Mami 1801 – Familienroman - Isabell Rohde - E-Book

Mami 1801 – Familienroman E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Laura ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, Elternliebe lernte sie nie kennen. Der einzige Mensch, der sich mit der Kleinen beschäftigte, lebt nicht mehr. So ist sie froh, daß sich jemand um sie kümmert, von dem es am wenigsten zu erwarten war… Als Anna Spitzky, die Direktorin des Kinderheims ›Elbblick‹, mit ihrem Gast in das Sprechzimmer gleich neben ihrem Büro trat, empfand sie die Luft darin plötzlich als sehr stickig. Also öffnete sie das Fenster leicht, bevor sie Doris Sudermann bat, sich zu setzen. Sie sah die junge und sympathische Frau an und wußte, daß es nicht die Luft war, die ihr das Atmen schwer machte. Es war die uneingestandene Furcht vor dem Anlaß, der Doris Sudermann innerhalb eines Monats zum zweiten Mal zu ihr geführt hatte. Natürlich ging es wieder um die neunjährige Laura, Doris Sudermanns Nichte. Anna Spitzky, hatte wie immer, wenn ein Angehöriger ihrer Schützlinge zu Besuch kam, die Akte des jeweiligen Kindes vor sich liegen.

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Mami –1801–

Gnade für Laura!

Roman von Rohde Isabell

  Laura ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, Elternliebe lernte sie nie kennen. Der einzige Mensch, der sich mit der Kleinen beschäftigte, lebt nicht mehr. So ist sie froh, daß sich jemand um sie kümmert, von dem es am wenigsten zu erwarten war…

  Als Anna Spitzky, die Direktorin des Kinderheims ›Elbblick‹, mit ihrem Gast in das Sprechzimmer gleich neben ihrem Büro trat, empfand sie die Luft darin plötzlich als sehr stickig. Also öffnete sie das Fenster leicht, bevor sie Doris Sudermann bat, sich zu setzen.

  Sie sah die junge und sympathische Frau an und wußte, daß es nicht die Luft war, die ihr das Atmen schwer machte. Es war die uneingestandene Furcht vor dem Anlaß, der Doris Sudermann innerhalb eines Monats zum zweiten Mal zu ihr geführt hatte. Natürlich ging es wieder um die neunjährige Laura, Doris Sudermanns Nichte.

  Anna Spitzky, hatte wie immer, wenn ein Angehöriger ihrer Schützlinge zu Besuch kam, die Akte des jeweiligen Kindes vor sich liegen. Nun schlug sie sie auf.

  »Vom Jugendamt ist bereits die Bestätigung gekommen, Frau Sudermann. Sie gelten von nun an als Vormund der verwaisten Tochter ihrer verstorbenen Schwester Mona Wedel. Daß Sie Laura Ende des Jahres zu sich nach Lüneburg nehmen wollen, traf im Amt auf Zustimmung. Besonders, da Sie Laura zuliebe ja Ihren lange vorbereiteten Aufenthalt in Afrika…«

  »Wir gehen nach Mali, Frau Spitzky«, betonte Frau Sudermann.

  »Ja, Mali, wo Sie und Ihr Mann schon als Entwicklungshelfer eingeplant worden waren«, fuhr sie fort, ohne dem Einwand ihres Gastes besondere Aufmerksamkeit zu schenken. »Die zuständige Beamtin sprach sogar ihre Anerkennung für Ihre, nun sagen wir, Opferbereitschaft aus.«

  »Aber mein Mann und ich werden dieses Opfer eben nicht bringen!« betonte Lauras Tante voller Ungeduld.

  Frau Spitzky sah sie verwirrt an. »Das verstehe ich nicht.«

  Und dabei entstanden einige rötliche Flecken auf ihrem Gesicht. Anna war Mitte vierzig. Aber oft ließen sie ihre einfarbigen und schlichten Kleider etwas älter erscheinen. Nur, wer sie näher kannte, wußte, wie schnell sie sich veränderte, wenn sie guter Laune war und wie ein junges Mädchen lachte. Jetzt sah sie aus, als würde ihr nie wieder ein jugendliches Lachen gelingen.

