Mädchenfeuer - Anna Jansson - E-Book

Mädchenfeuer E-Book

Anna Jansson

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Beschreibung

Ein Kinderskelett in einer Höhle, ein ehemaliges Pflegeheim und ein nie aufgeklärter Brand: Kommissar Bark ermittelt in seinem 4. Fall!

In einer Höhle im schwedischen Naturschutzgebiet Skärmarboda wird das Skelett eines neunjährigen Mädchens gefunden. Kriminalinspektor Kristoffer Bark und sein Team von der Polizei Örebro verfolgen die Spur bis zu einer Familie, die vor 50 Jahren Kinder in Pflege genommen hat. Nach einem bis heute ungeklärten Brand galt das Mädchen als verschollen. Der Hinweis auf die Tote kam von Magdalena Fernåker, einem selbsternannten Medium, die jedoch spurlos verschwindet, bevor Bark sie befragen kann. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung wird festgestellt, dass das kleine Mädchen vor seinem Tod Schreckliches durchgemacht haben muss. Und dann stellt sich heraus, dass Kristoffer Barks engstes Umfeld in den Fall verwickelt ist …

Die »Kommissar Bark«-Reihe:
Band 1: Leichenschilf
Band 2: Witwenwald
Band 3: Puppenblut
Band 4: Mädchenfeuer
Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 507

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Buch

In einer Höhle im schwedischen Naturschutzgebiet Skärmarboda wird das Skelett eines neunjährigen Mädchens gefunden. Kriminalinspektor Kristoffer Bark und sein Team von der Polizei Örebro verfolgen die Spur bis zu einer Familie, die vor 50 Jahren Kinder in Pflege genommen hat. Nach einem bis heute ungeklärten Brand galt das Mädchen als verschollen. Der Hinweis auf die Tote kam von Magdalena Fernåker, einem selbst ernannten Medium, die jedoch spurlos verschwindet, bevor Bark sie befragen kann. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung wird festgestellt, dass das kleine Mädchen vor seinem Tod Schreckliches durchgemacht haben muss. Und dann stellt sich heraus, dass Kristoffer Barks engstes Umfeld in den Fall verwickelt ist …

Autorin

Die Schwedin Anna Jansson gehört zu den erfolgreichsten Schriftsteller*innen ihres Landes. In mehr als zwanzig Jahren hat sie über 60 Bücher geschrieben; als gebürtige Gotländerin ist sie bekannt für ihre Krimireihe Maria Wern, Kripo Gotland. Allein in ihrem Heimatland haben sich Janssons Bücher über vier Millionen Mal verkauft, und sie werden in 17 Sprachen übersetzt. Mit dem Polizisten Kristoffer Bark hat sie einen neuen charismatischen sowie abgründigen Ermittler geschaffen, der im schwedischen Örebro Cold Cases löst. Hier lebt Jansson selbst und recherchiert an den malerischen Originalschauplätzen.

Von Anna Jansson bereits erschienen

Leichenschilf · Witwenwald · Puppenblut

ANNA JANSSON

Mädchenfeuer

Ein Kommissar-Bark-Krimi

Deutsch von

Susanne Dahmann

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Tala med de döda« bei Norstedts, Stockholm.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Anna Jansson 2022 by Agreement with Grand Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Julie Hübner

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(Palsur, underworld, Nataliya Zotova)

JS · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30380-8V001

www.blanvalet.de

Prolog

Sommer 1970

Es ist Sommer, aber ich friere. Ich halte meine Schwester fest an der Hand, als wir zu dem fremden Haus im Wald kommen, wo die Schatten dicht sind und die Bäume bis zum Himmel hinaufreichen. Der Tannenwald verschlingt das Haus mit seinem finsteren Rachen. Das Sonnenlicht reicht nicht bis hierher. Ich will hier nicht sein. Ich will nach Hause. Tante Elvira sagt, dass das nicht geht. Sie hat kleine Schweißtropfen auf der Oberlippe und alte Schweißringe unter den Achseln auf ihrem Kleid, die aussehen wie die Jahresringe der Bäume.

Sie schaut uns mit traurigen Augen an und sagt, dass Mama und Papa tot sind. Tot bedeutet, dass das Blut nicht mehr fließt und das Gehirn nicht mehr denkt. Für einen toten Menschen bleibt die Zeit stehen, wie ein Zug an einem Bahnsteig, an dem die Toten aussteigen. Gott drückt auf den Halteknopf, wenn man stirbt. Wenn es Zeit ist, wiedergeboren zu werden, dann drückt er auf Start. Im Frühjahr sind massenhaft Vögel gestorben, weil sie vor Öland im Öl festgeklebt sind. Zweitausend Tonnen Vögel, stand in der Zeitung. Vielleicht weiß aber auch niemand, wie viele es wirklich waren. Niemand hatte Lust, jeden kleinen Vogel zu betrauern.

Einmal ist unsere Katze Missan mit einer Meise zwischen ihren spitzen Zähnen ins Haus gekommen. Die Katze hatte die Krallen ausgefahren und hat dem Vogel geholfen, durchs Zimmer zu fliegen wie ein Papierflugzeug, direkt ins Bücherregal. Mama hat gesagt, die Meise wäre tot, und dann hat die Katze sie aufgefressen und Federn und kaputt genagte Knochen ausgewürgt. Wir haben das, was vom Vogel übrig war, in einen Pappkarton gelegt und haben ihn begraben und ein Weilchen geweint. Aber es war ein gutes Weinen, nicht so wie das ängstliche und wütende, das wir jetzt weinen, meine Schwester und ich.

Im Haus riecht es widerlich nach gekochtem Blumenkohl. Wir setzen uns mit Konrad und Elvira an den Tisch. Sie sind unsere Pflegeeltern, und das bedeutet, dass sie sich jetzt um uns kümmern werden, weil Mama und Papa es nicht mehr können. Konrads Augen hinter der Brille sehen aus wie tote Fliegen. Tote, grünlich schimmernde Schmeißfliegen ohne Flügel, und sein Mund ist ein schwarzes Loch, aus dem redet und redet und redet er mit seiner knarzenden Stimme. Wir bekommen Orangensaft und Zimtschnecken. Der Saft ist zu sauer. Ich kann ihn nicht schlucken, denn das brennt im Hals, und ich muss weinen, obwohl ich nicht will. Elvira sieht mich an und lächelt, obwohl sie böse ist. Innen drin ist sie böse, denn sie will uns nicht hier haben. Keine von uns. Konrad ist der von beiden, der entschieden hat, dass wir Pflegekinder bei ihnen sein werden. Ich weiß es einfach.

»Jetzt trink mal aus, mein Liebes«, befiehlt sie und kommt mir so nahe, dass ihr Geruch mir in der Nase beißt.

Ich zwinge den Saft hinunter, ohne die Hand meiner Schwester loszulassen. Ich weine, und der Rotz vermischt sich mit dem Saft, den ich austrinken muss, denn sie schauen mich die ganze Zeit an. Ich wische mir unter der Nase durch, um den Rotz wegzukriegen. Da packt Elvira meinen Arm mit ihren Klauen, und ich denke: Wird sie mit mir spielen, so wie Missan mit dem Vogel? Denn vielleicht bin ich tot. In mir habe ich das Gefühl, dass ich zusammen mit Mama und Papa tot sein will.

Da sagt Konrad, dass es den Tod nicht gibt. Die Toten leben, obwohl wir sie nicht sehen können. Ihre Geister sind hier unter uns, sagt er. Sie sehen und hören alles. Also ist es am besten, wenn wir uns gut benehmen, denn sonst werden sie petzen. Danach gehen wir die knarrende Treppe zum Dachboden hinauf, um seine Großmutter zu begrüßen. Konrad geht vorneweg, mit einer Kerze in der Hand. Er ist groß wie ein Riese, und die Haare sind mit dem Bart zusammengewachsen, aber mitten auf dem Kopf hat er eine Glatze. »Meine Großmutter verträgt keine Elektrizität. Das Licht ist zu scharf für ihre empfindlichen Augen«, erklärt er und öffnet die Tür, die kreischt und quietscht, als wir in die Dunkelheit treten.

Dort, in einem Bett, um das dünne schwarze Gardinen hängen, sitzt eine sehr alte Frau in einem weißen Nachthemd. Ihre Haare sind weiß wie Mehl, und das Gesicht hat dieselbe gelblich weiße Farbe wie Eierschalen. Meine Schwester und ich legen die Arme umeinander. Die Alte sitzt mit geschlossenen Augen vollkommen still da. Ihre Füße, die unter der Decke herausschauen, sind nackt und die Zehennägel lang und gebogen. Sie bewegt sich nicht und sagt nichts, als Konrad erzählt, dass wir jetzt da sind. Dass die neuen Kinder gekommen sind. Und als ich gerade den Gedanken gedacht habe, dass die Alte tot ist, schlägt sie die Augen auf und schaut direkt durch mich hindurch – so, als würde es mich nicht geben. So, als wären wir tot und völlig durchsichtig, meine Schwester und ich.

