Magic Flame - Helen Harper - E-Book

Magic Flame E-Book

Helen Harper

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Beschreibung

Vampire, Werwölfe, Morde und Grabräuberei - ein ganz normaler Tag im Leben von Emma Bellamy

Kaum hat sich Detective Constable Emma Bellamy mit ihrem neuen Posten als Leiterin der Supernatural-Squad abgefunden, überschlagen sich die Ereignisse erneut: Ein Vampir wurde auf mysteriöse Weise im Zentrum von London ermordet und mehrere Gräber von Werwölfen geplündert. Während Emma versucht sich in den Kreisen der übernatürlichen Bevölkerung zurechtzufinden und sich ihren Respekt zu verdienen, muss sie zu allem anderen auch noch hinter das Geheimnis ihrer eigenen magischen Fähigkeiten kommen. Eine große Herausforderung für die junge Ermittlerin, bei der sie keine Ablenkung gebrauchen kann - auch nicht einen gewissen attraktiven Vampirlord, der Emma einfach nicht aus den Augen lässt.

2. Band der Firebrand-Reihe

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

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Die Autorin

Die Romane von Helen Harper bei LYX

Impressum

HELEN HARPER

Magic Flame

Roman

Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann

Zu diesem Buch

Vampire, Werwölfe, Morde und Grabräuberei – ein ganz normaler Tag im Leben von Emma Bellamy …

Kaum hat sich Detective Constable Emma Bellamy mit ihrem neuen Posten als Leiterin der Supernatural Squad abgefunden, überschlagen sich die Ereignisse erneut: Ein Vampir wurde auf mysteriöse Weise im Zentrum von London ermordet und mehrere Gräber von Werwölfen geplündert. Während Emma versucht sich in den Kreisen der übernatürlichen Bevölkerung zurechtzufinden und sich ihren Respekt zu verdienen, muss sie zu allem anderen auch noch hinter das Geheimnis ihrer eigenen magischen Fähigkeiten kommen. Eine große Herausforderung für die junge Ermittlerin, bei der sie keine Ablenkung gebrauchen kann – auch nicht einen gewissen attraktiven Vampir-Lord, der Emma einfach nicht aus den Augen lässt.

Für David und seinen unerschöpflichen Vorrat an Lockdown-Memes

1

Der Vampir kam aus dem Nichts. Eben war ich noch durch die Beak Street geschlendert und hatte die Nachtluft in den seligen Minuten vor dem Morgengrauen genossen, wenn die Welt den Atem anzuhalten scheint; und plötzlich lag ich der Länge nach auf dem Pflaster, während ein zappelndes, kicherndes Etwas auf mir hockte. Es war so schnell passiert, dass ich im ersten Moment nicht wusste, wie mir geschehen war. Und ich hatte keine Zeit, Panik zu bekommen: für mich vermutlich ein Fortschritt.

»Erwischt!« Der Vampir grinste mit gebleckten Fängen. »So stark sind Sie gar nicht.«

Ich drückte ihn weg und sprang auf. »Ist Ihnen klar, welche Strafe darauf steht, eine Polizistin anzugreifen?« Ich funkelte ihn an. »Was sollte das?«

Er schwankte hin und her und stolperte bei dem Versuch, sein Gleichgewicht zu halten. Dann runzelte er die Stirn und blickte auf den Gehweg, um stumm zu signalisieren, der Boden sei schuld, dass er nicht aufrecht stehen konnte. »Dagegen sollte die Stadtverwaltung was unternehmen«, erklärte er und wies auf einen Punkt, an dem nichts Auffälliges war.

Ich fauchte verärgert. Der Mann war sehr betrunken. Ihn umgab eine Alkoholwolke, und seine glasigen Augen blickten ins Leere. Was immer er gebechert haben mochte: Es war stark gewesen. Aber das entschuldigte sein Verhalten nicht. Schon zum dritten Mal binnen drei Wochen hatte mich nun ein Übernatürlicher angegriffen, und allmählich reichte es mir wirklich.

Während ich glaubte, dass weder Werwölfe noch Vampire noch andere übernatürliche Wesen, die in diesem Teil Londons lebten, es wagen würden, mich zu verletzen, schien es immer beliebter zu werden, mich zu überrumpeln. Es handelte sich offenbar um die neueste Mutprobe der übernatürlichen Welt – so wie Menschen sich einen Eimer Eiswasser über den Kopf schütteten oder sich steif und bäuchlings an öffentlichen Plätzen fotografieren ließen. Allerdings nahmen die Leute an diesem Zeitvertreib freiwillig teil. Ich dagegen machte hier wiederholt Erfahrungen, auf die ich gut verzichten konnte. Schließlich war es nichts Neues, dass ich weder stark wie ein Werwolf noch schnell wie ein Vampir war.

»Sind Sie allein?«, fragte ich. »Oder sind Kumpels in der Nähe und genießen die Show?« Ich hatte die Nase voll davon, als Vergnügungsattraktion zu gelten.

»Kumpels?« Er zwinkerte mir zu. »Ja, Kumpels hab ich viele.« Er fuchtelte mit den Armen, als könnte er Horden die Fänge bleckender Freunde aus dem Dunkel zaubern. Als niemand auftauchte und auch kein gedämpftes Lachen aus dem Finsteren drang, schob er die Unterlippe vor. »Ich weiß nicht, wo die sind«, gestand er, und seine Stirn legte sich in Falten. »Vielleicht nach Hause gegangen.« Dann lichtete sich seine Verwirrung, und er tippte mich an. »Aber ich hab Sie erwischt! Ich hab die Ermittlerin erwischt!«

Unfassbar. Ich verdrehte die Augen. Jetzt war Schluss. Längst fand ich an diesen Späßen keinen Gefallen mehr. Es war Zeit, den Quatsch zu beenden.

Ich zog einen Kabelbinder aus der Tasche und schlang ihn dem Vampir blitzschnell um die Handgelenke. Er brauchte einen Moment, um zu kapieren, was passiert war; dann stierte er stirnrunzelnd auf seine gefesselten Hände. »Hey!«

»Das sind magische Fesseln«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass er sich schneller davon würde befreien können, als ich den Kopf schütteln konnte. »Wenn Sie sie brechen, sind Sie automatisch verflucht.« Ich log das Blaue vom Himmel herunter. Magie gab es nicht – jedenfalls nicht in der von mir beschriebenen Weise. »Der Letzte, der sich von den Fesseln befreite, bekam überall schwärende Furunkel. Noch nie habe ich so viel Eiter gesehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Diese Farbe«, flüsterte ich. »Und der Gestank.«

Der Vampir erblasste. »Das … das dürfen Sie mir nicht antun! Sie dürfen mich nicht einsperren oder verhaften. Das ist verboten. Sie sind ein Mensch.«

Vermutlich nicht, aber das brauchte er nicht zu wissen. »Sie würden staunen, was ich alles darf«, gab ich gelassen zurück. »Aber keine Sorge – ich werfe Sie in keine Zelle.«

Er starrte mich an. »Sondern?«

»Wir statten Ihrem Oberhaupt einen Besuch ab.« Zum ersten Mal seit seinem Angriff lächelte ich. »Gemeinsam.«

»Lord Horvath?« Der Vampir bekam große Augen.

