Magic Fire - Helen Harper - E-Book

Magic Fire E-Book

Helen Harper

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit bringt nicht immer, was man erwartet ...

Emma Bellamy hat schon viel erlebt, seit sie zur Supernatural Squad versetzt wurde. Nach den Ermittlungen gegen Werwölfe und Vampire und der Erkundung ihrer eignen unerwarteten magischen Fähigkeiten, scheint sie nun endlich ihren Platz in der Welt der Londoner Sups gefunden zu haben. Das liegt nicht zuletzt an dem attraktiven Vampirlord Lukas Horvath, für den sie mittlerweile mehr als nur körperliche Anziehung empfindet.

Doch dann erregt ein Mord Emmas Aufmerksamkeit, der nicht in London, sondern ihrem alten Heimatort begangen wurde - dem Ort, in dem ihre Eltern ermordet wurden, als sie fünf Jahre alt war. Da dieses Verbrechen Spuren übernatürlicher Kräfte aufweist, wird Emma gebeten, die Ermittlungen zu unterstützen - und dabei mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert ...

Band 4 der FIREBRAND Reihe

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Helen Harper bei LYX

Impressum

HELEN HARPER

Magic Fire

Roman

Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann

Zu diesem Buch

Eine Reise in die Vergangenheit bringt nicht immer, was man erwartet …

Emma Bellamy hat schon viel erlebt, seit sie zur Supernatural Squad versetzt wurde. Nach den Ermittlungen gegen Werwölfe und Vampire und der Erkundung ihrer eignen unerwarteten magischen Fähigkeiten, scheint sie nun endlich ihren Platz in der Welt der Londoner Sups gefunden zu haben. Das liegt nicht zuletzt an dem attraktiven Vampirlord Lukas Horvath, für den sie mittlerweile mehr als nur körperliche Anziehung empfindet.

Doch dann erregt ein Mord Emmas Aufmerksamkeit, der nicht in London, sondern ihrem alten Heimatort begangen wurde – dem Ort, in dem ihre Eltern ermordet wurden, als sie fünf Jahre alt war. Da dieses Verbrechen Spuren übernatürlicher Kräfte aufweist, wird Emma gebeten, die Ermittlungen zu unterstützen – und dabei mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert …

1

Meinen kalt gewordenen Kaffee in der Hand, saß ich hinter dem Steuer von Tallulah und sah aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz war unerwartet viel los. Ich beobachtete, wie eine Frau mit angespannter Miene ihr weinendes Kleinkind an die Hand nahm und zu ihrem Wagen zurückging. Einige Stellplätze weiter stiegen zwei Männer in grauem Anzug aus, Aktentasche in der einen, Smartphone in der anderen Hand. Mit der selbstsicheren Entschlossenheit von Menschen, die diesen Weg oft zurückgelegt haben und wissen, wohin sie gehen, schritten sie auf den Eingang des Gebäudes zu.

Ich war zum ersten Mal hier, hatte aber während meiner zweijährigen Ausbildung zur Ermittlerin der Polizei schon solche Orte besucht. Egal, wie sie aussahen und wo in oder um London sie lagen: Alle umgab die gleiche Atmosphäre aus Verzweiflung und Befriedigung, Angst und Hoffnung, Gerechtigkeit und Vergeltung.

His Majesty’s Prison in Galloway war da nicht anders.

Es juckte mir in den Fingern, und ich war sehr versucht, den Zündschlüssel zu drehen und eilends wegzufahren, ohne mich noch mal umzusehen. Ich hatte nicht erwartet, dass mein Besuchsantrag so schnell bewilligt wurde. Es standen keine größeren Ermittlungen an, und ich hatte vermutet, dass die Mühlen des englischen Gefängniswesens langsam mahlen und es Wochen dauern würde, bis ich die Genehmigung bekäme – wenn überhaupt. Doch nun saß ich hier, keine zweiundsiebzig Stunden später, mit einem bestätigten Termin, um den Mörder meiner Eltern zu treffen.

Ich hatte Lukas gesagt, ich wolle allein hin, es sei einfacher für mich ohne ihn in meiner Nähe. Das war ein Fehler gewesen. Inzwischen hätte ich mein halbes Blut dafür gegeben, ihn bei mir zu haben. Ich hätte die Bedeutung moralischer Unterstützung nicht unterschätzen dürfen.

Die beiden Männer, bei denen es sich wohl um Anwälte handelte, waren fünfzig Meter vor mir durch den Haupteingang eingetreten und nicht mehr zu sehen. Die Frau hatte ihr Kind auf der Rückbank in den Sitz geschnallt und schob sich mit düsterer Miene ans Steuer. Als sie merkte, dass ich sie musterte, warf sie mir einen finsteren Blick zu und hob den Mittelfinger. Ich reagierte nicht.

»Ist das ein Fehler, Tallulah?«, fragte ich.

Überflüssig zu sagen, dass der Wagen nicht antwortete. Ich seufzte. Schluss damit, die Sache hinauszuzögern. Also raffte ich mich auf, stieg aus und straffte die Schultern. Ich war Detective Constable Emma Bellamy und schon so manchem Mörder begegnet. Wenn ich starb, wurde ich zwölf Stunden später in lodernden Schwefelflammen wiedergeboren. Einem Buch voller Zaubersprüche zufolge, das genauso viele Probleme geschaffen wie gelöst hatte, war ich der einzige Phönix. Ich verbrachte meine Zeit unter übernatürlichen Wesen, die weit mächtiger waren als jeder Inhaftierte dort in dem Gebäude vor mir. Und seit letzter Woche verbrachte ich meine Nächte mit dem Oberhaupt der Londoner Vampire.

Da würde ich mit einem Menschen schon klarkommen. Egal, wofür dieser Mann verantwortlich war: Ich war auf jeden Fall stark genug. Also rückte ich meine beste Kostümjacke zurecht und stapfte zum Gefängnistor.

Drin war es unerwartet hell; die Wände waren in warmem, freundlichem Bernstein gestrichen, und Kunstwerke – offenbar von den Insassen geschaffen – hingen neben Plakaten mit den Besuchsregeln. Ich zog meine Terminbestätigung heraus und gab sie mit Führerschein und Dienstausweis dem uniformierten Wächter hinter der Plexiglasscheibe.

»Guten Morgen DC Bellamy«, sagte er mit dem gleichen professionellen Lächeln, das mir am Morgen der Barista bei meiner Kaffeebestellung geschenkt hatte. »Ihr Besuch wurde uns angekündigt. Bevor Sie eintreten, muss ich Sie bitten, dieses Formular auszufüllen.« Er gab mir ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier. Ich überflog die Einzelheiten, trug Geburtstag und Adresse ein und unterschrieb.

