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Ein biografischer Roman über eine moderne, selbstbewusste Kölnerin zur Zeit des politischen Umbruchs. Köln in den 1930er Jahren: Das Nachtleben sprüht vor Freizügigkeit und Kreativität. Frauen entdecken Selbstbestimmtheit und Freiheit. Die quirlige Künstlerszene dreht dem bürgerlichen Karneval auf ihren »Lumpenbällen" eine lange Nase und bildet einen Gegenpol zur sich radikalisierenden politischen Stimmung. Für die junge Fanny, Puppenspielerin am Hänneschen-Theater, wird es ihr erster und letzter Lumpenball sein, denn ihre Welt verändert sich über Nacht dramatisch.
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Seitenzahl: 406
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Marina Barth ist Jahrgang 1960, verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und eine Schwiegertochter. Die Kabarettistin ist seit 2001 Chefin des Klüngelpütz-Theaters, der »kultigsten Kabarettbühne Kölns«, Theater- und Buchautorin, Regisseurin, Moderatorin und historische Stadtführerin der besonderen Art. Vor drei Jahren schrieb sie ein Stück für das Hänneschen-Puppentheater der Stadt und begegnete dort der Protagonistin des vorliegenden Romans.
Dieses Buch ist ein Roman, die Handlung ist frei erfunden, jedoch eingebettet in ein zeitgenössisches Umfeld. Einige Personen, u.a. die Protagonistin Fanny Meyer, haben gelebt und Spuren in Köln und darüber hinaus hinterlassen. Ihre Charaktere und Handlungsweisen entspringen jedoch der Phantasie der Erzählerin. Mehrere Vorkommnisse haben sich nachweislich so oder so ähnlich ereignet, wurden aber aus dramaturgischen Gründen zum Teil neu zusammengesetzt.
© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/mauritius history Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-242-7 Historischer Roman Originalausgabe
Der Abdruck der Fotografie im Nachwort erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hänneschen-Theaters Köln.
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.
Es ist eine jüdische Tradition, keine Blumen auf die Gräber der Lieben zu legen. Keine Lebensbäume oder Stiefmütterchen zu pflanzen. Sondern bei einem Besuch einen kleinen grauen Kiesel auf den Grabstein zu legen.
Als Erinnerung.
Vielleicht so, wie der Hirte einst für jedes seiner Schafe einen kleinen Kiesel in seinen Beutel legte. Damit er sie zählen konnte und keines verloren ging.
Ein kleiner Stein als Verbindung zu einer Gemeinschaft.
Oder als Keil, damit der Grabstein sicher an seinem Platz bleibt.
Dieses Buch ist ein kleiner Stein.
Ein Kiesel aus dem Flussbett des Rheins in Köln.
Wo Fanny Heineberg, geborene Meyer, zu Hause war.
Ein Grab hat sie nicht.
4.JANUAR 1933
Ich las zum hundertsten Mal die in sorgfältigen Buchstaben auf eine Weihnachtskarte gemalten Worte.
Fräulein Fanny Meyer
Luxemburger Straße 285b
Köln
Ich musste lächeln und strich vorsichtig mit dem Finger darüber. Beim prüfenden Blick in den Spiegel setzte ich mir den schwarzen Glockenhut aufs rechte Ohr und zupfte auf der linken Seite eine widerspenstige Haarsträhne ins Gesicht. Unwillkürlich streckte ich meinem Spiegelbild die Zunge heraus.
Zu pausbackig, zu kindlich und viel zu wenig interessant!
Noch über eine Stunde Zeit. Trotzdem schlüpfte ich schon in die schwarzen knöchelhohen Stiefeletten mit Kaninchenfell und schnürte sie sorgfältig zu. Es war kalt im Flur. Am Fenster wuchsen Eisblumen in kunstvollen Mustern über die Scheibe.
Ich hauchte fest auf die eisige Scheibe und rieb eine kleine Fläche im Blumenmuster frei, um hinunter auf die Straße gucken zu können. Draußen war es bereits dunkel, nur wenige Menschen gingen am Nachmittag des 4.Januar 1933 ihren Geschäften nach. Dick vermummt eilten sie durch die Kälte, um sich möglichst rasch am heimischen Ofen wohlig ausstrecken zu dürfen.
Die, die daheim einen warmen Ofen hatten.
Massen von Bettlern waren vor Weihnachten überall in den Straßen zu sehen gewesen, endlos lange Schlangen ausgezehrter Gesichter hatten vor den Suppenküchen und Notschlafstellen gestanden. Ich schämte mich oft, dass ich mitunter einfach weggesehen hatte, weil es zu viele waren und weil ich nicht wusste, was man sonst hätte tun können.
»So viel Elend«, hatte Vater gestöhnt, »man weiß nicht, wie das weitergehen soll! Und die Kommunisten mit ihrem Geschrei machen die Sache auch nicht besser.«
Es ist erst der 4.Januar, dachte ich, da sind die Weisen aus dem Morgenland noch unterwegs und müssen Tag und Nacht dem Stern folgen, bis sie übermorgen endlich ankommen.
Ich mag solche uralten Geschichten. Sie lassen diese komplizierte Welt für einen Augenblick etwas übersichtlicher werden. Als wisse jeder von uns, was zu tun ist. Da ist der Stern, in diese Richtung gehen wir… und wir haben die Gewissheit, anzukommen. Eine schöne Vorstellung.
Zwar war Vater gleich am Montag wieder ins Geschäft gegangen, und auch ich musste heute wieder ins Theater, doch die feiertägliche Verschlafenheit wollte noch nicht so schnell aus der Stadt weichen. Gegenüber waren hinter der Fensterscheibe noch weihnachtliche Kerzen angezündet und beleuchteten schwach die dort aufgestellten Krippenfiguren, die sich durch die zuckenden Flammen zu bewegen schienen, als seien sie auf der Wanderung.
Die Elektrische kreischte heran und hielt wenige Meter vom Haus entfernt, allerdings in der falschen Richtung. Ich musste in die Bahn stadtauswärts steigen, und die kam erst in zwanzig Minuten. Die Uhr in der Wohnstube schlug zweimal: halb vier. Um drei viertel wollte ich los. Noch eine Viertelstunde. Wie die Zeit kriecht, wenn man friert und wartet!
Vom Rand her fror die freigeblasene Stelle am Fenster langsam wieder zu. Immer kleiner wurde das Guckloch, und eine neue eisige Blüte begann ihre zarten Blätter über die freie Fläche auszustrecken. Ich band mir den dicken wollenen Schal um und suchte nach Muff und Tasche. Wieder strich ich über die Karte.
Liebste Fanny!
Du wirst Augen machen, wenn Du diesen Gruß bekommst, denn vom4. bis 6.Januar bin ich in Köln und besuche die Mutter. Was sagst Du? Ich freue mich so, meine liebste beste Fanny bei dieser Gelegenheit wiederzusehen, und möchte unbedingt mit Dir ins Puppenspiel kommen. Hol mich am 4.Januar einfach am Stadtwaldgürtel bei der Mutter ab!
Voller Aufregung und Vorfreude
Deine Frieda
Seit Kindertagen waren wir beste Freundinnen. Unsere Eltern hatten im selben Haus gewohnt, Friedas in der ersten Etage und meine in der zweiten, da, wo wir immer noch leben. Wir Mädchen waren unzertrennlich und teilten alle Geheimnisse.
Frieda hatte dicke blonde Zöpfe und ich braune, an Sonntagen mit großen weißen Schleifen. Frieda trug ein blaues Kleid mit einer roten Schürze und ich ein rotes mit einer blauen. Was die eine hatte, wollte die andere auch. Wir waren wie Zwillinge. Beide hatten wir den ganzen Sommer über das Knie an der gleichen Stelle aufgeschrappt, wie unsere Mütter kopfschüttelnd bemerkten.
