Magic Blaze - Helen Harper - E-Book

Magic Blaze E-Book

Helen Harper

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Beschreibung

Ein mysteriöser Mordfall, politische Intrigen und ein Kampf gegen die Zeit ...

Das Gipfeltreffen der magischen Wesen steht kurz bevor. Im DeVane Hotel in London wollen sich Vampire, Werwölfe, Ghule, Kobolde, Druiden und Pixies treffen, um zu beraten, wie sie das Zusammenleben mit der menschlichen Bevölkerung verbessern können. Das Treffen könnte eine Chance sein, die Welt zum Guten zu verändern - und Emma Bellamy wird dabei sein. Schließlich ist sie nicht nur dafür verantwortlich, dass es überhaupt stattfindet, sondern wird auch bei einem Scheitern die Konsequenzen tragen müssen. Daher steht viel für die junge Ermittlerin auf dem Spiel. Und schneller als ihr lieb ist, muss sie sich nicht nur mit Protesten gegen das Gipfeltreffen auseinandersetzen, sondern auch mit einem mysteriösen Mord, der alles in Gefahr bringt, wofür Emma so hart gearbeitet hat.

Band 5 der FIREBRAND-Reihe


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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Helen Harper bei LYX

Impressum

HELEN HARPER

Magic Blaze

Roman

Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann

Zu diesem Buch

Ein mysteriöser Mordfall, politische Intrigen und ein Kampf gegen die Zeit …

Das Gipfeltreffen der magischen Wesen steht kurz bevor. Im DeVane Hotel in London wollen sich Vampire, Werwölfe, Ghule, Kobolde, Druiden und Pixies treffen, um zu beraten, wie sie das Zusammenleben mit der menschlichen Bevölkerung verbessern können. Das Treffen könnte eine Chance sein, die Welt zum Guten zu verändern – und Emma Bellamy wird dabei sein. Schließlich ist sie nicht nur dafür verantwortlich, dass es überhaupt stattfindet, sondern wird auch bei einem Scheitern die Konsequenzen tragen müssen. Daher steht viel für die junge Ermittlerin auf dem Spiel. Und schneller als ihr lieb ist, muss sie sich nicht nur mit Protesten gegen das Gipfeltreffen auseinandersetzen, sondern auch mit einem mysteriösen Mord, der alles in Gefahr bringt, wofür Emma so hart gearbeitet hat.

1

Der vierte Sockel am Trafalgar Square mitten in London ist eine wundervolle Sache. Normalerweise. Statt einer starren Statue aus Stein sind dort zeitgenössische Kunstwerke aufgestellt, vom riesigen, leuchtend blauen Junghahn bis hin zum Marmortorso einer Künstlerin mit Behinderung.

Dass dort ganz unterschiedliche Kunstwerke gezeigt wurden, schätzte ich schon lange; sie ergänzten den großen Platz um ungewöhnliche Dimensionen und gaben ihm eine weniger traditionelle Anmutung. Was ich nicht schätzte, war ein angeblicher Vampir, der blutüberströmt und mit einem tödlichen Messer in der Hand nackt auf dem Sockel tanzte. Ein Vampir zudem, den ich von dort herunterzuholen hatte.

»Wie lange ist er schon da oben?«, fragte ich.

Einer der uniformierten Polizisten vom nächsten Revier erwiderte achselzuckend: »Seit etwa anderthalb Stunden. Offenbar kam er gut vorbereitet. Er hat sich ausgezogen, den Sockel erklommen und sich einen Eimer Blut über den Kopf gegossen.« Der Bobby hielt inne. »Den muss er mitgebracht haben«, fügte er überflüssigerweise hinzu.

»Aha.« Ich blinzelte zum Sockel hoch. Es war kalt, und der Nieselregen drückte meine Stimmung. Dem Mann dagegen schien der Regen genauso wenig auszumachen wie die touristischen Nachtschwärmer und übrigen Passanten, die schockiert taten, von denen ich aber annahm, dass sie eher Nervenkitzel empfanden als Abscheu.

»Ich sauge euch das Blut aus!«, schrie der Mann und hüpfte von einem Bein aufs andere. »Ich, ein Geschöpf der Nacht, schlage euch die Fänge in den Hals und sauge euch restlos aus! Kommt mir nicht zu nahe, sonst werdet ihr alle sterben.« Seine drohenden Worte indessen klangen ängstlich und hysterisch.

Neben dem Sockel lag der leere Eimer, an dem halb geronnenes Blut klebte. Hoffentlich stammte es nicht von Menschen. Das hätte uns noch gefehlt.

Ich betrachtete den Mann genauer. Wo sein Gesicht nicht rot verschmiert war, prangte Akne, und sein dunkles Haar war schütter. Seine Wangen waren eingefallen, und er wirkte nicht sonderlich gesund. Auch bemerkte ich ein paar oberflächliche Schnitte an den dünnen Armen, der knochigen Brust und den Oberschenkeln. Ich verzog das Gesicht. Vermutlich hatte er sich diese Verletzungen selbst zugefügt.

»Wir wollten ihn herunterholen, aber wenn wir uns nähern, ritzt er sich oder droht damit, uns aufzuschlitzen«, so der Polizist. »Früher oder später wird jemand verletzt.«

Es war schon jemand verletzt. Ich seufzte. Geistige Gesundheit wurde in diesem Land noch immer nicht ernst genug genommen.

Eine gut gekleidete Frau arbeitete sich mit gebieterisch erhobener Nase zu uns durch. »Ich hoffe, Sie unternehmen bald etwas. Es ist empörend, dass solche Dinge stattfinden. Dieses Ungeheuer gehört eingesperrt. Sehen Sie, wie der Kerl seinen Lümmel schwingt! Eine Schande ist das! Hier sind Kinder!«

Seltsam, dass sie sich mehr an seiner Nacktheit störte als daran, dass er von Kopf bis Fuß mit Blut befleckt war, mit einem Messer mit langer Klinge herumfuchtelte und sich Verletzungen beibrachte. Es war elf Uhr abends, und Kinder konnte ich keine entdecken. Ich glaube, wir machen aus Nacktheit eine zu große Sache, aber vielleicht bin ich dagegen immun nach all der Zeit, die ich mit Werwölfen verbracht habe. Da sie ihre Gestalt häufig wandeln, sind sie oft nackt.

»Wir kümmern uns bereits darum, Ma’am«, erwiderte ich höflich. »Bitte gehen Sie jetzt weiter.«

Sie bleckte die Zähne auf seltsam an Übernatürliche erinnernde Weise. »Verflixte Vampire. Die glauben, ihnen gehöre die Stadt. Wir sollten sie loswerden.« Abrupt wandte sie sich ab und marschierte mit klackenden Absätzen davon. Ich sah ihr nicht nach.