»Und ich muss für unsere Unterlagen ein Foto von Ihnen machen.«

Ich nickte und wartete. Leider war der Blitz unerwartet grell, und ich musste heftig blinzeln, um wieder sehen zu können. Der Wächter war diese Reaktion offenbar gewöhnt und lächelte.

»Da es sich um einen dienstlichen Besuch handelt«, sagte er, »kommen Sie in ein Zimmer, in dem Sie mit dem Gefangenen unter vier Augen sprechen können. Er ist bereit, mit Ihnen zu reden, trägt aber die ganze Zeit Handschellen, und zwischen ihnen beiden verläuft eine gläserne Trennwand. Normalerweise ist das anders, doch in Ihrem speziellen Fall erscheint uns diese Trennung angemessen. Für den Besuch ist eine Stunde vorgesehen. Falls Sie länger brauchen, müssen Sie mit dem zuständigen Gefängnisbeamten sprechen und –«

»Ich brauche nicht länger«, unterbrach ich ihn.

Der Wächter sah mir in die Augen. In seinem Blick lag eine Spur Mitgefühl – er wusste also genau, wer ich war und was Samuel Beswick meiner Familie angetan hatte. »Gut.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Der Gefangene bekommt nicht oft Besuch. Eine Zeit lang kam seine Mutter, aber die ist jetzt im Pflegeheim und reist nicht mehr. Seit bestimmt drei Jahren war niemand mehr für ihn hier.«

Vielleicht hätte ich Befriedigung darüber empfinden sollen, dass Beswick niemandem mehr genug bedeutete, um ihn hier zu besuchen. Überraschenderweise aber stimmte mich das nur traurig. Beswick hatte den Gang meines Lebens dramatisch verändert, indem er meinen Eltern das Leben genommen hatte, und ich hasste ihn abgrundtief, doch das machte die brutale Ermordung von Mutter und Vater nur noch sinnloser.

Samuel Beswick würde einsam in diesen Mauern sterben. Letztlich hatte er nicht mehr erreicht als eine Tragödie für alle Beteiligten, auch für sich. Niemand war hier ein Gewinner.

Ich ging durch eine Sicherheitsschleuse, ließ mich abtasten und folgte einem Aufseher über den breiten Flur zu einer beigefarbenen Tür mit der Nummer 32. Der Wächter schloss auf und bedeutete mir mit einer Handbewegung, ich solle eintreten.

»Samuel Beswick kommt gleich«, sagte er, »durch die Tür gegenüber. Sie können sich gegenseitig sehen, sind aber durch die Scheibe getrennt.« Er leierte alles herunter. »Sie haben während der gesamten Begegnung auf Ihrem Stuhl sitzen zu bleiben. Ich warte auf dem Flur. Wenn Sie fertig sind, klopfen Sie an die Tür. Dann bringe ich Sie nach draußen. Wir hören zwar nicht mit, aber in einer Ecke gibt es eine Kamera, die die Begegnung aufzeichnet.«

Ich nickte unaufmerksam. Anders als der Eingangsbereich mit seinen warmen Tönen wirkte das Zimmer eher ungemütlich. Es war im selben Beige gehalten wie die Stahltür, und ich kam zu dem Schluss, dass keine Farbe deprimierender war.

Der Aufseher wartete, bis ich mich auf den unbequemen, am Boden festgeschraubten Metallstuhl gesetzt hatte. Vor mir reichte die Trennscheibe quer durchs Zimmer. Ihre untere Hälfte war aus Stahl, die obere bestand aus Glas mit ein paar kleinen Löchern, durch die man reden konnte. Alles war so eingerichtet, dass zwischen Besuchern und Gefangenen kein körperlicher Kontakt möglich war, und die Konstruktion wirkte sehr stabil. Zwar hatte ich keine Angst vor Beswick, doch die Trennwand war seltsam beruhigend. Dahinter befanden ein weiterer Stuhl und eine zweite Tür, durch die der Mörder meiner Eltern eintreten würde.

»Es dauert noch ein, zwei Minuten«, sagte der Aufseher und ließ mich allein.

Ich schlug die Beine übereinander, löste sie wieder, legte die Hände locker im Schoß ineinander, überlegte es mir anders und schob die Finger zusammen. Entspann dich, Emma. Atme durch. Er ist nur ein Mensch, und die Erwartungen sind viel schlimmer als die Begegnung selbst. Vermutlich.

Als die Tür gegenüber aufging, schrak ich zusammen. Während ich mich noch darüber ärgerte, kam Samuel Beswick ins Zimmer geschlurft und setzte sich auf seinen Stuhl.

So unsinnig es war: Ich hatte gedacht, demselben Mann gegenüberzusitzen, der seinerzeit nach dem Urteil in Old Bailey abgeführt und dabei fotografiert worden war. Aber das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Ich war nicht mehr das kleine Kind, das er in einer Blutlache zurückgelassen hatte – und er war kein junger Mann mehr mit buschigem Schnurrbart und dunklem Haar. Er war ergraut, war aber kein distinguierter Silberfuchs, wie man sie in den Straßen der Wohlhabenden sah, sondern hatte strähniges, fettiges Haar, bei dem man eher an Obdachlosigkeit dachte. Nach Jahrzehnten im Gefängnis war seine Haut bleich, Wangen und Schultern erschlafft. Seine blauen Augen indes blickten noch immer scharf.

Ich wusste, dass er sich all die Jahre beschäftigt hatte. Er hatte sich Arabisch beigebracht und auch ein wenig Chinesisch, hatte Prüfungen in Geschichte, Psychologie und Volkswirtschaftslehre abgelegt und strebte einen Abschluss als Jurist an. Samuel Beswick mochte ein Mörder sein, aber ein Idiot war er nicht. Ich würde gut daran tun, das im Kopf zu behalten.