»Er ist doch Ihr Oberhaupt?«

»Äh …«

»Und er hält im Moment Hof im Heart, stimmt’s?«

»Ähm …«

»Und er wird Ihnen den Kopf abreißen, weil Sie mich belästigt haben.« Ich hielt inne. »Stimmt’s?«

Der Vampir machte mechanische Kaubewegungen. Lächelnd tätschelte ich seine Schulter. »Also los. Gehen wir.«

Der Vampir sah mich an, machte auf dem Absatz kehrt und rannte weg. Ich verschränkte die Arme und blickte ihm nach. Er taumelte nach links und rechts, prallte gegen einen Laternenpfahl und fiel rücklings in eine Pfütze.

»Tss, tss.« Ich trottete heran und sah auf ihn hinunter. »Das war nicht besonders schlau.«

Er stöhnte. Ich zog ihn auf die Beine und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Na los.«

»Was … was haben Sie mit mir gemacht?«

Nichts. »Ich arbeite im Supernatural Squad. Besser gesagt: Ich bin das Supes-Squad.« Denn ich war die einzige Ermittlerin dort. »Und ich habe alle möglichen … Werkzeuge zu meiner Verfügung.«

Er schniefte und ließ den Kopf hängen. »Ich will keine Schwierigkeiten bekommen.«

»Darüber hätten Sie nachdenken sollen, bevor Sie mich angegriffen haben.« Ich gab ihm noch einen Klaps und bugsierte ihn die Straße entlang. »Nun machen Sie schon. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«

Diesmal nahm er es hin, obwohl er nicht froh darüber war. »Ich hatte nichts Böses vor«, brummelte er. »Ich habe Sie nicht angegriffen. Ich wollte Sie nur überraschen.«

»Ja, ja.« Ich brachte den Taumelnden wieder auf Kurs, und wir gingen weiter. »Wie heißen Sie?«

Der Vampir zögerte gerade lange genug. »Joe.«

Ich seufzte. Dass er mir seinen wahren Namen sagen würde, hatte ich nicht erwartet, weil Übernatürliche das selten taten, und zwar nicht aus verstocktem Verbrechertum. Dominantere Personen konnten die Namen gegen sie verwenden. Theoretisch vermochte jeder und jede mit entsprechender Macht Übernatürliche zum Gehorsam zu zwingen, sobald ihr Name bekannt war. Praktisch allerdings gelang nur wenigen Übernatürlichen diese Meisterleistung, und es war nicht möglich, Leute zu etwas zu nötigen, das gegen den Wesenskern ihrer Persönlichkeit verstieß. So ließ sich etwa niemand zu einem Mord bewegen, den er oder sie nicht tief im Inneren längst hatte begehen wollen. Inzwischen wusste jedes übernatürliche Wesen in London, dass ich andere meinem Willen unterwerfen konnte – aber auch bei mir hatte diese Fähigkeit Grenzen.

»Wie Sie meinen.« Ich musterte Joe. Vampire altern anders. Zwar sind sie nicht unsterblich, leben allerdings etwa doppelt so lange wie Menschen. Joe schien Anfang zwanzig zu sein, mochte also schon gut vierzig Lenze zählen.

Dennoch waren sein Auftreten und sein Tun jugendlich. Er besaß jene strahlende Schönheit, die die meisten Vampire nach der Verwandlung erlangen, wenn ihre Züge veredelt sind und die Natur ihre Raubtierqualitäten stärkt. Sein blondes Haar glänzte, die Augen waren verführerisch kornblumenblau. Trotz Trunkenheit und schöner Jungvampirfassade aber besaß er noch eine unübersehbare Unreife und Unerfahrenheit.

»Sie wurden erst dieses Jahr verwandelt, stimmt’s?«

Joe zog einen Schmollmund. »Nein. Ich bin schon drei Jahre Vampir.« Er hob vier Finger. »Drei. Jahre.«

»Aha.« Ich verbarg meine Belustigung. »Und warum gerade Sie? Viele bitten um Verwandlung. Weshalb gehörten Sie zu den Glücklichen?«

»Weil ich großartig bin!« Den Beweis dieser Behauptung indessen war Joe bisher schuldig geblieben.

Ich rieb mir das Kinn. »Ob Lord Horvath Sie noch für großartig hält, wenn ich Sie betrunken zu ihm bringe und ihm sage, dass Sie mich angegriffen haben?«

Joes Schritte stockten. »Sie müssten ihm ja nicht alles verraten«, raunte er. »Sie könnten verschweigen, dass ich Sie zu Boden gestreckt habe.«

Nichts würde ich Lord Horvath erzählen. Auf Lukas als Beschützer war ich nicht angewiesen, und zu ihm zu eilen, ließe mich nur schwach erscheinen. Aber auch das brauchte Joe nicht zu wissen.

»Darauf habe ich leider keinen Einfluss.« Ich seufzte theatralisch. »Sobald ich ihn sehe, vergesse ich mich. Ich glaube, das sind die schwarzen Augen. Sie sind faszinierend. Ein Blitz aus diesen überwältigenden Sterntalern, und ich will ihm all meine Geheimnisse offenbaren. Ich kann das nicht erklären.«

Joe schluckte. »Er ist sehr beschäftigt. Lord Horvath hat viel zu tun und möchte vermutlich nicht behelligt werden.«

Ich tat, als würde ich darüber nachdenken. »Ich glaube, von mir lässt er sich gern behelligen.« Gedankenversunken tippte ich mir an den Mund. »Und hat er nicht allen seinen Vampiren eingeschärft, mich zu respektieren? Ich schätze, er mag mich ganz gern.« Ich warf Joe einen neugierigen Blick zu. »Welche Strafe er Ihnen für Ihre Verfehlung wohl zumisst? Und ob sie schmerzhaft ist?«

Der Vampir wurde noch blasser. »Bringen Sie mich nicht zu ihm. Sagen Sie ihm nicht, was ich getan habe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Joe, ich mache nur meine Arbeit. Ich muss dafür sorgen, dass die Straßen sicher sind. Sie haben mich attackiert. Was passiert, wenn Sie jemand anderen angreifen und ernstlich verletzen?«

»Das tue ich nicht! Auf keinen Fall! Es tut mir leid!« Er sah mich flehentlich an. »Ich würde alles tun. Nur sagen Sie Lord Horvath nicht, was ich getan habe. Bitte.«

»Sie würden alles tun?«, fragte ich langsam.