  Der kühle Blick, mit dem Doris Sudermann sie musterte, erinnerte sie an jenen schrecklichen Tag vor zwei Wochen, als Lauras Tante hier ebenso unvermittelt aufgetaucht war und sie in wohlgesetzten Worten vom Tod ihrer Schwester, Lauras Mutter Mona Wedel, informiert hatte.

  Mona Wedel war mit ihrem Freund Heiner Kamphoff in dessen Privatmaschine abgestürzt. Und als ob die Katastrophe nicht schon tragisch genug war, war Doris Sudermann gleich danach mit einer nächsten Hiobs-

botschaft herausgerückt: Mona Wedel sei schon vor zwei Tagen in Lüne-

burg beerdigt worden. Mit Rücksicht auf die arme Laura habe man auf die Gegenwart des Mädchens verzich-

tet.

  »Ich bin davon überzeugt, daß Sie unsere Entscheidung verstehen, wenn natürlich auch nicht gutheißen werden, Frau Spitzky!« Doris Sudermann nahm ihre große Handtasche auf den Schoß und suchte darin herum. »Wo ist Laura?« fragte sie dabei, ohne aufzusehen.

  »Beim Musikunterricht. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Mutter nimmt sie heute zum ersten Mal wieder daran teil. Wünschen Sie, daß ich sie holen lasse?«

  »Nein.« Frau Sudermann entnahm ihrer Tasche nun ein Bündel Briefe. Es wurde von einem schlichten blauen Bändchen zusammengehalten. Am Rand einiger Umschläge war zu erkennen, daß es sich um Luftpostsendungen handelte.

  »Sehen Sie, Frau Spitzky… die Situation hat sich völlig verändert. Mein Mann und ich fanden diese Briefe vorgestern unter den Sachen von Lauras Mutter«, begann sie. »Es handelt sich um – nun sagen wir, um Liebesbriefe.« Sie sah die Heimleiterin bedeutungsvoll an. »Heiner

Kamphoff, der vor drei Wochen mit meiner Schwester in seiner Privatmaschine abstürzte, hat diese Briefe geschrieben! Ich wette, das war Ihnen bekannt.«

  Anna deutete ein Kopfschütteln an. Wie sollte sie reagieren? Daß der Werbeunternehmer Heiner Kamp-hoff die Mutter der kleinen Laura geliebt hatte, wußte sie seit dem Frühsommer. Sie hatte es nach dem Tod der beiden Menschen nie erwähnt, weil sie geduldig warten wollte, bis Laura nach Überwindung des ersten Schocks von sich aus zu fragen begann.

  Denn einem Kind wie Laura, dem nach dieser Katastrophe nur noch die Tante Doris geblieben war, mußte man Zeit lassen. Unendlich viel Zeit, damit sich das gebrochene Herz und die verwundete Seele erholen konnten.

  »Heiner Kamphoff und meine Schwester waren ein Liebespaar, Frau Spitzky. Mona, vielbeschäftigte Fotografin, aber ledige Mutter eines neunjährigen Mädchens und Kamphoff, dieser erfolgreiche Unternehmer und Millionär! Wenn ich das gewußt hätte!« stieß Doris aus, wobei sie gar nicht erst versuchte, ihre Erregung zu verbergen. »Er wollte Mona sogar heiraten! Meinem Mann und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Für mich war Heiner Kamphoff doch nur der Auftraggeber meiner Schwester. Sie reiste für ihn durch die Welt, um ihre tollen Modefotos zu schießen. Daß er sie vor drei Wochen mit in sein Privatflugzeug nahm, hielt ich für nichts anderes als ein Zeichen ihrer guten Zusammenarbeit. Und nun diese Briefe! Mein Mann und ich wußten nach der Lektüre sofort, daß sich ab sofort alles ändern muß. Es ist ein Skandal!«

  Sie stupste die Briefe an. Sie rutschten auf dem glatten Couchtisch auf Anna Spitzky zu. Aber die rührte sich nicht.