Wir besuchten die gleiche Schule, wir schwärmten für denselben jungen Mann, einen Assessor von gegenüber mit vorwitzigem Schnauzbart, der leider an der Spanischen Grippe verstarb. Oder Gott sei Dank, so mussten wir nicht um ihn streiten… Der arme Herr Assessor! Wir waren versessen auf Milchreis mit Zimt und Zucker und banden als junge Mädchen unsere Kopftücher neckisch im Nacken, weil es gerade große Mode war.
Als Frieda im Park des weißen Wasserschlösschens von einer Kreuzotter gebissen wurde, rannte ich zu Tode erschrocken um ihr Leben, um den Vater herbeizuholen, der der schreienden Frieda kurz entschlossen kreuz und quer das Bein aufschnitt und die Wunde aussaugte, um ihr damit das Leben zu retten. Friedas Eltern waren voller Dankbarkeit, obwohl ihre Tochter seither hinkte, weil das Bein nie mehr ganz heil wurde.
»Zum Glück für uns alle hat sie trotzdem einen Mann gekriegt«, hatte Friedas Mutter am Polterabend erleichtert erklärt. Den Helmut, der ein feiner Kerl war, obwohl er nicht viel sprach.
Wir hatten im Krieg gemeinsam gebangt, ob unsere Väter von der Somme zurückkehren würden, und gemeinsam getrauert, als Friedas Papa für immer fortblieb. Mit Begeisterung war auch er fürs Vaterland in den Krieg gezogen, geradewegs ins Giftgas hinein. Ich schob den Gedanken daran, wie er wohl gestorben sein mochte, immer weit von mir. Vater hatte nie ein einziges Wort darüber verloren.
Frieda und ich hatten uns jetzt fast drei Jahre nicht mehr gesehen. Seit Frieda mit Helmut nach Heppenheim gezogen war. Wegen der vielen Arbeitslosen und Kriegsveteranen gingen die Weingeschäfte in Köln immer schlechter.
»Im Baugeschäft müsste man sein«, hatte Friedas Mann Helmut seufzend gesagt, »wo doch die ganzen Kriegsversehrten von ihrer Versehrtenrente Häuser bauen dürfen!« Draußen am Stadtrand gebe es bereits ganze Straßenzüge für die Einbeinigen und welche für die mit nur noch einem Arm. Er habe es mit eigenen Augen gesehen, hatte er erzählt, und dann war er weggezogen mit Frieda. An die Weinstraße.
Und heute ist sie wieder da– als ob sie niemals weg gewesen wäre!, freute ich mich wie eine Königin, wenn ich daran dachte, was ich ihr alles zu erzählen hatte. Ich knöpfte jetzt eilig den schweren Tuchmantel zu, denn es war allerhöchste Zeit, zur Bahn zu gehen.
»Wiedersehen, Mama!«
»Wiedersehen, Kind! Grüß mir die Frau Schröter«, kam es zurück.
Ich eilte die hölzerne Stiege hinab durch das eisige Treppenhaus und schlug die Haustür zu.
Die Luxemburger Straße lag dunkel vor mir, nur schwach von einigen Gaslaternen beleuchtet. Von der Haltestelle aus konnte ich die Mauer des weißen Wasserschlösschens sehen, wo wir Kinder immer im Park gespielt hatten, obwohl es damals noch verboten war. Inzwischen öffnete der Besitzer des »Weißhauses« manchmal die Tore seines Parks und erlaubte eine öffentliche Nutzung. Seit der kleine See zugefroren war, fanden sich alle Kinder des Viertels zum Schlittschuhlaufen ein.
Heute Abend, an einem der letzten Tage der Weihnachtsferien, hatten Erwachsene sogar ein paar Fackeln aufgestellt und drehten mit ihren Kindern eine späte Runde auf dem Eis. Ihr Lachen lag in der Luft, genau wie die schwere Rauchwolke aus zahlreichen Kaminen. Es war windstill. Die Luft wurde nach unten gedrückt, sodass der Rauch unbeweglich an den Schornsteinen kleben blieb wie auf einer Fotografie. Man roch die Feuer, schmeckte die Asche auf der Zunge, und wer ein weißes Hemd trug, fand die Rußspuren schon bald am Kragen.
Die Bahn kam, und ich stieg ein. Der Schaffner zwinkerte mir zu. »Na, Verehrteste, fahren wir heute nicht in die falsche Richtung?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf und verriet ihm, während er einen Fahrschein für mich abriss, dass ich heute vor der Vorstellung meine Freundin Frieda abholen müsste. Abholen wollte. Abholen durfte! Mein Herz hüpfte, und das Lächeln platzte mir zwischen den Worten immer wieder aus dem eingefrorenen Gesicht. Der Schaffner lächelte freundlich zurück und zapfte mit Daumendruck die Retourpfennige aus seinem Münzwechsler. Noch ehe die Bahn anruckte, hing ich schon wieder meinen Gedanken nach, die wie vergessenes Herbstlaub hinter der Stirn herumsegelten.
Wie schnell wir erwachsen geworden waren, wie nah die Kindheitserinnerungen plötzlich rückten, seit Friedas Karte im Postkasten gelegen hatte. Und dass sie mich inzwischen mit »Verehrteste« ansprachen! Ich musste schon wieder grinsen.
Die Elektrische bog in den Sülzgürtel ein.
Kurz nach der Überquerung der Dürener Straße wurde meine Aufmerksamkeit von einer kleinen Wagenkolonne in Anspruch genommen. Drei vornehme schwarze Wagen hielten direkt hintereinander am rechten Straßenrand.
Die wenigen Fahrgäste in der Bahn drückten sich die Nasen an der Scheibe platt.
»Ist da der Erzbischof?«, fragte eine alte Dame hinter mir und erhielt keine Antwort. An der Kreuzung Aachener Straße/Gürtel musste ich aussteigen und ging zur Tür. Kalte Luft schlug mir von draußen entgegen, als der Schaffner die Tür öffnete.
Die drei Automobile waren von hier aus gut zu sehen. Ihre Chauffeure hatten sich kerzengerade neben die Fahrzeuge gestellt und legten die Hand an die Mütze. Wichtig aussehende Herren mit Hüten, Handschuhen und langen Wintermänteln kamen aus einer vornehm illuminierten Villa auf der gegenüberliegenden Seite des Stadtwaldgürtels. Sie überquerten die Straße, nachdem die Bahn weitergefahren war. Ein etwas Kleiner mit neckischem Bärtchen auf der Oberlippe kreuzte direkt meinen Weg.
»Bitte nach Ihnen, gnädiges Fräulein!«, sagte er galant und ließ mir den Vortritt.
Mit einem steifen »Danke schön« ging ich weiter Richtung Aachener Straße zum Haus von Friedas Mutter. Gnädiges Fräulein! Was fällt dem denn ein?, dachte ich spöttisch. Der kleine Herr stieg als Letzter in seinen Wagen.
Ich blieb einen Moment stehen und sah den Männern nach. Da bemerkte ich hinter einem Mauervorsprung eine Gestalt mit karierter Schlägermütze und Fotoapparat, die versuchte, ungesehen einige Aufnahmen zu machen.
Wohl ein ganz prominentes Herrengeschwader, überlegte ich. Der eine, der Kleine, war mir bekannt vorgekommen. War das der Erzbischof? Nein, aber irgendwo war mir das Gesicht schon mal begegnet. Bloß wo?
Die Kälte drang durch die Sohlen meiner Stiefel. Schnell weiter.
Nach nur wenigen Schritten hatte ich mein Ziel erreicht und zog die Türglocke. Aufgeregte Stimmen jenseits der Tür wurden laut, und dann wurde die schwere dunkle Holztür mit Schwung aufgerissen.
»Fanny!«
Im nächsten Augenblick lagen wir uns in den Armen.
