Luke, Mimi und das Schreckkommando - Judith Burger - E-Book

Luke, Mimi und das Schreckkommando E-Book

Judith Burger

0,0

Beschreibung

Knall auf Fall ist Luke mit seiner Mutter umgezogen. Sie hat sich getrennt und Luke versteht die Welt nicht mehr. In der neuen Wohnung herrscht Chaos, und seine Mutter ist traurig und will nicht drüber reden. Wie Luke das alles findet, fragt keiner. Dann lernt er Mimi kennen, die am liebsten nur das macht, was sie will. Zusammen mit Dilara und Antonia verpasst sie Erwachsenen einen Denkzettel, wenn die sich ihrer Meinung nach nicht richtig verhalten. Und Mimi findet, dass auch Lukes Mutter so einen Denkzettel braucht …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 203

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Judith Burger

Luke, Mimi und das Schreckkommando

Mit Bildern von Nele Palmtag

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Ich treibe auf einem Floß mitten im Meer, die Sonne scheint, das Wasser plätschert leise. Nirgendwo Hausaufgaben in Sicht. Über mir fliegen bunte Vögel, Mantarochen begleiten mich. Wenn ich meine Hand ins Wasser halte, dann nuckeln sie sachte an meinen Fingern. Das Ufer einer Insel ist schon zu sehen, mein freundlicher Riese steht am Ufer und winkt mir zu. In der einen Hand hält er eine Schüssel mit einem Berg Spaghetti, mit der anderen langt er ins Meer und zieht mein Floß an Land. Bestimmt feiern wir gleich eine Party.

Alles totaler Quatsch. Das Floß ist mein Bett. Hier plätschert rein gar nichts und anstatt von Mantarochen bin ich umzingelt von Umzugskartons. Hier liege ich, mitten in einem fremden Zimmer, ganz ohne irgendeine Aussicht auf eine Party. Mein Leben ist komplett partylos. Der Einzige, der hier gerade Party macht, ist der blöde Mond. Es sind nämlich noch keine Vorhänge am Fenster, deshalb kann er ungehindert zu mir hereinglotzen. Alles, was ich machen kann, ist: zurückglotzen. Der Mond will nicht, dass ich einschlafe. An der einen Seite hat er eine kleine Delle. Bedeutet das, dass er zunimmt oder abnimmt? Keine Ahnung. Annette hätte das gewusst. Und sie hätte vielleicht auch gesagt, dass der Mond gar keine Seite haben kann, weil er rund ist.

Ich dreh mich auf die Seite und schon glotzt mich der Nächste an: der Umzugskarton direkt vor meinem Bett. Vielleicht bewegt er sich, wenn ich lange genug zurückglotze? Gestern habe ich den zusammen mit Hunderttausenden anderen Umzugskartons hier in den obersten Stock geschleppt. Mir tun immer noch die Arme weh. Ich strecke meinen rechten Arm lang nach oben mitten ins Mondlicht, mache eine Faust, winkle den Arm an. Vorsichtig drücke ich mit dem Zeigefinger dort rein, wo der Bizeps sein soll. Bei Annette hat es sich an dieser Stelle immer angefühlt wie ein großer, harter Avocadokern. Bei mir fühlt es sich eher an wie Avocadocreme. Schnell stopfe ich meinen Arm zurück unter die Decke. Die riecht wenigstens noch nach zu Hause. Bestimmt schlafe ich gleich ein. Bestimmt. Doch bald merke ich: Es funktioniert nicht. Denn jetzt hab ich Durst.

»Hast gewonnen«, flüstere ich dem Mond zu.

Im Flur sind rechts und links Umzugskartons gestapelt, in der Mitte ist ein schmaler Gang frei geblieben. Wann sollen wir das alles nur auspacken? Und vor allem: Wo soll das alles hin? Im Vorbeigehen kriegt einer der Kartons einen Tritt von mir. Es ertönt ein leises Klingeling. Als ob zwei Gläser gegeneinanderstoßen: Prost, auf unser neues Leben in einer muffigen, kleinen, fremden Wohnung! Das leise Klingeling klingt so ganz anders als das Geschrei, das Mama und Annette veranstaltet haben, als es um die Aufteilung dieser Sachen in den Kartons ging. Bis zuletzt haben sie darüber gestritten, weil sie nicht mehr wussten, wem was genau gehört. Sie hatten es zwar vergessen, aber egal war es ihnen trotzdem nicht: Das hat mir gehört! Das hab ich gekauft! Das fandest du nie so schön wie ich!