»Sollen wir DS Grace verständigen?«, fragte der junge Polizist.

»Der hat heute Abend frei. Ich habe Bereitschaft.« Ich betrachtete den Mann auf dem Sockel. Blut war von seinem bleichen Körper getropft und bildete mit dem Regen Pfützen zu seinen Füßen. Schwer zu sagen, wie viel Blut er durch das Ritzen verloren hatte, aber ihm musste schwindlig sein.

»Was ist mit Lord Horvath? Können Sie ihn nicht rufen?« Der Polizist war gut genug ausgebildet, um nicht die Hände zu ringen oder Angst zu zeigen, doch die verriet sich im leisen Beben seiner Stimme.

»Das hat keinen Sinn«, sagte ich.

Das Objekt unseres Interesses wirbelte auf den Zehenspitzen herum, schwankte und hätte das Gleichgewicht fast verloren. Die gaffende Menge schnappte nach Luft. »Macht euch keine Sorgen um mich!«, rief der Mann. »Ich bin ein Übernatürlicher! Ich könnte vom höchsten Wolkenkratzer stürzen und würde überleben.« Er schlug sich an die Brust. »Ich. Bin. Unsterblich.«

War er nicht. Ich seufzte erneut.

»Wieso? Warum können Sie ihn nicht rufen?«, fragte der Polizist.

»Weil der da oben kein Vampir ist«, gab ich zurück. »Er ist nicht mal ein Übernatürlicher. Er ist ein Mensch, deshalb ist Lord Horvath für ihn nicht zuständig.« Ich war mir noch nicht sicher, ob der Mann auf dem Sockel Wahnvorstellungen hatte und wirklich glaubte, er sei ein Vampir, oder ob mehr an der Sache dran war.

»Woher … woher wissen Sie das denn?«

Ich schürzte die Lippen. »Ohne sein Aussehen abwerten zu wollen: Vampire sind einfach körperlich anziehender und weniger schwerfällig als er. Und sie sind nicht unsterblich, auch wenn viele etwas anderes glauben.«

Doch ob Vampir oder nicht: Mit diesem Mann musste etwas geschehen, ehe die Dinge aus dem Ruder liefen. Ich straffte die Schultern. Je schneller ich ihn von dort oben runter und in ärztliche Obhut bekam, desto besser.

Ich trat an den Sockel heran und legte den Kopf in den Nacken. »Hallo, wie geht’s?«

»Weg da! Weg da, mickriges Menschlein! Ich könnte dich ganz leicht umbringen! Du weißt nicht, wozu ich fähig bin!«

Davon hatte ich vermutlich eine konkretere Vorstellung als er. Und ich bin kein Mensch, technisch betrachtet.

»Sir«, sagte ich und beobachtete ihn genau. Er hatte sich vielfach geritzt, aber die Verletzungen schienen nicht lebensbedrohlich zu sein, und er zitterte nicht. Angesichts der kühlen Luft, des Niesels und seines ungemein hageren Körpers war das seltsam. »Ich heiße Emma Bellamy, bin Detective Constable beim Dezernat für Übernatürliches und kann Ihnen helfen. Warum kommen Sie nicht einfach runter? Ich besorge Ihnen eine Decke und einen Becher heißen Tee, und wir reden über Ihre Situation.«

Der Mann breitete die Arme aus. »Ich trinke keinen Tee! Ich trinke Blut!« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte gellend. »Ich trinke nur Blut!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte ich: »Dann besorgen wir Ihnen Blut, wenn Ihnen das lieber ist.« Ich nahm den Eimer und roch daran. Ich bin keine Vampirin und besitze nicht die Fähigkeiten einer Werwölfin, darum konnte ich nicht sagen, ob die klebrigen Reste Menschenblut waren. So oder so – es war gruselig.

Ich hielt dem Mann den Eimer hin. Vielleicht würde er es mir verraten. »Da ist noch etwas Blut drin. Falls Sie Durst haben.«

»Pah!« Angewidert wandte er den Kopf ab. »Damit klappt es nicht. Das ist Schweineblut. Der Chief hat gesagt, damit klappt es nicht, und richtig – ich brauche Menschenblut.«

Interessant. »Der Chief?«, fragte ich. »Wer ist das?«

Er schien mich nicht zu hören oder wollte es nicht.

Ich versuchte es anders. »Wie heißen Sie?«

Er musterte mich misstrauisch, als glaubte er, ich wollte ihn aufs Glatteis führen. Aus der Nähe sah ich, dass seine Pupillen geweitet waren und seine Haut bleich und verschwitzt. Drogen. Vielleicht spürte er deshalb die Kälte nicht und war überzeugt, ein Übernatürlicher zu sein. Aber das war eine sehr einfache Erklärung für dieses Drama, und nach meiner Erfahrung waren einfache Erklärungen oft falsch.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, senkte die Stimme und zwang den Mann dadurch, sich hinzuhocken, um mich zu hören. Ich hätte ihn packen und vom Sockel zerren können, aber das hätte seine Angst nur vergrößert und womöglich zu weiteren Problemen geführt. »Ich bin eine Übernatürliche wie Sie«, raunte ich. »Normalerweise sagen wir anderen nicht unsere wahren Namen, doch ich habe Ihnen meinen genannt, deshalb ist es nur fair, wenn Sie mir Ihren nennen.« Ich deutete zwischen uns hin und her. »Das macht uns ebenbürtig, verstehen Sie?«

Stirnrunzelnd sah er mich an und kratzte sich am Kopf. Haar und Finger waren ganz blutig. »Sind Sie eine Vampirin?«

»Ich bin etwas anderes.«

Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Ich habe Sie vorhin nicht verstanden«, flüsterte er mir überlaut zu. »Wie heißen Sie?«

»Emma. Sie können mich Emma nennen.«

Seine braunen Augen blickten von links nach rechts. »Ich bin der Nachtjäger.«

Äh …

»Aber Sie können mich Jim nennen.«

Ich lächelte. Das war schon besser. »Nett, Sie kennenzulernen, Jim.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist überhaupt nicht nett. Ich bin nicht nett. Ich bin böse und gefährlich. Sie wollen mich nicht kennen. Ich bin nicht geheilt, verstehen Sie. Ich bin ein Vampir. Und ich werde Sie verletzen.«

Ich nickte. »Gut.« Manchmal ist Mitspielen besser. »Wie lange sind Sie schon Vampir, Jim?«

»Seit neun Monaten«, flüsterte er.