»Kommt, Kinder, lasst euch berühren. Ich kann euch mit meinen Augen nicht sehen, nur mit meinen Händen.«

1

Örebro, 50 Jahre später

Die Gesichtslosen stiegen am Schloss aus dem Bus. Daniel kniff kurzsichtig die Augen zusammen und versuchte, die Gefahr einzuschätzen. Seine Brille war kaputtgegangen, als sie ihn das letzte Mal verprügelt hatten. Obwohl die Sommernacht warm war, spürte er die Furcht wie einen eiskalten Atemzug im Nacken. Jederzeit konnte die Polizei auftauchen, oder die anderen, die hinter ihm her waren. Einer jungen Frau mit Kinderwagen und einer älteren Dame mit Rollator schenkte er keine größere Aufmerksamkeit, als er aus dem Bus stieg. Doch dann kam ein Typ in seinem Alter, in schwarzem T-Shirt, schwarzen Jeans und sich darunter deutlich abzeichnenden Muskeln. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und hatte spitze Zähne, die man sah, als er seinen Mund beim Gähnen weit aufriss. Sofort erkannte Daniel das fuchsartige Aussehen, und plötzlich fiel ihm das Atmen schwer. Die Beine trugen ihn kaum. Er zog die große Tasche auf Rollen näher zu sich, suchte Halt an der Wand der Bushaltestelle. Der Typ kam direkt auf ihn zu. Er hatte ein Messer in der Hand. Es sah aus wie ein Vorlegemesser, als es im Licht der Busscheinwerfer aufblitzte. Daniel würde es nie schaffen, dem schwarz gekleideten Mann davonzulaufen. Keine Chance. Deshalb kroch er tiefer in das Haltestellenhäuschen hinein, schloss die Augen und wartete auf den Todesstoß. Er war gerade 24 Jahre alt geworden, und morgen würde sein Tod die wichtigste Schlagzeile in der Zeitung sein. Da würde von dem 24-Jährigen geschrieben werden, der das neueste Opfer der Gangkriminalität geworden war. Im besten Fall würden sie es unterlassen, seinen Vater zu interviewen. Wenn der Alte gut drauf war, dann erinnerte er sich vielleicht nicht einmal daran, dass er einen Sohn hatte. Daniel wartete. Doch nichts geschah. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah den Rücken des Schwarzgekleideten. Der hielt kein Messer in der Hand, sondern ein silberfarbenes Handy. Das konnte Daniel jetzt sehen, als der Mann es ans Ohr hielt. Erleichtert sank er in sich zusammen, blieb mit dem Kopf zwischen den Knien hocken, während ihm das Blut in den Ohren rauschte und der Schwindel in Wellen kam und ging. Als er sich wieder erhob, war der Mann verschwunden. Hatte er überhaupt existiert? Es kam nur allzu oft vor, dass Leute durch sein Bewusstsein wanderten, die in Wirklichkeit gar nicht da waren. Er hatte ein paar Gedichte darüber auf Papierzettel geschrieben, die er ganz zuunterst in die Schublade gelegt hatte, in der er Socken, Unterhosen und seinen Snus-Tabak aufbewahrte. Sein Schwedisch- und Geschichtslehrer hatte einmal gesagt, in ihm würde ein Dichter wohnen. Das war ein Augenblick, an den er sich oft erinnerte. Du kannst dich wirklich ausdrücken, Daniel, und du bist schlau. Kümmere dich um diese Fähigkeiten.

Daniel begann Richtung Järntorget zu gehen. Er musste pinkeln und ging zügig in Richtung des bunten Pissoirs auf dem Platz, genau gegenüber. Hier versammelten sich alle knallbunten Farben in einer Kaskade, es war ein visuelles Chaos, wie der übelste Trip. Es sah aus, als wäre dem Eismännchen übel geworden, als hätte es auf die Fassade gekotzt. Weiter hinten beim Springbrunnen thronte eine gigantische Gummiente aus Autoreifen. »Rubber Duck« hatte während der Kunstausstellung Open Art auf dem Schild gestanden. Wie zum Teufel sollte man denn noch wissen, was real war und was nicht, wenn die Realität von Eismännchen, Gummienten und dem mit Taubenkacke verzierten Jean-Baptiste Bernadotte auf einem Pfeiler hoch über der Menschheit bevölkert wurde?

Vor dem Pissoir zögerte Daniel. Er erinnerte sich an ein übles Ereignis, über das viel geredet wurde. Da drinnen war ein Typ erstochen worden, und der Mörder hatte mit Blut Filmzitate an den Spiegel geschrieben. Er saß nun im Gefängnis, aber es gab noch andere drogenabhängige Verrückte, die frei herumliefen. Das Pissoir war kein angenehmer Ort, an dem man nachts Fremden begegnen wollte. Wenn seine Mutter noch am Leben wäre, hätte sie ihn davor gewarnt. Wenn er nur noch ein bisschen durchhielt, würde er ein Stück entfernt in einen Busch pissen können, also beeilte er sich und zog die Rolltasche schnell hinter sich her. Die Räder knatterten über das Kopfsteinpflaster. Rubber Duck glotzte ihn an. Der Schnabel sah aus, als hätte ihm jemand eine gigantische Überdosis Silikon gespritzt. Daniel dachte an Molly, ein Mädchen, das er vor fünf Jahren, als er gerade mit dem Gymnasium fertig war, gedatet hatte. Er war wahnsinnig verliebt gewesen, obwohl sie mit ihren Silikonlippen wie eine blassere Variante von Rubber Duck ausgesehen hatte. Um sie zu küssen, hatte er den Mund so weit aufreißen müssen wie beim Zahnarzt. Wenn die Ente nicht so verdammt groß gewesen wäre, dann hätte er sie klauen können, und alle seine Probleme wären aus der Welt geschafft. Zumindest fürs Erste. Drei Einbrüche hatte er heute erledigt. Jetzt blieb nur noch ein letzter übrig, ehe er das, was er zusammenbekommen hatte, zu seinem Dealer in Oxhagen bringen konnte – im Austausch gegen die Pillen, die er brauchte, um das Leben erträglich zu machen. Ein gewöhnlicher verdammter Einbruch ohne Theater – darum betete er zu den höheren Mächten. Guter Gott, beschütze die Neugierigen vor ihrer schlimmsten Neugier, sodass es ihnen in dieser Nacht gut gehen möge. Er wollte nicht, dass jemand Schaden nahm. Er wollte nicht einmal jemanden erschrecken.

Daniel passierte den Tunnel unter der Eisenbahn und hielt nach einem Busch Ausschau, wo er sich erleichtern könnte. Es sollte ein Menschenrecht sein, ins Grüne pinkeln zu dürfen, doch die Vegetation war keineswegs so dicht und einladend, wie er sie in Erinnerung hatte. Vor ihm türmte sich die Fassade von Radio Örebro auf. Da, wo er stand, gab es einen Parkplatz. Jetzt konnte er es nicht mehr zurückhalten und verschwand hinter einem Ticketautomaten. Eine Frau, die eben ihr Auto aufschließen wollte, starrte ihn erschrocken an, warf sich in den Wagen und schloss von innen ab, um dann ihr Handy herauszunehmen. Vielleicht, um die Polizei anzurufen und zu berichten, dass sie einen Flitzer gesehen hatte. Oder nur, um ein Foto zu machen und es als Trophäe einer nächtlichen Flitzersafari in den Sozialen Medien zu posten, dachte er grimmig und zog die Hose wieder hoch. Der Reißverschluss schabte. So sollte es doch wirklich nicht sein. Wieso sollte es empörend sein, dass jemand pinkelte? Wenn niemand pinkelte, dann würde man die gesamte Menschheit an die Dialyse legen müssen, und eigentlich sollten die Leute darauf achten, ihr Revier zu markieren, um die wachsenden Wildschweinrotten davon abzuhalten, die Stadt zu belagern. Seit der letzten Eiszeit hatten Menschen im Freien gepinkelt. Das war nichts, worüber man die Polizei in Kenntnis setzen musste. Die wussten das eh schon. Und zeigten manchmal sogar ein gewisses Verständnis. Es machte schließlich keinen Sinn, 800 Kronen Strafe von jemandem zu kassieren, der von Stütze lebte und ansonsten keine Öre besaß. Da erteilte man ihm eine Rüge und ließ ihn gratis pinkeln.

Der letzte Einbruch für heute sollte in einem Mietshaus ein paar Blocks entfernt stattfinden. Am Tag zuvor hatte Daniel einer alten Frau die Tür zu ihrem Wohnhaus aufgehalten. Aus Höflichkeit und ohne Hintergedanken – zumindest zuerst. Er mochte alte Damen, denn sie erinnerten ihn an seine Großmutter. Die Alte hatte den Code zur Eingangstür so langsam eingetippt, dass er beim besten Willen nicht hatte vermeiden können, ihn zu sehen. Ebenso wenig konnte er widerstehen, den Token aus ihrer halb geöffneten Handtasche zu stehlen, der wahrscheinlich für den Wäscheraum und Keller war. War das nicht ein Zeichen von oben? Wenn er fertig war, würde er den Token in den Briefkasten der alten Dame werfen, die im Erdgeschoss wohnte. Im Keller würde er im besten Fall ein teures Fahrrad finden oder eine neuere Bohrmaschine oder anderes Werkzeug, Wein oder altes Silberbesteck mit einem Edel-Stempel, der wie ein Katzenfuß aussah.