Dass Mama und ich ausgezogen sind, das kam für mich ganz schön plötzlich. Ich verstehe es bis heute nicht. Bevor wir unsere Sachen in Kisten gepackt haben, lief es lange so: Wenn ich ins Zimmer kam, haben beide sofort aufgehört zu sprechen. Mama hat dann so getan, als wäre sie ganz vertieft in eine Zeitung, dabei lag die Zeitung falschrum auf dem Tisch.

Was ist denn los?, hab ich dann gefragt. Alles gut, Luke, kam nur als Antwort. Hat nichts mit dir zu tun, das ist unsere Sache. Mach dir keine Sorgen. Aha. Dabei hätte jeder blinde Maulwurf gesehen, dass Mama und Annette sich nicht mehr leiden können. Keine Umarmung mehr, kein gemeinsames Lachen, nur traurige Gesichter. Und das hat sehr wohl etwas mit mir zu tun. Denn wenn Mama und Annette traurig sind oder sich streiten, geht es mir auch schlecht.

Und dann hieß es: Wir ziehen auseinander. Weil das besser so ist.

Aber es ist nichts besser.

Ich bahne mir meinen Weg durch die Kartons. Plötzlich landet meine Hand auf etwas, das sich nicht wie ein Umzugskarton anfühlt. Es ist weich, ich drücke zu … »Waaaahhhh!«

Oder ist es Mama, die als Erste schreit?

»Bist du wahnsinnig, Luke!«

Mama presst sich die Hand auf die Brust und japst wie nach einem Hundert-Meter-Lauf. Ich hab sie erschreckt. Dabei ist sie diejenige, die aussieht wie ein Gespenst, mit ihrem langen weißen T-Shirt.

»Huuuhuu«, mache ich.

»Kannst du auch nicht schlafen?«, fragt sie.

Zur Antwort gehe ich in die Küche. Ich nehme die einzigen zwei Gläser, die schon ausgepackt auf der Spüle stehen, und lasse sie mit Wasser volllaufen. Wir setzen uns auf den Fußboden und trinken.

»Der Mond macht mich irre«, sagt Mama nach einer Weile.

»Wir müssen die Vorhänge ans Fenster hängen«, entgegne ich.

Mama sagt nichts und ich auch nicht, wir beide wissen: So was hat sonst immer Annette gemacht: Löcher in die Wand bohren für die Gardinenstangen, Regale zusammenbauen, Dinge reparieren. Was sollen wir hier nur ohne sie tun?

Ich starre auf den einen Karton vor uns. Unter ihm auf dem Fußboden hat sich eine Pfütze gebildet. Stumm zeige ich darauf. Mama stöhnt auf.

»Was ist da drin?«

»Muss eher heißen, was WAR da drin.«

»Auch egal, das muss warten.«

Sie steht auf, wuschelt mir einmal auf dem Kopf hin und her.

»Geh schlafen, Luke.«

Wortlos schlurft sie wieder zurück in ihr Zimmer.

Es gibt hier nur ihr Zimmer, die Küche und mein Zimmer. Und ein Bad, das so klein ist, dass man, wenn man aus der Dusche steigt, mit dem Bauchnabel schon wieder an die Türklinke stößt. Von außen sieht das Haus aus wie ein alter bröckelnder Klotz. Das nennt sich teilsaniert. Mama betont das Wort, als hätte sie einen Schatz gefunden. Teilsaniert ist billiger. Weil wir jetzt ohne Annette nicht mehr so viel Geld haben.

»Bitte, bitte, jetzt einschlafen«, murmele ich in mein Kissen. Denk an was Schönes, hat Mama früher gesagt, als ich noch klein war und nicht schlafen konnte. Aber was wäre schön? Wenn doch alles wieder wie früher wird? Wird es in den nächsten zwei Wochen überhaupt was anderes geben als Kisten auspacken und mit dieser Wohnung kämpfen? Das werden ganz sicher die blödesten Herbstferien, die ich je hatte. Julian ist mit seinen Großeltern zwei Wochen an der Ostsee, da wollte er gar nicht hin. Aber lieber mit Oma und Opa am Meer als zwei Wochen in diesem Chaos. Und Carlo hat den Hauptgewinn gezogen: Er fliegt mit seinen Eltern nach Florida. Julian und ich haben so getan, als dürfte er gerade noch so unser Freund sein, wenn er so eine klimaschädliche Flugreise antritt. Julian hat seinen ökologischen Fußabdruck vor und nach dem Urlaub berechnet. Carlo war betreten, aber gefreut hat er sich trotzdem. Ich wäre auch gern in Florida. Da gibt es Krokodile.

