Ihren Stundenplan erklären kann. Könnten Sie die kurz halten?«, fragt er und gibt Dima seine Aktentasche. Der Schulleiter zieht den Mantel aus und nimmt die Mütze ab. Darunter kommen ein ordentlicher, aber nicht zu formeller Anzug und eine Spiegelglatze zum Vorschein. Vom Oligarchen zum hippen CEO eines Tech-Start-Ups in zwei Sekunden, denkt Dima, als ihm der Geruch von Eau de Cologne in die Nase steigt. »Vielen Dank, Dima«, sagt Schulleiter Charles und nimmt ihm die Brieftasche wieder ab. »Kommen Sie, wir kümmern uns um Ihren Stundenplan.«
Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Dima im Büro des Schulleiters, um mit ihm verschiedene Dokumente und einen Lageplan der Schule durchzugehen, die zu Dimas großer Freude im Keller neben einer Sporthalle auch ein Schwimmbad hat. »Wir sind eine ziemlich kleine Schule, mit nur etwa 300 Schülerinnen und Schülern, und zwar nicht nur aus Fountainbridge, sondern auch aus Johnsonville und Lombard. Aber du wirst sehen, dass wir eine große Auswahl an Clubs und Komitees haben, denen du vielleicht beitreten möchtest. Wirklich schade, dass du zu spät angekommen bist, um im Theaterclub mitzumachen. Die Weihnachtsaufführung ist immer herausragend«, erklärt der Schulleiter, und Dima versucht, so auszusehen, als fände er es auch schade, dass er dem herausragenden Theaterclub nicht mehr beitreten konnte.
Der Rest des Schultags vergeht ohne weitere Vorfälle, außer, dass Dima sich vierzehn Mal in verschiedenen Kursen vorstellen muss und sich bei jedem so fühlt, als nähme sein Körper zu viel Raum ein, wenn alle Blicke sich auf ihn richten. In der Mittagspause sucht er die Menge nach Luis' Gesicht ab, aber als ihm klar wird, was er tut, hält er inne. Stattdessen laden ein paar Jungs, die er aus seinem Biologiekurs kennt, Dima zu sich an den Tisch ein. Dima kaut auf seinem Gemüse herum und hört zu, wie sie über Fußball reden, sich über Lehrkräfte beschweren, die er nicht kennt, und überlegen, wer ihnen auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein besorgen könnte.
»Hey«, sagt irgendwer, und erst, als Bruno ihm mit der Hand vor dem Gesicht herumwedelt, fällt Dima auf, dass er mit ihm geredet hat. Bruno ist einer der Jungs, denen in dem Moment, in dem sie in die Pubertät kamen, sofort ein Vollbart gesprossen ist. Außerdem hat er aus irgendeinem seltsamen Grund eine kurze Hose an. So kälteresistent ist nicht einmal Dima. Schnell schluckt er seinen Bissen herunter.
»Ja?«
»Willst du nach der Schule mit zur Weihnachtsmarkteröffnung kommen?«, fragt Bruno schroff. Dimas Zögern muss wohl offensichtlich sein, denn Bruno gibt ihm nicht die Gelegenheit, zu antworten. »Die Eröffnungszeremonie ist immer ein bisschen langweilig, aber der Apfelpunsch ist ziemlich gut. Besonders mit extra Schuss.« Bruno und seine Freunde schauen Dima erwartungsvoll an, und Dima bringt es nicht über sich, Nein zu sagen. Dazu kommt noch die Tatsache, dass er absolut keine anderweitigen Pläne hat, außer in seinem Zimmer zu faulenzen und sein Handy anzustarren, in der Hoffnung, dass es eine Nachricht ankündigt, die sowieso nicht kommen wird.
»Klar«, antwortet Dima. Zur Antwort stößt Bruno die Faust gegen seine.