Daniel sah sich um und tippte dann den Code ein. Die Eingangstür öffnete sich mit einem Klicken. Er ging an der Wohnungstür vorbei, hinter der die alte Dame verschwunden war, und benutzte den Token, um in den Keller zu kommen. Als er die schwere Tür aufschob, traf er auf einen langen, dunklen Korridor. Er nahm davon Abstand, das Licht einzuschalten, als der rote Knopf ihn wie ein Teufelsauge anstarrte. Kälte schlug ihm entgegen. Er holte die Taschenlampe heraus, schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel auf die Türen in dem Korridor. Die erste führte in Waschkeller und Trockenraum. Er trat ein. Nach einer raschen Kontrolle von Trocknern und Waschmaschinen erkannte er, dass hier keine Kleider lagen, und die Angst packte ihn. Er zitterte, und seine Zähne klapperten, Wellen der Übelkeit überkamen ihn. Er musste einfach etwas finden, das er gegen Benzo, Tramadol und Amphetamin tauschen konnte. In den Schatten ahnte er das Böse wie eine eisige Kälte. Er eilte durch die nächste Tür in den Teil des Kellers, in dem sich die Verschläge der Mieter befanden. Dort roch es nach einer Mischung aus Schimmel, Katzenpisse und einem Putzmittel mit erstickend süßem Kiefernnadelduft. Zu jeder Wohnung gehörte ein solcher Käfig, den die Mieter oft mit Vorhängeschlössern versehen hatten. Daniel holte den Bolzenschneider aus der Tasche und drehte eine Runde, um zu sehen, wo er am leichtesten einbrechen konnte. Es fühlte sich fast an wie in Storage Wars, einer amerikanischen Dokusoap, in der professionelle Käufer fünf Minuten bekommen, um einander bei Verschlägen voller übrig gelassenem Kram zu überbieten, ehe alles zur Auktion freigegeben wird. Nur konnten sie im Fernsehen die Sachen dann offen auf einem größeren Markt verkaufen, während es in Oxhagen viel schwerer war, etwas zu finden, womit man dealen konnte.

In dem ersten Verschlag waren nur olle Sachen wie Übertöpfe, Sitzkissen für die Gartenstühle und Kartons, auf denen stand: »Geschnittene und nicht geschnittene Flicken für Teppiche« und ein Transportkäfig für Katzen. Der nächste Verschlag gehörte höchstwahrscheinlich einer armen Familie mit Kindern. Plastikschlitten, ein kaputtes Puppenhaus und abgenutzte Ski mit altmodischen Bindungen lohnten keinen Einbruch. Der dritte Käfig war leer bis auf einen schwarzen Schaukelstuhl, dem eine Kufe fehlte, und ein kleines Häufchen Holzwurmmehl auf dem Betonfußboden. Daniel spürte, wie die Angst sich zur Panik steigerte. Doch als er in den vierten Keller leuchtete, stieg sein Mut wieder. Da stand ein Rennrad, für das er sicherlich einige Tausender würde kriegen können, und obendrein konnte er damit noch nach Oxhagen radeln und musste das Diebesgut nicht im Bus transportieren und unnötige Aufmerksamkeit erregen. Er brach ein. Das Fahrrad war nicht einmal abgeschlossen. Er verspürte eine pulsierende Freude über den Fund, und weil er schon mal in Schwung war, schnitt er auch noch das Schloss zum nächsten Käfig auf. Darin standen ein paar Kartons, die einer unregelmäßigen Handschrift zufolge Taschenbücher enthielten. Bücher, die man nicht einmal im eigenen Wohnzimmer haben wollte, waren sicherlich ausnehmend schwer zu verkaufen, dachte er. Und dann war da eine Kühltruhe. Daniel wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er war aufgedreht und erschöpft zugleich, und es fiel ihm schwer, den Blick zu fixieren. Mit etwas Glück würde in der Kühltruhe Rinderfilet liegen. Das wurde man immer los. Er hatte ein paarmal bei ICA und bei Willys gefrorenes Rinderfilet geklaut, und das war verdammt kalt, wenn man es in die Jacke steckte, und man war höllisch nervös, wenn man an der Kasse vorbeimusste.

Daniel legte den Bolzenschneider weg und griff mit beiden Händen zu, um die Truhe zu öffnen. Als der Deckel offen stand, nahm er die Taschenlampe zur Hand, um den Inhalt zu inspizieren. Er erstarrte. Der Raum drehte sich. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und wäre fast über die Kartons gestolpert.

Da saß jemand. In der Kühltruhe.

Ein zusammengekauertes Wesen mit geschlossenen Augen, mit Raureif im langen welligen Haar und blau gefrorenen Lippen. Sie trug ein weißes, dünnes Kleid. Wie eine kleine runzelige Elfe oder eine Eishexe, dachte er, ehe ihm aufging, dass sie tot sein musste. Er klappte den Deckel wieder zu, lud die Tasche aufs Fahrrad und eilte davon. Raus, er musste hier raus. Als er keuchend mit dem Fahrrad und der Tasche voll Diebesgut wieder auf der Straße stand, kniff er sich fest in den Arm und schlug sich auf die Wangen, um wieder klar zu werden. Das war nicht real, obwohl es so aussah. Das war diese verdammte Paranoia, die ihn wieder mal heimsuchte. Es gab keine Eishexen.

2

Kriminalinspektor Kristoffer Bark verließ das Turmzimmer und die Polizeizentrale. Es war Freitag, und er freute sich auf das Wochenende. Die Ferien waren zu Ende, aber das Wetter war immer noch fantastisch, obwohl es schon Herbst wurde. Er hatte mit seinem Vater verabredet, dass sie heute Abend am Ånnabodasjön grillen wollten. Seine kleine Schwester Kristina würde auch dabei sein, und wenn sie den Grill erst einmal angeworfen hatten, würden sie vom Steg aus eine Runde schwimmen gehen. Bei Kristoffer war kürzlich Epilepsie diagnostiziert worden, und er durfte für eine gewisse Zeit nicht Auto fahren. Deshalb würde Kristina ihn in der Drakenbergsgatan in Tybble abholen, wo er seit der Scheidung in einer Dreizimmerwohnung lebte. Es war eine ruhige Gegend gewesen – bis vorigen Herbst, als zwei Gewaltausbrüche und Schusswechsel das Viertel erschüttert hatten. Wahrscheinlich ein Bandenkrieg. Es war zwar niemand zu Schaden gekommen, doch begleitete die Bewohner des Stadtteils nun ein neues und fremdes Gefühl von Unsicherheit.

Kristoffer packte den Rucksack mit allem, was er für den Abend brauchte, und ging zum Parkplatz. Kristina war pünktlich. Er rutschte auf den Beifahrersitz ihres roten Mazda Miata. Es war immer noch ungewohnt und frustrierend, nicht selbst fahren zu dürfen.

»Pünktlich wie immer!«, sagte Kristina lachend. Sie wurde ihrer Mutter mit jedem Jahr ähnlicher. Das zum Pferdeschwanz gebundene dicke, blonde Haar und der schlanke Körper ließen sie jünger aussehen als die 46 Jahre, die sie zählte. Je nachdem wie das Licht fiel und welcher Laune sie war, waren ihre Augen mal blau und mal grün. Weil beide gern ihren jeweiligen Geburtsnamen – Bark und Löv – behalten wollten, hatten Kristina und ihr Mann als Kompromiss den Nachnamen Barklöv angenommen. Ihre Kinder waren inzwischen ausgeflogen und studierten in Umeå und Göteborg. Kristina hatte Kristoffer schon bei ihrem letzten Treffen anvertraut, dass sie es in dem Haus in Kumla viel zu still fand, seit Morgan und sie allein dort wohnten.

»Und wie steht's so um Leben und Liebe?«, fragte er, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten.

Kristina seufzte hörbar. »Morgan und ich sitzen am Küchentisch und haben nichts, worüber wir reden könnten. Es ist fast, als wären wir in der Gegenwart des anderen plötzlich schüchtern, obwohl wir doch mehr als ein halbes Leben zusammen verbracht haben. Ein Gefühl der Leere, wenn du verstehst, was ich meine«, erklärte sie. Und dann brach sie in Tränen aus.

»Was ist denn, Kristina?«, fragte Bark, legte den Arm um seine kleine Schwester und drückte sie an sich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal hatte weinen sehen. Da musste etwas Ernstes vorgefallen sein. Würden sie sich scheiden lassen? Hatte Morgan sie betrogen? Hatte jemand in der Familie eine Krebsdiagnose erhalten? Er strich ihr übers Haar, bis sie sich beruhigt hatte und erzählen konnte.

Kristina wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir das alles erklären soll, wo du doch allem gegenüber, was man nicht beweisen kann, so skeptisch bist«, sagte sie und ließ die Hand, die sie schon auf den Zündschlüssel gelegt hatte, wieder sinken. Sie standen immer noch auf dem Parkplatz.