Ich hätte mich über den Tisch beugen, die Scheibe zerschlagen, ihn bei den Schultern packen und fragen wollen, warum er meine Eltern umgebracht hatte. Stattdessen lächelte ich freundlich und sagte in Zimmerlautstärke: »Danke, dass Sie dazu bereit sind, sich mit mir zu treffen.«

»Sie haben keine Vorstellung davon, Miss Bellamy, wie wünschenswert jede Störung der täglichen Abläufe für einen alten Knastbruder wie mich ist.« Seine Stimme klang krächzend, als würde er sie selten benutzen. Ich blickte auf seine Hände, deren gelbe Finger den Raucher verrieten. Dann schaute ich auf. »Detective Constable Bellamy, wenn ich bitten darf.«

Eine Empfindung – zu flüchtig und unklar, als dass ich sie hätte fassen können – huschte über Beswicks Miene. Es war weder Widerwille noch Antipathie; wenn ich hätte raten sollen, hätte ich auf Verständnis getippt. »Entschuldigen Sie, DC Bellamy. Darf ich daraus schließen, dass Sie eher aus beruflichen als aus persönlichen Gründen gekommen sind?«

Ich begegnete seinem Blick ohne ein Blinzeln. »Ich bin wegen meiner Eltern hier.« Dieses Eingeständnis war für Samuel Beswick keine Neuigkeit. Er wusste, wer ich war. In seinen Augen blitzte kurz ein seltsames Leuchten auf. Ich beobachtete ihn genau. »Sie haben dem Gericht die Tat nie gestanden«, setzte ich hinzu, »doch ich hoffe, Sie tun es mir gegenüber. Schließlich sitzen Sie seit fünfundzwanzig Jahren deswegen ein. Sie wurden für schuldig befunden – aufgrund von Zeugenaussagen, denen zufolge Sie zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts waren, und aufgrund der Blutspuren an Ihrer Kleidung steht zweifelsfrei fest, dass Sie die beiden kaltblütig ermordet haben.«

Beswick sah mich an und setzte sich anders hin. »Ja«, sagte er schlicht. »Ich habe es getan.«

Das waren nur fünf einfache Worte, aber nachdem er so lange geleugnet hatte, hatte ich nicht damit gerechnet, sie aus seinem schmalen Mund zu vernehmen. Und auch die enorme Erleichterung hatte ich nicht erwartet, die ich bei seinem überraschenden Geständnis empfand.

»Sie wollen alle Einzelheiten wissen.« Er klang nicht erpicht darauf, sie mir zu erzählen, und ich vermutete nicht, dass er in seiner Schilderung schwelgen würde. Ehrlich gesagt: Samuel Beswick hörte sich einfach nur müde an. »Oder?«

Ich schluckte. »Ich möchte wissen, warum Sie sie umgebracht haben.«

Er zuckte die Achseln. »Was soll ich sagen? Sie hatten alles, und ich hatte nichts. Es war pure Eifersucht. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Alle Akten des Doppelmords hatte ich nicht angefordert, das hatte ich nicht gewollt. Ich erinnerte mich an nichts mehr von damals, an die Tat nicht und nicht an das, was dann geschah. Als Fünfjährige war ich ausführlich befragt worden und hatte nichts Nützliches zu berichten gewusst. Augenzeugen sind notorisch unzuverlässig, aber ich hatte nicht mal falsche Erinnerungen an die Vorgänge damals. Doch ich hatte alte Zeitungsberichte und das gelesen, was mein Onkel aufbewahrt hatte, und kannte alle wesentlichen Fakten von Samuel Beswicks Verbrechen auswendig. Aber ich wollte sie aus seinem Mund hören.

»Sie haben im selben Dorf gelebt«, stellte ich fest.

Er grinste und bleckte seine schiefen, fleckigen Zähne. »In Barchapel, dem Inbegriff einer englischen Dorfidylle.« Seine Stimme klang seltsam überdreht. »Dort sitzt man schlimmer in Haft als im Gefängnis. Kent gilt als der Garten Englands. Das mag vielleicht auf manche Orte zutreffen, aber nicht auf Barchapel – es ist eine Abfallgrube, kein Rosengarten.«

Seit dem Tod meiner Eltern war ich nicht in Barchapel gewesen, ich zweifelte jedoch an Beswicks Beschreibung. Ich hatte Fotos gesehen: Das Dorf war klein und idyllisch, zwar sicher nicht ohne Fehler, aber doch keine Abfallgrube. Das Schlimmste, was sich sagen ließ, war vermutlich, dass es langweilig war. Von einem vereinzelten Doppelmord natürlich abgesehen.

»Sie kannten meine Eltern?«

»Ich habe sie gelegentlich im Dorf gesehen. Manchmal im Pub oder auf Spaziergängen. Einmal habe ich mit Ihrer Mutter gesprochen, als sie bei einem Dorffest Kuchen verkauft hat.«

Spontan beugte ich mich vor. »Und was hat sie gesagt?«

»Dass das Wetter herrlich ist. Dass ihr mein T-Shirt gefällt. Dass sie sich über den Preis freut, den sie bei der Tombola gewonnen hat.« Er hob seine schmalen Brauen. »Sie waren auch dort und haben von ekligen Würmern im Garten erzählt, wenn ich mich recht erinnere.«

Ich war kaum fünf gewesen – kein Wunder also, dass ich ihn nicht in tiefschürfende philosophische Debatten verwickelt hatte. »Sie war also nett zu Ihnen«, stieß ich hervor. »Aber Sie haben sie trotzdem umgebracht.«

Beswick zuckte die Achseln und sah weg. »Es war nichts Persönliches, nicht wirklich. Das waren zwei Leute, die ein besseres Leben hatten als ich, und ich wollte sie dafür bestrafen. Es hätte jeden treffen können. Pech für Sie, dass ich Ihre Eltern ausgewählt habe. Ich war in London gewesen und hatte den Bus nach Hause genommen. Kurz nach halb zehn kam ich in Barchapel an und hatte keine Lust, schon schlafen zu gehen. Also bin ich herumspaziert und sah im Cottage Ihrer Eltern Licht brennen – sie waren mit Ihnen daheim.« Er schenkte mir ein freundliches Lächeln. »Falls es hilft: Sie sind schnell gestorben und haben nicht gelitten.«

Mir war beklommen zumute. »Im Bericht der Pathologie steht etwas anderes.« Mein Onkel hatte ein Exemplar aufbewahrt, und ich hatte kürzlich darin gelesen. Was dort stand, war auch dann noch schwer zu verdauen, als ich mit den Details vertrauter war.

Beswick sah auf die Tischplatte. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es nicht lange gedauert hat«, sagte er leise. »Und ich war dort, nicht der Gerichtsmediziner.« Er hielt inne. »Es tut mir leid. Ich war damals in sehr schlechter Verfassung. Ihre Eltern hatten das nicht verdient. Und Sie auch nicht.«

»Sie haben sie ermordet«, stieß ich hervor. »Warum haben Sie nicht auch mich umgebracht?«

Er straffte sich. »Das hätte ich auf keinen Fall getan. Sie waren ein kleines Kind – das wäre nicht fair gewesen.«

Fair? Fair? Die Gefühllosigkeit, die mir bis jetzt gute Dienste geleistet hatte, verließ mich unvermittelt, und ein rötlicher Nebel sank herab. »Sie sind bei uns eingebrochen. Sie haben meinen Vater erstochen. Meiner Mutter haben Sie die Kehle durchgeschnitten. Und mich haben Sie in der Küche bei den Toten zurückgelassen. In ihrem Blut.«

Beswick zuckte zusammen. »Ja, das habe ich getan.«

»Dann sagen Sie mir, was daran fair ist.« Ich packte die Lehnen meines Stuhls so fest, dass die Fingerknöchel weiß wurden. »Sagen Sie es mir!«

Er antwortete nicht.