Frieda war ein wenig runder geworden, was ihr ausgezeichnet stand, und hatte ihr langes blondes Haar in einer kunstvollen Rolle im Nacken festgesteckt. Sie strahlte und wirkte auf der einen Seite so vertraut, als sei sie niemals fort gewesen, und auf der anderen Seite seltsam fremd. Als sei sie viel älter als ich. Viel gesetzter. Erwachsener. Wir spazierten Arm in Arm in die gute Stube, um Friedas Mutter unsere Aufwartung zu machen, die im Ohrensessel am Ofen saß und strickte.
»Guten Abend, Frau Schröter, ein gutes neues Jahr wünsche ich noch!« Ich streckte ihr artig knicksend die Hand entgegen. »Und einen lieben Gruß soll ich natürlich ausrichten, von der Mutter.«
»Hoffentlich kommt endlich mal was Gutes«, sagte die zarte Gestalt am Feuer und zog die karierte Wolldecke enger um die Schultern. »An der Zeit wäre es wohl! Gut schaust du aus, mein Kind. Wie geht es den Eltern? Ein Segen, dass du deine Anstellung bei der Stadt noch hast, in diesen Zeiten!«
»Ja, Frau Schröter, da bin ich auch froh. Der Papa arbeitet zu viel.«
»Und mein August ist jetzt schon fünfzehn Jahre tot! Kinder, wo ist die Zeit bloß hin?« Frau Schröter seufzte. »Willst du denn gar nicht heiraten, Fanny? Das Alter wäre doch da.«
Frieda zog mich aus der Tür, bevor ich antworten konnte. »Wir müssen los, Mutter. Fanny muss pünktlich im Theater sein. Oder sagt man: auf dem Theater?«
»Wir sind nur eine kleine Puppenbühne. Klein, aber oho! Ich freu mich so, dass du unser Krippenspiel noch sehen kannst! Es ist schön geworden. Ich spiele die Mariezebell, und wenn es losgeht, singen wir ›Tochter Zion, freue dich‹ vierstimmig, da läuft mir jeden Abend eine Gänsehaut über den Rücken, so schön ist es. Aber du wirst schon sehen! Und hören.«
Während wir plauderten, zog sich Frieda ihre Stiefel und den Mantel an, zupfte ein wollenes Kopftuch tief ins Gesicht und griff nach ihren Fäustlingen.
»So stadtfein wie du bin ich natürlich nicht!«, rief sie zwar lachend, aber mit schrägem Blick auf meine Fellstiefelchen, den schwarzen Samtmuff, der auch mit weichem Kaninchenfell ausgeschlagen war, und den modischen Hut. Ich lachte etwas angestrengt mit. Was hätte ich sagen sollen?
»Nein, sag mal– du hast ja die Haare abgeschnitten! Das glaube ich ja nicht. Du hast deine Haare abgeschnitten. Stimmt’s, Fanny? Einen Bubikopf hast du! Das würde ich mich nie trauen.«
Verlegen wiegelte ich ab. »Das ist doch nichts Besonderes, es haben ganz viele Frauen kurze Haare. Und so kurz sind sie auch gar nicht. Komm, wir müssen zur Bahn, sonst verpassen wir sie noch! Richtig dicke Wollstrümpfe hast du an, oder? Im Theater bleibt der Boden kalt, auch wenn ordentlich eingeheizt wird.«
Wir verließen rasch das Haus und bogen vom Gürtel rechts in die Aachener Straße ein, um dort die Straßenbahn Richtung Neumarkt zu nehmen. Jetzt waren kaum noch Leute auf der Straße, und im Schein der wenigen Straßenlaternen sah man einige Schneeflöckchen tanzen.
Als wir in die Bahn einstiegen, waren wir die einzigen Fahrgäste.
»Die Leute haben kein Geld. Wie lange geht das jetzt schon so? Jeder Vierte arbeitslos! Zum Glück kommen sie noch ins Puppentheater, eine Abwechslung will jeder haben– gerade schlechte Zeiten sind gute Zeiten fürs Theater, sagt der Herr Direktor immer. Der Mensch will das Elend mal vergessen. Wenigstens für eine kurze Weile.«
Frieda nickte. »Es muss wieder besser werden! Der Helmut sagt immer, mit den Nationalsozialisten kommt eine bessere Welt. Die tun wenigstens was für die kleinen Leute. Dass jeder Arbeit hat und leben kann. Mehr will doch gar keiner. Die gewinnen immer mehr Wahlen, sagt der Helmut, und dann geht’s bald aufwärts.«
Ich schwieg einen Moment überrascht, doch dann schüttelte ich den lästigen Gedanken ab. Stattdessen schwelgte ich mit Frieda in Erinnerungen. Dieses Terrain barg weniger Klippen als die unselige Politik. Jeder Satz wollte mit »Weißt du noch…?« begonnen werden und endete erwartungsgemäß mit Gelächter. Der Bahnschaffner schmunzelte mit.
»In nomine Dei… Weißt du noch, der havarierte Nachen mit Moselwein?«
Ich prustete los, denn ich konnte mich sehr genau erinnern.
»Kistenweise ist der gute Tropfen im Rhein geschwommen! Wie die ganze Stadt mit Waschkesseln und Einmachgläsern den Wein nach Hause schleppte! Gerade waren die britischen Besatzer verschwunden, da tanzten alle Kölner auf der Straße und füllten jede Milchkanne mit köstlichem Wein.«
»Oder verkosteten ihn gleich vor Ort«, warf Frieda ein.
»Ich werde es niemals vergessen. Es war der 5.Juli 1926, und die ganze Stadt war tagelang betrunken. Sogar die Polizei! Zwei Tote hatten wir durch Alkoholvergiftung, und zwei sind besoffen im Rhein ertrunken, hat es geheißen. Unfassbar! Weißt du noch, Elses Bruder? Wie der splitterfasernackt auf einem leeren Weinfass stand und tanzte?«
Wir lachten, bis uns die Bäuche wehtaten.
»Und weißt du noch– der Rosenmontagszug? Ein Jahr später muss das gewesen sein. Als es so unfassbar kalt war? Weißt du noch, wie dem Trompeter die Trompete an den Lippen festgefroren ist? Wir hatten bestimmt fünfundzwanzig Grad– minus. Und der arme Kerl wusste nicht, was er machen sollte, um sich nicht die ganze Haut von den Lippen zu reißen. Lena ist mit heißem Wasser aus ihrer Gastwirtschaft gerannt gekommen, um ihn wieder loszueisen. Nie vergesse ich das!«
Zwischen Hahnentor und Neumarkt wies ich auf eine große Baustelle, die jetzt im Winter stilllag. »Sie wollen hier die Straße verbreitern. Vielleicht fangen sie ja wirklich an, die besseren Zeiten. Das Gute kommt manchmal unverhofft, so wie eine Ladung kostenlosen Moselweins nach Hungerjahren. Komm, wir steigen am Neumarkt aus und laufen von da zur Sternengasse. Da kann ich noch bei Herrn Schubert vorbeigehen.«
»Herr Schubert– soso!« Frieda drohte schelmisch mit dem Finger. »Will das Fräulein Meyer etwa noch rasch einen Verehrer besuchen? Gut, dass sie ihre Anstandsdame dabeihat!«
Ich lachte artig und passte auf, dass es nicht wieder gekünstelt klang wie vorhin in der Wohnung. Ich musste an einige meiner Freunde denken und daran, was Frieda wohl sagen würde, wenn sie ihnen begegnete. Anstandsdame!
»Herr Schubert ist kein Verehrer, sondern eine Institution– wenn der wen verehrt, dann ist es wohl Heinrich Heine!« Ich fühlte aber trotzdem, wie mir eine leichte Röte ins Gesicht gestiegen war.