»Versuch es«, ermunterte er sie und suchte den Blickkontakt zu ihr.

»Ich war gestern bei einem Medium«, sagte sie überraschenderweise und wandte sich ihm mit neuer Intensität zu. »Jetzt mach nicht so ein Gesicht, denn dann erzähle ich gar nichts. Es war so: Ich habe in der Zeitschrift Grenzland von dem neuen Medium Magdalena Fernåker gelesen, und das hat mich neugierig gemacht. Dann war ich voriges Wochenende auf diesem Kurs in Medialer Achtsamkeit. Das habe ich dir ja erzählt. Magdalena war eine der Seminarleiterinnen auf Himlagård.«

Kristoffer runzelte die Stirn und nickte, obwohl ihm das völlig entgangen war. Oder besser gesagt hatte er gedacht, dass es dabei um Medien und Journalistik ginge und nicht um ein »Medium«. Kristina war eigentlich ausgebildete Journalistin, doch dann hatte das Leben sie auf andere und verschlungenere Wege geführt. War es in dem Kurs wirklich um Spiritismus und Geisterwesen gegangen? Hatte sie vor, einen Artikel darüber zu schreiben?

Kristina sah ihn eindringlich an, um seine Aufmerksamkeit einzufangen. »Und weißt du, was Magdalena Fernåker zu mir gesagt hat?«

»Nein. Ich bin irgendwie nicht so hellseherisch veranlagt.« Er wollte nicht einmal einen Witz machen, sondern es rutschte ihm einfach so heraus. Doch Kristina hatte es offenbar überhört.

»Magdalena sagte zu mir, ich solle auf meinen Mann aufpassen. Sie habe Strömungen wahrgenommen, dass mir etwas Böses widerfahren würde. Eine Herzenstrauer.«

Bark konnte seine Reaktion nicht kontrollieren. »Was sind denn das für Dummheiten? Du wirst dich doch wohl nicht von einer alten Spökenkiekerin erschrecken lassen, die Unfug über deinen Mann erzählt? Sie hat gesehen, dass du einen Ehering trägst, und hat dir dann die Informationen entlockt, die sie brauchte. Diese Leute arbeiten mit cold reading, sie deutet also dein Mienenspiel und kleine Bewegungen. Wenn du wütend ausgesehen hast, als du deinen Mann erwähnt hast, war es nicht weiter schwer zu erraten, dass ihr Probleme habt. Ohne dass es dir bewusst war, hast du vielleicht genickt oder sahst bekümmert aus, und da ist sie weiter auf das eingegangen, was du sofort bestätigt hast. Wenn du das nächste Mal zum Pferderennen gehst, bitte sie vorher um ein paar Tipps.«

Jetzt bemerkte sie die Ironie. »Ich wusste schon, dass du so reagieren würdest! Warum kannst du nicht deine vorgefassten Meinungen einfach mal ablegen und mir die paar Minuten zuhören, die es dauert, etwas Wichtiges zu sagen? Für mich ist es jedenfalls wichtig«, fügte sie hinzu.

»Entschuldige. Ich höre zu.« Kristoffer richtete sich aus der unbequemen Haltung auf, in die er geraten war, als er versucht hatte, seine Schwester zu trösten. Es fiel ihm schwer, das kleine Lächeln zu unterdrücken, das sich breitmachen wollte, als ihm klar wurde, dass es um nichts Schlimmeres als die Verkündigungen einer Wahrsagerin ging.

Kristina blickte ihn enttäuscht an, aber das Bedürfnis zu erzählen siegte über die Lust, ihn mit Schweigen zu bestrafen. »Ich war zusammen mit meiner Nachbarin Nana bei dem Medium. Wir haben eine gemeinsame Stunde gebucht, weil das billiger ist, als einzeln zu gehen. Als Magdalena die Augen geschlossen hat, um sich in meine und Morgans Beziehung einzuschwingen, konnte sie alles wie Bruchstücke aus einem Film sehen und spüren. Sie sah, wie Morgan eine andere Frau küsste. Eine junge Frau mit schönen braunen Augen und langem blondem Haar.«

Kristina schüttelte sich und sah Kristoffer wachsam an, als würde sie nach Zeichen suchen, dass er ihr nicht glaubte. Dann fuhr sie fort. »Ich musste sofort an Jenny Lovik denken, das neue Mädchen, das in Morgans Firma Trainee ist. Sie hat langes, blondes Haar, und Morgan ist fasziniert von ihrer Energie und Kreativität, das hat er mir erzählt. Begreifst du, Kristoffer? Was sie gesagt hat, ist wahr! Da stimmen viel zu viele Details überein, als dass ich es einfach wegwischen könnte. Magdalena sieht in Bildern. Sie hat die altmodischen Möbel, das Kaminfeuer und die Jugendstil-Erkerfenster im Salon beschrieben und die Kristallkandelaber im Wellness-Bereich. Das gelbe Holzhaus mit Glockenturm, den See und das weiße Badehaus draußen auf dem Steg, auf dem Morgan die blonde Frau geküsst hat. Da wurde mir klar, dass das in Loka Brunn gewesen sein muss. Es war so deutlich, als würde ich es selbst sehen. Morgan war kurz zuvor dort auf einer Konferenz gewesen. In Loka. Was sagst du dazu?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es gespürt. Er war so ungewohnt fröhlich, ohne dass ich einen Grund dafür hätte erkennen können. Manchmal steht er seitdem am Fenster und lächelt über etwas, woran er denkt, oder über jemanden, an den er denkt. Und wenn ich frage, was los ist, dann sagt er, nichts Besonderes. Begreifst du jetzt, dass es stimmt, Kristoffer?«

»Aber hast du denn Morgan gefragt, was davon stimmt? Es ist ziemlich übel, wenn du ihm misstraust, ohne mit ihm darüber zu sprechen. Vor allem jetzt, wenn eure Beziehung nicht in Bestform ist. Daraus wird leicht eine Selffulfilling Prophecy. Du bist misstrauisch. Er fühlt sich infrage gestellt und wird sauer. Du findest, er geht auf Distanz, und wirst noch misstrauischer. Das klingt nach einer unheilvollen Spirale. Ich finde, du solltest mit ihm reden.«

Kristina sah ihren Bruder trotzig an und legte einen Kickstart mit dem Auto hin. »Das werde ich auch!«

Sie schwiegen, bis sie aus der Stadt heraus waren. Kristoffer war klar, dass sie wütend auf ihn war. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, jetzt den Ball flach zu halten, bis der schlimmste Ärger verraucht war.

Als sie auf den Grävevägen Richtung Garphyttan gekommen waren, erzählte sie weiter, doch jetzt aus einer anderen Perspektive. »Bei dem Kurs auf Himlagård hat Magdalena, also das Medium, noch von einer anderen Sache erzählt, die dich eigentlich interessieren müsste. Es geht um einen Mord.«

»Okay«, sagte er in leichtem Ton, um die Stimmung nicht zu ruinieren, da sie gerade etwas aufgetaut war.

»Über den Mord hat auch was in Grenzland gestanden. In dieser Reportage hat sie erzählt, dass ein Kind von der anderen Seite versuchen würde, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ein kleines Waisenmädchen von neun Jahren. Das Mädchen könne keinen Seelenfrieden finden und nicht weiter ins ewige Licht gehen, weil sie so einen schrecklichen Zorn in sich habe. Sie müsse Gerechtigkeit erlangen.« Kristina sah ihn kurz an, bevor sie knapp jemanden überholte. Dann ging sie etwas mit dem Tempo runter, weil sie schon mit weit mehr als der zugelassenen Geschwindigkeit unterwegs war.

Kristoffer straffte den Sicherheitsgurt und hielt sich krampfhaft am Seitengriff fest. Er hasste es, Beifahrer zu sein und seiner impulsiven Schwester die Kontrolle überlassen zu müssen.

»Was hat sie denn noch gesagt? Ist jemand für den Mord verurteilt worden?«

Kristina warf ihm einen Seitenblick zu. »Nein, niemand, und das genau ist es, weshalb das unglückliche Kind Magdalena aufsucht und sie um Hilfe bittet. Die Seele des Mädchens befindet sich in einer Dimension, in der sie schlimm gequält wird. Sie muss Frieden finden.«

»Hat das Mädchen einen Namen? Wann ist der Mord geschehen, und wo liegt die Leiche?«

Kristina lächelte, und sogar von der Seite konnte er erkennen, wie sie glaubte, ihn am Haken zu haben. Dabei wollte er doch einfach nur Streit vermeiden.