»Sie haben auf ›nicht schuldig‹ plädiert«, warf ich ihm an den Kopf. »Sie haben immer Ihre Unschuld behauptet.«

Wieder setzte er sich anders hin. »Ich wollte nicht ins Gefängnis.«

Meine Brust wurde eng, und ich bekam kaum noch Luft. In diesem Moment wusste ich mit plötzlicher Klarheit, dass ich das nicht konnte. Ich hatte gedacht, ich könnte mich diesem Mann gegenübersetzen und ihn ruhig befragen, hatte mich für stark genug gehalten, mit allem klarzukommen, was er sagte. Doch nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Ich ertrug nicht mal mehr, die gleiche Luft zu atmen wie er. Würde ich länger bleiben, dann würde ich die Scheibe durchbrechen, die uns trennte, und ihn umbringen, mit bloßen Händen, ehe der Aufseher die Tür aufschließen und mich aufhalten konnte.

Niemals hätte ich mit Beswick allein sprechen dürfen. Egal, was die Gefängnisdirektion über meine Lage und ihre Vorsichtsmaßnahmen dachte: Ich war mir sehr bewusst, dass ich über die übernatürliche Stärke und den menschlichen Willen verfügte, den Mann mir gegenüber umzubringen. Ich war weit mehr als ein weiteres Opfer.

»Ich muss hier raus«, murmelte ich, sprang auf und hämmerte gegen die Tür. »Lassen Sie mich raus! Lassen Sie mich sofort hier raus!«

Beswick rührte sich nicht, sondern beobachtete mich von seinem Stuhl. Seine blauen Augen brannten mir buchstäblich ein Loch in den Rücken. Ich hämmerte heftiger. Wo war nur der Aufseher?

Die schwere Stahltür öffnete sich. »Alles in Ordnung?«

Ich schnappte nach Luft. »Ich muss hier raus.«

Der Blick des Aufsehers sprang zu Beswick hinter mir, und seine Augen wurden vorwurfsvoll schmal. Dabei war ich es, vor der er sich hätte in Acht nehmen sollen. Ich ballte die Fäuste und wiederholte meine Worte ruhiger. »Ich muss hier einfach nur raus.«

Er nickte. »Wie Sie wollen.«

Ich nahm Reißaus, ohne irgendwen oder irgendwas anzusehen. Nach draußen zu kommen, schien so lange zu dauern wie der Weg hinein. Kaum trat ich aus dem Gefängnistor, rannte ich zu meinem Wagen. Doch als ich Tallulah sah, stand jemand daneben.

Lukas straffte sich, als er mich sah. Ich lief zu ihm und ließ mich in die Arme schließen. Ich zitterte und hörte mein Herz pochen, aber seine Gegenwart beruhigte mich. Lukas war ein Vampir, und doch fühlte ich mich bei ihm sicher.

»Du hast zwar gesagt, ich solle nicht kommen«, raunte er sanft, und eine seiner tiefschwarzen Locken kitzelte meine Wange, »aber ich dachte, du überlegst es dir womöglich anders. Da du kaum zehn Minuten mit Beswick gesprochen hast und herausgestürmt kommst, als seien Dämonen hinter dir her, lag ich damit offenbar richtig.«

Vielleicht kannte er mich besser als ich mich selbst. »So ungern ich meine Fehlbarkeit eingestehe, so froh bin ich doch, dass du gekommen bist.« Ich löste mich von ihm und sah ihn an. »Du hattest recht.«

Lukas gestattete sich ein leises Lächeln. »Eines Tages, Emma, wirst du begreifen, dass ich immer recht habe.«

Trotz der Umstände schnaubte ich. Ja, ja! Froh, dass sein Humor es mir ermöglichte, an etwas anderes zu denken, knuffte ich ihn gegen den Oberarm, und er grinste.

»Woher wusstest du, dass ich nicht lange mit Beswick reden würde?«, fragte ich.

Lukas zuckte die Achseln. »Ich kenne einige Leute, die hier arbeiten«, sagte er mit gespielter Lässigkeit, »und bin auf dem Laufenden.«

Mit anderen Worten: Er hatte einige Wächter geschmiert, um stets auf dem neuesten Stand zu sein. Den freundlichen Mann am Empfang vielleicht? Oder den auf die Gefängnisregeln fixierten Aufseher, der draußen gewartet hatte? Eigentlich egal.

»Ich wünschte, du würdest so was nicht tun«, brummelte ich und sah weg.

Er nahm mein Gesicht erneut in die Hände und wandte es sanft zu sich. »Ich habe mir Sorgen gemacht – und in Anbetracht der Miene, mit der du aus dem Tor kamst, sehr zu Recht.« Flüchtig schimmerte Ärger in seinen Augen auf. »Was hat Samuel Beswick zu dir gesagt? Was hat er getan, um dich so zu verängstigen?«

Ich seufzte. »Nicht er hat mich verängstigt. Ich habe mich vor mir selbst gefürchtet.«

Lukas begriff sofort. »Du hattest Angst vor dem, was du ihm antun könntest.«

Ich nickte. »Zwar war eine Trennscheibe zwischen uns, aber ich wusste, dass ich sie durchbrechen kann. Mir war klar, dass ich zu ihm gelangen und …« Ich vermochte den Satz nicht zu beenden.

Lukas schwieg kurz. In seinem Blick lag keine Kritik. Über meine Schulter hinweg sah er zum Gefängnis, und eine Furcht einflößende Düsternis glitt über seine Miene. »Das ist nur natürlich.«

»Er hat zugegeben, dass er sie umgebracht hat, Lukas. Das hat er nie zuvor getan. Ich habe ihm in die Augen geschaut, und er hat seine Schuld eingestanden.«

Lukas umarmte mich von Neuem. »Komm«, sagte er, »bringen wir dich nach Hause.«

2

Als ich tags darauf ins Supernatural Squad kam, wartete Detective Superintendent Lucinda Barnes bereits auf mich. Liza saß mit finsterer Miene in der Ecke. Da Barnes letzte Krümel von dem Teller las, auf dem wohl kürzlich noch ein Kuchen von Liza gestanden hatte, war der Grund ihres Ärgers offenkundig: Sie nahm das Backen ernst und teilte die Früchte ihrer mehligen Arbeit nicht immer gern mit anderen.