Rasch hatten wir den Neumarkt überquert und bogen unmittelbar vor der Apostelnkirche in die schmale Gertrudenstraße ein, direkt an der alten Römermauer. Gegenüber dem großen Versicherungsgebäude auf der rechten Seite schmiegten sich einige kleine Geschäfte aneinander. Lebensmittel Scheuren. Friseur Weber. Schuhmacher Peters. Pfeifen Schubert. Die Namen waren in Druckbuchstaben an die Hauswände gepinselt, und bei »Pfeifen Schubert« waren die beidenf jeweils durch eine aufgemalte Pfeife ersetzt. Kleine Schaufenster gewährten einen Blick ins Innere, und zwei Stufen führten zur Ladentür hinauf. Im Tabakladen brannte noch Licht, alle anderen Geschäfte hatten am Mittwochnachmittag geschlossen.
Die Ladenglocke spielte eine kleine Melodie, die mir immer ein Schmunzeln entlockte, seit ich wusste, dass es sich um die »Internationale« handelte, die hier unauffällig mit einer kleinen Spieluhr und in winzigen Fragmenten gespielt wurde.
»…hört die Signale…«, erklang es heute unschuldig, als wir in das winzige, behaglich warme Geschäft traten.
Angenehmer Pfeifenrauch hüllte Regale, Holztheke und ein gemütliches Sitzeckchen mit zwei abgeschabten Sesselchen ein. Rechts von den Sesselchen stand ein gusseiserner Ofen mit krummem Ofenrohr und einer brodelnden türkischen Mokkakanne darauf, auf der linken Seite stapelten sich Bücher, zerlesene Zeitungen und Hefte auf einer kleinen Anrichte. Eine warme Stimme drang aus der wohlriechenden Tabakwolke zu uns.
»Sieh an, da kommt sie doch! Und ich dachte schon, das Fräulein Meyer benötigt heute keine Tabakwaren. Da bin ich aber froh. Wo doch heute Mittwoch ist, und mit guten Gewohnheiten sollte man niemals brechen. Gott zum Gruße, die schönen Damen!«
Der schmale, nicht sehr große Mann mit feinem, sorgfältig gescheiteltem Haar über der Stirn hatte sich erhoben und musterte uns sichtlich erfreut aus hellgrauen Augen und mit verschmitztem Lächeln, ohne die Tabakspfeife aus dem Mund zu nehmen. Sein weißes Hemd war wie immer viel zu groß und musste mit zwei grau-blau gestreiften Ärmelhaltern und einer blauen Wollweste in Schach gehalten werden, damit die schmächtige Gestalt nicht ganz darin verschwand.
»Guten Abend, liebster Herr Schubert, natürlich komme ich am Mittwoch. Ich hätte gern sechs Stück, wie immer. Das ist meine Freundin Frieda, ich hatte Ihnen doch erzählt… wissen Sie noch?«
»Und ob ich noch weiß! Frieda, die Frau, die dem Gift der Kreuzotter die Stirn bot. Oder war es das Wadenbein? Jedenfalls ist sie siegreich aus der Schlacht hervorgegangen, in der weder Schmerz noch Angst sie einzuschüchtern imstande waren, ganz im Gegensatz zur kaiserlich-großdeutschen–«
»Keine Politik!«, schnitt ich ihm lachend das Wort ab. »Wir sind heute Abend nur auf der Durchreise. Wir schauen vielleicht morgen Mittag etwas ausgiebiger auf einen Kaffee vorbei.« Ich schnupperte Richtung Ofen. »Riecht ja großartig!«
Gustav Schubert zog mit übertriebenem Gestus seine Stirn in Kummerfalten und hob warnend den Zeigefinger. »…gefährliche Deutsche! Sie ziehen jederzeit ein Gedicht aus der Tasche oder beginnen ein Gespräch über Philosophie. Schon gut. Ich habe verstanden. Talentiertes Schweigen kann beredter sein als das feinst geschliffene Geschwätz.«
Er glättete seine Stirn genauso unvermittelt, wie er sie krausgezogen hatte, und zog mit seiner schmalen Hand bedächtig sechs »Eckstein Nummer fünf« aus einer Schachtel. Vorsichtig schob er sie in mein Zigarettenetui, das ich auf den Tresen gelegt hatte.
»So recht?«
»Du rauchst?« Frieda bekam kreisrunde Augen.
»Wie man’s nimmt«, sagte ich leichthin. »Mal ja, mal nein. Am Mittwoch allerdings eher ja!« Ich legte zwanzig Pfennige auf den Tresen und hakte Frieda unter. »Gute Nacht, Herr Schubert, heute haben wir wenig Zeit. Wir sind spät dran.«
Gustav Schubert sah uns schmunzelnd nach, seufzte und stopfte behaglich ein neues Pfeifchen.
»…auf zum letzten Gefecht…«, klimperte die Spieluhr der Ladentür, als diese sich hinter uns schloss.
Wir überquerten den Neumarkt jetzt nach Südosten und bogen zuerst in die Fleischmenger- und dann in die Sternengasse ein. Es wurde Zeit, die Glocke von Sankt Aposteln schlug schon drei viertel sieben herüber. Das stramme Laufen wärmte und ließ uns kleine Dampfwölkchen herauspusten.
Als wir am Rubenshaus in der Sternengasse Nummer10 angekommen waren, trennten sich unsere Wege. Frieda schritt mit anderen dampfenden Zuschauern durch die große zweiflüglige Bogentür, die von zwei stattlichen Säulen gesäumt war. Darüber stand: »Puppenspiele der Stadt Köln und Weinstube Rubens«.
Ich ging durch eine schmale Seitentür und stellte mir vor, wie Frieda drinnen ihren Mantel abgab und ein Billett kaufte. Neugierig würde sie sich in der Weinstube umsehen, die sich bereits mit erwartungsfrohen Menschen füllte. Stimmengewirr brodelte sicher schon in dem kleinen Raum mit der dunklen Holzvertäfelung wie in einer Gaststube.
Unser kleines Puppentheater verwies mit einigem Stolz darauf, dass man sich hier an einer der ersten Adressen der Stadt befand. Eine Gedenktafel berichtete von Peter Paul Rubens, der in diesem hochherrschaftlich wirkenden Hause der Grafen Groensfeld seine Kindheit verbracht haben soll. Gleich im Haus nebenan, dem Haus der Schumachergaffel, hatte sogar der siebenjährige Beethoven seinerzeit ein Konzert gegeben, und beim Nachbarhaus von Pelzhändler Jabach auf der anderen Seite, da soll dereinst Goethe eingekehrt sein. Maler und Kapellmeister hätten in der Sternengasse gewohnt, und sogar die Medici habe in ihren letzten Lebensjahren auf der Flucht vor Richelieu Heimat in der Sternengasse gefunden. All das konnte man auf der Tafel lesen, und Frieda war bestimmt beeindruckt.
Ich hatte noch zu gut in Erinnerung, wie Friedas Wangen im Turnunterricht immer geglüht hatten. Es war aufregend gewesen! Mir erging es immer so, wenn ich das Foyer vor einer Vorstellung betrat. Das feste Domizil der kleinen Kölner Puppenbühne war ein richtiges kleines Theaterchen, und es erfüllte mich jeden Tag mit einem gewissen Stolz, dazuzugehören.
Wir waren nicht irgendein Kasperletheater. Wir waren die traditionsreiche Kölner Puppenbühne, und die Menschen kamen in Scharen zu uns, seit uns Oberbürgermeister Adenauer durch die Aufnahme in städtische Dienste geadelt hatte. Genau genommen war ich erst seit dieser Zeit dabei. Ich hatte die kleine Winter’sche Wanderbühne nicht gekannt, die im Übrigen immer noch durch die Lande zog und sich als Ableger des städtischen Hänneschen-Theaters ausgab, was nicht so ganz stimmte und immer mal wieder zu Reibereien führte.
Dieses festlich gestimmte Menschengewusel! Gerade um diese Jahreszeit! Die weihnachtlich geschmückten Räume, der Tannenduft, gepaart mit Wachs und Kerzenflammen– all das rief tausend Kindheitserinnerungen wach. Gleich würde das Christkind läuten, und die Türen würden sich öffnen…
Ich erinnerte mich plötzlich an das erste Weihnachtsgeschenk, ein paar Skier, die der Großvater aus gebogenen Fassbrettern gemacht hatte. Liebevoll hatte er sie geschliffen und lackiert und lederne Schlaufen für die Schuhe festgeschraubt. Und richtig, jetzt läutete es tatsächlich! Ein Saaldiener bediente das Glöckchen und rief die Zuschauer herein in die gute Stube.