Ein paar Stunden später verlässt er das Schulgebäude. Er ist froh, den Weihnachtsferien ein paar Stunden näher zu sein. Neben dem Schultor stehen Bruno und sein langhaariger Freund, dessen Namen er sich nicht gemerkt hat, und den er daher nicht direkt ansprechen wird, bis in irgendeinem Gespräch sein Name fällt. Sie winken ihn zu sich, und zusammen nehmen sie Kurs auf die Stadt. Auf dem Weg werden die Häuser um sie herum immer älter und stehen näher beieinander. Große Einfamilienhäuser werden durch Reihenhäuser aus riesigen Ziegelsteinen abgelöst, die in bunten Farben gestrichen sind. Den Anblick kann Dima nur als malerisch beschreiben.
Er fragt sich, ob Bruno und der Langhaarige wohl wirklich jemanden überzeugen werden, ihnen Alkohol zu kaufen. Er hat kein moralisches Problem damit, aber dann erinnert er sich wieder an das letzte Mal, als er betrunken war, und sein Magen zieht sich zusammen. Vielleicht sollte er vorerst nüchtern bleiben. Sie gehen unter einem hohen Torbogen hindurch, dessen rote Ziegelsteine fast vollständig unter dem Schnee verschwunden sind, und kommen in eine Gasse, die links und rechts in überdachte Durchgänge abbiegt, die wiederum einen weitläufigen Platz umgeben. Hinter einem festlichen roten Band, das die wachsende Menschenmenge zurückhält, liegt ein Dorf aus kleinen, braunen Hütten, die mit Lametta und Tannenzweigen geschmückt sind. Dima ist groß genug, um über die Köpfe der Menge hinweg ein Karussell und einen Streichelzoo zu entdecken. Klassische Weihnachtsmusik tönt aus versteckten Lautsprechern, und der Geruch von gebrannten Mandeln und warmen Plätzchen lässt Dima das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er hat sich schon immer gefragt, warum es Zucker in so unwiderstehlich köstlichen Formen gibt, wenn man ihn eigentlich nicht essen soll. Das muss alles eine große Verschwörung sein.
»Der Geruch ... rette mich«, seufzt ein Mädchen mit dichten braunen Locken, als sie an ihm vorbeikommt. Sie sieht aus, als würde sie nichts lieber tun, als sich kopfüber in einen Schokoladenbrunnen zu stürzen. Sie hält Händchen mit einem großen blonden Jungen, dessen blasse, leicht spitz zulaufende Ohren ihn wie einen überdimensionalen Elfen aussehen lassen. Irgendwoher kennt Dima die beiden. Er muss sie wohl in der Schule gesehen haben, aber nachdem er festgestellt hat, dass Luis und er nicht im selben Jahrgang sind, hat er den Leuten um sich herum nicht mehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das Mädchen begrüßt enthusiastisch einen großen Mann mit schwarzer Haut und freundlichen Augen, der auf einem roten Samtkissen eine überdimensionale goldene Schere herbeiträgt.
Dima und die anderen beobachten, wie immer mehr Menschen auf den Vorplatz strömen, die sich darauf freuen, eine Runde auf dem Karussell zu fahren oder eine Waffel mit Apfelmus zu essen. Endlich wird die Musik leiser, und eine Frau in einem tannengrünen Anzug heißt sie willkommen. Ihr roter Bob wippt leicht hin und her, während sie alle dazu ermuntert, einen Schritt vorzutreten. Sie nimmt die Schere vom Kissen und reicht sie einer älteren Frau mit einem geflochtenen Zopf, der so weiß ist, dass er fast mit dem Schnee verschmilzt. Ihre Zähne sind etwas schief, aber ihre Haut sieht weich und komplett faltenfrei aus. Dima hat keinen blassen Schimmer, wer diese Leute sind oder warum diese Zeremonie so wichtig zu sein scheint, und es sieht nicht so aus, als hätte Bruno vor, es ihm zu erklären. Er leckt sich nur die Lippen – offenbar ist er in Gedanken schon beim Punsch. Es gibt Applaus, als die alte Dame mit dem Zopf das rote Band durchschneidet, und der Platz ist auf einmal von zeremonieller Musik erfüllt. Kinder rennen auf die Ziegen im Streichelzoo zu, und Erwachsene wärmen sich an dem ersten Glühwein der Saison. Bruno und sein Freund zerren Dima an einen Stand, der schon von Weitem nach Zimt, Nelken und etwas Fruchtigem riecht.