Ich pfiff leise. »Das ist nicht lange. Wir alle wissen, dass junge Vampire am gefährlichsten sind.«

»Ich bin sehr gefährlich. Wenn Sie mir zu nahe kommen, beiße ich Ihnen die Kehle durch.« Er öffnete den Mund und zeigte mir ganz normale menschliche Eckzähne. »Sehen Sie?«

»Allerdings.« Ich hob ergeben die Hände, damit er glaubte, ich sei seiner Meinung. Langsam entwickelte sich in mir eine Vorstellung, wie ich diese verfahrene Situation beenden konnte. »Geben Sie mir doch das Messer, Jim«, schlug ich vor. »Dann kann ich mich damit gegen Sie wehren.«

Er wirkte verwirrt und betrachtete das Messer in seiner Rechten, als hätte er es vergessen. »Das ist nicht für Sie, sondern für mich. Ich brauche es, um mich daran zu hindern, Sie zu verletzen.« Seine Augen weiteten sich, und er sah sich um. »Oder irgendwen sonst. Hier sind ja viele Leute.«

Hinter meinem Rücken machte ich eine Handbewegung, um den uniformierten Polizisten zu bedeuten, die Gaffer ringsum zurückzudrängen. Dann streckte ich meinen Arm so langsam hoch, dass Jim genau sah, was ich tat, und legte ihm sanft die Hand aufs Handgelenk.

»Ich habe es Ihnen schon gesagt: Ich bin eine Übernatürliche. Mich können Sie nicht verletzen wie womöglich andere Leute. Geben Sie mir Ihr Messer, und ich nehme es in Obhut.« Ich sah ihm in die Augen. »Sie kennen meinen wahren Namen, also können Sie mich mental zwingen, es Ihnen zurückzugeben, wann immer Sie wollen.« Das stimmte natürlich nicht. Selbst wenn Jim ein Übernatürlicher wäre, war es überaus unwahrscheinlich, dass ihm das gelingen würde – aber das wusste er nicht.

»Wirklich?«, fragte er.

»Wirklich.«

Kurz saugte er an seiner Lippe. »Gut. Einverstanden.« Er hielt das Messer lockerer, und ich streckte behutsam die Hand aus, um es ihm abzunehmen. Doch genau in diesem Moment raste ein Motorrad mit voller Lautstärke die Straße hinter uns entlang und hatte eine krachende Fehlzündung.

Jim bekam Panik, und ich sah die Vernunft aus seinem Blick weichen und blanke Furcht ohne jeden Verstand an ihre Stelle treten. Er packte das Messer wieder fester und warf sich mir entgegen. Ich wich mit dem Kopf aus, doch die Klinge ritzte meine Wange. Sofort schmerzte es enorm, und das Blut strömte mir über Kiefer und Kinn.

Einige Leute hinter mir schrien, aber ich achtete nicht darauf. Meine Konzentration hatte allein Jim zu gelten.

»Nein«, raunte er. »Oh nein!« Er richtete das Messer gegen sich selbst.

Mir blieb keine Wahl, ich musste handeln. Also sprang ich hoch und stieß mit ihm zusammen, als ich nach seinem Arm griff, damit er das Messer fallen ließ. Er klammerte sich an mich, und Entsetzen und nackter Horror standen in seinem Gesicht, als der Schwung uns nach hinten vom Sockel stürzen und auf dem Boden landen ließ.

Ich drehte mich in der Luft ein Stück, um vom Aufprall mehr abzubekommen als er. Das war eine instinktive Bewegung gewesen – und unglaublich dumm. Denn sie führte dazu, dass nicht nur Jim sich mitdrehte, sondern auch seine Hand, und als wir am Boden landeten, spürte ich, wie das Messer mir tief in die Seite drang. Wie weh das tat! Furchtbar weh.

Jim begriff erst ein paar Sekunden später, was passiert war. Er sprang auf und ließ die Waffe endlich los. »Das habe ich nicht gewollt!«

Die Uniformierten kamen mit gezückten Elektroschockern und Schlagstöcken auf uns zu. Ich biss die Zähne zusammen und setzte mich mühsam auf. »Moment« rief ich. »Lassen Sie mich …«

Es war zu spät. Sie stürmten auf Jim zu, und der rannte weg. Ächzend griff ich nach dem Messer, kniff die Lider zu, zerrte es mir aus dem Leib und ließ es fallen. Tränen des Schmerzes traten mir in die Augen, aber ich durfte keine Zeit verlieren. Also rappelte ich mich auf, hielt mir die blutende Wunde und rannte hinter den anderen her.

Schmerz erfüllte meinen ganzen Körper, und bei jedem Schritt hätte ich schreien mögen, doch ich kämpfte mich voran. Sogar wenn es mir richtig schlecht geht, bin ich besser als ein Mensch in Topform. Ich bin oft genug gestorben und habe dadurch reichlich Kraft und Stärke gewonnen, um meinen Körper an übermenschliche Grenzen zu treiben.

Ich blendete den Schmerz aus, soweit es mir möglich war. Das Blut, das aus der Wunde an der Seite strömte, zählte so wenig wie der Umstand, dass die Spitze des Messers sehr wahrscheinlich eine Niere getroffen hatte. Ich überquerte Trafalgar Square, spurtete die Straße zur Mall entlang, sah rennende Schemen vor mir und hörte, wie die Polizisten Jim zuriefen, er solle stehen bleiben. Er aber kümmerte sich nicht darum, sondern sprintete Richtung St. James’s Park.

Wenigstens war kein Vollmond, also war der Park nicht voller blutdürstiger Werwölfe, die ihre Urinstinkte nicht zu zähmen vermochten. Dann verschwand Jims fliehender Umriss im Schatten der Bäume. Nun war er weit schwerer zu finden.

Ich überholte den ersten Polizisten am Parktor und den zweiten, als die Bäume wieder zurückwichen und stille Wege sehen ließen. Binnen Sekunden erreichte ich auch die nächsten beiden Beamten, die auf den kleinen See zuhielten. Beim Überholen spürte ich ihre verständnislosen Blicke im Rücken. Ich ignorierte sie wie meine Schmerzen und suchte weiter nach Jim, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Wohin war er verschwunden? Welche Richtung hatte er eingeschlagen?

Links von mir platschte es, dann quakten aus dem Schlaf gerissene Enten überrascht und verärgert. Dorthin also.

Ich holte tief Luft und wandte mich dem Lärm zu, doch es war zu dunkel, und trotz all meiner Bemühungen tat meine Verletzung zu sehr weh. Ich suchte zwischen den Bäumen und musterte die leere Wiese und den reglosen See.

Jim war verschwunden.

Der Morgen dämmerte schon herauf, als DSI Barnes auftauchte. Sie gab mir einen Becher Kaffee, setzte sich zu mir aufs Pflaster und sagte: »Kaum zu fassen, dass es schwer ist, mitten in London einen Nackten zu finden.«

Ächzend nahm ich einen Schluck. Der Kaffee war lauwarm, schmeckte für meine ausgedörrte Zunge aber wie Nektar. Immer wieder tauchten kleine Punkte vor meinen Augen auf, und meine Beine waren schwach. Ich war eindeutig in einem üblen Zustand.