Die Menschen setzten sich in Bewegung.
Frieda schlug das Herz jetzt bestimmt bis zum Hals. Sie würde sich vorsichtig umsehen, ob die Menschen neben ihr etwas davon bemerkten, und ein wenig krampfhaft ihre Tasche festhalten. Mit den anderen Gästen würde sie auf einer der schmalen Holzbänke Platz nehmen. Ich wusste genau, wie sie jetzt aussah, meine Frieda! Gespannte Erwartung breitete sich im ganzen Saal aus, wenn das Licht ausgedreht wurde.
Der Vorhang ging auf und gab den Blick auf eine weihnachtlich geschmückte Stube frei. Ein anerkennendes Raunen angesichts des detaillierten Bühnenbildes ging durch die Reihen der Zuschauer. Kühn gestreifte Tapeten zierten die Wände einer winzigen Wohnstube, ein kleiner Weihnachtsbaum stand auf dem Tischchen am Fenster, wo die Gardinen mit weihnachtlich geschmückten Schleifen zur Seite gerafft waren. Ein Porträt an der Wand im kostbar verzierten ovalen Bilderrahmen und ein Kruzifix über dem kariert bezogenen Bettchen. Sogar an den Nachttopf hatte man gedacht.
So wie vorhin die Zuschauer ins Theater gekommen waren, kamen durch die kleine Tür, von einem Glöckchen geleitet, Hänneschen, Bärbelchen, die Großmutter und der Großvater im Sonntagsstaat herein und sangen.
»Tochte-her Zion, freu-ho-ho-ho-heue dich, ja-ha-ha-hauchze laut, Jeru-hu-hu-husalem!«
Liebevoll bis ins Detail angezogene Stockpuppen wurden vor den Augen des atemlos lauschenden Publikums durch uns Puppenspieler lebendig. Ein kleines Wunder, das sich jeden Abend erneut vollzog und auch für uns niemals seinen Reiz verlor. Der Großvater trug eine Uhrkette an der Weste, und die Großmutter hielt das Gesangbuch. Frieda würde mit Sicherheit sofort meine Stimme erkennen und doch nach wenigen Augenblicken vergessen haben, dass dies meine Stimme war. Nein, da sang für sie wie für alle anderen Mariezebell, die beste Großmutter von allen!
Los ging es. Eine Geschichte aus der guten alten Zeit. Ich hörte Frieda lachen über die Possen des Tünnes, kreischen bei den Frechheiten des Schäl und am Ende mit den Knollendorfern und den Menschen im Saal aus voller Brust glücklich »Stille Nacht« singen, sicherlich mit genauso feuchten Augen wie wir.
Erhitzt, nach nicht enden wollendem Applaus, ging ich schließlich mit den Kollegen hinaus ins Foyer, wo wir uns bei den Zuschauern noch einmal bedankten.
»Es ging so schnell vorbei!«, rief Frieda bedauernd, als sie mir um den Hals fiel. »Viel zu schnell. Das war wunderbar, großartig! Ich bin so stolz, dass ich deine Freundin bin.«
Sie schüttelte voller Begeisterung auch den anderen Puppenspielern die Hände und warf dann einen überraschten Blick auf mein tief dekolletiertes graues Samtkleid mit V-Ausschnitt und weißem Rand und auf die Zigarettenspitze, die ich genüsslich zum Mund führte. Unsere Augen strahlten vor Freude über den gelungenen Abend, und die Gelöstheit, in der wir Spieler nach jeder Vorstellung miteinander scherzten, zeugte von der Konzentration und Spannung, die nun erst nach und nach von uns abfiel.
»Du siehst ja fast so mondän aus wie die Dietrich. Wie du deine Hand in die Hüfte stützt, und mit dieser Zigarettenspitze…«, flüsterte Frieda mir zu. Sie war offenbar ein wenig irritiert, schien sich unwohl zu fühlen. »Ist dein Kleid nicht ein bisschen gewagt?«, setzte sie hinzu.
Ich umarmte sie und hoffte, damit jedes ungute Gefühl zu vertreiben.
»So, jetzt räumen wir rasch unsere Bühne auf, und dann sollten wir uns anziehen und im ›Decke Tommes‹ auf unser Wiedersehen anstoßen. Möchtest du mal einen Blick hinter die ›Britz‹ werfen, Frieda? Meinen Arbeitsplatz aus der Nähe betrachten?«
Durch eine unauffällige Tür führte ich die staunende Frieda hinter die Kulissen und zeigte ihr stolz das Wunderland Knollendorf. Endlos lange Schränke mit winzigen Puppenkleidchen, Hüten und Handschuhen ließen wohl jedes Mädchenherz höherschlagen. Unzählige Figuren in verschiedenen Kostümen warteten hier auf ihren Einsatz. Ein Hänneschen mit Wintermantel, eines im Schlafrock, eines mit Hemd und Weste, wieder ein anderes nur mit Unterziehhosen bekleidet. Lauter hölzerne Augenpaare starrten der Besucherin entgegen.
Überall Puppen, und mir fiel erst jetzt, mit Frieda an der Hand, auf, wie tot und beinahe unheimlich sie an den Wänden lehnten. Manche waren ohne Kopf, dafür lagen unzählige Köpfe und Füße auf Regalen und Werkbänken und vervollständigten den Eindruck eines Gruselkabinetts. Oder den eines Schlachtfeldes. So viele Köpfe! Die Gesichter in den verschiedensten Emotionen erstarrt.
Frieda wich zurück.
»Keine Angst, die tun dir nichts«, beruhigte ich sie lächelnd.
Mit wenigen Handgriffen landeten alle Requisiten wieder an ihrem Platz. Geschenkpäckchen an langen Stangen wurden in ihren Halterungen befestigt, und auch das getigerte Katzenbaby, das Bärbelchen zu Weihnachten bekommen hatte, fand sich an einer langen Stange kopfüber an seinen Platz gehängt wieder.
»Vorsicht, nicht auf die Bühne gehen– da gibt es zu viele Stolperfallen«, warnte ein junger Mann mit blondem Haarschopf und Gitarre in der Hand.
Überall mannshohe hölzerne Ständer auf engstem Raum, die Kulissen und Mobiliar an Ort und Stelle hielten. Dass dieses Gewirr aus dem Zuschauersaal heraus wie eine perfekte Puppenstube aussah, konnte man sich hier nicht vorstellen. Frieda war offensichtlich froh, dass es Zeit wurde, den Mantel zu holen. Im fahlen Halbdunkel machten ihr die Puppen wohl eher Angst.
Draußen schien es Frieda noch unbehaglicher zu werden.
»Du willst noch ins Wirtshaus?«, fragte sie. »Es ist doch schon spät, wollen wir nicht lieber heimfahren?«
»Es ist erst halb zehn! Und heute ist Mittwoch. Mädelsabend beim ›Decke Tommes‹. Da darf ich auf keinen Fall schwänzen. Außerdem habe ich Hunger, und Thomas kocht eine köstliche Erbsensuppe. Ich lade dich ein. Komm, Frieda, nur auf ein Stündchen! Es ist nicht weit.«
Widerstrebend ließ sich meine Freundin durch die dunkle Stadt ziehen, um wenige Ecken herum, am Schauspielhaus und an der Synagoge vorbei, deren Zwiebeltürmchen uns schon als Kinder immer an ein Märchenschloss aus Tausendundeiner Nacht hatten denken lassen. In einem abgewetzten, fast schäbigen, aber sehr geräumigen Eckhaus am Ende der Glockengasse befand sich der »Decke Tommes«. Frieda war offenbar nicht gewohnt, ohne männlichen Schutz durch nächtliche Gassen zu laufen, und froh, endlich am Gasthaus angekommen zu sein.