»DC Bellamy«, begann Barnes mit flüchtigem Lächeln, »schön, dass Sie da sind. Ich weiß, es ist Wochenende, aber ich bin vorbeigekommen, weil wir uns gegenseitig auf dem Laufenden halten müssen. Wie steht es mit dem Fairfax-Clan?«

So viel zum Thema Small Talk. »Da gibt es nichts Neues«, erwiderte ich. »Ein neues Oberhaupt wird erst beim nächsten Vollmond ermittelt, wenn alle Bewerber im St. James’s Park den Kampf um die Nachfolge ausgetragen haben.« Das wusste Barnes schon; warum sie es für nötig hielt, persönlich zu erscheinen und danach zu fragen, war mir schleierhaft.

»Und ist diese Toffee immer noch die aussichtsreichste Kandidatin?«

Ich zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß.«

»Sie sollten näheren Kontakt zu ihr suchen. Sich mit ihr befreunden. Das macht die Dinge später leichter.«

»Nur wenn sie Chefin wird«, wandte ich ein. »Es gibt noch andere Betas im Fairfax-Clan – gut möglich, dass sich eine oder einer davon gegen Toffee durchsetzt und es nicht schätzen würde, dass ich mich bei ihr eingeschmeichelt habe. Außerdem hat sie sich in aller Öffentlichkeit Devereau Webb unterworfen, als sie sich vor diesem Gebäude auf den Rücken gerollt und ihm den Bauch präsentiert hat. Sich einem Werwolf, der in der Hierarchie keinerlei Rang bekleidet und nicht mal seinen ersten Vollmond hinter sich hat, derart zu unterwerfen, hat bei den anderen sicher kein Zutrauen geweckt.«

»Stimmt.« Barnes runzelte die Stirn. »Was passiert nun eigentlich mit Mr Webb? Ist er irgendwie auf die Clans zugekommen?«

»Nein. Er lebt weiter auf der anderen Seite der Stadt. Ich lasse ihm noch einige Wochen Zeit, damit er sich an das Dasein als Werwolf gewöhnt, und melde mich dann bei ihm.«

»Er hat bei den anderen Werwölfen in Lisson Grove zu leben – das Gesetz ist da eindeutig.«

Ich blinzelte nicht. »Das weiß ich, aber auch ihn mag ich nicht zum Feind haben. Im Moment haben Devereau Webb und ich ein freundliches Verhältnis. Für den Fall, dass er sich als so mächtig erweist, wie es in ihm steckt, will ich ihn nicht verärgern. Doch ich erinnere ihn beizeiten an die Übernatürlichen-Gesetzgebung.«

Barnes schniefte. »Gut, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Aber das bringt uns zu einem anderen Thema.«

Mir war klar, was kommen würde, und Liza auch. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie sich straffte. Vermutlich war es gut, dass Fred auf Streife war; Liza immerhin war gut darin, so zu tun, als würde sie nicht zuhören. Bei Fred war in dieser Hinsicht Hopfen und Malz verloren.

»Sie brauchen einen weiteren Ermittler«, sagte Barnes. »Jemanden mit mehr Erfahrung. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, was die Verbesserung des Verhältnisses von Polizei und Übernatürlichen betrifft, aber die jüngsten Ereignisse rund um die Talisman Bank haben gezeigt, dass das Supe-Squad ein weiteres Paar Hände braucht.«

Ich achtete auf meine Miene. »Vermutlich schwebt Ihnen schon jemand vor?«

»Detective Sergeant Owen Grace. Er ist scharfsinnig und ehrgeizig und hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.«

»Ich kenne ihn nicht«, gab ich zurück.

»Woher auch? Er ist nie aufgefallen und hat seine Arbeit stets unscheinbar erledigt. Genau das finde ich gut. Und Sie hören sicher gern, dass er sehr empfänglich für den Vorschlag war, im Supe-Squad zu arbeiten.«

Anders als viele Londoner Polizisten, die alle mit Übernatürlichen-Blut in den Adern für Abschaum hielten. »Gut«, erwiderte ich. Solange ich DS Grace nicht kennen gelernt hatte, war ich zur Unvoreingenommenheit bereit.

»Er wird Ihr Vorgesetzter sein«, erklärte Barnes, »und Sie haben seinen Anweisungen zu folgen. Ich rechne damit, dass es eine Übergangsphase gibt, in der das womöglich … unangenehm ist.«

»Ich habe nicht vor, Probleme zu verursachen«, gab ich steif zurück.

Barnes lächelte freundlich. »Das weiß ich. Und DS Grace will das auch nicht. Aber es können eben Probleme entstehen, wenn ein Detective über größere Kenntnisse verfügt als ein anderer. Sie sind schließlich selbst eine Übernatürliche, was Ihnen einen Vorteil verschafft, mit dem DS Grace vielleicht … schwer umgehen kann, da er Ihr Vorgesetzter ist. Zum Glück habe ich eine Idee, um sicherzustellen, dass er Fuß fasst.«

Jetzt war ich misstrauisch. »Nämlich?«

»Sie haben gestern Samuel Beswick besucht.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ich habe alle Regeln eingehalten«, sagte ich und war sofort in der Defensive.

DSI Barnes hob die Hände. »Ich vermute nichts anderes, Emma. Ehrlich gesagt bin ich erstaunt, dass sie ihn nicht früher besucht haben. Hat er Ihnen Antworten darauf gegeben, was Ihren Eltern widerfahren ist?«

Ich sah zu Boden. »Er hat endlich eingestanden, diese Morde begangen zu haben. Sonst hat er eigentlich nichts gesagt.«

Barnes schürzte die Lippen. »Hmm. Sie hatten sicher nicht allein Fragen zu Ihren Eltern. Sie verfügen über außergewöhnliche und einzigartige Kräfte, die aus dem Nichts gekommen zu sein scheinen – darüber machen Sie sich bestimmt auch Gedanken.«

»Natürlich.« Ich verschränkte die Arme und wusste nicht recht, worauf DSI Barnes hinauswollte. Doch ich befürchtete, dass es mir nicht gefallen würde.

»Ich weiß nicht, ob Sie die Nachrichten verfolgen, aber letzte Nacht hat es in Kent einen hässlichen Mord gegeben.«

Ich blinzelte. Was mochte ein jüngst in Kent verübter Mord mit all dem zu tun haben? Es sei denn …

»In Barchapel, um genau zu sein«, fuhr DSI Barnes fort.

Ich straffte mich, und eisige Finger der Angst spielten über mein Rückgrat, als ich den Namen des Dorfes hörte, in dem ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht hatte.

»Es gibt den Verdacht, abtrünnige Übernatürliche seien darin verwickelt. Das bezweifle ich zwar, aber wenn so ein Gerücht erst umgeht, lässt es sich schwer unterbinden. Leider ist unsere Polizei außerhalb Londons nicht zuständig, obwohl wir garantiert Unterstützung bieten könnten.« Sie schwieg bedeutungsschwanger. »Sie könnten Unterstützung bieten«, fügte sie hinzu.