»Sie sehen richtig schlecht aus«, stellte Barnes fest.

Ich machte mir nicht die Mühe einer Antwort.

»Und Sie sind sicher, dass es sich um einen Menschen handelt?«

»Ja.«

»Er ist offenbar sehr gefährlich.«

»Nur für sich selbst.«

»Er hat mit dem Messer auf Sie eingestochen«, gab Barnes zurück.

»Das war meine Schuld, nicht seine.«

»Trotzdem. Nicht alle können so rasch gesunden wie Sie. Wir müssen ihn schnellstens finden, ehe er wieder jemanden angreift.«

Plötzlich fühlte ich mich sehr, sehr müde. »Wir haben überall gesucht und Verstärkung angefordert. Sofern Sie keine Idee haben, auf die ich noch nicht gekommen bin, ist er auf und davon.« Ich nahm noch einen Schluck Kaffee. »Ich kümmere mich jetzt um meine Wunde und suche dann weiter. Er kann nicht weit gekommen sein – bestimmt hat er hier irgendwo ein Versteck. Wenn ich etwas über seine Identität herausfinden könnte, wäre das hilfreich. Nachtjäger Jim wird früher oder später auftauchen.«

Barnes beobachtete mich wortlos.

»Was ist?«

Sie schwieg weiter. Frust flackerte in mir auf und überlagerte kurz den pochenden Schmerz der Stichwunde. »Ich wurde zu diesem Einsatz gerufen«, sagte ich. »Freiwillig bin ich nicht hier.«

»Sie wurden gerufen, weil er für einen Vampir gehalten wurde, Emma. Er ist ein Mensch, fällt also nicht mehr in Ihre Zuständigkeit.«

Ich verabscheute es, Dinge anzufangen und nicht zu Ende zu bringen. »Egal – er braucht Hilfe, keine Handschellen.«

»Das bestreite ich nicht«, sagte sie ruhig. »Ich sage bloß, dass er kein Fall für das Supe-Squad ist. Ich habe schon mit DS Grace gesprochen. Er sieht das genauso.«

»So sind die Vorschriften, sicher. Und ich habe nicht lange mit ihm geredet. Aber ich habe eine Verbindung zu ihm aufgebaut und denke wirklich …«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind an den Ermittlungen nicht mehr beteiligt. Alle bei der Polizei schätzen Ihre Anstrengungen, wissen allerdings, dass Sie jetzt andere Sorgen haben, weil der große Übernatürlichen-Gipfel demnächst losgeht. Darauf haben Sie sich zu konzentrieren.« Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. »Aber das muss ich Ihnen sicher nicht sagen. Der Fall wurde Ihnen bereits entzogen.«

»Gut«, sagte ich seufzend. Sie hatte ja recht. Ich hatte eigentlich auch keine Lust – und sicher nicht die Zeit –, mich auf die Suche nach einem Menschen zu machen. Ehrlich gesagt: Mein Widerstand war eher aus Gewohnheit hochgekocht. »Haben Sie es mitgebracht?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Sie nickte. »Ich habe mir auch erlaubt, Horvath anzurufen, der einen Wagen geschickt hat. Mir wäre lieber, Sie täten es im Auto als hier im Freien. Die Anti-Übernatürlichen-Stimmung steigt. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine öffentliche Demonstration übernatürlicher Fähigkeiten.«

»Ihnen ist klar, dass die Übernatürlichen über kurz oder lang zurückschlagen, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind?«

»Dessen bin ich mir sehr bewusst.«

»Es mögen zahlenmäßig nicht viele sein, aber sie sind stark. Und reich. Und die Erfahrung generationenlanger Unterdrückung wird ihren Kampf befeuern.«

Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Ich habe Sie für das Supernatural Squad angeheuert, das ist hoffentlich klar. Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern, dass wir auf einem Pulverfass sitzen, das jeden Moment explodieren kann. Der Gipfel wird sehr dazu beitragen, die Spannungen abzubauen. Er ist eine gute Idee.«

Ich war froh, dass sie es so sah. Manchmal war schwer zu entschlüsseln, was Barnes dachte. »Haben Sie schon etwas vom Minister gehört?«

Barnes blickte bemüht ausdruckslos drein. »Der Minister für übernatürliche Angelegenheiten hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass er ausgerechnet dann eine kleinere Operation hat und leider am Gipfel nicht teilnehmen kann.«

»Stimmt das denn? Oder sucht er nach einer Ausrede, um dem Treffen fernzubleiben, weil er fürchtet, dass es zu Tumulten kommen wird?«

»Na ja«, gab Barnes zurück, »als ich vorgeschlagen habe, der Innenminister könne ihn vertreten, habe ich großes Gelächter geerntet.«

Mein Magen zog sich vor Ärger kurz zusammen. Übernatürliche sind Bürger und Bürgerinnen dieses Landes, genau wie die Menschen. Sicher, Lukas und einige andere mächtige Übernatürliche berieten sich regelmäßig mit Mitgliedern der Regierung, und es kam bisweilen zum diskreten Austausch von Gefälligkeiten. Aber der Übernatürlichen-Gipfel würde nicht hinter den Kulissen stattfinden. Das war der entscheidende Punkt.

»Wenn der Gipfel ein Erfolg wird, macht das nichts«, sagte Barnes. »Dann rudert die Regierung eilends zurück und bietet Unterstützung an.«

Ja, ja. Zu diesem späten Zeitpunkt brachte es nichts mehr, Theater zu machen, aber ärgerlich war es trotzdem.

DSI Barnes stand auf und reichte mir die Hand, um mich hochzuziehen. Auf dieses Angebot ging ich sehr gern ein. Ich lächelte sie an, und wir humpelten zu einer schicken schwarzen Limousine. Ich brauchte nicht hineinzusehen, um zu wissen, dass Lukas darin auf mich wartete. Mein Herz schlug prompt etwas schneller. Es würde mit ihm an meiner Seite leichter sein.

»Ihre Verletzung ist nicht tödlich«, sagte Barnes. »Sie könnten auch ins Krankenhaus fahren und sich zusammenflicken lassen.«

»Die Genesung würde zu lange dauern, dafür habe ich keine Zeit. Nach meiner Methode geht es schneller.«

»Hmmm.« Sie gab mir eine kleine schwarze Tasche. »Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt, Emma.«

»Ich auch nicht.« Ich brachte ein Lächeln zuwege, öffnete die Tasche und prüfte den Inhalt. »Danke.«

DSI Barnes war zu verwirrt, um »Gern geschehen« zu sagen.