»Ich weiß nicht, wie das Kind heißt, oder wann es gestorben ist. Aber auf Himlagård hat Magdalena erzählt, das Mädchen würde ganz hinten in einer Felsengrotte liegen, die von dunklen Tannen mit herabhängendem Moos umgeben sei. Sie könne das Plätschern eines Bachs hören, und außerdem würde sie gelbes Birkenlaub erkennen, das wie Goldtaler vom Himmel gefallen sei. Das Mädchen wagt sich nur nachts raus, dann pflückt es im Mondschein Beeren. Die Kleine ist um ihr Leben gerannt. Als Magdalena die Gegend beschrieb, dachte ich an das Naturschutzgebiet Skärmarboda, wo wir früher mit Mama und Papa immer gewandert sind. Ich werde das mal überprüfen, denn sie hat es sehr deutlich beschrieben. Wenn wir die sterblichen Überreste des Mädchens finden, dann stimmt sicher auch das andere, was sie über Morgan gesagt hat. So denke ich. Aber ich will nicht alleine dorthin gehen. Das Gebiet da oben ist zum Teil unwegsam. Man rutscht leicht aus und verletzt sich, da kann man schon mal ein paar Meter tief fallen, es ist felsiger Untergrund. Kannst du morgen dorthin mitkommen?«

Kristoffer hatte keine Chance. Hier Ja zu sagen, wäre sicherlich das Einfachste, ein Nein würde ihm mehr abverlangen. Das war ein Kräftemessen, aus dem er gewiss nicht als Sieger hervorgehen würde, weil seine Schwester niemals klein beigab. Also sagte er widerwillig Ja.

3

Am nächsten Morgen würden sie bei den Steingrotten in Skärmarboda nach einem Kinderskelett suchen, doch trotz des Versprechens, das ihm im Grunde widerstrebte, war der Freitagabend am Ånnabodasjön wunderbar. Während Kristoffer am Grill stand, färbte sich der Himmel langsam rot und gelb und spiegelte sich im dunklen Wasser des Sees. Er war kurz vorher hineingesprungen und auf die andere Seite und zurück geschwommen. Die Temperatur war perfekt, das Wasser wie Samt auf der Haut. Vater Robert und Kristina waren noch im See. Obwohl sie sich ein paar hundert Meter entfernt befanden, trug der Wind ihre Stimmen über das Wasser, sodass alles, was sie sagten, deutlich und klar zu verstehen war. Sie redeten darüber, wie die Granitgrotten im Naturschutzgebiet Skärmarboda entstanden waren. Die wunderschöne Natur von Bergslagen gehörte zu den Lieblingsthemen ihres Vaters. Seit sie klein waren, hatte er sie mit auf seine Wanderungen genommen.

»Jahrtausendelang lag Skandinavien unter einer Eisdecke, die sich bewegte und große Steinquader mit sich führte. Als das Eis schmolz, bildete sich das Yoldia-Meer, ein offenes Gewässer, das bis nach Russland reichte. Die Uferlinien verliefen genau bei Skärmarboda. Bei Galtapussen kann man immer noch entlang der alten Uferlinie geschliffene kleine Steine finden.«

»Ich erinnere mich, dass wir die gesehen haben«, sagte Kristina. »Da war doch eine Feuerstelle, und wir haben in der Schutzhütte übernachtet, und du hast so schreckliche Schauergeschichten erzählt, dass Jan sich nicht getraut hat, einzuschlafen, solange du nicht seine Hand gehalten hast.«

»Ja, da habe ich vielleicht ein bisschen zu viel erzählt«, gab Robert zu, und in seiner Stimme klang Trauer an. »Ich hätte alle meine Kinder am liebsten an einem Ort versammelt und hoffe, dass Jan irgendwann wieder nach Schweden zurückkommen wird, sodass wir uns öfter sehen können.« Er wechselte das Thema, das ihm jetzt offenbar zu emotional wurde.

»Die großen Mengen Schmelzwasser rissen lose Steine und Kies mit sich, und die Grotten blieben übrig. Wie ich hörte, wollt ihr morgen dorthin. Ich würde ja gerne mitkommen, aber ich habe Berit und den anderen Damen aus der Straße ein Picknick versprochen, es muss also ein anderes Mal werden.« Jetzt nahm seine Stimme einen schwärmerischen Ton an. »Wenn ihr bis zur Dämmerung im Naturschutzgebiet bleibt, dann werdet ihr vielleicht den Ziegenmelker hören, und ich erinnere mich, dass es da auch viele Spechte gibt.«

»Läuft da was zwischen dir und Berit?«, fragte Kristina, die sich keinen Deut für Vögel interessierte.

Robert lachte, sodass es über den See hallte. »Du willst also einen Einblick in mein Privatleben? Berit und ich, wir treffen uns in gemäßigten Dosen. Wenn wir unsere Ruhe haben wollen, geht jeder zu sich nach Hause. Wir nehmen den Tag, wie er kommt.«

Kristoffer wusste, dass Kristina ihrem Vater Gesellschaft für den Herbst des Alters gönnte, obwohl sie als Teenager wie ein Geier darüber gewacht hatte, dass niemand den Platz ihrer Mutter einnahm. Kristoffer war in der Oberstufe auf dem Gymnasium gewesen, als ihre Mutter eine aggressive Form von Brustkrebs bekam, den man nicht heilen konnte. Sie wollte zu Hause sterben, und er hatte ein Sabbatjahr genommen, um sie die letzte Zeit begleiten zu können. Sein Vater hatte wie ein Wahnsinniger gearbeitet, um seine Trauer bewältigen zu können, und Kristina hatte mit Wut reagiert. Ihr kleiner Bruder Jan hatte alles schweigend und verbissen in sich getragen und sich geweigert, darüber zu reden. Nach dem Gymnasium hatte Jan im Ausland studiert und war dortgeblieben. Wahrscheinlich wählte man seine Reaktionen nicht selbst, man war einfach, wie man war, und tat sein Bestes, um dem schlimmsten Schmerz aus dem Weg zu gehen, dachte Kristoffer.

Sein Vater und Kristina kamen jetzt in Badelaken eingewickelt vom Steg. Die Abendsonne legte einen warmen, roten Filter über Erde, Bäume und See. Sie ließen sich im Gras auf einer Decke nieder, wo Kristoffer Tacos, Aioli, Mango Salsa und grünen Salat platziert hatte. Er legte den gegrillten Fisch auf eine Platte und servierte ihn, sodass sie ihre eigenen Fisch Tacos machen konnten. Dazu gab es eine Flasche Weißwein, die zum Kühlen im seichten Wasser am Seeufer gelegen hatte. Kristina war die Chauffeurin und musste sich mit Mineralwasser begnügen. Sie warf Kristoffer einen leidenden Blick zu, als er ihr einschenkte.

»Was wohl Mama sagen würde, wenn sie heute Abend mit uns hier sitzen und den Sonnenuntergang betrachten könnte«, sagte Robert gedankenverloren.

»Woher willst du wissen, dass sie das nicht tut?«, fragte Kristina mit einem rätselhaften Lächeln. »Vielleicht ist sie ganz in der Nähe, obwohl wir sie weder sehen noch hören können. Ich denke oft, dass sie es ist, die mir übers Haar streicht, obwohl ich das durchaus mit dem Wind, der vorbeizieht, wegerklären könnte. Und wenn der Wind stark von hinten weht, dann spüre ich ihre Hand im Rücken.«

Kristoffer wollte gerade bemerken, wie schön sie das ausgedrückt hatte, als sie fortfuhr: »Ich habe schon überlegt, Magdalena zu fragen, ob sie mir helfen kann, Kontakt zu bekommen.«

»Kontakt mit Mama?«, fragte Robert erstaunt.

»Ja«, sagte Kristina.

»Wer ist denn Magdalena?« Ihr Vater sah besorgt aus.

»Eine Wahrsagerin, bei der ich gewesen bin.«

Robert legte seine Hand schwer auf Kristinas Schulter und sah ihr in die Augen. »Einige Dinge sollte man für sich behalten und nicht mit Außenstehenden teilen. Für mich ist die Erinnerung an Mama heilig und kostbar. Ich möchte keine Interpretation von einer Fremden, die dafür Geld nimmt, Spekulationen anzustellen. Lass Mama in Frieden ruhen!«

Die Stimmung war daraufhin gedrückt, und sie versuchten, neutrale Gesprächsthemen zu finden. Doch der Zauber des Moments und die Ruhe des Abends waren verloren gegangen, und als die Sonnenscheibe im Westen hinter den Kronen der Kiefern versank, brachen sie auf. Kristina hatte ihrem Vater nicht von ihrem Verdacht gegen Morgan berichtet. Wahrscheinlich spürte sie, dass er genauso reagieren würde, wie Kristoffer es getan hatte.

Sie setzten sich ins Auto, um Richtung Stadt zu fahren, und ließen ihren Vater an seinem Haus in Garphyttan raus. Kristina sprach über dieses und jenes, aber Kristoffer hing den Gedanken an seine Mutter nach. Er dachte an die lichten Momente, an die Qualen ihrer letzten Wochen und an die Versuche, die er unternommen hatte, seinen Vater dazu zu bringen, sich einen Moment hinzusetzen und ihre Hand zu halten. Doch das war schwer gewesen, denn Robert glaubte, stark sein zu müssen und ihnen seine Verzweiflung nicht zeigen zu dürfen. Erst in der letzten Nacht hatten sie gemeinsam weinen können.

»Wir sehen uns morgen um zehn Uhr«, sagte Kristina, als sie Bark an der Drakenbergsgatan rausließ.