Ich schluckte.

Barnes wedelte mit einem Blatt Papier. »Ich habe mir erlaubt, Ihre Freistellung zu veranlassen. Die Unterlagen sind schon vorbereitet. Sie müssen nur noch unterschreiben.«

»Freistellung?«

»Bei Ihnen ist Urlaub fällig. Und nach den jüngsten Ereignissen ist dies eine gute Zeit, ihn zu nehmen. Sie können zwei Wochen bekommen, um sich zu erholen. Kent soll um diese Jahreszeit sehr schön sein.« Barnes lächelte vage. »Zugleich hat DS Grace so Gelegenheit, sich nach eigenem Gutdünken im Supe-Squad einzurichten. Auf längere Sicht wird es für Sie beide einfacher sein, wenn er seinen eigenen Weg findet. Nicht weil ich annehme, Sie mischten sich ein, sondern weil alle Gelegenheit benötigen, ihre Art zu entwickeln, die Dinge zu erledigen.«

»Ich bezweifle, dass ich einen Urlaub in Kent brauche«, meinte ich vorsichtig.

»Sie wollen Genaueres darüber herausfinden, was Ihren Eltern zugestoßen ist, und wir alle wollen wissen, warum Sie sind, was Sie sind. Ein Besuch in Barchapel könnte diese Fragen beantworten. Ich habe mich an die dortige Polizei gewandt und vorgeschlagen, dass Sie vorbeischauen. Dann können die Kollegen Sie zu Übernatürlichen-Aktivitäten befragen, was die Ermittlungen unterstützen dürfte. Das ist für alle ein Gewinn.«

Barnes zögerte, und mir fiel auf, dass sie erstaunlich unsicher war. »Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen. Das ist kein Befehl, Emma, nicht mal eine Aufforderung. Doch die Gelegenheit ist gegeben. Barchapel mag Ihnen keine Fragen beantworten, könnte allerdings geeignet sein, Ihre Nachforschungen zu beginnen. Sie können gleich morgen früh hinfahren.«

Ich ließ die Hände sinken, bewegte mich ansonsten aber für eine kurze Weile nicht. Dann sah ich, dass Liza mich mit unauffälligem Nicken ermutigte. Sie hatte recht: Ich hatte den Stein schon ins Rollen gebracht, hatte mit meinem Onkel gesprochen und alles gelesen, was er im Hinblick auf meine Eltern besaß. Und ich hatte Beswick besucht. Vielleicht war nun der Augenblick gekommen, einen Gang höher zu schalten und mehr über meine Vergangenheit herauszufinden.

Warum war ausgerechnet ich der Phönix? Hatte der Tod meiner Eltern etwas mit meiner Unfähigkeit zu tun, tot zu bleiben. Und würde Barchapel Hinweise bieten? Ich schluckte, ging zu Barnes, nahm das Blatt Papier und setzte meine Unterschrift auf die gepunktete Linie.

***

»Wenn du ein paar Tage wartest, kann ich dich begleiten«, sagte Lukas und warf dem schmuddeligen Zug einen zweifelnden Blick zu. »Ich kann Auto fahren.«

»Ich auch«, erwiderte ich leichthin. »Aber Tallulah tut sich auf Landstraßen schwer, und gegen Zugfahren ist absolut nichts einzuwenden. Ich mag die Eisenbahn«, fügte ich mit fester Stimme hinzu. »Wenn du mit deinen Angelegenheiten fertig bist, kannst du ja nachkommen. Ein paar Tage auf dem Land sind womöglich ein Vergnügen. Die Leute in Barchapel haben garantiert noch nie einen Vampir gesehen. Du wirst sie in Aufregung versetzen.«

»Ich möchte bezweifeln, dass ich die Sorte Aufregung verkörpere, auf die sie erpicht sind«, erwiderte er leise und fuhr sich durchs pechschwarze Haar. »Aber gut«, ergänzte er widerwillig. »Wahrscheinlich öffnen sie sich dir leichter, wenn ich nicht von Anfang an dabei bin.«

Ich lächelte. »Sei nett zu Detective Sergeant Grace.«

Lukas schnaubte. »Ich werde einen Bogen um das Supe-Squad machen. Du bist die einzige Polizistin, die ich mag.« Er gab mir eine Tasche. »Hier.«

Ich blinzelte. »Was ist das?«

»Belegte Brote. Eine Thermoskanne Kaffee. Ein paar Snacks.«

»Ich fahre nach Kent, nicht nach Australien.«

Lukas sah mich lange an. »Ich möchte mich um dich kümmern. Wenn das nur möglich ist, indem ich ein Lunchpaket für dich zusammenstelle, kümmere ich mich eben darum.«

»Danke«, flüsterte ich. Es war zwar nur ein Lunchpaket, aber die Geste sprach Bände.

Lukas neigte den Kopf und küsste mich, drückte mich danach so fest an sich, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich noch mal loslassen würde. Ich hätte wahrscheinlich nichts dagegen gehabt. Seine Bartstoppeln rieben über meine Wange, doch sein berauschender Geruch und die sengende Hitze seiner Berührung rückten alles andere in den Hintergrund. Meine Sinne waren in komplettem Aufruhr.

»Du kannst deine Meinung immer noch ändern«, raunte er.

Ich schloss die Augen. »Nein, ich muss das tun.« Ich holte tief Luft und trat einen Schritt zurück. »Und jetzt gehe ich besser. Der Zug fährt gleich.«

»Pass auf dich auf, Emma. Wir sehen uns in ein paar Tagen.« Er warf mir einen düsteren Blick zu. »Stirb mir in der Zwischenzeit nicht.«

Ich lächelte zuversichtlich. »Gleichfalls, Kumpel.« Dann hievte ich mich und meinen Koffer in den Zug.

Nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, ging ich zu meinem Sitz. Lukas stand noch immer auf dem Bahnsteig und beobachtete durch die Fenster all meine Bewegungen. Ich winkte ihm verlegen. Schon ertönte ein Pfiff, und die Türen schlossen sich. Lukas gab mir mit Lippenbewegungen etwas zu verstehen. Ich blinzelte. Hatte er etwa gerade gesagt …?

»Er liebt Sie«, sagte der ältere Mann mir gegenüber. Der Zug fuhr an. »Das ist rührend.«

Während wir uns entfernten, blickte ich Lukas nach, der weiter auf dem Bahnsteig stand, bis er nur noch ein winziger Punkt in der Ferne war. Dann holte ich bebend Luft. Erst seit einer Woche schliefen wir miteinander und waren noch keine echte Bindung eingegangen. Er musste etwas anderes gesagt haben. Oder er hatte dafür gesorgt, dass ich ihn nicht vergessen würde. Schließlich war er der Herr der Vampire und hatte die Dinge gern unter Kontrolle. Doch wie dem auch sei – eines wusste ich sicher: Ich würde Lord Lukas Horvath nicht aus dem Kopf kriegen. Egal, womit diese kleine Reise mich überraschen würde.