  »Was muß sich ändern, Frau Sudermann?«

  Die Augen von Laura Wedels Tante richteten sich in gespielter Verzweiflung an die Zimmerdecke.

  »Ich nehme an, Sie wollen Laura diese Briefe als Erinnerung an ihre Mutter übergeben«, sprach Anna im festen Glauben an das Gute im Menschen die vage Vermutung aus. »Sie enthalten ja wohl nichts Skandalöses. Aber sie Laura auszuhändigen, halte ich für verfrüht. Bewahren Sie sie gut auf. Wenn Laura Ende des Jahres zu Ihnen zieht und ein richtiges Zuhause bei Ihnen in Lüneburg gefunden hat, können Sie immer noch entscheiden, wann ihr die Lektüre dieser Briefe zuzumuten ist.«

  Sie hatte wohl doch den falschen Ton getroffen, denn durch Doris Sudermann ging ein Ruck. »Sie denken doch nicht etwa, daß mein Mann und ich Laura noch zu uns nehmen wollen? Das glauben Sie doch nicht im Ernst, Frau Spitzky! Nach diesen Briefen?! O nein, für uns hat sich die Situation total verändert. Spät, aber nicht zu spät. Wir werden nun doch unseren Vertrag mit dem Ministerium erfüllen und für drei Jahre nach Afrika, nach Mali, gehen.«

  Anna spürte einen kühlen Hauch aus dem Fenster an ihrem Gesicht, viel zu schwach, um sie frösteln zu lassen. Aber sie erbebte doch, weil sie endlich begriff, was das alles bedeutete.

  »Aber warum?« Hier ging es um Laura, die außer ihrer Tante jetzt keinen Menschen mehr hatte!

  »Warum?« wiederholte Doris Sudermann angriffslustig und deutete dabei auf die Briefe. »Das wagen Sie noch zu fragen?«

  Anna Spitzky, die nicht nur mit jedem einzelnen Schicksal ihrer Schützlinge vertraut war, sondern sich auch mit den menschlichen Schwächen auskannte, wagte es doch.

  »Das soll doch nicht etwa heißen, Sie werden Laura nicht zu sich nehmen? Aber Sie sind ihre einzige Verwandte, ihr Vormund. Und sie sagten doch, da Ihre Ehe kinderlos bleiben würde, wäre Laura Ihnen und Ihrem Mann sehr willkommen!«

  »Das war vor zwei Wochen. Da kannten wir diese Briefe noch gar nicht.«

  »Aber diese Briefe bezeugen doch nur, daß Mona Wedel geliebt wurde und ein wenig Glück erfuhr, bevor sie so früh und auf so schreckliche Weise ums Leben kam.« Anna schluckte. »Lauras Mutter fand mit dem Mann, der sie liebte, den Tod. Später einmal, wenn Laura älter und reifer ist, wird ihr das ein Trost sein, wenn auch ein schwacher.«

  Sie sprach nicht weiter, weil der Blick von Doris Sudermann sie wie ein einziger Vorwurf traf.

  »Ich muß sehr bitten, Frau Spitzky! Ich habe Ihnen unsere Situation schon vor zwei Wochen geschildert. Haben Sie das vergessen?«

  »Nein. Für Ihr gemeinsames Ziel, in Mali als Entwicklungshelfer arbeiten zu können, haben Ihr Mann und Sie sich jahrelang vorbereitet. Sie sagten es. Aber Sie waren bereit, auf diese Chance zu verzichten, um Laura nach den langen Jahren hier im Heim ein richtiges Zuhause zu geben.«

  »Genau! Diese Bereitschaft gehört nun der Vergangenheit an. Daß es so kam, ist auch Ihre Schuld.«