Stattdessen liege ich im letzten Stockwerk eines ollen Hauses, ganz oben, wo keiner sonst wohnen will wegen der vielen Stufen. Über mir höre ich plötzlich Geräusche. Sind das Schritte? Geht da jemand hin und her? Über uns wohnt keiner, da ist nur noch der Dachboden. Vielleicht sind da oben gefährliche Tiere? Vielleicht spukt es hier? Ich starre an die Decke, als könnte ich mit meinem Blick ein Loch hineinbohren.

Wenn ich früher weggefahren bin, hat sich Annette sofort gemeldet und gefragt: Bist du gut angekommen? Gefällt es dir, wo du bist? Aber jetzt meldet sie sich nicht! Dabei haben wir beide keinen Streit miteinander. Oder habe ich was falsch gemacht? Bin ich am Ende an allem schuld und hab nur keine Ahnung?

Ich bin gut angekommen, aber es gefällt mir nicht! Ich finde, das kann Annette ruhig wissen. Ich strecke einen Fuß aus dem Bett und hangele nach meinem Handy. Es ist ein blödes Handy, ein Kinderhandy ohne Internet, mit dem man nur telefonieren kann, richtig peinlich. Nur Mama und Annette sind eingespeichert, damit wir drei unterwegs Kontakt haben können, wenn was ist. Eigentlich sollte ich ein Smartphone kriegen, wenn ich in die 5. Klasse komme. Jetzt bin ich schon seit sechs Wochen in der Fünften, aber ein Smartphone habe ich immer noch nicht. Nicht mal das!

Ich starre eine ganze Weile auf das Display, bis ich es begreife: Annettes Nummer gibt es nicht mehr in meinem Telefon. Einfach weg. Alles von Annette in meinem Handy ist verschwunden, sogar ihre SMS-Nachrichten.

Eine Telefonnummer verschwindet nicht einfach von allein. Ich sitze in meinem Bett und starre auf das Licht, das mich aus dem Handy anspringt. Ist das wirklich wahr? Ist Mama einfach an mein Handy gegangen und hat alles von Annette gelöscht? Ohne mich zu fragen! Es kann niemand anders gewesen sein als sie. Darf sie das überhaupt?

Ich kann Annette also nicht anrufen. Auswendig weiß ich die Nummer nicht. Wütend pfeffere ich mein Handy in die Ecke. Und dann frage ich mich noch was: Warum ruft Annette nicht mal an? Hat sie meine Nummer auch nicht mehr? Oder hat sie mich vergessen? So schnell?

Am liebsten würde ich jetzt sofort zu Mama laufen und sie fragen, warum sie das gemacht hat. Aber natürlich trau ich mich nicht. Ich weiß genau, wie das ausgehen würde. Entweder Mama verfällt wieder in diesen todtraurigen Zustand und heult stundenlang. Oder sie rastet komplett aus, wie schon ein paar Mal in den letzten Tagen. Sie braucht nur den Namen Annette zu hören, und wusch. Wie kann man sich erst so lieb haben und dann plötzlich überhaupt nicht mehr? Was ist da passiert? Es ist, als wäre alles rund um Annette eine verbotene Zone.

Ich muss an meine Adventskalender denken. Da bin ich jedes Jahr um diese vierundzwanzig kleinen Päckchen herumgeschlichen und Mama und Annette haben immer aufgepasst, dass ich ja nicht vor dem jeweiligen Tag hineinlunze und immer erst eins der Türchen oder besser Päckchen öffne, wenn sie dabei sind. Damit wir uns alle zusammen freuen. Und jetzt passt Mama auf, dass ich der Tür, auf der Annette steht, bloß nicht zu nahe komme. Und wie wird das überhaupt in diesem Jahr, wenn Annette nicht mehr da ist: Hat mein Adventskalander dann nur noch zwölf Türen?