3

Die Fahrt vom Bahnhof St. Pankras in London nach Appledore in Kent, wo ich in einen Bus umsteigen musste, dauerte kaum eine Stunde. Zwar empfand ich eine Leere in der Brust, weil ich Lukas zurückgelassen hatte, doch zugleich erfüllte mich das Gefühl, mich auf ein geheimnisvolles Abenteuer zu begeben.

Auf jeden Fall ließ ich alles Bekannte zurück. Die ersten fünf Jahre meines Lebens hatte ich im tiefsten, dunkelsten Kent verbracht, hatte daran aber nur kurze, ganz vereinzelte Erinnerungen. Als der Zug London verlassen hatte und durch offeneres Gelände rollte, war mir, als reiste ich in ein fremdes Land.

Ich klappte meinen Laptop auf, nahm geistesabwesend die Thermoskanne mit Kaffee aus der Tasche, die Lukas mir gegeben hatte, schraubte den Deckel ab und atmete das Aroma ein. Dann schenkte ich mir einen Becher ein und wartete darauf, dass die WLAN-Verbindung zustande kam.

Wer viel fernsieht, dem sei der Irrglaube verziehen, die meisten Morde würden aus komplizierten Motiven verübt und seien Ergebnis sorgfältiger Planungen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die große Mehrheit aller widerrechtlichen Tötungen wird aus den banalsten Gründen begangen, und das allenfalls mit einem Minimum an Planung. Der bösartige und gewalttätige Mann, der seine Frau totprügelt; die betrunkene Streiterei im Pub, die als Meinungsverschiedenheit beginnt und tragisch endet; der aus dem Ruder gelaufene Drogendeal … Mord ist selten komplex und nie glanzvoll.

Dennoch waren im Vorjahr sechshundertfünfzig Menschen in Großbritannien ermordet worden, und fast ein Viertel dieser Verbrechen waren unaufgeklärt. Gewöhnlich lag das an einem Mangel an Beweisen, nicht jedoch an einem Mangel an Verdächtigen, ganz zu schweigen davon, dass Polizisten Wochen damit verbringen können, Spuren zu verfolgen, die im Sande verlaufen. Mord ist unordentlich, aber unordentlich ist auch das Leben der Leute.

Entgegen der allgemeinen Annahme konnten diese Morde nur selten Übernatürlichen zugerechnet werden. Doch Verbrechen, die von Übernatürlichen verübt wurden, sorgten für Schlagzeilen und steigerten den Zeitungsabsatz, darum bekamen sie so viel Aufmerksamkeit. Gläubige Leser britischer Boulevardblätter meinten deshalb, dass es fast täglich zu Übernatürlichen-Verbrechen an Menschen kam.

Mir war zudem klar, dass seitens gewisser Polizei-Abteilungen Gerede von Übernatürlichen-Aktivitäten an die Öffentlichkeit drang, mit dem Ziel, auf diese Weise größere Mittel für die Verbrechensaufklärung zu bekommen. Es ging immer um Politik und Geld, und weder Politik noch Geld trugen dazu bei, die öffentliche Wahrnehmung der übernatürlichen Mitbürger zu verbessern. Trotz allem, was DSI Barnes gesagt hatte, bezweifelte ich, dass der jüngste Mord in Barchapel mit Übernatürlichen zu tun hatte.

Ich war nicht bei der Polizei von Kent und an den Ermittlungen nicht offiziell beteiligt, also standen mir keine Polizeiakten zu dem Mord zur Verfügung, aber über die Tat wurde in den Nachrichten und sozialen Medien viel berichtet. Zwei Tage zuvor war ein Sechsundvierzigjähriger auf dem nächtlichen Heimweg vom Pub umgebracht worden. Am nächsten Morgen hatte eine Hundeausführerin die Leiche entdeckt, der angeblich die Halsschlagader durchbissen worden war. Sicher hatte das die Spekulationen ausgelöst, Übernatürliche würden dahinterstecken, denn es mochte durchaus ein Vampir oder ein Werwolf diese Art von Verletzung bewirken haben. Aber auch ein Mensch kam als Täter infrage.

Zwar hatte der Name des Opfers nicht in der Zeitung gestanden, doch eine kurze Recherche auf Twitter ergab, dass der Unglückliche Patrick Lacey hieß. Er hatte in Barchapel als Handwerker gearbeitet und kleinere Reparaturen an und in Häusern ausgeführt. Daher war er gut bekannt, aber kaum jemand betrauerte seinen Tod, im Gegenteil: In mehreren Online-Posts hieß es, sein unbeständiges Wesen habe ihn ins Grab getrieben. Besonders ein Kommentar ließ mich stutzen. Unter einen der ersten Artikel in der Online-Ausgabe des Kent Chronicle hatte Mick239 geschrieben: »Das kommt davon, wenn man mit einem irren Killer befreundet ist.«

Ein irrer Killer. Mir war nur ein irrer Killer aus der Gegend von Barchapel bekannt, und mit dem hatte ich tags zuvor durch eine Glaswand hindurch gesprochen. Ich starrte auf den Kommentar und las ihn mehrmals.

Eine energische Missfallensbekundung, ausgestoßen von dem älteren Herrn mir gegenüber, riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf und fragte mich, ob er sich darüber ärgerte, dass ich die Berichterstattung über einen brutalen Mord verfolgte, doch er war auf das konzentriert, was im nächsten Waggon geschah.

»Kakerlaken«, ächzte er angewidert und strich sich durchs schüttere Haar. Nun erst fielen mir das leise Zittern seiner Finger und seine aschfahle Haut auf. Er merkte, dass ich ihn beobachtete, und wandte sich mir zu. »In diesen Zügen ist es am Wochenende immer das Gleiche«, erklärte er. »Jugendgangs. Schäbige kleine Insekten, die durch die Gegend ziehen und Stunk machen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Mädchen sind schlimmer als die Jungs. Würde der Schaffner seine Arbeit anständig erledigen, flögen sie am nächsten Bahnhof aus dem Zug und dürften diese Linie nicht mehr benutzen. Aber natürlich«, setzte er mit einer gereizten Handbewegung hinzu, »ist nie ein Schaffner in Sicht, wenn man ihn braucht.« Er seufzte. »Lassen Sie sich nicht stören, Herzchen. Schaffner sind mir ein besonderes Ärgernis.« Allerdings sprach er nicht von einem »Ärgernis«, sondern von einem Bugbear, einer Art Kinderschreck.