  Anna Spitzky nahm sich zusammen, um ruhig zu bleiben. »Ich war für Laura glücklich, weil sie nun doch noch zu einem Heim, fast einem Elternhaus kommt.«

  Laura Wedels Tante lehnte sich kurz im Sessel zurück. Mit halbgeschlossenen Augen saß sie unbeweglich da, dann hob sie erst die Hand, um den Kragen ihrer Bluse zu glätten, um dann vorzuschnellen, das Briefbündel an sich zu reißen und das Bändchen davon zu entfernen. Zwischen ihren Händen fielen die Briefe auseinander. Einen davon erwischte sie gerade noch und knallte ihn wütend auf den Tisch.

  »Heuchelei! Eine beschämende Heuchelei, Frau Spitzky, wenn Sie von einem Elternhaus für Laura sprechen! Aus den Briefen Heiner Kamp-hoffs geht unmißverständlich hervor, daß er hier bei Ihnen war! Ja, er hat Laura besucht und Sie haben es geschehen lassen, weil er entschlossen war, Mona zu heiraten und Laura so bald wie möglich zu adoptieren. Stimmt das?«

  »Ja, das stimmt. Er war hier. Dreimal.«

  »Und warum haben Sie uns Kamp-hoffs Besuche verschwiegen?«

  Anna dachte nach. War ihr ein Fehler unterlaufen?

  »Als Sie uns die Nachricht vom Tod Mona Wedels und Heiner Kamp-hoffs überbrachten, brauchte Laura alle Kraft und unser aller Hilfe, um diesen Schock zu überstehen. Sie darauf hinzuweisen, daß mit dem Leben dieser beiden Menschen nun auch ihre Träume endeten, brachte ich nicht über mich. Außerdem… die Aussicht, von Ihnen aufgenommen zu werden, war für Laura ein wunderbarer Trost. Ich konnte aufatmen. Jetzt noch Heiner Kamphoffs Versprechen zu erwähnen, hätte Lauras Schmerz nur vertieft. Es war schon furchtbar genug für sie, die beiden Menschen zu verlieren, die für sie Liebe und Hoffnung bedeuteten.«

  »Beide Menschen? Sie sprechen auch von Lauras Mutter? Lächerlich! Mona hat sich nie um Laura gekümmert. Sie war meine Schwester, gut. Aber in den letzten Jahren war sie eine miserable Mutter. Das wissen Sie doch selbst!«

  »Ihre Schwester war eine vielbeschäftigte Frau, Frau Sudermann.«

  »Das bin ich auch, Frau Spitzky. Nein, nein, Mona konnte in den letzten Jahren immer weniger mit ihrer Tochter anfangen. In diesen Briefen macht Heiner Kamphoff ihr das ja zum Vorwurf! Er hat Laura hier aufgesucht, um zu ergründen, warum Mona sich von ihr fernhält. Es steht alles da drin! Wortwörtlich. Sogar, daß Laura sich eine Gitarre wünschte.«

  Was sollte Anna erwidern? Heiner Kamphoff, dieser sympathische und großzügige Mann, hatte Lauras kleines Herz wie im Sturm erobert. Er hatte in dem hochbegabten, aber so verschlossenem Kind Lebensfreude und Selbstsicherheit erweckt. Und er hatte ihr bei seinem letzten Besuch einen geheimen Wunsch erfüllt und ihr eine Gitarre geschenkt. Diese Gitarre war jetzt ihr einziger Halt.