Mama und Annette waren immer total aufgeregt wegen des Kalenders, weil sie ganz lange mit der Vorbereitung beschäftigt waren. Manchmal wusste ich genau, wer von den beiden das jeweilige Türchen gefüllt hatte. War ein Buch drin, kam das von Mama. Von Annette gab es Comics. Mama packt mir Kinderschokolade hinein, aber Annette kauft Schokolade mit Chili, Salz und Pfeffer. Darüber mussten wir immer lachen. Es ist Schokolade und kein Pfannengericht, hat Mama gesagt. Annette ist auch die Einzige, die ich kenne, die ihr Frühstücksei mit Senf isst.

Am Morgen sieht alles noch genauso aus wie am Abend zuvor: Die Umzugskartons haben sich keinen Zentimeter bewegt. Ich schäle mich aus dem Bett und hole mir ganz leise eine Schüssel Müsli aus der Küche. In der Wohnung ist es still. Ich sitze im Bett und esse. Mit dem Löffel zeige ich auf einen Karton nach dem anderen. »Ippe, tippe, tapp … und du bist ab!« Okay, diesen Karton werde ich jetzt auspacken.

Mit geschlossenen Augen greife ich hinein. Ahhh, hier sind Stifte. Ich öffne die Augen. Blätter, Geodreieck, Bücher, Hefter … ich habe den Umzugskarton mit meinen Schreibtischutensilien erwischt. Mist, den kann ich noch gar nicht auspacken, denn mein Schreibtisch steht noch bei Mama im Zimmer. Einer der Möbelträger hat ihn sensationellerweise dort abgestellt und dann noch mehrere Kartons obendrauf gepackt. Ich kann meinen Schreibtisch erst zu mir holen, wenn er dort befreit wird. Aber im Moment würde der sowieso nicht durch die enge Schneise zwischen den Kisten im Flur passen. Wir haben nicht aufgepasst, wo wir was zuerst hinstellen. Es ist das erste Mal, dass wir umziehen, das müssen wir wohl noch üben.

Also wird es nichts mit Auspacken. Aber ich habe sowieso keine Lust darauf. Ich muss Mama sagen, wie gemein es ist, einfach an mein Handy zu gehen. Aber wie mache ich das am besten, ohne dass es gleich wieder Streit gibt?

Als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffne, sitzt sie mit ihrer Kamera auf dem Fußboden und starrt auf einen Riss, der dort in der Wand zu sehen ist. Neben ihr steht eine dampfende Tasse Kaffee, es läuft Klaviermusik. Ich kenne die, Mama hört sie oft, aber ich weiß nicht, wie sie heißt.

»Ich dachte, du packst aus!«

»Du, Luke, ich glaube, das Haus inspiriert mich.«

Dann legt sie sich bäuchlings auf den Boden und robbt noch weiter an die Wand heran. Sie hat dort etwas entdeckt, das sie fotografieren will, etwas, das sonst keiner sieht. Fotografieren ist eine Lieblingsbeschäftigung von Mama. Wenn sie fotografiert, geht es ihr gut. Wenn ich jetzt mit der Telefonnummer anfange, ist es gleich wieder vorbei mit der friedlichen Stimmung. Ich will nicht derjenige sein, der Mamas Inspiration stört. Was Inspiration genau ist, weiß ich nicht so genau. Mama ist allerdings immer auf der Suche nach ihr. Vielleicht ist es besser, später mit Mama über die Telefonnummer zu reden.

»Du, Luke, kannst du einkaufen gehen? Der Zettel liegt schon in der Küche.«

Die Haustür fällt mit einem lauten Knall hinter mir ins Schloss und dann muss ich erst mal kurz nachdenken. Ich war nicht drauf vorbereitet, dass es hier, vor dem Haus, auch ganz anders aussieht als dort, wo ich zuletzt gewohnt habe.

Wo war gleich noch mal der Supermarkt? Irgendwo da unten, die Straße runter, vorgestern waren wir schon mal dort. An einem Imbisswagen haben wir Abendessen geholt, Mama Frühlingsrollen, ich Nummer dreiundsechzig, groß, mit Nudeln. Obwohl diese Gegend nur ein paar Straßenbahnstationen entfernt von meinem alten Zuhause liegt, sieht es hier aus wie in einer anderen Stadt. Immerzu ist jetzt alles neu. Neue Schule, neue Klasse und nach den Herbstferien hab ich auch noch einen neuen Schulweg, weil wir jetzt umgezogen sind. »Umgezogen«, sage ich leise vor mich hin. Komisches Wort.