»Der beste Punsch weit und breit«, verkündet Bruno und gibt Dima eine rote Tasse, die bis an den Rand mit einer hellbraunen Flüssigkeit gefüllt ist. Von der Oberfläche steigt Dampf auf, und auf der Tasse tanzen winzige, gemalte Menschen auf Schlittschuhen über einen zugefrorenen See.
»Der beste der Welt!«, fügt der Langhaarige hinzu und lässt vor Aufregung fast seine Tasse fallen.
»Jonas, es gibt echt niemanden, der mehr schmalziges Zeug sagt als du«, sagt Bruno und lüftet damit endlich das Geheimnis um den Namen des Langhaarigen. Dima nimmt einen vorsichtigen Schluck. Wenn Weihnachten ein Getränk wäre, dann würde es genau so schmecken. Der Punsch erfüllt seine Gliedmaßen mit Wärme und kitzelt ihn sanft an der Nase.
»Stimmt überhaupt nicht«, gibt Jonas zurück. »Das ist wenn dann Luis Winter.«
Dima verbrennt sich fast die Lippe an seinem Punsch und stellt vorsichtig die Tasse ab. »So heißt er doch nicht wirklich, oder?«
»Doch, und das sagt dir schon alles, was du über ihn wissen musst«, sagt Bruno und schlürft seinen Punsch. Er klingt wie ein durstiger Elefant an einem Wasserloch.
»Seine Familie wohnt schon seit der Gründung in Fountainbridge oder so«, erklärt Jonas.
»Was bedeutet, dass ihnen früher vermutlich das Schloss und die halbe Stadt gehört haben. Würde man echt nicht denken, wenn man die Hütte sieht, in der sie heute wohnen. Das wenige Geld, das sie haben, geben sie offenbar für Strickwolle und Plätzchenteig aus.«
Bis jetzt hatte Dima keine besondere Meinung zu Bruno, aber mit jedem Wort, das aus seinem Mund kommt, mag er ihn weniger. Dima ist auch nicht gerade reich geboren, und er gewöhnt sich immer noch daran, ein Zimmer zu haben, das größer ist als die Wohnung, in der sie bisher gewohnt haben. Jahrelang haben seine Mutter und er sich eine Einzimmerwohnung geteilt, weil sie sich keine größere leisten konnten. Nur dank der Beharrlichkeit seiner Mutter sind sie jetzt hier, und darum kann Dima ihr ihre Entscheidungen nie übel nehmen. Außerdem gefällt ihm das Nachbarhaus. Es hat Charakter – etwas, das Bruno zu fehlen scheint. Und trotzdem kann Dima sich nicht dazu bringen, Luis in Schutz zu nehmen. Schließlich kennt er ihn überhaupt nicht. So oder so hat Dima keine Lust mehr, bei Bruno und Jonas zu bleiben. Lieber verbringt er Zeit damit, auf seinen dunklen Handybildschirm zu starren, als sich ihre dummen Kommentare anzuhören.
Er trinkt seinen Punsch so schnell wie er kann aus, ohne sich die Zunge zu verbrennen. Als er den letzten Schluck nimmt, ist die Dunkelheit bereits über den Weihnachtsmarkt hereingebrochen, und die Beleuchtung der Buden wirkt auf die Besuchenden genauso anziehend wie bunte Blumen auf Bienen.
»Ich sollte nach Hause gehen«, verkündet er.
»Was, jetzt schon?«, fragt Jonas verwirrt.