»Abgemacht!« Bark stieg die drei Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Als er die Tür öffnete, war er wehrlos gegen die Einsamkeit, die ihm entgegenschlug. Er sank auf das Sofa und griff nach der Fernbedienung, damit es nicht so still war. Die letzte Sendung der Lokalnachrichten hatte gerade begonnen. Regina Zimmermann, Polizeichefin der Region Örebro und Barks Chefin, war zu sehen und sprach über Gangkriminalität, Drogenhandel und Einbrüche, die im Laufe des Sommers in der Region stark zugenommen hatten.

»Wir sind der Ansicht, dass die Einbrüche mit der Drogensucht zusammenhängen. Die Preise für Drogen sind gestiegen, und wer kein Geld hat, muss etwas stehlen, was er verkaufen kann, um die Drogen bezahlen zu können. Vor allem der partymäßige Konsum von Kokain in den entsprechenden Lokalitäten hat die Preise hochgetrieben. Das ist Geld, das direkt an das kriminelle Netzwerk geht.«

Der Reporter sah direkt in die Kamera, obwohl seine Worte an Regina Zimmermann gerichtet waren. »Was wollen Sie denn den Leuten sagen, die in einer Bar Kokain schnupfen? Laut einer Untersuchung von Aftonbladet sind in zwei von drei Lokalen in der Stadt Spuren von Kokain gefunden worden.«

»Ich will ihnen sagen, dass so was teurer ist, als sie glauben, weil es auch Steuergelder kostet – für polizeiliche Ermittlungen, Gerichtsverfahren, medizinische Betreuung der Drogenabhängigen und derjenigen, die in Bandenkriegen verletzt werden. Meine Ermahnung lautet also: Hört auf, Kokain zu kaufen, und sucht euch Hilfe, wenn ihr alleine nicht aus der Abhängigkeit herauskommt.«

Bark schaltete den Fernseher aus. Er hatte dieses Wochenende frei und musste sich ausruhen. Seit er aus dem Urlaub zurückgekommen war, hatte das Team im Turmzimmer daran gearbeitet, die Verantwortlichen für die Einbrüche in der Weststadt zu finden. Das Team, dessen Chef er war, bestand aus Kollegen, die versetzt worden waren, weil sie im normalen Polizeialltag nicht funktionierten. Da war Henrik Larsson, ein Vater von fünf Kindern und ein ausgezeichneter Ermittler, wenn er denn vor Ort war und sich auf die Arbeit konzentrieren konnte. Jetzt, in Corona-Zeiten, hatte er bis zu achtzig Prozent gefehlt, und seine leicht zu weckende Hypochondrie stand in voller Blüte. Nicht einmal seine Frau, die Ärztin war, hatte es geschafft, ihn zu beruhigen. Die von ihm persönlich georderten Mengen an Desinfektionsmittel hatten Zimmermann an die Decke gehen lassen, und das rigorose Regelwerk, das er auf das Whiteboard geschrieben hatte, ließ die Empfehlungen der staatlichen Gesundheitsbehörde wie Seifenblasen im Wind wirken. Henrik Larsson und Ingrid Johansson waren in den letzten Monaten immer öfter in Streit geraten. Sie hielt sich auf Abstand, indem sie in ihrer Abseite arbeitete, und hatte nicht vor, das Zimmerchen jede zweite Stunde zu desinfizieren, wenn sie doch allein dort saß. Ingrid hatte zuvor in der Asservatenkammer gearbeitet und dann beim Lager für Fahrrad-Fundsachen, wo sie gestohlene Fahrräder gelistet hatte. Angeblich war sie dort gelandet, weil sie den falschen Personen unbequeme Wahrheiten gesagt hatte – etwas, was sie trotz Ermahnungen weiter zu tun gedachte. Als das Team gebildet wurde, hatte Kristoffer verlangt, Ingrid als Hilfe zu bekommen, weil sie sich in den Registern der Polizei bestens auskannte und ansonsten die Informationen, die sie dort oder im Archiv nicht fand, über Bekannte von Bekannten herausbekam. In ihrer Freizeit betrieb sie ein kleines Bücher-Café im Folkets Hus von Vintrosa.

Dann war da noch Sara Bredow, eine fähige Polizistin, die wegen Burn-outs langzeitkrankgeschrieben war, nachdem ihr Mann ermordet und sie von einem Verrückten schikaniert worden war. Sie war alleinerziehend mit ihrer fünfjährigen Tochter Moa. Bark hatte sie während ihrer Krankheitszeit näher kennengelernt und versuchte seitdem, seiner Verantwortung als Chef gerecht zu werden und den Kontakt zu ihr zu halten. Sara war aus dem Krankengeld ausgesteuert worden, und sie bekam keine Unterstützung mehr von der Krankenkasse. Also hatte Bark, da sie selbst keine Kraft dazu hatte, sie vor dem Verwaltungsgericht vertreten und die Entscheidung der Krankenkasse angefochten. Jetzt warteten sie auf das Urteil. Sara hatte große Angst vor der Zukunft. Ihre dringendsten Rechnungen hatte Bark vorerst bezahlt, und Sara wollte nichts lieber, als in ihren Job als Polizistin zurückkehren zu können, doch ihre Heilung brauchte Zeit. Der Plan war, dass sie zu fünfundzwanzig Prozent wieder arbeiten würde. Die Krankenkasse war der Ansicht, dass sie ihren Job bei der Polizei kündigen und eine »allgemein ausgeschriebene Tätigkeit« auf dem Arbeitsmarkt annehmen sollte. Das bedeutete in der Praxis einen Fake-Job, den sich die Krankenkasse ausgedacht hatte und den nun die Arbeitsvermittlung herbeizaubern sollte.

Als Letzter war Alex Berger ins Team gekommen, ein junger Polizeianwärter, der eine Festanstellung bekommen hatte, obwohl man ihn in schwierigen Situationen nicht einsetzen konnte. Wie er den psychologischen Test innerhalb der Ausbildung bestanden hatte, war ein Rätsel für alle Beteiligten, denn er besaß keinerlei Impulskontrolle. Seine Mutter, Mia Berger, war Ermittlerin, Psychologin und Täterprofilerin der Region Bergslagen. Sie hatten bei einigen Fällen zusammengearbeitet, und zuvor war Bark an sie als Therapeutin vermittelt worden, um zu lernen, mit seinen Dämonen umzugehen. Im Verlauf der Therapie hatte er sich in Mia verliebt, und das war er immer noch, obwohl sie sich nicht gesehen hatten, seit sie sich an Weihnachten bei einem Konzert in der Nikolaikirche in dem schüchternen Versuch, das Unmögliche zu wagen, an den kleinen Fingern gehalten hatten.

Kristoffer stand auf und schaltete den alten CD-Player an. Seine Tochter Vera hatte ihm eine CD mit ihren Lieblingssongs gebrannt. Im selben Jahr war sie auf ihrem Junggesellinnenabschied spurlos verschwunden. Während man anfangs fürchtete, sie sei bei einem Bootsunfall ertrunken, hatte Bark fünf Jahre später ihre Leiche gefunden – Vera war ermordet worden. Die CD war sein kostbarster Besitz. Diese und der Bergkristall, den sie immer an einer Kette um den Hals getragen hatte. Jeden Abend, bevor Bark schlafen ging, zündete er im gusseisernen Halter auf dem Küchentisch eine Kerze an, um sich an Vera zu erinnern und den Tag Revue passieren zu lassen. Veras Stimme und ihre Gedanken waren in ihm. Er wusste, was ihre Reaktion gewesen wäre, wenn er ihr von dem Gespräch mit seiner Schwester erzählt hätte. »Kristina ist total durchgeknallt«, sagte er laut.

Und in seinem Kopf hörte er das Lachen in Veras Stimme: »Ich weiß, das war schon immer so, aber deshalb lieben wir sie doch, oder?«

4

Während der Nacht regnete es heftig. Kristoffer wachte auf und horchte auf die Trommelwirbel am Schlafzimmerfenster und dachte, dass sie wahrscheinlich die Wanderung am nächsten Tag würden absagen müssen. Wenn man nach einem Regen in den Bergen wanderte, bestand immer die Gefahr, wegzurutschen. Doch am Samstagmorgen hatte es aufgehört zu regnen, und als er die Vorhänge öffnete, blendete ihn die Sonne.

Als seine Schwester eine Stunde später an Kristoffers Tür klingelte, war sie nicht allein. Das war so typisch Kristina, dass ihre Freundinnen einfach unangemeldet dabei waren, als seien sie ein Teil der Familie. Das war schon immer so gewesen. Kristina konnte nicht allein sein, sie brauchte immer jemanden um sich.

»Das hier ist Nana Blymark, von der ich dir erzählt habe. Sie wird mit ins Naturschutzgebiet Skärmarboda kommen, denn sie möchte das ermordete Mädchen auch unbedingt finden. Magdalenas Geschichte hat sie genauso gepackt wie mich. Und vielleicht erinnert sie sich noch an Dinge, die ich nicht mitgekriegt habe.«

Kristina machte einen Schritt zur Seite. »Nana, das hier ist mein Bruder Kristoffer.«

»Wie schön, Kristinas Bruder zu treffen, von dem ich schon so viel gehört habe«, sagte die Freundin begeistert.