»Keine Sorge«, fuhr ich fort. »Auf diese Weise bin ich schon vor dem Abend wieder an der Arbeit.« Ich zwinkerte ihr zu, öffnete die Wagentür und setzte mich auf die Rückbank. Bevor sich die Tür schloss, winkte ich Barnes noch zu, dann wandte ich mich Lukas zu. »Danke, dass du mich abholst.«

Er gab mir einen kurzen Kuss und musterte die Tasche. »Das ist keine gute Idee.«

»Eine tolle Idee ist das.«

»D’Artagnan …«

»Mein Körper, Lord Horvath. Meine Regeln.« Ich musterte die Plastikbezüge auf den Sitzen. »Außerdem bist du offenbar vorbereitet.«

Er sah weg, und eine schmerzliche Miene huschte über sein Gesicht.

»Hältst du mich in den Armen? Während ich es tue?«

»Wenn es das ist, was du willst.« Er klang steif.

Ich streichelte seine Wange. »Du musst nicht.«

»Ich mache es aber«, knurrte er.

Ich küsste ihn, diesmal länger und intensiver. Dann griff ich in die Tasche, zog die kleine Pistole heraus und wappnete mich davor, mir in den Kopf zu schießen.

Es war wirklich besser so.

2

Ich muss pinkeln.

Dieser Gedanke drängte sich immer wieder in mein Bewusstsein. Ächzend schob ich ihn beiseite. Mir war warm, ich war eingekuschelt, und es war viel zu gemütlich, um mich aus dem Bett zu schälen. Drei Nächte war es her, dass ich Jim getroffen und mich getötet hatte, um mir Wochen einer schmerzhaften Genesung zu ersparen, und noch immer genoss ich den Luxus, nachts zu schlafen. Das war viel angenehmer, als einen dunklen Park abzusuchen und dabei langsam zu verbluten. Federbetten sind dem Tod unbedingt vorzuziehen. Ich behielt die Augen fest geschlossen. Gleich würde ich zurück in den Schlaf dämmern … gleich, gleich. Bestimmt.

Leider hatte meine Blase sich unwiderruflich gegen die Freuden eines ungestörten Schlafs entschieden. Ich konnte mir einreden, was ich wollte: Es klappte nicht. Ich musste unbedingt – und dringend – pinkeln. Ich öffnete ein Auge und sah auf die Uhr. 04:22. Um sechs musste ich aufstehen; das Mindeste, was mein Körper für mich hätte tun können, wäre gewesen, noch anderthalb Stunden durchzuhalten. Aber es sollte nicht sein.

Seufzend ließ ich mein Bein von Lukas’ Schenkel gleiten und verließ die herrliche Wärme seines Körpers und der seidenen Bettwäsche. Je rascher ich es hinter mich brächte, desto größer wäre die Chance, nicht richtig wach zu werden. Wenn ich mich beeilte, mochte ich wieder in den Schlaf sinken. Ich stemmte mich auf die Beine, achtete darauf, Lukas nicht aufzuwecken, und tapste ins Bad. Ob Phönix und Auferstehung oder nicht – ich besaß noch viele körperliche Schwächen. Mach schnell, Emma, sagte ich mir, rein, raus.

Ich war nicht so dumm, das Licht einzuschalten. Dies war eine Mission mit hohem Tempo, und das warme Bett winkte. Ich drückte die Spülung, tastete nach dem Wasserhahn und stolperte zurück Richtung Schlafzimmer. Das alles hätte ich in Rekordzeit hinter mich gebracht, wenn ich mit dem großen Zeh nicht gegen ein Tischbein gestoßen wäre.

Ich fauchte vor Schmerz, bückte mich und rieb den lädierten Zeh. Wie weh das tat! Wenn ich zuvor nicht wach gewesen war, dann zweifellos jetzt. Lukas hatte zu viele unbezahlbare alte Möbelstücke mit hübschen, aber spitzen Verzierungen bei sich stehen. Am Tag herrlich anzuschauen, in tiefer Nacht jedoch womöglich tödlich. Ich lächelte: wie die Vampire selbst.

Ich richtete mich auf, blickte aus dem Fenster und sah wieder weg. Dann drang, was ich gesehen hatte, in mein schlaftrunkenes Hirn, und ich schaute erneut hin. Warum, um alles in der Welt, stand jemand reglos auf der anderen Straßenseite und starrte zu dieser Nachtstunde zu mir hoch?

Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück, obwohl mir klar war, dass die schattenhafte Gestalt mich durch die Jalousie ohne Licht nicht sehen konnte. Meine Augen wurden schmal. Aus der Art, wie die Person dastand, und aufgrund des Umrisses tippte ich auf einen Mann. Und auf einen Werwolf: gedrungener Körper, breite Schultern … ja, ich war fast sicher, dass es sich um einen Wolf handelte. Aber das hier war Soho, wir waren mitten im Revier der Vampire. Egal zu welcher Tageszeit: Hier trieben sich kaum je Wölfe herum, und wenn, dann erst nach dem Morgengrauen. Es sei denn, sie hatten für ihr Kommen einen sehr guten Grund.

Ich kratzte mich an der Wange. Die vier Werwolf-Clans und die Vampire lebten in störungsanfälligem Frieden miteinander und respektierten sich im Allgemeinen genug, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Doch ich traute jedem Clan-Oberhaupt zu, die Grenzen des übernatürlichen Anstands auszutesten. Normalerweise mischte ich mich in diesen Unsinn nicht ein. Der Wolf da draußen war unheimlich, verstieß aber gegen kein Gesetz. Nur dass es gegenwärtig eigentlich keine dummen politischen Manöver unter den Übernatürlichen geben sollte, da der Übernatürlichen-Gipfel am nächsten Tag beginnen würde.

Ich runzelte die Stirn. Ich würde mir die Zeit nehmen müssen, bei den vier Clan-Oberhäuptern vorbeizusehen und sie zu ermahnen, wenigstens in der kommenden Woche nicht aus der Reihe zu tanzen. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass es zu solchen Dummheiten kommen durfte.

Verärgert wollte ich mich schon abwenden, da sah ich weitere schattenhafte Gestalten sich nähern. Der mysteriöse Mann straffte sich und hob in augenscheinlicher Unterwerfung die Hände. Das schien den anderen egal zu sein. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Hier war offenkundig etwas faul.

Nun war an Schlummer nicht mehr zu denken. Ich hetzte ins Schlafzimmer, griff mir den Bademantel, fuhr hinein, band den Gürtel zu und rannte zur Haustür hinunter. Schuhe wären eine gute Idee gewesen, aber ich hatte keine Zeit, danach zu suchen.

Schnell entriegelte ich die Tür, schnappte mir meine treue Armbrust, die an der Wand stand, und kam gerade rechtzeitig raus, um den Tritt in die Magengrube des Fremden zu sehen. Er krümmte sich vor Schmerz und ächzte. »He!«, rief ich.