  »Sie können es nicht wissen, weil Ihnen neulich zu wenig Zeit blieb, Frau Sudermann, aber für Laura ist diese Gitarre ihr kostbarster Besitz.«

  »Eine Gitarre!« spottete Lauras Tante. »Kamphoff war Millionär. Etwas mehr hätte es schon sein können.«

  »Vielleicht, aber er war sich auch seiner Verantwortung für das Kind, das ja noch für unbestimmte Zeit hier in unserem Heim bleiben mußte, bewußt. Ich bat ihn sogar einmal, sie nicht zu sehr zu verwöhnen.«

  Da Doris Sudermann wieder vieldeutig den Blick zur Decke hob, fuhr Anna eindringlicher fort: »Für Laura war Heiner Kamphoff ein Held, eine Lichtgestalt. Der plötzliche Tod des Paares wurde ihr zum traumatischen Erlebnis. Warum entscheiden Sie sich jetzt gegen das Kind? Ausgerechnet gegen Laura! Und was«, fügte Anna hinzu, nachdem sie sich zur Ruhe gemahnt hatte, »haben die Briefe von Herrn Kamphoff damit zu tun? Er lebt doch nicht mehr. Das ist schon schlimm genug.«

  »Ja, er lebt nicht mehr.« Blitzte da so etwas wie Triumph in den Augen von Lauras Tante auf? »Aber er hinterläßt zwei Erben. Seine Mutter Josefa und seine Schwester Marita. Da mein Mann und ich für drei Jahre in Mali bleiben werden, müssen diese schwerreichen Damen etwas für Laura tun. Ich werde ihnen die Briefe des Verstorbenen vorlegen und hoffe, damit Druck auf sie ausüben zu können. Geld ist ja da. Es wird wohl für einige Zuwendungen reichen, damit Laura sich bis zu unserer Rückkehr in drei Jahren nicht ganz verlassen vorkommen muß.«

  »Kennen Sie die Damen Kamphoff denn?«

  Doris sammelte die Briefe schon wieder ein. Sie schüttelte den Kopf.

  »Noch nicht. Marita Kamphoff hat mir ein Beileidstelegramm zum Tod meiner Schwester gesandt. Das war alles. Mehr hätte ich auch nicht erwartet, weil ich nicht wußte, in welcher Beziehung Heiner Kamphoff zu Mona stand. Aber nun fliege ich morgen nach München. Viel Zeit bleibt mir nicht. Ende der Woche geht es dann von Frankfurt aus nach Kairo, dann weiter.«

  Die Heimleiterin schwieg. Von draußen erreichte sie das fröhliche Jubeln von Jungenstimmen. »Tooor!« Einen Stock tiefer im kleinen Saal fand der Musikunterricht der Sechs-bis Zehnjährigen statt. Sie mußte Doris Sudermann also hinunterbegleiten und mit wehem Herzen beobachten, wie die kleine Laura auf deren enttäuschende Aussage reagieren würde. Ja, und dann würde sie sie in den Arm nehmen und mit ihr hinaus in den Garten gehen.

  »Frau Sudermann«, begann sie zögernd, weil ihr dabei etwas eingefallen war. »Laura äußerte den Wunsch, das Grab ihrer Mutter besuchen zu dürfen. Ja, am liebsten wollte sie auch die letzte Ruhestätte Heiner Kamp-hoffs sehen.«

  Mit dem Briefbündel in der Hand starrte Lauras Tante sie an.

  Da zwang Anna sich zu einem bittenden Lächeln. »Ich weiß, die Zeit drängt vor Ihrem Abflug. Aber können Sie Laura nicht mit nach München nehmen, damit sie an Heiner Kamphoffs Grab ein Blümchen niederlegen kann? Und dann, wenn Sie morgen abend zurückfliegen, sie noch einmal mit nach Lüneburg zum Friedhof nehmen?«

  »Was? Und meine Termine?« schnaufte Doris.

  »Wenn es Ihnen nicht anders möglich ist, könnte ich eine der Erzieherinnen nach Lüneburg schicken, damit sie Laura wieder zurückbringt.«

  Die Handtasche von Frau Sudermann klickte zu. Sie erhob sich und reckte sich in den Schultern, so daß sie noch größer und imponierender wirkte.