Er nickte hektisch. »Alles!«

Ich musterte ihn. Er war noch immer sehr betrunken. Gut möglich, dass er sich tags darauf an nichts erinnern würde. Einen solchen Zustand hätte ich eigentlich nicht ausnutzen dürfen. Aber Joe hatte mich angegriffen, nicht umgekehrt.

»Na gut, Joe: Ich benötige einen Informanten. Jemanden, der Bescheid weiß und mir Einblick in Vampir-Angelegenheiten geben kann. Keine bloßen Gerüchte. Ich brauche jemanden, der mir harte Fakten liefert.«

»Einen … Insider?« Seine blauen Augen weiteten sich.

Er war nicht so dumm, wie es den Anschein gehabt hatte. »Genau.«

»Falls Lord Horvath herausfindet, dass ich Geheimnisse weitergebe –«

»Es muss nichts Vertrauliches sein«, sagte ich rasch. »Ich erwarte nicht, dass Sie Ihre Leute verraten. Ich möchte nur bisweilen erfahren, was vorgeht. Sie scheinen mir jemand zu sein, der aufpasst und Einblick hat.«

Joe straffte die Schultern. »Das bin ich. Zweifellos.«

»Also? Abgemacht?«

Er rümpfte die Nase. »Vielleicht. Ich muss darüber nachdenken.«

»Dazu ist keine Zeit, Joe. Ja oder nein – Sie müssen sich jetzt entscheiden.«

Er zögerte.

»Oder wir gehen ins Heart und reden mit Lord Horvath über –«

»Ich mach’s«, unterbrach er mich.

Ich lächelte. Perfekt. »Wir treffen uns jeden Mittwoch gleich nach Sonnenuntergang an der großen Eiche am Trinity Square, und Sie erzählen mir, was Sie wissen. Dafür bewahre ich Stillschweigen über Ihren Angriff.«

»Einmal in der Woche?« Er klang ungläubig. »Gleich nach Sonnenuntergang? Um die Zeit habe ich Besseres zu tun, als mit einer Polizistin abzuhängen!«

Ich blieb gelassen. »Damit fangen wir an. Und sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«

»Ich kann nicht … ich werde nicht …« Joe ließ die Schultern sinken. »Na gut.«

Ich kramte mein Smartphone heraus und schaltete die Kamera ein. »Sagen Sie es auf Video, Joe. Sie sind bestimmt ehrlich, aber vielleicht vergessen Sie Ihr Versprechen. Ich muss es aufnehmen, für alle Fälle.« Ich beugte mich vor. »Beweise schützen uns beide.«

Ein nüchternerer Joe hätte sich vermutlich geweigert, aber seine Urteilsfähigkeit war getrübt. »Gut.« Er sah in die Kamera. »Ich treffe mich jeden Mittwochabend mit Ihnen und erzähle, was bei den Vampiren los ist. Dafür verraten Sie Lord Horvath nicht, dass ich Sie angegriffen habe.«

»Braver Junge.«

Er hob die Hände. »Nehmen Sie mir nun die Fesseln ab?«

Mit einem Taschenmesser zerschnitt ich den Kabelbinder. »Bitte. Erledigt. Ganz ohne hässliche, nässende Furunkel.«

Joe schauderte. »Darf ich jetzt gehen?« Er war beinahe unterwürfig.

»Nur zu. Aber wenn Sie Mittwoch nicht auftauchen«, ich schwenkte das Smartphone, »veröffentliche ich das Video.«

»Ich werde kommen.« Er scharrte mit den Füßen. »Tut mir leid, falls ich Ihnen wehgetan habe.«

Ich unterdrückte mein Mitgefühl. Unverletzt war ich zwar, doch es hätte anders kommen können. »Das sollte es auch.« Ich nickte ihm zu. »Bis bald, Joe.«

Er senkte den Kopf und nahm eilends Reißaus. Auf halbem Weg rannte er in ein parkendes Auto, und der Knall ließ mich zusammenfahren. Das hatte noch schmerzhafter ausgesehen als seine Begegnung mit dem Laternenpfahl. Ich beobachtete, wie er sich aufrappelte und weitertorkelte, und sagte dann: »Sie können rauskommen.«

Aus dem Dunkel links von mir drang leises Lachen. »Sie wussten, dass ich hier bin?«

Ich zuckte die Achseln. »Das hatte ich vermutet.«

Lukas trat aus der Nacht. »Schön, Sie wiederzusehen, D’Artagnan.«

»Auch so, Lord Horvath.« Ich senkte den Kopf.

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Bringt meine Gegenwart Sie wirklich um den Verstand?«, fragte er sanft. »Faszinieren meine schwarzen Augen Sie auch jetzt?«

»Ich habe weiche Knie«, erwiderte ich trocken. »Und bin viel zu nervös, um klar denken zu können.«

Lachend sah er die Straße hinab, auf der Joe Reißaus genommen hatte. »Langsam habe ich den Eindruck, es war ein Fehler, ihn verwandelt zu haben. Junge Vampire verlieren öfter mal den Kopf, aber ich hatte mehr von ihm erwartet.«

»Ärgert es Sie, dass ich ihn zwinge, mich über Sie zu informieren?«

Lukas winkte ab. »Staatsgeheimnisse erfährt er sowieso nicht. Spielen Sie mit ihm, wenn Sie wollen. Aber Ihnen sollte klar sein, dass Sie mich nur zu fragen brauchen, wenn Sie etwas wissen möchten.« Er bleckte die Zähne. »Manchmal gebe ich sogar eine ehrliche Antwort.«

Ich lächelte. »Es ist nützlich, seine Kenntnisse aus verschiedenen Quellen zu beziehen.«

»Wenn Sie das sagen, D’Artagnan.« Er kam näher. »Hat er Sie verletzt?«

Am Rücken spürte ich Prellungen vom Sturz, doch ich würde es überleben. »Eigentlich nicht.«

Lukas’ Augen glänzten. »Das hätte er nicht tun sollen.«

»Stimmt. Aber Sie können ihn nicht bestrafen, denn Sie dürfen ja nicht wissen, was passiert ist.«

»Hmm.« Wieder betrachtete er mich lange. »Sie haben die Armbrust nicht dabei.«

»Egal, was Joe getan hat – einen Pfeil mit Silberspitze ins Herz zu bekommen hat er nicht verdient.« Ich hatte das Schießen mit der Armbrust geübt, war aber kaum besser als vier Wochen zuvor.