An der Tür prallte sie zurück. Lärmen und Kreischen, Lachen und ohrenbetäubende Musik schlugen uns entgegen. Heute am Mädelsabend waren nur Frauen im Gasthaus, manche mit Kurzhaarschnitt und in Männerkleidung, andere frivol und offenherzig gekleidet, trotz der Kälte, und eine ganz mädchenhaft mit Stoffblüten in ihren langen Zöpfen. Ich hatte nicht übertrieben, eine Art Bubikopf mit und ohne Wasserwellen trugen die meisten. Eine Frisur wie Frieda dagegen hatte hier keine.
Ich ging zum Tresen und bestellte zweimal Erbsensuppe und Bier. Wir zogen die Mäntel aus, und bevor wir uns an einen freien Tisch setzten, begrüßte ich einige der anwesenden Mädels. Eine kleine Damenkapelle in Matrosenanzügen spielte einen Tusch. Mit gelöstem Haar, in Stiefelchen und einem frechen schwarzen Fransenkleid stieg eine zarte Blondine auf den Tisch. Das Kleid entblößte mehr, als es verdeckte. Sie sang das traurige Lied von einem armen Mädchen: »Wenn ich mal tot bin, wird mein schönster Tag!«
Das ganze Lokal applaudierte begeistert ihrer Darbietung, die Sängerin knickste und setzte sich unaufgefordert zu uns. Ich lächelte ihr zu und stellte die Damen einander vor.
»Leonore Feynsinn– die Leonore Feynsinn, Schauspielerin am Stadttheater.« Ich wies auf Frieda. »Meine beste Freundin Frieda, die gerade in Köln zu Besuch ist.«
Die beiden nickten einander zu, und ich wandte mich begeistert an die Sängerin. »Nörchen, Schatz, du bist mindestens so gut wie Ebinger! Mit der Nummer brauchst du dich wahrhaft nicht zu verstecken. Da kannste direkt nach Berlin, wa! Der gute Friedrich Hollaender* hätte großen Spaß an deiner Interpretation. Wir kommen gleich zu euch herüber, wir müssen erst etwas essen– ich komme direkt von der Arbeit.«
Die Erbsensuppe kam und das Bier. Leonore stand langsam auf und schlenderte zu einem großen Tisch hinüber, um sich einer Frau im Anzug rittlings auf den Schoß zu setzen.
Frieda war sprachlos. »Was ist denn das für ein… Lokal?«, brachte sie schließlich heraus.
»Hier treffen sich die Künstler der Stadt, hier oder ein Stückchen weiter, Richtung Dom, im ›Zweispann‹, oder hinterm Bahnhof in der ›Schreckenskammer‹. Die Progressiven…«, erklärte ich, aber Frieda hörte kaum zu. »…hast du sicher schon mal gehört. Maler, Musiker, Schauspieler und Dichter, und mittwochs ist Mädelsabend, da haben Herren keinen Zutritt. Das ist ein großer Spaß, wie du siehst. Unter Gleichgesinnten. Bei Verrückten halt! Aber reden wir lieber von dir. Was machst du? Geht es dir gut? Wie ist Helmut denn so? Immer noch so still? Etwas Kleines ist wohl noch nicht unterwegs?« Ich zwinkerte Frieda zu. »Und was macht euer Wein? Ach!« Im gleichen Moment schlug ich mir an die Stirn. »Möchtest du lieber ein Glas Rheinwein trinken statt Bier? Ich Dummchen! Ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich ja eine Weinspezialistin am Tisch sitzen habe. Entschuldige!«
Frieda hatte sich noch immer nicht ganz gefangen und ließ ihre Blicke durch das Gasthaus schweifen. »Es ist gut. Ich… es ist gerade ein bisschen viel. Bier ist gut. Sag mal, küssen sich die beiden Frauen da? Ich meine, mehr, als Frauen sich normalerweise küssen sollten? Ich glaube, ich brauche erst mal einen Branntwein!«
Sie begann mechanisch, Erbsensuppe zu löffeln und kleine Schlucke Bier dazu zu trinken, doch nur langsam entspannten sich ihre Gesichtszüge.
»Wieso singt ihr eigentlich ›Tochter Zion‹ in eurem Weihnachtsstück?«, fragte sie schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Ist das nicht ein– mindestens– protestantisches Lied?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist mir auch egal. Tommes!«, wandte ich mich an den Wirt. »Wir hätten gern zwei Cognäckchen. Meine Freundin braucht was Stärkeres!«
Zu Frieda sagte ich: »Um so etwas kümmere ich mich nicht. Wir singen dieses Lied, weil es so wunderschön ist im vierstimmigen Satz. Was der Erzbischof, der Rabbi, Hindenburg oder Herr Hitler sagen, ist mir schnurz. Ich glaube sowieso, die nehmen sich alle viel zu wichtig. Ständig wird gewählt, und ändern tut sich gar nichts. Zum Guten jedenfalls nicht. Ich will leben, das wollen alle. Der kleinste Käfer will das. Mir geht diese Rechthaberei auf die Nerven. Ob Religion, Politik oder Moral. Davon kriege ich Kopfschmerzen. Jeder soll frei sein zu tun, was er will! Auch die neuerdings so verhassten Juden. Papa ist schließlich auch einer, wenn man’s genau nimmt. Und geht Weihnachten trotzdem mit in die Kirche. Wenn es wirklich einen Herrgott gibt, was ich stark bezweifeln möchte, glaubst du, der interessiert sich für Religionszugehörigkeit?«
Frieda schaute mich angesichts des Redeschwalls überrascht an.
»Solche Juden wie dein Vater sind gar nicht gemeint«, beeilte sie sich zu sagen. »Ihr seid doch ganz normale Leute. Um die geht’s hier nicht. Hitler redet vom internationalen Judentum. Von Betrügern und Ausbeutern, die sich von unserem Fleische nähren und die schuld sind an der Misere in Deutschland. Von den Eliten, die sich verschworen haben, uns zu vernichten. Diese Juden sind unser Unglück!«
»Wer soll denn das sein– internationales Judentum? Bitte! Der Krieg ist schuld. Der Hass ist schuld und die Ungerechtigkeit. Und für all das verantwortlich sind die da oben. Ob Kaiser oder Hitler– für uns hier unten bleibt sich alles gleich.« Ich war verstimmt.
Wütend sang ich leise vor mich hin: »›Der Kaiser ist ein guter Mann, er wohnet in Berlin. Und wenn der Weg so weit nicht wär, dann führ ich auch mal hin!‹ Pah! Weißt du noch, wie wir das in der Schule gesungen haben? Zu Kaisers Geburtstag! Als Nächstes singen wir zu Hitlers Geburtstag, oder was? Satt wird davon keiner!«
Ich schwieg einen Moment und fügte dann leise hinzu: »Lass uns das Thema wechseln, Frieda, der Abend war doch so nett bisher.«
Das Schweigen bedrückte uns beide. Verknotete sich im Hals. Ich suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema.
»Ich höre gern Radio. Papa hat voriges Jahr einen Radioapparat gekauft, und Mama und ich hören immer das Jazzkonzert der Westdeutschen Funkstunde. Es ist großartig! Man sitzt daheim am Kaffeetisch und hat ein Konzert frei Haus. Manchmal spielt Mama leise auf ihrem Cello mit. Hat es in Heppenheim auch schon einen Rundfunksender? Grete Roese* vom Kabarett ›Kolibri‹ spricht oft im Anschluss an das Konzert ihr ›Wort zum Sonntag‹. Sie ist so wunderbar frech! Und so witzig, dass sogar Papa manchmal lachen muss. Kennst du das ›Kolibri‹? Nein? Aber ›Groß-Köln‹ kennst du noch, stimmt’s? Wo die Grete Fluss* ihre ›Fastelovendprinzessin‹ gespielt hat? Dein letztes Karneval in Köln, weißt du noch?«
Da war zum Glück erneut das Weißt-du-noch-Gefühl. Ich begann wieder leise zu singen. Diesmal aber mit ganz weicher Stimme, so wie Grete Fluss:
»Och wat wor dat fröher schön doch in Colonia.