  »Ich sehe, Lauras Wünsche liegen Ihnen am Herzen. Aber was ist mit mir? Muten Sie mir wirklich zu, zwei Tage mit Laura zu verbringen, in ihr vorwurfsvolles Gesicht zu schauen und die Erinnerung an die Enttäuschung in ihrem Blick mit nach Afrika zu nehmen? Nein, das schaffe ich nicht.« Sie nahm ihren Mantel vom Haken. »Sollten Ihnen die Folgen einer solchen Kurzreise für Laura nicht auch vor Augen stehen? Was wird sie empfinden, wenn ich sie mit zu den Damen Kamphoff nehmen muß? Sie wird wahrscheinlich zwei alleinstehende schwerreiche Frauen in einer Prunkvilla erleben. Das wird sie verwirren. Wünsche werden in ihr wach werden, Neid wird in ihr erweckt – nein, und dann muß sie wieder mit hierher… für drei Jahre nur, aber lange genug, um mit ihrem Schicksal zu hadern.«

  »Wenn überhaupt, dann wird sie nur mit Ihnen hadern, Frau Sudermann. Ich kenne Laura lange genug«, warf die Heimleiterin ein.

  Doris schlüpfte in ihrem Mantel. »Alles, was mit Lauras bescheidener Erbschaft zusammenhängt, ist geklärt«, entgegnete sie kühl, ohne auf den Einwand einzugehen. »Ich habe unzählige Amtsbesuche hinter mir. Was ich bei den Kamphoffs noch für sie erreichen kann, werde ich tun. Für alles andere sind Sie verantwortlich. Laura war hier doch immer zufrieden. Einige Tage und sie hat die Enttäuschung überstanden. Richten Sie ihr meine innigen Grüße aus. Das muß genügen. Ich habe es wirklich sehr eilig.«

  Anna Spitzky war sprachlos, und das kam nicht oft vor. Doris Sudermann sah es ihr an. »Daß mei-

ne Schwester ihre Tochter eines Ta-

ges zu Ihnen abschob, war gewiß nicht meine Idee«, verteidigte sie sich.

  »Ich verstehe.« Vielleicht war es wirklich klüger, selbst mit Laura zu sprechen. Anna seufzte, als sich die Tür hinter Doris schloß. Dann trat sie ans Fenster und öffnete es weit, als hoffe sie mit jedem Atemzug frischer Luft neue Kraft zu schöpfen.

*

  »Der Gärtner hat gute Arbeit geleistet«, murmelte Josefa Kamphoff und deutete auf die weißen und hellvioletten Astern auf dem frisch angelegten Grab ihres Sohnes.

  »Ja, Mutti.« Ihre Tochter Marita, Mitte dreißig und einen Kopf größer als die in Schwarz gehüllte zarte Dame, atmete jedesmal auf, wenn ihre Mutter am Grab Heiners endlich aus ihrem kummervollen Schweigen herausfand.

  Dabei konnte Marita das Leid ihrer Mutter ermessen. Sie selbst war nach Heiners plötzlichem Tod in Verzweiflung gestürzt, hatte nächtelang in die Kissen geweint und in ihrer Einsamkeit immer wieder nach ihm gerufen oder wild aufgeschluchzt. Denn Heiner war ihr der liebste Mensch auf der Welt gewesen. Als ihr Vorbild und engster Vertrauter hatte er ihr Denken und Fühlen geprägt und ihrem Leben Ziele gesetzt. Und nie hatte sie ihm verübelt, daß er seit frühester Kindheit von Josefa vorgezogen und bis zuletzt wie ein Held von ihr vergöttert wurde.

  »Das Gold seines Namenszug wird nachdunkeln, nicht wahr, Marita?«

  »Ja, Muttilein.«

  Die Septembersonne, die sich schon hinter die Lindenbäume an der Friedhofsmauer senkte, schien gerade alle Kraft aufzubieten, um das frisch aufgetragene Gold der Lettern aufglitzern zu lassen.