»Nein«, raunte Lukas, »doch nicht immer greift Sie ein betrunkener Vampir an, um sich etwas zu beweisen. Sie müssen sich richtig verteidigen können.«

»Daran arbeite ich.«

»Aber nicht hart genug.« Er verschränkte die Arme. »Sie mögen sich für unsterblich halten, D’Artagnan, doch es gibt immer Lücken – und wir wissen noch nicht, was für ein Wesen Sie sind. Möglich, dass Sie nicht jedes Mal auferstehen. Es würde mich … schmerzen, wenn Ihnen etwas zustieße.«

Ich sah ihm in die Augen. Mir würde vermutlich nichts zustoßen. Abgesehen von dem, was sich in den letzten vier Wochen ereignet hatte. »Wissen Sie, womit ich mich in letzter Zeit beschäftigt habe? Das Supes-Squad soll sich ja stärker mit Ihren Angelegenheiten befassen, aber meist zeige ich Touristen, die sich verlaufen haben, den richtigen Weg.«

»Das ist nicht zu verachten.«

Ich gab nicht auf. »Doch deswegen bin ich nicht hier.«

Lukas leckte sich die Lippen. »Wünschen Sie sich also mehr Verbrechen zur Rechtfertigung des Supes-Squads?«

»Nein, aber ich muss von Verbrechen erfahren, um helfen zu können. Das war die Abmachung. Ich müsste nicht Vampire wie Joe zwingen, für mich zu spionieren, wenn Sie und die Clans offener wären.«

Sein Blick wurde durchdringend. »Haben Sie auch Wölfe, die Sie informieren?«

»Das darf ich nicht verraten«, erwiderte ich förmlich. »Ich bin nicht die Böse, Lukas, und nicht Ihre Gegnerin.«

»Das höre ich gern.« Er neigte den Kopf zur Seite, und ich hatte das seltsame Gefühl, er wollte noch etwas sagen, nein, fragen. Doch er nickte nur. »Passen Sie auf sich auf, D’Artagnan.«

»Sie auch, Lord Horvath.«

Aber ehe ich diese Worte gesprochen hatte, war Lukas in die Nacht verschwunden.

2

Tags darauf kam ich am frühen Nachmittag ins Supes-Squad und hörte schon von Weitem aus dem für Besucher reservierten kleinen Besprechungszimmer eine hitzige Debatte dringen. Ich horchte vor der Tür, klopfte dann und drückte die Klinke.

Fred, ausnahmsweise ordnungsgemäß in Uniform, saß einem gut gekleideten Paar Ende vierzig gegenüber. Bei meinem Eintreten sprang er sichtlich erleichtert auf. »Das ist DC Bellamy«, stellte er mich vor. »Sie ist hier die leitende Ermittlerin.«

Ich war die einzige Ermittlerin des Dezernats. Aber für solche Spitzfindigkeiten interessierte sich ohnehin niemand.

»Sie sind eine echte Ermittlerin?« Zweifelnd musterte mich der Mann von oben bis unten.

»Das wurde auch Zeit«, blaffte die Frau. »Es geht um eine ernste Sache. Da genügt es nicht, wenn ein kleiner Polizist sich um unseren Fall kümmert.«

Ich sah Fred an und hob eine Braue. Er flehte mich mit seinen Welpenaugen an und sagte: »Patrick und Vivienne Clarke wollen Strafanzeige gegen die Werwölfe stellen.« Er hielt mir seinen Notizblock hin, aber ich machte keine Anstalten, ihn zu nehmen.

Mrs Clarke war aufgebracht. »Hier geht es um weit mehr als eine Anzeige! Mit den Wölfen gilt es abzurechnen. Sie terrorisieren uns! Was sie unserer Familie angetan haben, ist inakzeptabel!«

Ich setzte mein professionellstes Lächeln auf. »Tut mir sehr leid, dass Sie Probleme haben. Aber zum Glück steht PC Hackert Ihnen bei. Er ist unglaublich tüchtig und fähig.«

Fred warf mir einen beschwörenden Blick zu, den ich zu übersehen vorgab. Er musste lernen, sich Herausforderungen zu stellen – und das konnte nur gelingen, wenn ich ihn dazu brachte, Verantwortung zu übernehmen. Zwar waren die Clarkes offenkundig ziemlich anstrengend, aber wer von der Straße in unser Dezernat kam, hatte selten ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. Leute wie die Clarkes waren streitlustig, weil es enorm kraftraubend war, an den Punkt zu kommen, wo eine Anzeige bei der Polizei unabwendbar wurde. Dass wir es mit Übernatürlichem zu tun hatten, erhöhte die Anspannung noch.

»PC Hackert hört Ihnen aufmerksam zu«, versicherte ich ihnen. »Sobald wir alle nötigen Angaben besitzen, arbeiten wir zusammen an der Lösung Ihres Problems. Sie sind in sehr kompetenten Händen.«

Fred erbleichte.

»Das einzige Problem sind diese Wölfe.« Mr Clarkes Wangen wurden dunkelrot vor Zorn. »Die sollten umzingelt und in einen Zoo verfrachtet werden!«

»Ein Zoo wäre zu gut für sie«, bemerkte seine Frau und nahm seine Hand. Beide waren offensichtlich aufgebracht.

Fred schluckte und hob das Kinn. »Ich verstehe, dass es sich um eine schwierige Situation für Sie handelt –«

»Das kann man wohl sagen!«, unterbrach ihn Mrs Clarke.

»Aber«, fuhr Fred entschlossener fort, »wir begegnen allen Gattungen mit Respekt, auch Werwölfen. Wäre Ihr Sohn zu uns gekommen, hätten wir ihn behandelt wie alle anderen.«

»Wäre das wahr, hätten Sie bereits etwas unternommen, als sie ihn das erste Mal entführt haben!«

Gut. Mein Blick sprang vom Mann zur Frau. Jetzt war ich interessiert.

»Wir haben damals ermittelt«, sagte Fred freundlich. »Er ist aus freien Stücken Werwolf geworden.«

Ah. Langsam ergab das Auftreten der Clarkes Sinn.

»Unser Sohn hätte diesen Weg nie freiwillig gewählt – er muss dazu gezwungen worden sein«, raunte Mr Clarke. Mit bebender Brust rang er um Fassung. Aber Freds wachsendes Selbstvertrauen und seine Worte taten die erwünschte Wirkung, und das Paar beruhigte sich. Guter Junge. Ich wusste doch, dass er das Zeug dazu hatte.

»Ich gehe jetzt, damit die Befragung weitergehen kann«, sagte ich. »PC Hackert wird dafür Sorge tragen, dass jeder kleinsten Spur nachgegangen wird.« Ich verließ die drei. Als ich die Tür geschlossen hatte, klangen die Clarkes schon vernünftiger und weniger schrill.

Lizas Kopf erschien am anderen Ende des Flurs, wo das große Büro lag. »Sind sie noch da?«, fragte sie flüsternd.

Ich nickte. Sie verzog das Gesicht und trat sicherheitshalber den Rückzug ins Büro an. Ich folgte ihr.