Nana sah aus, als wäre sie mindestens zehn Jahre älter als seine Schwester. Sie trug ein T-Shirt und Trainingshosen, die locker um den sehnigen Körper hingen. Ihre Haltung war gerade, die Haare waren kurz geschnitten und dunkel, die Augen wach und braun, die Lippen blass. Doch die Fingernägel waren auffällig lang und rot lackiert. Er dachte flüchtig, ob sie die vielleicht bei Kristina im Schönheitssalon in Kumla hatte machen lassen. Seine Schwester hatte ihren Salon Ganz du genannt und betrieb ihn seit Jahresbeginn, zusammen mit ein paar Freundinnen. Da konnte man sich die Haare schneiden und die Nägel machen lassen und außerdem massiert werden. Er war noch nicht dort gewesen, um es sich anzuschauen, obwohl Kristina ihm seit der Eröffnung damit in den Ohren lag. Sie hatten einen ziemlich knackigen Start hingelegt.

»Na, dann fahren wir doch mal, oder?«, sagte Kristina. »Bist du fertig?«

Kurz darauf saßen sie im Auto und fuhren auf der Landstraße Richtung Naturschutzgebiet Skärmarboda. Nana saß auf dem Rücksitz, Kristoffer vorne, damit er Platz für seine Beine hatte. Er war ein gutes Stück über eins neunzig und stieß in dem niedrigen Auto fast mit dem Kopf ans Dach.

Kristoffer hatte sich die Zeit genommen, etwas über das Naturschutzgebiet zu lesen. Insgesamt gab es dort einen ungefähr zehn Kilometer langen markierten Wanderweg. Die Strecke würden sie im Laufe des Tages gut schaffen, auch wenn das Terrain wegen großer Höhenunterschiede streckenweise anspruchsvoll war. Manchmal hatte sich der Boden auf der einen Seite gehoben und war auf der anderen sehr tief abgesunken, wie Treppenstufen. Als Kind hatte sich Kristoffer wie Liliput in der Welt der Riesen gefühlt. Man musste sich vor den steilen Felskanten in Acht nehmen, vor allen Dingen, wenn es geregnet hatte. Einmal, als er zu nah an die Kante gegangen und fast in die Schlucht gerutscht war, hatte seine Mutter vor Schreck aufgeschrien. Es war eine heftige Erinnerung, die da plötzlich in ihm auftauchte. Das war am Busberget gewesen, und er fand, es wäre trotz dieser Erinnerung schön, diesen Ort einmal wiederzusehen. Doch wahrscheinlich wollten seine beiden Begleiterinnen abseits der Wanderwege nach Höhlen suchen. Es gab ungefähr zweihundert solcher Grotten. Die meisten waren so groß, dass fünf Personen oder mehr darin Platz fanden, und es wurden immer noch neue entdeckt. Laut Magdalena Fernåker, dem Medium, das Kristina getroffen hatte, sollten also die sterblichen Überreste eines neunjährigen Mädchens in einer der Grotten zu finden sein. Kristoffer hatte kein Interesse, nach einem Skelett zu suchen, doch er hatte vor, die Wanderung und die Natur zu genießen.

Während der Fahrt diskutierten sie, wie sie die Wanderung angehen sollten. Vom südlichen Teil am Rastplatz Bergslagsporten könnten sie den Aussichtspunkt Süd erreichen. Doch Nana war der Meinung, das Medium habe mehr vom nördlichen Teil gesprochen.

»Das stimmt. Magdalena hat von den Berggipfeln Suggan und Galten gesprochen«, sagte Kristina. »Das ist der Name von zwei Aussichtsplätzen im Norden.«

Nana studierte die Karte und antwortete bedächtig. »Der Aussichtspunkt Suggan liegt 140 Meter über dem Meeresspiegel. Von dort aus müsste man den spektakulären Flusslauf des Järleån sehen und das Torfmoor, falls du bei unserer Rast eine schöne Aussicht haben willst, Kristoffer. Im nördlichen Teil gibt es unter anderem die Mammutgrotte und die Kellerdieb-Grotte.«

»Papa hat von dem Kellerdieb erzählt«, sagte Kristina. »Das war ein Landstreicher, der sich auf die Wanderung begeben hat. Er hat Konserven aus Kellern gestohlen und sie in der Grotte versteckt. So hat sie ihren Namen bekommen.«

Kristina parkte, und sie stiegen aus. Die Luft war nach dem Regen frisch und kühl, doch sah es so aus, als würden sich die Wolken wieder verdichten. Über der Berglandschaft hing ein grauer Dunst. Sie zogen ihre Wanderschuhe an, setzten die Rucksäcke auf und begannen durch den uralten Wald in Richtung »Thron des Steinmanns« zu gehen. Als sie höher kamen, sahen sie glatte Felsen, und über den Tälern sammelte sich ein leichter Nebel. Ein Stück in den Tannenwald hinein konnten sie Überbleibsel aus der Zeit erkennen, als die Kohlenmeiler noch brannten und die Köhler, die auf sie aufpassten, hier in ihren Hütten wohnten. Ein riesiger Fels lag quer über dem Weg, als hätte ein Riese ihn erst kürzlich hierhergeworfen, und es sah aus, als würde der Stein sich noch hin und her wiegen.

Das Terrain war anstrengender, als Kristoffer erwartet hatte. Kristina keuchte und rang nach Atem, um mit Nana Schritt zu halten, die leicht wie eine Bergziege auf den Gipfel kletterte, wo der Boden aus rund geschliffenen Felsen bestand. Sie holten ihre Sitzunterlagen heraus und deckten auf, was sie an Kaffee, belegten Broten und Zimtschnecken dabeihatten. Nana vermittelte einen ruhelosen Eindruck und sah aus, als wolle sie weitergehen, noch ehe Kristoffer sein erstes Salamibrot gegessen hatte.

»Was arbeitest du?«, fragte er, um höflich zu sein. Nana war während der Wanderung sehr wortkarg gewesen.

»Ich bin Maklerin, aber im Moment hänge ich zwischen zwei verschiedenen Jobs«, antwortete sie fast ein wenig schüchtern.

Er hätte Krankengymnastin oder Sportlehrerin geraten.

»Wieso habt ihr an diesem Kurs über Mediale Achtsamkeit teilgenommen?«, fragte er die beiden.

Er konnte immer noch nicht begreifen, dass seine Schwester ihre medialen Fähigkeiten erforschen wollte. In ihrer Jugend hatte sie noch nicht einmal in ihrer eigenen Schublade ein paar saubere Strümpfe finden können.

»Der Kurs war preiswert«, sagte Nana, und zum ersten Mal sah er sie lächeln, sodass ihre Grübchen deutlich wurden. »Alles zusammen kostete nicht einmal vierhundert Kronen. Essen und Unterkunft und der Meditationskurs selbst. Also habe ich zugeschlagen. Schließlich lernt man so neue Leute kennen und was Neues über sich selbst und das Leben.«

»Ich bin hingefahren, weil ich neugierig auf Magdalena Fernåker war«, erwiderte Kristina. »Sie ist charismatisch und sehr sympathisch, und diese Reportage über das Mädchen, das Magdalena aufsucht, wenn sie meditiert, und das um ihre Hilfe bittet, hat mich zutiefst berührt. Ich glaube, dass sie wahr ist.«

»Und was denkst du?«, fragte Kristoffer und wandte sich an Nana.

»Früher einmal glaubte man, die Erde sei eine Scheibe, weil man sie nicht ausreichend erforscht hatte. Es war sogar verboten, eine abweichende Meinung dazu zu haben. Also habe ich beschlossen, allen neuen Ideen mit offenen Sinnen zu begegnen.«

Kristoffer lächelte sie an, obwohl sein Inneres sich verkrampfte, wenn er an seine Tochter dachte. »Es ist nicht verboten, an Geisterwesen zu glauben und mit den Toten zu sprechen. Ich würde nur sagen, dass es Zeitverschwendung ist, wenn es doch so vieles in unserer gemeinsamen Wirklichkeit gibt, um das man sich kümmern muss. Menschen, denen es schlecht geht, die Umwelt …« Er selbst gönnte sich nur des Abends, an Vera zu denken. Aber von Zeit zu Zeit wurde er von der Erkenntnis heimgesucht, dass sie tot war, und dann fiel die Sinnlosigkeit wie ein Netz über das Leben, das er leben musste, und hielt ihn gefangen.

»Das eine muss das andere ja nicht notwendigerweise ausschließen. Und, sollen wir weitergehen?« Nana sammelte ihre Sachen in den Rucksack und stand auf.

»Ich musste an eine Sache denken, die in der Reportage über Magdalena stand«, sagte Kristina, die nach der Pause frischer wirkte. »Sie hat von einem Bart im Wald gesprochen, da sollte die Grotte sein.«

Das war eine überraschende Wendung. Kristoffer konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Kristina sah gekränkt aus, aber das machte es nur schlimmer. Er konnte einfach nicht aufhören zu lachen.