Vor dem Supermarkt stelle ich fest, dass ich weder einen Einkaufschip noch eine Münze dabei hab. Es muss also ohne Einkaufswagen gehen. Steht viel auf dem Zettel? Kartoffeln und … Ich kann Mamas Schrift nicht lesen. Hundert Mal hab ich ihr gesagt, dass sie in Druckschrift schreiben soll. Das Wort in der letzten Zeile könnte Joghurt heißen, aber der Rest … Dann kauf ich eben das, worauf ich Lust hab. In der Milchecke finde ich einen leeren Karton, das ist jetzt mein Einkaufswagen. Eier brauchen wir bestimmt. Wir könnten Eierkuchen machen. Haben wir noch Mehl? Egal, nehm ich auch mit. Der Karton wird immer voller und schwerer, meine Avocadocreme-Armmuskeln müssen ran. Und jetzt noch Cola, das heißt doch Cola hier auf dem Zettel? Gut, es könnte auch Hefe heißen, aber ich lese eindeutig Cola. Die Getränkeabteilung ist menschenleer, ich beuge mich hinunter zum untersten Regal, da wo die Colaflaschen stehen, große Anderthalb-Liter-Flaschen, genau die, die Mama nicht leiden kann. Ich aber schon.

Plötzlich

taucht

mitten

im

Regal

hinter

den

Flaschen

ein

irres

Gesicht

auf

und

brüllt

mich

an!

Ich knalle vor Schreck rücklings auf den Hintern. Mein Herz rast, die Eier springen aus der Verpackung, drei von ihnen landen mit einem Pflörz auf dem Boden und zerbrechen. Und ich sitze selber da wie ein riesiges Spiegelei. Ich schwöre, es ist wahr: Da hockt ein Mädchen im Regal. Sie hält sich den Bauch vor Lachen. Sie zeigt mit dem Finger auf mich und lacht sich schlapp.

»Geht’s noch!«, brülle ich. Also besser gesagt, ich will brüllen, heraus kommt eher ein Piepsen. Wie eingefroren starre ich in das Regal, aus dem das Mädchen jetzt umständlich herausklettert. Zuerst kommen riesige rote Boots zum Vorschein, dann steht sie vor mir, immer noch lachend. Sie hält mir ihre Hand hin, um mich hochzuziehen. Ihren Arm ignorierend schraube ich mich in die Höhe, aber elegant sieht das bestimmt nicht gerade aus. Sie kneift mich in den Arm.

»Aua!«

»Beweis abgeschlossen«, sagt das Mädchen und stemmt die Hände in die Hüften.

Die spinnt doch total!

»Was für ein Beweis?«

»Dass du lebendig bist.«

»Das wusste ich vorher schon.«

Mit der Schuhspitze schiebe ich die drei kaputten, glibberigen Eier zusammen, so muss ich das Mädchen wenigstens nicht angucken.

»Eben hast du nicht lebendig ausgesehen, eher so, als hättest du einen Gürtel um dein Gesicht geschnürt.«

»Häh?«

»Als ob du gar nicht mehr weißt, was du eigentlich hier willst.«

Die redet ja total wirres Zeug. Natürlich weiß ich, was ich hier will!

»Ich kaufe hier ein«, sage ich. Hilfe, das hört sich bescheuert an.

Ihre Klamotten sind voll schräg, sie trägt eine kurze Hose über der Jeans und ein weites T-Shirt über ihrer Kapuzenjacke drüber. Die Jeans sind über den Knöcheln abgeschnitten, sodass man die riesigen Schuhe gut sehen kann. An ihrem T-Shirt hängt ein großer Anstecker, voll mit kleinen, glitzernden Steinchen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so herumläuft! Und ihre Haare sind total verfilzt, als ob sie sich nie kämmen würde.

»Du hast mich mega erschreckt! Was, wenn ich jetzt einen Herzinfarkt gekriegt hätte?«

Sie winkt ab. »So schnell geht das nicht.«

»Wer hat einen Herzinfarkt?«, fragt plötzlich eine Stimme hinter mir.