»Die beiden sind verrückt«, raunte sie und winkte mit einer Akte. »Ständig kommen sie. Schikane. Entführung. Mord. Sie haben sogar behauptet, der Carr-Clan sei eine Sex-Sekte.«

»Und das alles hat mit ihrem Sohn zu tun?«

Liza nickte. »Julian. An seinem achtzehnten Geburtstag hat er bei allen vier Werwolf-Clans offiziell um Aufnahme ersucht.«

»Er wollte ein Wolf werden?«

»Ja. Vermutlich konnte er es kaum erwarten, der Familie zu entrinnen.«

Ich ging zum Wasserkocher, vergewisserte mich, dass er voll war, schaltete ihn ein und fragte: »Kaffee?«

Liza lehnte ab. »Ich habe Saft, danke. Aber einen Keks nehme ich.«

Grinsend warf ich ihr einen zu, und geschickt fing sie ihn mit einer Hand auf.

»Julian Clarkes Antrag wurde also angenommen?«

»Nach dreijährigem Anlauf. Die Clarkes waren ganz auf Julian konzentriert, und ihm ging es nur darum, Werwolf zu werden. Tony hat das damals untersucht, und Lady Carr hat eine Vernehmung erlaubt. Alles war völlig legal. Die Clarkes konnten einfach nicht akzeptieren, was ihr Sohn geworden war. Soweit ich weiß, hat Julian Clarke sich gut geschlagen und binnen zwölf Monaten seinen Aufstieg in der Hierarchie begonnen. Er war auf dem besten Weg, Epsilon zu werden.«

Die vier Clans haben eine sehr eigenartige Hierarchie. Wölfe, die keinen Rang bekleiden und sich um eher banale Aufgaben kümmern müssen, heißen Iotas. Sie gelten als Welpen und sind meist jung und unerfahren oder schwach talentiert.

Jeder Clan darf pro Jahr eine kleine Zahl williger Menschen in Werwölfe verwandeln; dabei gelten strenge Verfahrensregeln, um … na ja, Unfälle zu vermeiden. Normalerweise genügen zwei, drei Bisse, um diese Menschen zu Welpen zu machen. Die Regierung hat die Zahl der Verwandlungen strikt gedeckelt, was immer wieder zu erheblichem Groll unter den Wölfen führt, denn es braucht Zeit, sich an das anzupassen, was im Grunde eine neue Gattung ist. Um einen Platz in der Rangordnung zu erlangen und weiter aufzusteigen, muss ein Wolf oder eine Wölfin bei Vollmond einen Artgenossen zum Duell fordern.

Den niedrigsten Rang bekleiden die Zetas, dann folgen Epsilons, Gammas, Deltas, Selsas und Betas. An der Spitze stehen die Alphas – und jeder Clan hat nur ein Oberhaupt. Obwohl ich nun schon sechs Wochen im Supes-Squad arbeitete, hatte ich noch immer Mühe, mit diesem System klarzukommen. Hilfreicherweise trugen die meisten Werwölfe Abzeichen am Ärmel, die ihren Platz in der Hierarchie zeigten; trotzdem hatte ich noch eine Menge zu durchschauen.

Ich gab einen Teelöffel Pulverkaffee in den saubersten Becher. »Was hat das mit Mord zu tun?«

»Wie bitte?«

Der Kocher begann zu ruckeln. Ich schaltete ihn aus und goss heißes Wasser auf meinen Kaffee. »Sie sagten, seine Eltern haben Mordvorwürfe erhoben.«

»Ach so – leider fand Julian ein vorzeitiges Ende.«

Ich hielt inne, den Kocher in der Hand. »Nämlich?«

»Mit den Werwölfen hatte das nichts zu tun. Es war ein Unfall mit Fahrerflucht. Er wollte seinen Aufstieg feiern, wurde allerdings auf dem Weg zum Pub über den Haufen gefahren – der Täter oder die Täterin wurde nie gefasst.«

Ich zuckte zusammen. »Aber die Clarkes haben trotzdem behauptet, es war Mord?«

Liza las aus der Akte vor: »Wäre Julian nicht gezwungen worden, Werwolf zu werden, dann wäre er damals nicht in der Bartholomew Street gewesen, also auch nicht getötet worden.« Sie hielt inne. »Das sind ihre Worte, nicht meine. Sie haben außerdem behauptet, die Werwölfe hätten ihn umgebracht und den Unfall nur vorgetäuscht, um den Mord zu vertuschen.«

»Gibt es im Bericht der Pathologie Hinweise auf ein Verbrechen?«

»Ein Auto hat ihn überfahren. Das war unschön, aber es wurde nichts Ungewöhnliches festgestellt.«

Ich seufzte. Also hatten die Clarkes ihren Sohn zweimal verloren, erst an die Werwölfe, dann an einen Raser oder eine Raserin. Ich empfand flüchtig Mitgefühl für sie.

»Er kam letztes Jahr zu Tode«, sagte Liza. »Vor zwölf Monaten und ein paar Tagen, um genau zu sein.«

Das ergab Sinn. Der erste Jahrestag seines Todes hatte die Eltern vermutlich schwer getroffen, und sie suchten noch immer nach Schuldigen. Ich nippte an meinem Kaffee. Das Leben konnte ungemein chaotisch sein. Leider galt das auch für mich.

»Ist Ihnen gestern Nacht etwas Verwertbares begegnet?«, fragte Liza, um das Thema zu wechseln.

»Ich habe wieder einen Informanten der weniger geheimen Art angeworben.« Ich erzählte, was ich mit Joe erlebt hatte.

Liza runzelte verwirrt die Stirn. »Als Informant wird er kaum taugen, wenn Lord Horvath von ihm weiß.«

»Vampire sind keine Verbrecher, und wir wollen kein illegales Treiben aufdecken. Wir möchten nur genauer wissen, was vorgeht. Dafür ist Joe bestens geeignet. Wir bekommen von ihm stetig Informationen, und Lukas ist gezwungen, uns auf dem Laufenden zu halten. Und er wird sich durch nichts, woran wir arbeiten, bedroht sehen, da er weiß, woher unsere Kenntnisse stammen.« Ich nahm noch einen Schluck. »Das Oberhaupt der Vampire ist nicht gerade ein Fan des Dezernats für Übernatürliches. Wenn er denkt, er kontrolliert uns, ist er langfristig zugänglicher.« Ich grinste. »All das gehört zu meinem Gesamtkonzept.«

»Wenn Sie das sagen.« Sie betrachtete mich. »Wie viele Leute reden Lord Horvath überhaupt beim Vornamen an?«

Unvermittelt interessierte ich mich brennend für den Inhalt meines Bechers. »Er ist ein freundlicher Typ.«

»Sicher. Das Oberhaupt aller Vampire ist ein Herzchen.« Sie grinste. »Und seine Wangenknochen sind zum Niederknien. Hat er sich schon mit Ihnen verabredet?«

Es schnürte mir die Kehle zu. »Unsinn. Unser Verhältnis ist rein professionell.«

»Bald ist es so weit, Emma. Rechnen Sie täglich damit. Er wird tun, als handele es sich um einen Geschäftstermin, aber wenn er Ihnen vorschlägt, sich beruflich zum Abendessen zu treffen, dann wissen Sie, dass es eigentlich eine private Verabredung ist.«

»Vor kaum einem Monat wollte mein Freund mich umbringen«, erinnerte ich sie. »Das Letzte, was ich will oder brauche, ist eine Affäre.«

Lizas Lächeln wurde breiter. »Ich rede nicht von einer Affäre. Mit Lord Horvath eine Nummer zu schieben ist sicher absolut konkurrenzlos. Sie können mir nicht vormachen, daran nicht gedacht zu haben.«

Ich spürte meine Wangen glühen, obwohl ich daran wirklich nicht gedacht hatte. Jedenfalls nicht viel. Und ich bezweifelte ernsthaft, Lukas’ Typ zu sein.