Wann d’r Franz mi’m Nies noh’m ahle Kohberg ging…
Wann d’r Pitter Ärm in Ärm mi’m Apollonia
stillvergnügt o’m Heimweg aan ze knutsche fingk!«
Ich seufzte. »Schön war das, stimmt’s, Frieda?«
Ich erzählte ihr die Geschichte vom alten Kuhberg, dem Viehmarkt auf einer kleinen Anhöhe vor dem Kloster Merheim, über den Willi Ostermann* sein Lied geschrieben hatte. Lange bevor es die Gaststätte »Am ahle Kohberg« gab, die ihren Namen ebenfalls von diesem Viehmarkt hat.
Ich erzählte es ihr, obwohl ich sicher wusste, dass sie die Geschichte genauso gut kannte wie ich. Ich wollte da anknüpfen, wo wir in der Bahn aufgehört hatten. Vielleicht hatte ich auch einen Moment lang Angst, dass Frieda alles, was uns verband, plötzlich vergessen haben könnte. Die Stimmung wurde versöhnlicher. Frieda sang sogar ein paar Zeilen mit.
Aber die Suppe schmeckte nicht so richtig heute Abend. Im Lokal war es zu laut, und wir brachen früh auf. Auf dem Heimweg verabredeten wir uns für einen Markthallenbummel am Heumarkt, denn auch den nächsten Tag wollten wir gemeinsam verbringen.
»Und anschließend trinken wir einen Kaffee in der ›Bastei‹, bevor du wieder heimfährst. Das muss doch sein bei einem Köln-Besuch! So ein unerhört moderner Bau– da drin kommt einem sofort der Gedanke von einer neuen Zeit, im besten Sinne. Ich bringe ein Gedicht mit. ›Köln von der Bastei aus gesehen‹ von Joachim Ringelnatz*. Kennst du den? Nein? Er wird dir gefallen!«
Ich lächelte Frieda liebevoll zu. Sie war auf einmal wieder so fremd.
IMMER NOCH JANUAR 1933
»Sieh dir das an!« Vater war ganz aufgeregt. »Dieser Hitler ist in Köln gewesen!«
»Na und? Das ist ein alter Hut. Der kommt ständig zu Veranstaltungen in die Messe. Der will Wahlen gewinnen.« Mutter antwortete gelangweilt. Sie hatte keine Lust, sich das anzusehen. Sie stichelte gerade an einer besonders prächtigen blauen Stoffchrysantheme. »Hattest du kein dunkleres Blau im Laden, Ludwig? Diese Nähseide hier ist zu hell.«
»Aber diesmal war er heimlich hier!«
»Ah, deshalb weißt du ja auch davon…« Das klang spöttisch.
»Ja, er ist eben gesehen worden.«
»Wie unheimlich!«
Ludwig Meyer hasste die Neigung seiner Frau zu albernen Wortspielen und ihr zur Schau getragenes Desinteresse.
»Er war bei den von Schröders in der Villa und hat sich mit von Papen getroffen.«
»Die Französische Revolution hätte halt unsere ganzen ›Vons‹ gleich mit unter die Guillotine legen sollen! Ich meine, wozu waren die Franzosen denn in Köln? Vielleicht bringt Hitler der Stadt jetzt bei, dass man auf den kleinen Leuten nicht nur rumtrampeln kann. Man kann ihm vieles unterstellen, ein ›Von‹ ist er nicht. Wenn Adel und Pöbel sich zusammentun, da kann ja nur etwas Gutes dabei herauskommen!« Cäcilie Meyer lachte bitter.
»Jetzt mal ernsthaft, Cäcilie, das ist kein Spaß! Die Straße kommt nicht zur Ruhe. Und ich sage dir, die führen was im Schilde. Umsonst treffen Hitler und Konsorten nicht Bankiers und Reichskanzler. Von Papen will doch offiziell mit den Nationalsozialisten gebrochen haben! Am Ende wollen sie ihm die SA- und SS-Brigaden als Staatspolizei oder Bürgerwehr andienen. Dann gnade uns Gott! Das hieße, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir können die Politik doch nicht immer weiter dem Mob überlassen. Sieh dir das an!«
Er warf die Zeitung auf den Tisch. Mutter dachte nicht daran, sich das anzusehen. Aber ich warf einen langen Blick auf das Foto.
»Die habe ich gesehen«, sagte ich schließlich.
»Wie– gesehen?« Papa fuhr herum.
»Am Mittwoch, als ich Frieda abgeholt habe, habe ich die gesehen. Sie stiegen gerade wieder in ihre Autos. Halb fünf, vielleicht drei viertel, am Stadtwaldgürtel.«
»Da ist von Schröders Villa.«
»Und Hitler, den hätte ich beinahe umgerannt. ›Bitte nach Ihnen‹, hat er zu mir gesagt.«
»Du bist ja verrückt!«
»Nein, Papa, ich bin mir sicher, dass ich ihn gesehen habe. Er kam mir gleich bekannt vor. Aber er ist viel kleiner, als man denkt.«
»Um Himmels willen, Fanny! Du sagst keiner Menschenseele etwas! Zu niemandem. Du hast rein gar nichts gesehen!«
Der Vater war ganz rot im Gesicht geworden, und auch die Mutter schaute jetzt besorgt auf.
»Es ist doch nicht verboten, Herrn Hitler zu treffen. Er hat sogar gegrüßt.« Ich war überrascht von der heftigen Reaktion.
»Es gibt Geschäfte, bei denen man nicht gesehen werden will, Kind! Und wer weiß, was die da gemacht haben. Fanny, du erzählst niemandem davon!« Die Stimme des Vaters wurde jetzt beschwörend.
»Ich habe sogar den gesehen, der das Foto gemacht hat.«
Die Mutter ließ das Nähzeug sinken.
»Nichts hast du gesehen, verstanden? Du weißt nicht, was das für Leute sind!« Jetzt stand Papa zitternd vor Aufregung direkt vor mir.
»Dann eben nicht.« Ich gab seufzend auf und wandte mich an Mutter. »Es wird großartig«, sagte ich mit Blick auf ihre Handarbeit.
Mutter stichelte weiter an den blauen Chrysanthemen. Die gehörten zu meinem Karnevalskostüm. Ich wollte mit drei Kolleginnen beim diesjährigen Lumpenball im »Decke Tommes« als »Blaue Busen« auftreten, aber das hatte ich dem Vater noch gar nicht erzählt. Er regte sich immer gleich auf. Dafür musste ich wohl besser den richtigen Moment abpassen. Falls ich es ihm überhaupt sagte.
Mit unserer Aktion bezogen wir uns auf die »Blauen Blusen«*, ein Agitprop-Arbeiterkabarett, dessen Name auf die blaue Arbeiterkleidung anspielte. Ich war der Ansicht, dass die Kommunisten viel zu humorlos an die Sache herangingen. »So kann das ja nichts werden mit der Revolution«, hatte ich zu Luise gesagt, »das ist einfach zu wenig attraktiv.«
Dem wollten Luise, Martha, Leonore und ich etwas entgegensetzen. Unter kunstvollen, mit blauen Blüten aufgetürmten Hüten wollten wir uns blau gemalte Brüste aus Stoff um den Hals hängen und singen. Revolutionslieder mit neuem Text. Das heißt, so ganz einig waren wir uns noch gar nicht, ob wir uns falsche Brüste umhängen würden oder die echten anmalen. Nore und ich fanden Letzteres zu gewagt.