Von den fünf Leuten blickte sich keiner um. Obwohl ich Detective Constable Emma Bellamy war, Autoritätsperson und respektiertes Mitglied der Gemeinschaft der Übernatürlichen.

Ich versuchte es erneut und noch lauter. »Aufhören!«

Eine andere Gestalt ballte die Fäuste und versetzte dem Mann einen Haken. Der Attackierte gab sich keinerlei Mühe, sich zu verteidigen, und die Angreifer, bei denen es sich ebenfalls um Werwölfe handelte, hielten sich nicht zurück.

Barfuß rannte ich über die Straße, griff mir den nächsten Kerl, zerrte ihn nach hinten, stellte mich vor den inzwischen blutenden Fremden und stemmte die Hände in die Hüften. »Zwanzig Schritte zurück«, befahl ich und ließ meine Stimme mit bannender Energie vibrieren. »Sofort!«

Drei der vier Angreifer taten, wie ihnen geheißen, denn sie konnten meinen Worten keinen Widerstand entgegensetzen. Aber kein übernatürlicher Bann wirkt immer, erst recht nicht bei jedem, nicht mal bei allen Werwölfen, obwohl sie streng hierarchisch organisiert sind. Die Stärksten konnten meinen Befehlen leider widerstehen.

»DC Bellamy!«, rief Buffy lächelnd und warf ihr Haar schwungvoll in den Nacken. »Cooles Outfit!« Sie zeigte auf meinen Bademantel »Frottee wird wirklich unterschätzt.«

Ich verdrehte die Augen. Natürlich war sie gekommen. Und natürlich vermochte sie meine Befehle zu ignorieren, obwohl sie in der Hierarchie der Werwölfe tief unten stand.

Ich hätte meinem Anliegen durch Nennung ihres richtigen Namens Patricia größere Durchschlagskraft geben können, um meinen Bann zu verstärken, aber sollte ich erneut scheitern, würde ich mein Gesicht verlieren. Trotz meiner Überlegenheit war ich noch nicht so weit, mich mit Gewissheit gegen sie durchsetzen zu können. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer ziemlich irritierenden Tricks schätzte ich Buffy, aber das bedeutete nicht, dass ich sie nicht verhaften würde, wenn sie es verdient hatte. Ich mochte sie, wie ich Haie mochte: aus einiger Distanz. Leider waren Buffys Wolfszähne vermutlich schärfer als die des Weißen Hais.

Ich nahm die Armbrust etwas anders in die Hand, damit sie sie bemerkte. »Zwei Sullivan-Werwölfe und zwei Fairfax-Werwölfe«, begann ich, »die gemeinsam einen Angriff begehen auf …« Ich warf dem Fremden stirnrunzelnd einen Blick zu. Aus der Nähe gab es keinerlei Zweifel, dass es sich um einen Wolf handelte, aber er war mir unbekannt und trug auch keine Erkennungsplakette. Das war ungewöhnlich. »… auf einen anderen Wolf«, beendete ich meinen Satz.

Wieder musterte ich ihn. Blut floss ihm aus der Nase, doch es war keine böse Verletzung, obwohl das Gewebe schon anschwoll. Er schien in den Dreißigern zu sein und hatte glänzendes kastanienbraunes Haar und sonnengebräunte Haut. Von den Blessuren abgesehen, die er eben kassiert hatte, konnte ich keine Narben oder anderen Wundmale an ihm erkennen. Auch das war ungewöhnlich für einen Werwolf seines Alters; sie waren wegen ihrer oft gewalttätigen Lebensweise bei Vollmond anfällig für Verletzungen.

Buffy inspizierte ihre manikürten Nägel und wirkte gelangweilt. »Unsere Clan-Oberhäupter haben sich befreundet. Inzwischen haben wir viele gemeinsame Interessen.«

Ja, ja. Als Lord Fairfax den Clan noch angeführt hatte, waren die Beziehungen höchstens von frostiger Freundlichkeit gewesen. Seit Toffee zur neuen Chefin bestimmt worden war, hatte Lady Sullivan versucht, sie unter ihre Fittiche zu nehmen. Niemand zweifelte daran, dass dies nur geschah, um die neue Lady Fairfax zu kontrollieren und so den Clan zu manipulieren. Ob das klappen würde, blieb abzuwarten.

»Wie dem auch sei, Detective«, fuhr Buffy fort, »das ist eine Angelegenheit der Werwölfe und geht Sie nichts an.« Ihr Ton war mild, doch ihr harter Blick sendete eine andere Botschaft. Es gefiel ihr, das naive Mädchen zu spielen, obwohl sie das genaue Gegenteil davon war. »Ich schlage vor, Sie gehen wieder zu Ihrem Lord kuscheln und gönnen sich noch ein paar süße Träume.«

»Ich bin Ermittlerin im Supernatural Squad und lasse nicht zu, dass Sie auf offener Straße einen Mann angreifen.«

In Buffys gelblichen Augen blitzte etwas auf. »Das ist eine Angelegenheit unter Werwölfen«, wiederholte sie. »Sie kennen die Gesetze.«

Ich verschränkte die Arme. Nirgendwo würde ich hingehen. Sie hatte völlig recht: Solange der attackierte Werwolf kein Verbrechen an einem Menschen verübt hatte, war alles, was er tat, Angelegenheit der Clans. Doch in seinem Blick stand manische Angst, und ich duldete vor meinen Augen keine bösartigen Angriffe auf andere. Ich wollte mich nicht an diese Art Gesetze halten, erst recht nicht, wenn dadurch Leute verletzt wurden. Es hatte mich aufgebracht, die Jagd auf Nichtvampir Jim anderen überlassen zu müssen; diesen Mann hier würde ich nicht allein lassen.

Ich wandte mich ihm zu. »Wer sind Sie?«, fragte ich freundlich. »Zu welchem Clan gehören Sie?«

Er leckte sich nervös die Lippen. »Ich heiße –«

»Kein weiteres Wort«, befahl Buffy.

Sofort beugte er die Schultern und ließ den Kopf hängen. Er war bereit, sich ihr völlig zu unterwerfen; also stand er in der Hierarchie vermutlich ganz unten und besaß kaum Macht oder Kraft. Doch er wirkte nicht schwach, und Werwölfe von ganz unten erregten selten so viel Aufsehen. Ob er mich aufsuchen und um Hilfe hatte bitten wollen? Das wäre ungewöhnlich, doch nichts an dieser Situation war normal.

Buffy wich nicht zurück. »Gehen Sie, DC Bellamy. Das geht Sie nichts an.«

Der Mann zuckte zusammen, hätte aber unbesorgt bleiben können, denn ich würde auf keinen Fall gehen. Buffy stellte sich anders hin – auch ihr war das also klar.