Ich dreh mich um, hinter mir steht ein anderes Mädchen, über meinen Kopf hinweg klatscht sie sich mit der Verrückten ab. Dann bauen sich die beiden vor mir auf.

»Was ist los, Erdmute?«

Erdmute? Hat sie wirklich Erdmute gesagt?

»Heißt du so?«, frage ich und guck sie ungläubig an.

Beide lachen schallend los. Am liebsten würde ich auf der Stelle auf den glibbrigen Eiern davonsurfen, am besten gleich nach hinten zur Flaschenabgabe. Luke, die Flasche.

»Sieglinde, sag, heiß ich Erdmute?« Das Mädchen stemmt die Hände in die Hüften und guckt gespielt erstaunt.

»Aber sicher, meine teuerste Erdmute. Und wo ist eigentlich Kunigunde?«

Da kichert es hinter mir, ich zucke schon wieder zusammen. Ein drittes Mädchen stellt sich neben die beiden. Drei gegen einen. Wenn jetzt wenigstens Julian und Carlo hier wären! Was sind die? Außerirdische? Eine Supermarktbande?

»Kunigunde ist zurück«, sagt das erste Mädchen, also diese Erdmute. Und wie hieß noch mal die dritte … Ich merke, wie sich ein Knoten in meinem Gehirn bildet.

»Was ist denn das für eine Sauerei?!« Nun baut sich auch noch eine Verkäuferin vor uns auf. Da rennen die drei einfach los und raus aus dem Supermarkt und lassen mich mit Eipampe und Verkäuferin stehen.

»Als ob man nicht schon genug zu tun hätte! Die schönen Eier!«

»Ich mach das weg«, sag ich leise.

»Hau bloß ab, bevor hier noch mehr passiert.«

Ich schnappe meinen Einkaufskarton und gehe mit zitternden Beinen zur Kasse. Ich fühle mich, als wäre ich drei Runden Geisterbahn gefahren. Draußen vor dem Supermarkt ist von den Dreien nichts mehr zu sehen.

Ich glaube, wir sind in einem Paralleluniversum gelandet«, sag ich kauend zu Mama. Den Teller mit dem Abendbrot balancieren wir auf unseren Knien, weil der Küchentisch immer noch nicht aufgebaut ist. Sein viertes Tischbein ist spurlos verschwunden.

»Was meinst du?«

»Ich habe heute drei echt bekloppte Mädchen im Supermarkt gesehen.«

»Drei auf einmal?«, fragt Mama. »Glaub ich dir nicht.« Sie stochert lustlos im Essen. Es ist so still in dieser chaotischen Küche, so still, dass es in den Ohren braust.

»Du, Luke, in welchem Karton ist eigentlich das Radio?«, fragt Mama, so als wäre ihr die Stille auch plötzlich aufgefallen. Früher hat Annette immerzu neue Musik mit nach Hause gebracht, und wenn ich so zurückdenke, hat sie eigentlich immer am meisten geredet. Über alles Mögliche.

»Mama«, sag ich.

»Ja.«

»Wann darf ich Annette besuchen?«

Jetzt ist es passiert. Jetzt hab ich ihren Namen ausgesprochen.

Mama lässt ihre Gabel auf den Teller fallen, es klirrt. Sie erschrickt selbst über den Lärm, den die Gabel macht.

»Wir sind gerade mal zwei Tage hier!«

»Ja. Aber, ich, ich vermisse sie!«

Mama guckt zur Seite.

»Ich könnte sie besuchen und mir zeigen lassen, wie man einen Vorhang am Fenster anbringt, und mir ihre Bohrmaschine borgen. Dann hättest du auch was davon. Das wär doch was!«

»Luke, ich will jetzt nicht darüber reden. Du kannst Annette besuchen. Natürlich. Wenn es an der Zeit ist.«

»Ich will sie aber jetzt sehen.«

Mama schweigt.

Jetzt muss ich die Sache mit Annettes Nummer ansprechen. Gleich mache ich es. Gleich.

»Aber was ist denn nur passiert, Mama?«

»Das verstehst du noch nicht, Luke.«

»Dann erklär es mir doch endlich mal.«

»Du bist ein Kind, wir sind Erwachsene. Das ist eine Sache zwischen mir und Annette. Wir müssen das unter uns klären.«

»Hast du Annette überhaupt nicht mehr lieb?«, frage ich, so leise ich kann.