Zum Glück gesellte sich Fred zu uns und ließ sich ins Sofa an der Wand gegenüber plumpsen. »Mann!« Er schnaufte laut. »Das war Schwerarbeit.«

»Sie sind prima mit den beiden fertig geworden«, sagte ich, froh über die Unterbrechung.

Er zog eine Schnute. »Sie hätten bleiben und mir helfen können.«

»Nicht nötig. Sie hatten die Sache im Griff.«

»Ach, das war doch eine Kleinigkeit. Ich habe getan, was jeder Polizist getan hätte.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir einigen uns jetzt mal auf Folgendes, um nicht mehr so furchtbar britisch zu sein: Sie haben bei den Clarkes großartige Arbeit geleistet, Fred. Sie haben sie beruhigt, haben ihnen ihren Rassismus behutsam und ohne Streitlust vor Augen geführt und sind professionell geblieben. Stehen Sie also zu Ihrem Erfolg!«

Darüber dachte er kurz nach. »Sie haben recht. Ich war sagenhaft.«

»Amen.«

Liza lächelte.

»Leider«, fuhr Fred fort, »müssen wir uns ihre Anzeige genauer anschauen. Sie ist irgendwie merkwürdig.«

Etwas an dem Wort merkwürdig machte mich immer nervös. »Inwiefern?«

»Die Clarkes haben veranlasst, dass ihr Sohn exhumiert wird.«

»Oha.« Liza verzog das Gesicht. »Warum das?«

»Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Sie suchen weiter nach Beweisen, dass Julian von einem Werwolf getötet wurde.«

»Nicht ganz«, erwiderte Fred. »Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass sie von Anfang an belogen wurden und Julian nie in einen Werwolf verwandelt wurde.«

Ich hob den Blick zur Decke. »Und ein Richter hat wegen dieses Hirngespinsts die Exhumierung angeordnet?«

»Die Clarkes sind recht … hartnäckig und verbissen.«

»Erzählen Sie mir was Neues.«

»Mach ich.« Fred warf mir einen kurzen Blick zu. »Als das Grab ausgehoben wurde, lag keine Leiche drin.«

Ich blinzelte, denn auf dieses Szenario war ich nicht gefasst. »Hat das Bestattungsunternehmen Mist gebaut?«

»Nein. Es war ein offener Sarg. Julian Clarke wurde vor zwölf Monaten zweifellos beigesetzt, aber jetzt ist er weg. Der Sarg wurde gehoben, war jedoch leer.«

Ich kratzte mich am Kopf. »Ach …«

Fred nickte. »So hab ich auch reagiert.«

Ich schluckte. Das war wirklich eine der unheimlichsten Geschichten, die ich je gehört hatte. Fred und ich tauschten einen entsetzten Blick. Liza dagegen wickelte bloß den Keks aus, den ich ihr zugeworfen hatte, begann zu essen und meinte: »Nächstes Mal sollten wir die mit Karamell kaufen.«

Ich starrte sie an.

»Was denn?«, fragte sie, den Mund voller Krümel.

»Beunruhigt es Sie nicht, dass eine Leiche aus ihrem Grab verschwunden ist?«, wollte Fred wissen.

»Ich bemühe mich, über so was nicht viel nachzudenken«, erwiderte Liza. »Aber genau deshalb lasse ich mich verbrennen. Steht in meinem Testament.« Sie biss wieder in ihren Keks.

»Liza«, fragte ich matt, »können Sie mir das erklären?«

»Eingeäscherte, Emma, können nicht gefressen werden«, gab sie zurück. »Ist doch klar.«

In meinem Magen regte sich Übelkeit. »Gefressen?«

»Von einem Ghul.« Sie wischte Krümel vom Mundwinkel und bemerkte, dass Fred und ich sie anstarrten. »Ach so, Sie beide sind ja noch nicht lange hier. So was passiert eben. Das ist recht eklig, aber der Kreislauf des Lebens.« Sie zuckte die Achseln. »Was glaubten Sie denn, wovon Ghule sich ernähren?«

Darüber hatte ich nie nachgedacht. Ich war mir sicher, während meiner Zeit hier noch keinem Ghul begegnet zu sein, doch deren Existenz war mir bekannt. Übernatürliche, die weder Vampire noch Wölfe waren, wurden als Andere klassifiziert; auch Ghule fielen darunter, genau wie Kobolde, Elfen und diverse übernatürliche Wesen mehr. »Ghule fressen also Leichen?«

»Ja.« Liza leckte sich die Finger. »Sie wühlen sich zu den Särgen durch und futtern dort nach Herzenslust.«

Fred war bleich geworden. »Erwarten Sie von mir, dass ich den Clarkes sage, ihr Sohn sei gefressen worden?«

»Darum wird darüber so wenig geredet«, erwiderte Liza. »Die Leute reagieren auf solche Dinge sehr sensibel.«

Es war nicht schwer, sich auszumalen, warum.

»Das ist kein Gesetzesverstoß. Eine Leiche zu essen ist zulässig. Na ja«, setzte Liza hinzu, »wenn man ein Ghul ist jedenfalls. Die können sich nur davon ernähren.«

Sie hatte recht: Das war nichts, worüber ich viel nachdenken mochte. »Wir sollten der Sache dennoch nachgehen. Um sicher zu sein.« Ich sah Fred an. »Wo wurde Julian denn beerdigt?«

Er sah in seine Notizen. »Bei St. Erbin.« Mir rutschte das Herz in die Hose. »Also an der Grenze zu Soho, nicht weit vom Piccadilly Circus entfernt.«

»Ich weiß, wo das ist.« Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Auf dem Friedhof von St. Erbin war ich ermordet worden. Zum ersten Mal. Nur drei, allenfalls vier Personen hatten davon Kenntnis – und wussten, dass ich zwölf Stunden später in einem Feuerball auferstanden war. Keiner davon war in diesem Zimmer.