»Wir sind schließlich städtische Angestellte, das kann Ärger geben«, wandte Leonore nicht ganz unberechtigt ein. Aber wir fanden alle vier, dass es Zeit war, den Kommunisten mit etwas weniger heiligem Ernst zu begegnen. »Blaue Busen« waren unserer Einschätzung nach die richtige Antwort auf freudlose Arbeiterräte. Die Eltern mussten ja nicht alle Details kennen.
»Ich muss gleich los.« Ich erhob mich, gab ein wenig widerstrebend die sonntägliche Ruhe auf, gähnte und streckte mich. »Reg dich nicht auf, Papa. Uns geht es nichts an. Uns fragt auch keiner.« Ich verließ das Wohnzimmer und zog mich im Flur an. »Wiedersehen. Ich bin nicht spät zurück.«
»Wiedersehen.«
Die Wohnungstür klappte zu.
Heute war es nicht ganz so kalt wie in den letzten Tagen. Beinahe Tauwetter.
Am späten Sonntagnachmittag waren eine Menge Leute unterwegs. Familien beim Spaziergang oder auf dem Heimweg von einem Verwandtenbesuch. Paare wollten ins Theater. Ins Puppentheater konnten sie nicht wollen, denn wir hatten zwei Tage vorstellungsfrei wegen der Proben für das neue Stück. Deshalb konnte ich mich heute mit Luise treffen.
Ich freute mich auf ein gemütliches Schwätzchen, stieg in die Straßenbahn und setzte mich. Gleich gegenüber saß eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Das kleine Mädchen hatte lange blonde Zöpfe, so wie sie Frieda gehabt hatte, und eine rote Wollmütze auf dem Kopf. Ihr Bruder war vielleicht ein oder zwei Jahre älter, mit Sommersprossen auf der Nase und einer gewaltigen Zahnlücke unter der Schiebermütze. Erstes Schuljahr, tippte ich und sah den beiden zu. Sie sagten alle Abzählreime auf, die ihnen einfielen, und knufften sich kichernd immer wieder in die Seite.
Ein ernster Blick der Mama brachte sie zum Schweigen. Doch schon nach wenigen Augenblicken ging es von vorn los. Abzählreime, Schubsen, Kichern– ernster Blick. Die Kleine mit den blonden Zöpfen verdrehte hinter Mutters Rücken zu ihrem Bruder hin die Augen. Der kicherte nun noch mehr. Ich konnte die Abzählreime mitsprechen, denn ich kannte sie alle und freute mich, dass die Kinder offenbar immer noch die alten Verse aufsagten.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht Rüben. Eine alte Frau kocht Speck, und du musst weg!– Ene mene mopel, wer frisst Popel, süß und saftig, eine Mark und achtzig, eine Mark und zehn, und du kannst gehn!– Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, raus bist du!«
»Schluss jetzt, ihr Bande!« Die Mutter war wütend. »Schluss– oder ihr kommt in die Judenschule!«
Ihre schrille Stimme riss mich aus den angenehmen Gedanken. Die Frau holte aus und schlug beiden Kindern rechts und links ins Gesicht, so fest, dass der Kinderkopf jedes Mal regelrecht zur Seite flog. Sie weinten nicht. Die Kleinen versteiften sich, ließen sich mit versteinerten Mienen schweigend schlagen, ohne sich wegzudrehen, und sahen anschließend auf den Boden. Die Hand ihrer Mutter malte sich in flammendem Rot auf den Wangen ab wie ein Brandzeichen. Ich sah genauso schuldbewusst wie fassungslos zu. Warum fühlte ich mich so ertappt?– Ich konnte gar nicht sagen, wobei.
Ich rieb mir die Wange. War es das Schweigen der Kinder, denen solches offenbar nicht zum ersten Mal geschah, das mich so traf? War es ihr Stolz, der sie stumm die Strafe hinnehmen ließ? Oder war es das Wort »Judenschule«, das mich so berührte, als wäre ich selbst unvermittelt mitten ins Gesicht geschlagen worden? Jedenfalls wagte ich kaum noch zu atmen. Ich war froh, als ich aussteigen konnte, und ging schnellen Schrittes zur Hausnummer14, wo Luise Straus-Ernst* mit ihrem Sohn Hans-Ulrich wohnte.
Am nächsten Mittag kam Papa aufgebracht in der Mittagspause aus dem Geschäft nach Hause. Mutter hatte Kartoffelsuppe gekocht, sein Lieblingsgericht, aber an Essen war nicht zu denken.
»Sie… sie haben… sie haben einen Davidstern an die Hauswand geschmiert! Direkt neben der Ladentür. Beim Schuhhaus Fischel* und am Kaufhaus Landauer* auch. Ich weiß nicht, wer. Aber wer soll das schon gewesen sein! Was soll denn das heißen? Kann jetzt jeder Wände beschmieren, egal, wem sie gehören? Ich bin hier geboren. Es ist mein Land. Ich bin zu seiner Verteidigung in den Krieg gezogen und habe das Eiserne Kreuz. Und die schmieren mir den Davidstern an die Hauswand! Wir können das Gesetz doch nicht der Straße überlassen!«
Mutter schlug erschrocken die Hand vors Gesicht. Mir war für einen Moment, als hätte ich Tränen in Vaters Augen gesehen, auch wenn er seiner Stimme eher Empörung und Nachdruck verlieh. Ich legte tröstend den Arm um ihn.
»Das sind doch hitzige Dummköpfe. Nimm es nicht so tragisch, Papa. Am besten ist, man ignoriert es. Dann werden sie es bald leid. Der Spuk wird schnell vorbei sein. Das sagen alle. Bei den letzten Wahlen hat die NSDAP doch schon verloren. Das sind Rückzugsgefechte. Du weißt, wie es mit jungen Hunden ist. Sie müssen ständig die Zähne zeigen. Ganz besonders, wenn sie Schwächlinge sind.«
Ich erzählte ihm nicht von der Judenschule gestern in der Bahn, und ich erwähnte auch nicht, dass mich die Weber-Schwestern im Erdgeschoss heute Morgen nicht gegrüßt hatten. Es konnte sein, dass sie mich einfach nicht gesehen hatten. Wie schnell passierte das? Manchmal ist man mit den Gedanken einfach ganz woanders. Das hatte nichts zu bedeuten. Natürlich nicht.
Die Eltern wohnten seit beinahe zwanzig Jahren hier in der zweiten Etage. Ein paar Jahre nachdem sie eingezogen waren, hatten sie das Haus gekauft. Die Weber-Schwestern wohnten im Erdgeschoss, und im ersten Stock wohnte ein kinderloses Paar, Ludwika* und Hannes Baum, seit Friedas Mutter in die kleine Wohnung am Stadtwaldgürtel gezogen war. Man lieh einander ein fehlendes Ei oder eine Prise Salz. In der ganz schlechten Zeit nach dem Krieg hatten sie sogar manches Mal das wenige Essen geteilt, das sie noch hatten, erzählte Mutter oft. »Graupenauer!«, habe Agnes Weber über Oberbürgermeister Adenauer und sein Graupenbrot geschimpft. »Soll er das Zeug doch selbst fressen!«
Sie waren von einem etwas schroffen Charme, sicherlich, aber warum sollten sie plötzlich nicht grüßen? Es konnte nicht sein.
Am späten Nachmittag ging ich mit Vater in den Laden und schrubbte die Hauswand in der Breite Straße blitzblank. Keiner der Passanten beachtete mich. Meine Hände wurden ganz rot von der Kälte.
»›Aber wir verstehen uns bass, wir Germanen auf den Hass. Aus Gemütes Tiefen quillt er, deutscher Hass! Doch riesig schwillt er, und mit seinem Gifte füllt er schier das Heidelberger Fass!‹«
»Heine, stimmt’s?« Ich schloss meine immer noch kalten Hände um eine Tasse schwärzesten Mokka und streckte meine Füße an dem bollernden Ofen in Gustav Schuberts kleinem Tabakladen aus. Die Gertrudenstraße lag nur wenige hundert Meter von der Breite Straße entfernt.