Mama beißt sich auf die Lippe. So traurig wie jetzt in diesem Moment hab ich sie noch nie gesehen.

»Doch«, flüstert Mama. »Ich hab Annette lieb. Das ist ja das Problem.«

Und dann fängt sie an zu weinen. Und jetzt versteh ich noch weniger. Wenn sie Annette noch lieb hat, wieso ziehen wir dann von ihr weg?

Jetzt muss ich was sagen wegen dem Handy. Jetzt oder nie. Ich nehme allen Mut zusammen und will gerade anfangen, da steht Mama auf und geht in ihr Zimmer. Im Vorbeigehen gibt sie mir einen Kuss auf den Kopf.

Soll ich ihr nachgehen? Aber vielleicht wird sie dann noch trauriger, wenn ich damit anfange? Muss denn immer alles so kompliziert sein!

Mit Daumen und Zeigefinger schnipse ich den Rest meines Backcamemberts von meinem Teller. Er segelt durch die Küche und landet auf einem Karton, auf dem sich daraufhin ein Fettfleck ausbreitet. Ich seufze laut. Dann bleibt wohl der Abwasch an mir kleben.

Ich nehme absichtlich zu viel Spülmittel, ich mag es, wenn eine Schaumschicht über dem Wasser steht. Ich stell mir vor, ich würde mich selbst in einer großen Schaumwolke befinden, rings um mich her nichts als Schaum. Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Riesen durch die Schaumwolke fliege, er hält mich an der Hand, die andere Hand hat er nach vorn ausgestreckt, wie Superman. Mein Riese ist mein Geheimnis. Julian und Carlos würde ich nie was von meinem Riesen erzählen, weil sie mich dann bestimmt auslachen würden. Mit zehn Jahren denkt sich keiner mehr Geschichten mit Riesen aus. Das behalte ich lieber für mich. Wenn ich Mama früher von den Riesen-Geschichten erzählt habe, sagte sie immer: Die sind so schön, Luke. Annette hingegen hat gelacht und gefragt: Wann haste dir das denn ausgedacht? Ich wette, keine von beiden ahnt, dass ich immer noch von meinem Riesen träume. Aber ich werde es ihnen auch nicht erzählen, das haben sie jetzt davon. Wenn sie nicht reden, mach ich es auch nicht.

Ein Zipfel des blauen Abwaschlappens guckt aus dem leise knisternden, weißen Schaum heraus. Manchmal sind die Abwaschlappen rot und manchmal grün, die blauen mag ich am liebsten. Auf der Küchenzeile ist gerade so viel Platz frei, dass ich das gespülte Geschirr auf einem Handtuch zum Abtropfen stellen kann. Der Rest ist vollgestellt. Wie jeder freie Platz hier. Mama hat einige Umzugskartons geöffnet, weil sie bestimmt was gesucht hat. Sie hat wahllos Dinge ausgepackt und sie draußen liegen lassen. Neben der Pfanne liegt ein Föhn, dann kommt Schuhputzzeug, dann ein Stapel Bücher und ein Fotoalbum. Wie sollen wir es jemals schaffen, dass jedes Ding an seinen richtigen Platz kommt? Aber wer legt eigentlich fest, was der richtige Platz ist? Mein Blick fällt auf einen Müllsack, der ist schon nach zwei Tagen randvoll und müffelt.

Der Hausflur kommt mir vor wie eine Tropfsteinhöhle. Die Stufen, die zum Dachboden führen, sind vollgestellt mit Kram. Ganz bestimmt gibt es da oben kein Leben, außer vielleicht Mäusen. Vielleicht waren es Mäuse, die ich in der Nacht gehört habe. Aber Mäuse haben keine Schuhe an. Ich habe doch Schritte gehört, oder? Aber vielleicht habe ich es auch nur geträumt.

Ich lasse den Müllsack hinter mir die Stufen runterhopsen. Unten an den Briefkästen scheppern die alten Bodenfliesen leise, wenn ich darüberlaufe. Das ist ein schönes Geräusch. Ich bleibe stehen und lausche, es ist fast unheimlich still. Kein Laut dringt aus den Wohnungen. Und da höre ich mit einem Mal ein leises Miau