»Ich bin nicht auf einen Kampf mit Ihnen aus, Buffy«, sagte ich ruhig. »So eine bin ich nicht. Allerdings werde ich auch nicht gehen.«

Sie musterte mich. »Das werden wir sehen, Detective.« Sie hob den Kopf und rief über die Straße: »Lord Horvath! Sie sehen zum Anbeißen aus.«

Hoppla! Ich hatte mich ganz auf die Wölfe konzentriert und nicht bemerkt, dass Lukas aufgewacht und heruntergekommen war und nun in engen schwarzen Boxershorts in der Tür lehnte.

Buffy kicherte. »Er ist unglaublich sexy, oder? Ich verstehe, wie er Sie um den kleinen Finger wickeln konnte. Wie oft trinkt er Ihr Blut, DC Bellamy?«

Ich biss die Zähne zusammen. Nie. So gut wie nie. Nur wenn es absolut sein musste. Und ich war nicht um seinen Finger gewickelt. Ich liebte ihn, war aber eine selbstständige Person. Genau wie er.

Buffy kicherte wieder, schlenderte zu Lukas, legte ihm die Hand auf den Arm, klimperte mit den Wimpern und streichelte ihn. Das tat sie nicht wegen Lukas, sondern meinetwegen. Die Mühe hätte sie sich sparen können. Ich musste noch lernen, Lukas vollends zu vertrauen, aber was solchen Unsinn anging, hatte ich gar keine Sorgen.

Lukas betrachtete sie mit seinen schwarzen Augen und sagte kaum hörbar: »Nehmen Sie die Hand weg.« Jedes Wort klang stahlhart und sehr bedrohlich. Wer den Herrn aller Vampire reizte, tat das auf eigene Gefahr.

Buffy zog hastig den Arm weg, trat einen Schritt zurück und hatte sofort begriffen, dass sie zu weit gegangen war. »Verzeihung.« Sie senkte den Kopf. »Ich wollte nicht ungebührlich sein.«

»Mir gegenüber waren Sie es vielleicht nicht.« Lukas musterte sie kühl. »Ganz sicher aber DC Bellamy gegenüber.«

Ohne jede Theatralik oder Ironie machte Buffy vor Lukas einen Knicks, wandte mir den Rücken zu und begann so leise zu raunen, dass ich nur zwischendurch einige Worte verstand: »Lord Horvath … Werwolf … unsere … Gesetz …«

Ich straffte die Schultern und war drauf und dran, zu den beiden zu gehen und mich ins Gespräch einzumischen.

»Detective Constable Bellamy.«

Mein Kopf fuhr herum. Der fremde Werwolf hatte gesprochen. Die anderen drei Wölfe funkelten mich an, wagten aber nicht, sich uns zu nähern.

»Sie müssen mich anhören.« Er sprach näselnd, und ich argwöhnte, Buffy hatte ihm mit ihrem Faustschlag die Nase gebrochen. Wenigstens blutete er nicht mehr – man sollte für kleine Gaben dankbar sein. »Zu Ihrem Gipfel kommt ein Mann. Er ist sehr gefährlich. Sie müssen –«

»He!« Buffy wandte sich energisch von Lukas ab und kam zu uns. »Ich habe Ihnen nicht erlaubt zu reden!«

Ich seufzte. »Halten Sie den Mund, Buffy.«

»DC Bellamy«, knurrte sie und ließ alles mädchenhafte Getue. »Das hatten wir schon. Sie haben zu verschwinden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts.«

»Emma.« Das war Lukas.

Ich starrte ihn an. Seine Miene war unergründlich, aber ich wusste, was er dachte und welche stille Botschaft er mir zu übermitteln versuchte. Er sagte mir, ich solle mich nicht einmischen. Weder das Gesetz noch die öffentliche Meinung würden auf meiner Seite sein, wenn ich es doch täte, und offenbar würde auch Lukas mir nicht beispringen. Vor anderen Übernatürlichen würde er nicht mehr sagen, und zudem folgten wir dem ungeschriebenen Gesetz, Privatleben und berufliches Dasein strikt zu trennen. Uns nicht gegenseitig in die Arbeit einzumischen, war die einzige Möglichkeit, eine Beziehung miteinander zu führen und doch unsere Integrität zu wahren. Dennoch wurmte es mich, dass er Buffy und ihren Wölfen erlaubte, den armen Kerl wegzubringen und zu vermöbeln. Oder noch Schlimmeres mit ihm anzustellen.

»Wie gesagt: Dieser Wolf und was mit ihm geschieht, geht das Supernatural Squad nichts an«, warf Buffy ein. Sie war zu ihrer einstudierten Fassade nichtssagender Freundlichkeit zurückgekehrt, obwohl wir alle wussten, dass sie ganz anders gestimmt war. Buffy hatte herausgefunden, dass Lukas ihr nicht in die Quere kommen würde, und nahm nun vermutlich an, auch ich werde mich fügen.

Ich sah erst Lukas, dann Buffy und schließlich den geheimnisvollen Wolf an. Der Schreck in seinen Augen war nicht verschwunden, doch dumpfe Resignation hatte sich dazugesellt. Ich kam zu einer Entscheidung. »Sie sind verhaftet«, sagte ich.

Lukas brummte etwas in sich hinein.

»Sie brauchen nichts zu sagen, aber es könnte zu Ihrem Nachteil sein, wenn Sie nicht auf Fragen antworten, die sich auf Dinge beziehen, auf die Sie sich später vor Gericht stützen. Alles, was Sie sagen, geht in die Beweiserhebung ein.«

»Sie dürfen ihn nicht verhaften!« Buffy kam näher.

»Ich habe ihn aber gerade verhaftet«, erwiderte ich lächelnd.

»Und weshalb?«, fuhr sie mich aufgebracht an.

Achselzuckend gab ich zurück: »Er hat mitten in der Nacht hier herumgelungert und ähnelt der Beschreibung eines Einbrechers, der neulich bei Raubzügen in London beobachtet wurde.« Dies war schließlich eine Millionenstadt – da war sicher irgendwo ein sonnengebräunter Dieb mit braunem Haar bei der Polizei angezeigt worden.

Ja, ich missbrauchte meine Position, aber nein, ich würde mich dafür nicht entschuldigen. Jedenfalls nicht, ehe ich nicht herausgefunden hatte, wer dieser Mann war, worauf sich seine leise geäußerte Warnung bezogen hatte und warum er so verängstigt war. Ich hatte diese Woche oft genug klein beigegeben. »Einbruch ist ein schweres Verbrechen, Buffy.«

Sie holte tief Luft. »Das wird Lady Sullivan nicht gefallen.«

Hatte Lady Sullivan je etwas gefallen? »Es ist nicht meine Aufgabe, ihr zu gefallen.« Während ich den Mann am Ellbogen Richtung Tallulah führte, überlegte ich, ob vor ihm schon jemand von einer barfüßigen Polizistin im Bademantel verhaftet worden war. Na ja, in diesem Beruf war es wichtig, schnell und entschlossen zu reagieren und anpassungsfähig zu sein.