Ächzend verzog ich das Gesicht in der Hoffnung, dadurch mitfühlendes Einverständnis auszudrücken, ohne mich auf sein Gerede einlassen zu müssen, und beugte mich vor, um besser sehen zu können, was vorging. Zwar war ich offiziell im Urlaub, aber immerhin bei der Polizei, hatte also Pflichten, die ich nicht ausblenden durfte.

Der Mann hatte recht. Durch die Glastür zum nächsten Waggon sah ich, wie sechs Teenager einen sitzenden Passagier umringten. Sie stießen jenes mürrische Knurren aus, das geradezu als eine Kunstform der Pubertät gelten konnte. Egal, wer der Fahrgast war, den sie ausgewählt hatten: Sie drangsalierten ihn eindeutig.

Langsam schloss ich den Laptop und schob das Lunchpaket beiseite. Der ältere Mann warf mir einen besorgten Blick zu. »Sie sollten sich nicht einmischen«, riet er mir. »Manchmal haben sie Messer dabei.«

Darauf hoffte ich fast und lächelte. »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Das kriege ich in den Griff.«

Ich stand auf, rückte meine Kleidung zurecht, ging zur Tür und drückte den Öffner. Die Tür glitt zischend auf, und ich hörte die Hänseleien der Teenager.

»Deine Mutter ist genauso ein Psycho wie du. Sie ist medikamentenabhängig, oder?«, fragte ein Mädchen gerade. Sie trug ein enges, bauchfreies T-Shirt, auf dem in Strass »No Angel« stand. Ein Engel war sie definitiv nicht. »Sind die Tabletten gut? Wird sie davon high?«

»Ach«, höhnte der Junge neben ihr, »die sind bestimmt gut. Besorge uns welche, ja?«

Ich schob meiner Ärmel hoch und schlenderte auf die Gruppe zu. »Hallo«, sagte ich freundlich, »was gibt’s?«

Wie ein einziges Wesen wandten die Teens sich mir zu. No Angel verzog das Gesicht. »Verpiss dich, Lady.«

Meine Miene blieb unbewegt. »Was für eine Ausdrucksweise.« Ich hielt inne. »In Gegenwart einer Polizistin zu fluchen, kann euch Arrest einbringen.« Das stimmte natürlich nicht; Fluchen allein war kein Vergehen, aber diese Gruppe wusste das wohl kaum. Ich wagte mich sogar noch weiter vor. »Die letzte Person, die mir gegenüber geflucht hat, brummt gerade ein halbes Jahr im Knast ab.«

Alle musterten mich von Kopf bis Fuß. »Sie sind nicht von der Polizei«, meinte ein Junge. »Wo ist Ihre Uniform?«

No Angel gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, sagte »Idiot« und sah mich an. »Beweisen Sie, dass Sie von der Polizei sind.«

Die anderen zogen sich langsam zurück. Das kam nicht überraschend. Gelangweilte Teenager können – gerade wenn sie in Gruppen auftreten – den Eindruck vermitteln, wild und ungebändigt zu sein und jede Autorität abzulehnen. Aber trotz ihres lauten Mundwerks ducken sie sich schnell, sobald man ihnen entgegentritt. Ich war schließlich auch mal so alt wie sie und damals womöglich genauso gewesen. No Angel allerdings war dreister als die anderen, hatte also wohl weniger zu verlieren.

Ich zückte meinen Dienstausweis. Das Mädchen kam näher und betrachtete ihn.

»Detective Constable Emma Bellamy«, sagte ich und ließ sie den Ausweis in aller Ruhe besehen.

»Unsinn«, raunte sie, hob den Kopf und reckte trotzig das Kinn. »Sie können uns nicht wegen Fluchens verhaften. Das ist ein freies Land. Redefreiheit und so.«

Ich kam zu dem Schluss, sie zu mögen. »Richtig. Wegen Fluchens kann ich euch nicht festnehmen.« Ich wies auf den Fahrgast, den sie belästigt hatten, einen jungen Mann, etwa so alt wie sie, aber knallrot und verängstigt. »Es sei denn, andere werden gequält oder schikaniert.«

»Wir haben nichts gemacht.« No Angel stieß den Jungen vor sich mit dem Ellbogen an. »Oder, Al? Wurdest du etwa schikaniert?«

Dass ihr Opfer einen klaren Tatbestand erzwungenermaßen verleugnete, würde ich nicht zulassen. »Ich weiß, was ich gesehen habe.« Ich warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Ihr solltet euch besser einen anderen Waggon suchen.«

Sie schniefte. »Hier stinkt es sowieso.« Sie hielt einen Moment inne. »Nach Bullen.«

Ich setzte meine missbilligendste Miene auf, die schon Werwölfe und Vampire so eingeschüchtert hatte, dass sie sich zumindest den Anschein von Unterwerfung gegeben hatten, aber No Angel war unbeeindruckt. Immerhin wandte sie sich ab und trottete einen Waggon weiter. Die anderen folgten ihr.

Der Junge, den sie schikaniert hatten, sah ihnen nach und sagte: »Die sind nächstes Mal nur schlimmer. Damit haben Sie mir keinen Gefallen getan.«

»Das sind Mobber. Dagegen lässt sich was tun, und es gibt Leute, an die du dich um Hilfe wenden kannst.«

Seine Miene war noch verächtlicher als zuvor die von No Angel. »Ich habe das Informationsmaterial dazu gelesen.«

»Beim Mobbing geht es um Macht und Herrschaft. Und um Angst – um deren Angst und um deine.«

Er sah weg. »Die haben nichts, wovor sie Angst haben müssten.«

»Alle haben Ängste«, erwiderte ich freundlich. »Manche zeigen das nur stärker als andere.« Ich musterte ihn. »Ich kann helfen, wenn du –«

»Ich will Ihre Hilfe nicht.«

Ich wusste genug, um ihn nicht zu drängen. »Gut. Aber falls du es dir anders überlegst: Ich sitze bis Appledore im nächsten Waggon.«

Er verschränkte die Arme. Seufzend zückte ich meine Visitenkarte. »Ich bin wirklich bei der Polizei. Solltest du die Dinge anders sehen und Hilfe wollen oder sollten sie dich wieder belästigen, ruf mich unter dieser Nummer an.«

Er nahm die Karte, sagte aber nichts. Ich wartete noch einen Moment und ging.

»Warten Sie!«, rief er.

Ich blieb stehen und sah über meine Schulter. »Ja?«

»Hier steht, Sie sind im Supernatural Squad.«

»Stimmt.«

»Aber das heißt, Sie …« Er blinzelte hektisch, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Das heißt, Sie kennen Übernatürliche.« Seine Miene war plötzlich ehrfürchtig und kaum mehr ängstlich. Gut so! Ich wünschte, mehr Menschen würden so reagieren.