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»Ich bin Cesare Annunziata und ich bin nun mal ganz anders als andere Senioren. Wenn mich jemand tritt, trete ich zurück, auch wenn danach der Oberschenkelhalsknochen wieder zusammengeflickt werden muss.« Cesare ist siebenundsiebzig, und er hat es faustdick hinter den Ohren. Denn er will sein Leben genießen, koste es, was es wolle. Fünf politisch unkorrekte Geschichten um einen liebenswerten Alten.
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Seitenzahl: 30
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Die italienische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»La tentazione di essere Cesare Annunziata« bei Edizione Longanesi.
Übersetzung aus dem Italienischenvon Esther Hansen
ISBN 978-3-492-97271-0August 2015© Lorenzo Marone, 2015Published & translated by arrangement with Meucci Agency – MilanDeutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung der Fotos von Tim Pannell/Corbis, sorendls/iStockphoto und Stockbyte/Getty ImagesDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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MISTER MICHI
In meiner Straße lebte einmal ein Superheld.
Er hieß Michele, ließ sich aber Mister Michi nennen, und wenn man ihn Michele rief, wurde er wütend und bekam einen richtigen Tobsuchtsanfall. Er war zwischen vierzig und fünfzig, mit langen, unten gekräuselten Haaren und einem schwarzen, ins Weiß spielenden Spitzbart und trug Tag für Tag einen schwarzen Rollkragenpullover mit einem roten M auf der Brust, das mit Filzstift aufgemalt war.
Alle im Viertel kannten ihn und alle grüßten ihn freundlich, wenngleich er den Gruß nicht immer erwiderte. Denn Mister Michi war sehr beschäftigt, er musste alten Menschen über die Straße helfen. Kein Senior weit und breit, der seelenruhig die Straßenseite wechseln konnte, ohne dass nicht plötzlich der Superheld neben ihm stand. Eines Tages vertraute er mir an, dass er der Sache überdrüssig sei. Sein Kampfgeist gelte nicht mehr den Alten und der Straße, sondern strebe nach Höherem.
»Warum hilfst du nicht der Frau da mit dem dicken Bauch? Die braucht doch sicher einen Superhelden …«, sagte ich, um ihn loszuwerden.
Ich konnte nicht ahnen, dass mein egoistischer Ratschlag ihn zum Beschützer aller Schwangeren werden ließ, »den Schutzheiligen des ungeborenen Lebens«, wie die Lokalzeitung titelte, die unseren Helden auf einem Foto abbildete, als er gerade eine junge Frau mit Riesenbauch umarmte.
Eines Nachmittags saß er auf den Stufen zu meinem Haus.
»Hallo, Mister Michi«, sagte ich, und er sprang auf und bot mir seinen Arm.
»Ich schaffe das schon allein«, gab ich gereizt zurück wie immer, wenn ich daran erinnert werde, dass ich alt bin.
Er nahm es mir nicht übel und sagte, er sei gekommen, um sich zu verabschieden. Er müsse weit verreisen, an einen Ort, wo es viele Menschen gebe, die seine Hilfe und seine Superkräfte brauchen würden. Später erfuhr ich, dass es sich um das Pflegeheim für geistig Kranke eines christlichen Eremitenordens in Camaldoli handelte.
Weihnachten kam er nach Hause, und ich traf ihn ein paarmal in seinem Superheldenpulli auf der Straße. Er sah glücklich aus, deshalb beeilte ich mich fortzukommen, ehe er anhielt, um mir über die Straße zu helfen. Nach den Feiertagen sah ich ihn nicht mehr. Bis gestern der Kioskbesitzer, bei dem ich immer meine Zeitung kaufe, zu mir sagte: »Ragioniere, wisst Ihr schon das Neuste?«
»Was denn?«
»Das von Michele …«
Unser Superheld hatte sich tatsächlich vom Dach des Pflegeheims gestürzt.
Ich blieb den ganzen Tag auf dem Sofa vor dem ausgeschalteten Fernseher sitzen, bis ich einschlief. Seitdem versuche ich, nicht mehr an Mister Michi zu denken, auch wenn es etwas gibt, das mir das Ganze nicht gerade leicht macht: eine Menge junger Mütter mit dicken Bäuchen. Wenn ich jünger wäre, würde ich Micheles Platz einnehmen, auch wenn ich nicht glaube, Superkräfte zu besitzen.
Jedenfalls vermute ich, dass Mister Michi dort oben glücklich ist, letztlich ist das ja die Heimstatt der Superhelden schlechthin. Hier unten war wohl nicht der richtige Ort für ihn. Hier unten sind wir mit Wundern nicht sonderlich vertraut und ebenso wenig mit Menschen, die nicht alle Tassen im Schrank haben und anderen ihre Hilfe anbieten. Hier unten glauben wir an schwarze Katzen, die Unglück bringen, und wenn wir einen kleinen Meteoriten sehen, der beim Eintritt in die Atmosphäre verglüht, wünschen wir uns etwas.
An Superkräfte hingegen glauben wir nicht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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