Noch immer wurde mir beim Gedanken an all das zittrig, und den Ort meiner ersten Ermordung wieder zu besuchen hatte für mich null Priorität. Leider hatte ich keine Wahl. Mich schauderte. »Liza, schreiben Sie bitte alles auf, was Sie über Ghule wissen? Fred, besorgen Sie mir bitte eine Liste aller Ghule, die in London leben?«

Beide nickten. Zumal Fred erleichtert wirkte, dass ich das Kommando übernahm. »Was ist mit den Clarkes?«, fragte er. »Soll ich sie zurückrufen?«

»Nach allem, was wir über sie wissen, brauchen Sie wasserdichte Beweise dafür, dass keine Werwölfe beteiligt waren. Lassen Sie uns damit also noch warten.«

Er atmete auf. »Guter Plan.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. Es war früher Nachmittag, und die Sonne schien. Vermutlich gab es keinen geeigneteren Moment als jetzt, um den Ort meines Todes erneut zu besuchen und zugleich in einem grausigen Fall von Leichenfraß zu ermitteln. Ich liebe meine Arbeit, sagte ich mir. Ehrlich.

3

Ich war nicht ein Mal gestorben – nein, ich war zweimal ermordet worden, und zwar von derselben Person. Dieser Mann war jetzt tot, also hatte ich theoretisch nichts zu fürchten.

Letzten Monat hatte ich mich täglich lange im Spiegel betrachtet und hoffnungsvoll auf Zeichen natürlichen Alterns untersucht. Ich wollte nicht sterben, aber auch nicht unsterblich sein. In meiner Idealwelt wäre ich einfach ganz normal gewesen – doch von den Toten aufzuerstehen, war leider nicht normal.

Lukas wusste davon und hatte trotz seiner gut fünfzig Jahre als Vampir nie von jemandem wie mir gehört. So wenig wie Dr. Laura Hawes, Pathologin am Fitzwilliam-Krankenhaus, die als Erste meine Auferstehung miterlebt hatte. Auch meine Chefin, Detective Superintendent Lucinda Barnes, wusste, was geschehen war. Und der gute Reverend William Knight von St. Erbin vermutlich ebenfalls.

Knight hatte mich kurz vor meinem ersten Tod gesehen – und kurz nach meiner Ermordung. Gut möglich, dass ihm die Details meiner Lage nicht gefielen, aber er wusste genug, um vorsichtig zu sein. Darum wohl rannte er in seine Kirche und verriegelte die Tür, als er mich kommen sah. Oder meine gewinnende Persönlichkeit und meine angenehmen Umgangsformen hatten ihn in Schrecken versetzt.

Ich stieß das rostige Eisentor auf, ging den kurzen Weg entlang und mied jeden Blick auf den Ort, wo ich gestorben war. Höflich klopfte ich an die schwere Kirchentür. Keine Reaktion. Der Reverend mochte ruhig so tun, als sei er nicht da, aber ich hatte ihn gesehen. Und das wusste er. Und ich wusste, dass er es wusste.

»Reverend Knight! Hier ist DC Bellamy von der Polizei.«

Ich wartete ein, zwei Sekunden. Noch immer nichts. Bei unserem letzten Gespräch war Knight zu dem Schluss gekommen, mein erstes Sterben auf seinem Friedhof sei inszeniert gewesen, und hatte eine List der Polizei vermutet. Damals hatte ich ihn keines Besseren belehrt. Leider hatte er seitdem Zeit genug gehabt, über den Hergang der Dinge nachzudenken, und war offenbar zu der richtigen Einschätzung gelangt, dass das so nicht stimmen konnte.

Ich versuchte es wieder. »Bei unserer letzten Begegnung war ich noch in Ausbildung, aber jetzt bin ich vollwertige Polizistin. Früher oder später müssen Sie mit mir reden.«

Stille. Ich holte tief Luft.

»Ich verstehe, dass Sie Fragen zu meiner Person haben! Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Viel ist das nicht.« Ich zögerte. »Ich bin als Ermittlerin hier, Reverend. Mein Besuch hat nichts mit dem zu tun, was hier vor einem Monat passiert ist.«

Ich fürchtete schon, ein andermal wiederkommen zu müssen, da rasselte es auf der Innenseite, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Dann gewann Reverend Knight Selbstvertrauen, riss die Tür weit auf, sprang vor und stieß mir mit schrillem Schrei ein Kruzifix aus Holz entgegen. Ich blieb, wo ich war, und er schlug mir das Kreuz gegen die Brust. Zu seinem Pech schrie ich nicht, krümmte mich nicht und ging auch nicht in Flammen auf.

»Fort mit dir, Dämon!«, rief er.

»Guten Tag«, sagte ich höflich.

Seine Hand zitterte. »Fort mit dir!«

»Ich bin keine Dämonin, Reverend, und keine Vampirin. Ich bin Polizistin, ermittle hier wegen eines möglichen Verbrechens und wüsste gern –«

»Verschwinden Sie sofort!«

Er war sehr, sehr verängstigt und tat mir leid, aber ich durfte nicht gehen. Ich erledigte hier meine Arbeit. »Das kann ich leider nicht.«

»Ich rufe die Polizei!«

»Reverend Knight«, sagte ich seufzend, »ich bin die Polizei. Aber wenn Sie jemanden anrufen wollen, ist mir das recht. Ich warte gern.«

Er musterte mein Gesicht. Dann ließ er die Schultern sinken und auch das Kruzifix. »Ich dachte, damit klappt’s. Aber vielleicht sind Sie doch nicht böse.«

»Nach meiner Erfahrung sind wir alle zum Bösen fähig. Ich jedenfalls würde nie für mich in Anspruch nehmen, gut zu sein. Und ich misstraue allen, die das von sich behaupten.«

»Sie sind wirklich gestorben und haben Ihren Tod nicht für eine Polizeiaktion inszeniert. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht: Sie waren tot. Sie sind aus dem Leben geschieden.«

Ich zuckte mit keiner Miene. »Stimmt.«

»Sie dürften nicht lebendig sein.«

Ich hob die Schultern. »Vermutlich nicht. Aber ich lebe nun mal und versichere Ihnen, dass nicht ich dafür gesorgt habe. Mich hat das Ganze ebenso überrascht wie Sie.«

Knight behielt das Kruzifix in einer Hand, tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Brust und raunte: »Fleisch und Blut.«

»Stimmt, ich blute auch«, sagte ich fröhlich, »und das nicht nur einmal im Monat. Wenn Sie mich schneiden, habe ich wie alle anderen eine Wunde. Bis auf die Auferstehungssache bin ich wie Sie.«

»Das sind Sie ganz und gar nicht.«

»Sie haben niemandem von mir erzählt, oder?«, fragte ich freundlich. »Und der Kirchenbehörde haben Sie mich auch nicht gemeldet?«