»Jetzt, wo die dumme Tagung beginnt«, sagte Buffy, »sollte das Supe-Squad genauer darauf achten, wo es seine Nase hineinsteckt. Falls alle Werwölfe sie boykottieren, stehen Sie am Ende reichlich blöd da. All Ihre großen Ideen, der Welt Frieden und Glück zu bringen, lassen sich ohne uns nicht umsetzen.«

Ich blieb stehen und sah sie an. »Ist das eine Drohung? Von Ihnen?« Sie sah mir in die Augen. »Na?«, fragte ich.

Buffy verzog das Gesicht. »Nein. Aber Lady Sullivan –«

Ich verdrehte die Augen. Schluss jetzt. »Es ist ein Gipfel, keine Tagung.«

»Worin besteht der Unterschied?«

Gipfel klang beeindruckender. Schniefend öffnete ich Tallulahs Beifahrertür. Ich halte mich nie damit auf, den grellvioletten Mini abzuschließen, denn alle wissen, wem er gehört, und niemand würde wagen, ihn zu stehlen. Und niemand bei Verstand würde ihn stehlen wollen. Tallulah ist eine launische Rostmühle mit fast unerträglich ausgeprägter Persönlichkeit. Und der Wagen riecht seltsam.

Ich klappte den Sitz nach vorn und bedeutete dem geheimnisvollen Wolf, sich auf die enge Rückbank zu setzen. Er zögerte nicht und beklagte sich nicht über den Geruch, was für ihn sprach.

»Gehen Sie«, sagte Lukas zu Buffy.

»Aber –«

Er warf ihr einen warnenden Blick zu, und sie sah finster drein, tat jedoch, wie ihr geheißen. »Kommt, Jungs«, raunte sie. »Mir reicht es hier.«

Die anderen Werwölfe sahen mich an.

»Na los«, sagte ich. »Verschwindet!« Ich verschränkte die Arme und sah zu, wie Buffy und ihr Gefolge abzogen. Erst als ich sicher war, dass sie außer Hörweite waren, wandte ich mich Lukas zu und funkelte ihn an.

Gereizt breitete er die Hände aus und stellte fest: »Das war keine gute Idee.«

»Ich stehe doch nicht einfach da und lasse zu, dass ein Mann vor meinen Augen zusammengeschlagen wird, Lukas.«

Seine Miene änderte sich nicht. »Er ist ein Werwolf. Menschliche Gesetze gelten da nicht – das weißt du genau.«

»Bist du im Bilde, um wen es sich handelt? Hat Buffy es dir gesagt?«

»Sie hat mir nur erzählt, dass er ein Omega-Wolf und gefährlicher ist, als er aussieht; und dass er seinem Clan jahrelang unerlaubt ferngeblieben ist. Nun ist er unerwartet zurückgekehrt, und die Clans müssen ihm gegenüber ihre Autorität durchsetzen. Ich befürworte das nicht, aber genau das tun sie gerade.«

Ha! Ich war mir nicht sicher, ob ich außer Devereau Webb schon einem Omega-Werwolf begegnet war – und ich wusste nicht recht, ob der frühere Verbrecherboss als Omega zählte, weil eigentlich keine Klassifikation zu Webbs Status passte. Er hatte sich freiwillig in einen Werwolf verwandelt und dann alle vier Clans offen brüskiert. Auch schien er nur selten in London zu sein, und ich hatte keine Ahnung, was er gerade im Schilde führte, aber sicher besaß er so viel Macht und Stärke wie jedes Clan-Oberhaupt.

Jedenfalls standen Omega-Wölfe außerhalb des Clansystems – manchmal, weil sie nicht hineinpassten, manchmal, weil sie wegen abscheulicher Taten verstoßen worden waren. Letztere landeten entweder im Loch, dem für Übernatürliche bestimmten Pendant zum Belmarsh-Gefängnis, oder wurden kurzerhand von den eigenen Leuten umgebracht. Nichts an diesem Werwolf allerdings vermittelte mir das Gefühl, gefährlich genug zu sein, um solche Maßnahmen zu rechtfertigen.

Neugierig betrachtete ich die zusammengekauerte Gestalt auf der Rückbank. Solange ich nicht mehr über diesen Mann wusste, würde ich mir ein Urteil über ihn versagen.

Lukas beobachtete mich kurz und seufzte. »Du kommst also vermutlich nicht wieder ins Bett. Willst du wenigstens Schuhe und ein paar Sachen anziehen?«

Ich warf seinem muskulösen Oberkörper und den nackten Beinen einen vielsagenden Blick zu. Das musste gerade er sagen! »Passt du so lange auf ihn auf?«

An seiner Wange zuckte ein Muskel. »Nur weil ich mir um dein Wohlergehen Sorgen mache. Kurz auf ihn aufzupassen, heißt nicht, dass ich mit deinem Tun einverstanden bin.«

»Das hast du bereits hinreichend deutlich gemacht«, erwiderte ich sanft. »Bin in fünf Minuten wieder da.«

Lukas nickte. Ich murmelte ein Danke und tat, als würde ich seine düstere und ablehnende Miene nicht bemerken.

3

Ich redete kaum mit dem Werwolf, vergewisserte mich nur, dass es ihm weitestgehend gut ging, und erklärte ihm, wir seien auf dem Weg ins Supernatural Squad. Weil Tallulah hinten kaum Platz bot, saß er zusammengekauert da und nickte nur. Ich schob meine vielen brennenden Fragen auf, bis wir im Verhörzimmer säßen, wo ich aufnehmen konnte, was er zu sagen hatte. Mit seiner Festnahme wegen eines von ihm nicht begangenen Verbrechens hatte ich den Bogen überspannt, und mir war klar, dass ich dafür einen Rüffel kassieren würde, doch ich lehnte es ab, mich schuldig zu fühlen. Hier war etwas im Busch – und ich wollte herausfinden, worum es sich handelte.

Ich parkte direkt vor dem Eingang. Eine Gestalt mit Zylinder trat unter der Markise des schicken Hotels nebenan vor. Es war zu früh für Max, den freundlichen Hotelpagen, der dort arbeitete. Hier handelte es sich um sein aggressives Gegenstück, einen Mann mit Stupsnase, und ich hatte schon eine recht genaue Vorstellung von dem, was er sagen würde. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, konnte ich rasch ins Gebäude schlüpfen und so vermeiden, dass er mich in ein Gespräch verwickelte.