Nana nahm Kristina in Schutz und erklärte: »Es gibt Flechten, die Bartflechten oder Baumbart genannt werden. Sie gehören zu den bedrohten Pflanzenarten. Diese Flechten leben in uralten Wäldern, wo die Luft sauber und feucht ist. Ihr werdet die Grotte im Wald finden, wo Bärte wachsen, hat Magdalena gesagt. An manchen Stellen ist der Urwald vierhundert Jahre alt oder noch älter, er wächst langsam und ist sehr dicht. Aber wie gesagt, hier gibt es über zweihundert Grotten, vielleicht noch mehr. Wir können sie sowieso nicht alle durchsuchen.«

Sie waren eine Zeit lang steil bergan gestiegen, und dann machten sie eine Pause, um etwas zu trinken. Kristina hatte von der Anstrengung rote Flecken im Gesicht. »Wir müssen das Mädchen finden, damit ihre Seele zur Ruhe kommen kann. Wenn wir ein Kinderskelett entdecken, dann heißt das, dass ich auf Magdalenas Fähigkeiten vertrauen kann. Dann ist sicher das andere, was sie über Morgan erzählt hat, auch wahr. Ich will ihn nicht mit seiner Untreue konfrontieren, ohne etwas mehr in der Hand zu haben.«

Kristoffer warf seiner Schwester einen wachsamen Blick zu. »Ich finde, es ist besser, wenn du das, was dir im Kopf herumgeht, direkt mit Morgan besprichst.«

»Ich brauche Beweise!« Kristina folgte Nana, die weitergegangen war. Kristoffer machte sich langsam Sorgen, dass Kristina es vielleicht nicht zum Auto zurückschaffen würde. Schon jetzt bemerkte er, wie unsicher sie auftrat, wenn sie steile Abschnitte hinunterkletterten. Als sie einmal fast ausrutschte, fing er sie in seinen Armen auf. »Sollen wir nicht umdrehen?«

»Auf keinen Fall!«, entgegnete seine Schwester und ging schneller.

Der Wald wurde tiefer und dichter, der Duft von Nadeln und Moos, die vom Regen aufgeweicht waren, wurde stärker. Verschlungene Wurzeln lagen wie Stolperfallen auf dem Weg, und Kristina wäre mehrere Male fast hingefallen, sodass er ihr die Hand reichen und ihr aufhelfen musste, doch sie gab nicht auf. Als sie die ersten Bartflechten von den Ästen hängen sahen, wollte Kristina den Pfad verlassen und weiter absteigen. »Wir müssen hier entlang. Ich weiß es. Magdalena hat gesagt, dass wir den Weg an der Stelle, wo er eine Biegung macht, verlassen und circa fünfhundert Meter weitergehen sollen. Seht ihr den Felsen da unten? Das ist ein Zeichen, seine Spitze weist zu der Grotte hin, genau wie Magdalena es gesagt hat.«

»Ich finde nicht, dass wir den Weg verlassen sollten«, entgegnete Kristoffer. Doch Kristina hörte nicht auf ihn. Sie hatte schon begonnen, den Abhang hinunterzugehen oder vielmehr zu springen, und Nana folgte ihr. Als Kristoffer die beiden einholte, stand Kristina mit einer Taschenlampe in der Hand unter einem großen Felsblock. »Es ist hier! Das stimmt genau mit Magdalenas Vision überein. Sie hat diese Formation aus drei Steinen beschrieben und auch den, der in die richtige Richtung zeigt. Ich sehe etwas, das eine Öffnung sein könnte, doch das ist weiter da unten.«

Sie blieb stehen und sah aus, als würde sie den Abstand nach unten abschätzen.

»Warte, mach langsam, Kristina!« Kristoffer fand, es sah aus, als ob der größte der Steine jederzeit herunterkrachen und seine kleine Schwester erschlagen könnte. Plötzlich rutschte sie ab, und einen kurzen Moment lang glaubte er, sie würde das Gleichgewicht verlieren und fallen.

»Alles gut?«, fragte er.

Kristina seufzte. »Ja, aber ich habe mein Handy verloren.« Sie setzte sich hin und begann Stück für Stück den Abhang hinunterzurutschen. Als sie unten ankam, dauerte es nicht lange, bis sie rief: »Ich habe das Handy gefunden! Es ist noch in Ordnung.«

Kristoffer beugte sich hinunter, um zu sehen, wohin sie verschwunden war, konnte sie aber nicht entdecken. Hatte sie die Öffnung zu der Grotte gefunden? Stück für Stück kletterte auch er nach unten. Das Moos war rutschig und glatt.

»Hier liegt etwas«, war Kristinas Stimme von weit entfernt zu hören.

Kristoffer ging in Richtung der Grottenöffnung, die zum Teil hinter einem Busch verborgen war. Dann hörte er den Schrei seiner Schwester zwischen den Felswänden widerhallen und sah das Licht ihrer Taschenlampe flackern.

»Mein Gott, es ist wahr! Hier liegt ein Skelett!«

Kristoffer lief zu ihr und sah, was sie auch gesehen hatte: ein menschliches Skelett, ein Kind von acht bis neun Jahren vielleicht. Die langen Haare bestanden aus verfilzten Locken und waren immer noch rot. Die Kleiderfetzen sahen aus, als wären sie einmal rot oder rosa gewesen. Neben dem Skelett lagen alte Konservendosen und ein Campingkocher. Wie lange hatte das Mädchen hier gelegen? Was war ihm zugestoßen? Er konnte nicht umhin, das Schlimmste anzunehmen. Im Laufe seiner Jahre als Polizist hatte er mehr menschliches Böses gesehen als die meisten. Jemand musste sie doch vermisst und sich gefragt haben, wo sie war.

Bark hob den Blick und sah Kristina, die dastand, die sterblichen Überreste des Kindes betrachtete und hemmungslos weinte. »Wie lange kann sie schon tot sein?«, schluchzte sie und klammerte sich an seinen Arm.

5

Magdalena Fernåker verspürte eine mahlende Sorge, dass alles scheitern könnte. Diese ständige Sorge war ein Fluch, der sie schon ihr ganzes Leben lang verfolgte. Doch wer etwas gewinnen wollte, musste auch etwas wagen. Das hatte Lorentz Brunnberg, der Gründer und Guru von Himlagård zu ihr gesagt, als sie nach den Sitzungen, die ihrem Leben eine neue Wendung gegeben hatten, weinend zu seinen Füßen lag.

»Du wählst deinen Weg selbst. Warum willst du elend und unglücklich sein, wenn du Glück und Reichtum wählen kannst?«

»Weil ich nicht weiß, wie man das macht«, hatte sie in ihrer großen Verzweiflung darüber, so grau und unscheinbar zu sein, geklagt.

»Ich werde dir den Weg weisen. Aber dann musst du alles loslassen und es wagen, groß zu denken. Verstehen wir uns?«

»Ich möchte verstehen …«

Da hatte er sie vom Boden aufgehoben und in seinem Arm gewiegt, und seine Liebe war ihr entgegengestrahlt.

»Deinem Erfolg stehst nur du selbst im Weg. Du musst anfangen, dich selbst als die Person zu sehen, welche die Gabe und die Fähigkeit besitzt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen, und zu verstehen, was andere nicht vernehmen können. Damit fängt es an. In den Gedanken. Leg die Kontrolle über deine innere Kraft ab und lass mich dein Führer sein. Aber ich kann dich nicht vorwärtsführen, wenn du nicht gehst, nicht wahr? Die ersten unsicheren Schritte musst du selbst tun.«

»Verzeih, wenn ich es nicht verstehe, aber was soll ich wagen?«

»Für den Anfang kündige deinen Job und miete dich auf Himlagård ein.«

»Aber vielleicht besitze ich keine medialen Fähigkeiten«, hatte sie in all ihrer Mutlosigkeit gesagt.

Da hatte er sie mit seinen großen braunen Augen, die so unnatürlich weit auseinander saßen, angesehen und wie über ein ungehorsames Kind den Kopf geschüttelt.

»Dein Zögern zeigt, dass du mich infrage stellst. Oder wie soll ich das auffassen?«

»Verzeih, das war nicht meine Absicht. Ich werde es versuchen, ich werde wirklich mein Bestes tun, meine Fähigkeiten zu entdecken.«

Das letzte halbe Jahr war eine Zeit der Veränderung gewesen. Sie hatte die Rolle einer Angestellten im Pflegedienst verlassen und war in die eines zertifizierten Mediums und einer Unternehmerin geschlüpft. Lorentz hatte Kontakte bei der Zeitschrift Grenzland und denen von ihr erzählt. Sie hatte die gesamte Mittelseite und einen kleinen Hinweis auf der Titelseite bekommen. Dem Journalisten hatte sie die sensationelle Geschichte des Kindes erzählt. Des kleinen Mädchens, das sie vernehmen konnte, wenn sie ihre Sinne herunterfuhr und auf die richtige Frequenz einstimmte, sodass sie den Hilferuf von der anderen Seite hören konnte. Lorentz war mit dem Interview sehr zufrieden gewesen, und Magdalenas Herz war vor Dankbarkeit und Freude übergeflossen, weil er sie sah, wirklich sah, wie niemand je zuvor. Wenn er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, wurde sie zu einem ganz neuen Menschen, einer besseren Version ihrer selbst mit neuen Möglichkeiten.