Er fuhr zusammen. »Woher wissen Sie das?«

»Weil deren Mitarbeiter sonst gekommen wären und Fragen gestellt hätten.«

Er schluckte und sah auf seine Füße. »Ja«, murmelte er. »Das hätten sie getan.« Er schniefte. »Ich hatte überlegt, sie zu informieren. Aber mir war klar, dass sie mich für verrückt oder gar für einen totalen Versager halten könnten. Schlimm genug, dass Sie auf meinem Friedhof ermordet wurden.« Er zuckte hilflos die Achseln. »Ich habe mich sehr bemüht, in diese Gemeinde berufen zu werden, und um diesen Posten fast gebettelt. Und ich war sicher, hier erfolgreich wirken zu können. Mir ist klar, dass Übernatürliche in aller Regel mit der Kirche nicht auskommen, doch ich war überzeugt, es seien echte Fortschritte zu erreichen, wenn nur der richtige Pfarrer vor Ort wäre und es zu einem echten Dialog käme.« Er seufzte. »Aber das klappt so nicht.«

Zwar war ich nicht religiös, begriff allerdings, was er meinte. Während meiner Ausbildung hatte ich fast das Gleiche gedacht. Ich war sicher gewesen, eine großartige Ermittlerin zu werden, die durch Engagement, harte Arbeit und kluge Ideen komplexe Verbrechen löst. Aber ich hatte einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass die unbarmherzige Wirklichkeit nicht zu meinen Vorstellungen passte und sich keinen Deut um mein allzu positives Selbstbild scherte. Und ich war weniger fähig, als mir lieb war. Bisher jedenfalls. Das war eine harte Lektion gewesen.

»Na ja«, meinte ich, »vielleicht sind all die Plakate, die Sie vor dem Tor angebracht haben, um die Leute davon abzuhalten, sich den Übernatürlichen anzuschließen, keine gute Idee.«

Er hob den Kopf und sah mir in die Augen. »Zu meinem Beruf gehört, die Leute zu beraten und sie davon abzuhalten, sich übernatürlichen Wesen zu nähern«, sagte er düster.

»Hatten Sie damit je Erfolg?«

Knights Miene zeugte von Resignation. »Nein.«

Ich lächelte mitfühlend. »Die Leute folgen ihrem Herzen – das können Sie nicht ändern.«

»Aber genau das ist meine Aufgabe«, wandte er ein.

Ich schob die Hände in die Taschen. »Erinnern Sie sich an den Mann, mit dem ich zuletzt hier war? An den Vampir?«

»Ja.« Er klang misstrauisch.

»Zufällig handelt es sich dabei um Lord Horvath.«

Reverend Knight verlor das Gleichgewicht und griff an den Türrahmen, um die Balance zu halten. »Im Ernst?«

»Ja.«

Bestürzt schüttelte er den Kopf. »Wie konnte mir das entgehen?«

»Falls es Sie beruhigt: Auch ich habe eine Weile gebraucht, um zu merken, um wen es sich handelt. Aber ich könnte ihn bitten, mit Ihnen über das weitere Vorgehen zu sprechen. Womöglich können Sie mit ihm etwas vereinbaren, das Ihnen beiden hilft.« Ich bezweifelte sehr, dass Lukas Gefallen an meinem Vorschlag fände, aber er konnte nicht tun, als gäbe es St. Erbin nicht. Vielleicht würde sich etwas Gutes aus dem Ganzen entwickeln.

»Warum sollten Sie das tun?« Die Augen des Reverends wurden schmal. »Was wollen Sie im Gegenzug?«

»Gar nichts. Wenn Sie nicht möchten, dass ich –«

»Doch!« Er ließ den Türrahmen los und straffte sich. »Wenn Sie so ein Treffen arrangieren könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

»Versprechen kann ich nichts, aber versuchen werde ich es.« Ich lächelte und war froh, mit ihm jetzt auf besserem Fuß zu stehen. »Nun ein paar Fragen zu einem anderen Thema.«

Knight runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie wollen nichts im Gegenzug.«

»Stimmt. Diese Fragen würde ich sowieso stellen. Ich ermittle aufgrund einer Anzeige, und Sie können mir helfen.«

Er verschränkte die Finger. Mir war klar, dass er insgeheim froh war zu helfen. Letztlich wollen wir alle hilfreich sein. »Dann schießen Sie los.«

Ich holte tief Luft. »Was wissen Sie über Ghule?«

Reverend Knight zuckte zurück. »Warum fragen Sie das?«, flüsterte er.

Seine Miene verriet, dass er genau wusste, weshalb ich fragte. »Hier sollte kürzlich jemand exhumiert werden.«

Knight sank in sich zusammen. »Ja. Julian Clarke. Armer Junge.«

»Haben Sie ihn beerdigt?«

»Nein, mein Vorgänger.«

»Und Sie haben keinen Grund zu der Annahme, dass Julians Leiche bei der Beisetzung nicht im Sarg lag?«

»Nein.« Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Die Clarkes wurden … sehr laut, als sie merkten, dass der Sarg leer war. Ich wollte sie davon abhalten, die Exhumierung fortzusetzen. Der Friedhof hat seit Jahrzehnten, womöglich Jahrhunderten, Probleme mit Ghulen. Dazu darf ich nur etwas sagen, wenn ich ausdrücklich danach gefragt werde. Falls die Ghule sich hier nicht ernähren können, ziehen sie weiter. Die Kirche meint, es sei besser, sie in einem Gebiet konzentriert zu wissen. Körper sind schließlich bloße Gefäße – uns geht es um die Seelen, die darin wohnen.«

Ich hatte den Eindruck, dass er nachplapperte, was ihm gesagt worden war, aber es war nicht meine Aufgabe, seine Glaubensvorstellungen oder die Praktiken der Kirche infrage zu stellen. »Wie gehen die Ghule vor?«

Knight warf mir einen unheilvollen Blick zu. »Nicht nur, dass Sie im Supes-Squad arbeiten: Bestimmt gehören Sie auch zu den Übernatürlichen. Wissen Sie all diese Dinge nicht längst?«

»Ich bin neu«, erwiderte ich mit ausgebreiteten Armen, »und weiß praktisch nichts. Klären Sie mich auf, Reverend. Und lassen Sie nichts aus.«

Er seufzte verwirrt. »Da gibt’s wenig zu sagen. Meines Wissens gibt es in London nur eine Handvoll Ghule. Sie leben unter Tage zwischen Soho und Lisson Grove mit anderen Übernatürlichen zusammen, die weder Vampire noch Werwölfe sind, und ernähren sich von Leichen. Im Schnitt braucht ein Ghul mindestens einen Toten pro Jahr zum Überleben. Sie wühlen sich von unten an frische Särge heran und …« Er verstummte.

»Schmausen?«

Knight nickte. »Dass es wieder so weit war, verraten kleine Erdhaufen, die Maulwurfshügeln ähneln.« Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. »Seit ich hier im Amt bin, ist das zweimal passiert.« Er wirkte beschämt.