»Ja, sorry«, antwortet Dima. »Aber danke, dass ihr mich mitgenommen habt.«
Er gibt die Tasse wieder ab, nickt ihnen kurz zu, und überlässt sie wieder sich selbst. Mit den Händen tief in den Taschen vergraben schlendert er auf den Torbogen zu. Als er darunter hindurchkommt, fegt ein Windstoß eine Schneewehe vom Bogen, die sanft zu Boden rieselt. Als Dima die Schultern hochzieht, um die Flocken daran zu hindern, auf seinem Nacken zu landen, begegnet jemand seinem Blick. Den Bruchteil einer Sekunde lang blitzt in der Dunkelheit ein paar hellgrauer Augen auf, dasselbe Paar, das ihn gestern Abend angestarrt hat.
Dima wirbelt herum und erhascht gerade noch einen Blick auf Luis' blonden Hinterkopf und den Aufnäher in Form eines Rentiers auf seinem Ellbogen, bevor er vom aufgewehten Schnee verschluckt wird. Irgendetwas in seiner Brust schnurrt zufrieden und zerstreut dabei einen Teil der Angst, die sich dort seit dem Abend der Party eingenistet hat. Dima ist so mit dem Rentieraufnäher und den grauen Augen beschäftigt, dass er Gabriel fast vergisst.
Fast.
»Rate mal, was ich gesehen habe«, nuschelt Alec, während er sich Blaubeerpfannkuchen in den Mund stopft. Ein Großteil seines Gesichts ist mit Ahornsirup und Schlagsahne verschmiert. So sehr Alec auch auf sein Äußeres achtet, könnte er selbst dann nicht ordentlich essen, wenn jemand Bryan eine Pistole an den Kopf halten und drohen würde, abzudrücken, wenn Alec Essen von der Gabel fällt.
Es ist Mittagszeit, und Luis, Hannah und Alec sitzen in ihrer angestammten Ecke im Café am Fuße des Lindenbuckels. Ein kleines Fenster in ihrer Ecke gewährt einen Ausblick auf die schneebedeckten Dächer der Stadt, und Hannah ist gerade damit beschäftigt, Strichfiguren auf das beschlagene Glas zu zeichnen. Das Café haben sie letzten Sommer entdeckt, als sie in Shorts und Tanktops mit den Fahrrädern durch die Stadt fuhren und nach einem Ort suchten, an dem sie der Augusthitze und den überfüllten Freibädern entfliehen konnten. Hannah war die Regenbogenflagge in der Ecke des Caféfensters zuerst aufgefallen. Der Aufkleber war zwar klein und unauffällig, aber er leuchtete ihnen wie ein Leitstern entgegen. Das Innere des Cafés ist einladend und gemütlich; Topfpflanzen hängen von der Decke und den Wänden, und um die runden Tische stehen Polstersessel in verschiedenen Farben. Die Bank in ihrer Ecke strotzt geradezu vor Kissen, und die gesamte Wand hinter ihnen ist von Moos bewachsen, das auf Luis immer abkühlend wirkt. Der zutreffende Name des Cafés lautet »Greenhouse«.
»Der Neue hat mit Bruno und seinen Bros geredet«, sagt Alec. Luis hört auf zu kauen und tauscht einen entsetzten Blick mit Hannah aus, die eine Tomate aus ihrem Wrap fischt.
»Wusste ich's doch«, sagt sie.
»Er ist ein aussichtsloser Fall«, stimmt Luis ihr zu. Irgendwie ist er ein bisschen enttäuscht, dass Dima sich mit den Jungs angefreundet hat, die er um jeden Preis vermeidet: widerwärtige, großmäulige Halbmänner, die abstoßende Witze machen und sich gegenseitig mit Essen bewerfen. Er stopft sich eine Handvoll Pommes in den Mund. Die Pommes sind das günstigste Gericht auf der Speisekarte, aber dafür sind sie knusprig und in Rosmarinsalz gewendet. Sie schmecken himmlisch, und vertreiben fast vollständig den Frust, den die Nachricht, dass Dima sich mit dem Feind verbündet hat, bei ihm ausgelöst hat.