Man Down - André Pilz - E-Book

Man Down E-Book

André Pilz

4,9

Beschreibung

"In den Nächten, da träumte ich zu fallen. Von einem Dach. Von einem Felsen. Aus einem Flugzeug. Ich stürzte jede Nacht in die Tiefe." Mit 25 ist Kai am Leben gescheitert. Nach einem Arbeitsunfall hat er seinen Job verloren, er lebt in einer Bruchbude und auch sonst scheint nichts zu funktionieren. Zuflucht findet er bei Alkohol und Drogen, mit denen ihn sein Freund Shane versorgt. Dann tauchen Shanes Brüder auf, die Kai Geld geliehen haben, und zwingen ihn, Drogen für ihn zu schmuggeln. Immer weiter rutscht Kai ins Kleinkriminellenmilieu ab und findet keinen Halt. Bis er Marion trifft. Sie ist klug, sexy – und sie mag Kai. Hals über Kopf verliebt er sich in sie und alles könnte gut werden. Marion könnte seine Rettung sein. Doch ihr Leben ist mindestens genauso verkorkst wie das von Kai und sie hütet ein dunkles Geheimnis … Kraftvoll, authentisch und ohne Tabus André Pilz erzählt in "Man Down" eine große Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, Liebe und Leid, Freundschaft und Betrug, und verleiht all jenen, die am Rande der Gesellschaft stehen, eine authentische Stimme – ein Roman über eine verlorene Generation in unserer Wohlstandsgesellschaft, erzählt mit so viel Kraft, so viel Direktheit und Emotion, dass der Schmerz noch lange spürbar ist.

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André Pilz

Man Down

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Zum Autor
Impressum

André Pilz

Man Down

Für meine Eltern

„Ich hab mein Lachen verlor’n

Eine ganze Generation besteht aus Waffen und Zorn“

Bushido

1

Ich war fett im Minus damals. Ich bekam ständig Briefe von meiner Bank, manchmal sogar zwei, drei in der Woche. Ich strich meinen Namen durch und schrieb „unbekannt verzogen“ auf die Kuverts, dann warf ich sie in den nächsten Briefkasten. Die Bankmenschen riefen mich an, aber ich sagte, ich wäre nicht ich. Ich wäre nicht da. Aber ich würde Kai ausrichten, er möge während der Schalterzeiten vorbeischauen. Die Bankmenschen drohten mir, die Karte zu sperren, dabei spuckte der Bankomat eh schon lange nichts mehr aus. Ein paar Monate zuvor hatte sich die Bank mit ihren USA-Geschäften verspekuliert und der Staat war mit ein paar Millionen in die Bresche gesprungen. Die verantwortlichen Bosse waren mit einer fetten Abfindung und einer stattlichen Rente abgeschoben worden.

30.000 Euro monatlich für den Oberindianer.

30.000 verfickte Euros.

Jeden Monat.

Bis er abkratzt.

Damit er die drei Benz und seine Putzfrau behalten kann und weiterhin die brasilianische Transe in seinem Edelpuff arschficken darf.

Nein, ich wollte kein Geld geschenkt. Von niemandem. Ich hätte auch auf die monatlich knapp 300 Euro vom Staat geschissen, wenn Shane mich nicht zum Arbeitsamt geprügelt hätte. Alles, was ich wollte, war das Geld, das mir zustand, das Geld, für das ich geschwitzt hatte, sechs Tage in der Woche mit reichlich Überstunden. Meine Leasingfirma schuldete mir den Lohn für ein halbes Jahr, aber da der Chef längst über alle Berge war, wollte ich das Geld von der Auftragsfirma, die ihrerseits die Leasingfirma nicht bezahlt hatte, angeblich. Und bis diese scheiß Firma bezahlte, wollte ich das verfluchte Geld von meiner Bank, denn sie hatte auch von meiner Kohle gelebt, als ich genügend davon hatte. Aber der Bankomat spuckte nichts mehr aus und die Demütigung, mir noch einmal am Bankschalter vor allen Leuten sagen zu lassen, ohne Sicherheiten wäre es nicht möglich, mir weiterhin Geld zu geben, wollte ich kein zweites Mal riskieren.

Shane gewährte mir Kredit, damit ich Miete, Strom und Wasser bezahlen konnte, sonst wäre ich mit den läppischen 278,15 Euro monatlich längst auf der Straße gestanden. Natürlich hatte Shane selber kein Geld, weil er alles verprasste, sobald er etwas verdient hatte, aber er pumpte sich das Geld von seinen Brüdern, Öcal und Ugi.

Es war bei Gott kein gutes Gefühl, Leuten mit so zweifelhaftem Ruf, wie ihn die beiden in Giesing besaßen, Geld zu schulden, aber die Konditionen waren fair: Ich hatte sechs Monate Zeit, das Geld zurückzuzahlen – zinsfrei.

„Und wenn ich die Kohle nicht pünktlich zusammenkriege?“

„Dann“, sagte Shane und betrachtete ehrfürchtig den Joint in seiner Hand, „ficken sie dich in den Arsch. Und deine Mutter muss dabei zuschauen.“

Sechs Monate hatten damals wie eine kleine Unendlichkeit geschienen und alleine mit dem Geld von der Firma wäre ich ja sofort wieder im Plus gewesen. Außerdem war ich fest überzeugt, bald wieder arbeiten zu können. Aber je näher der Termin rückte, desto mehr belastete mich das Ganze. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich nicht und die Firma vertröstete mich von einer Woche auf die nächste, ich rief ständig im Büro an, aber die beiden Sekretärinnen, zwei solariumgebräunte Schnattergänse, wimmelten mich ab und weigerten sich, Meyers Handynummer rauszurücken. Ich spazierte schließlich ohne Voranmeldung zu Meyer ins Büro (ich hatte Glück, denn Meyer war dort selten anzutreffen) und er versprach mir, dass das Geld spätestens am Monatsersten auf meinem Konto sein würde.

„Bei meiner Ehre“, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.

„Fick deine Ehre, verkauf deine scheiß Golduhr und gib mir das Geld“, dachte ich mir und schlug trotzdem ein. Meyer war mit allem, was in München Rang und Namen hatte, per du, also glaubte und vertraute ich ihm. Das änderte aber nichts daran, dass ich weiterhin jeden Morgen aufwachte und an die Kohle dachte. Ich dachte den ganzen verfluchten Tag an das Geld, das mir Meyer schuldete und ich meinerseits Shanes Brüdern. Und in den Nächten, da träumte ich zu fallen. Von einem Dach. Von einem Felsen. Aus einem Flugzeug. Ich stürzte jede Nacht in die Tiefe.

„Kauf dir nen Fallschirm“, sagte Shane.

„Hätte ich ja längst getan“, sagte ich. „Wenn ich das verdammte Geld nur schon hätte.“

Gestern war ich auf dem Arbeitsamt. Ich kriege Geld fürs Nichtstun, dabei würde ich nichts lieber tun, als zu arbeiten. Ich will wieder auf ein Dach. Der Doc sagt, das würde sich nicht mehr spielen. Ich habe den Doc gewechselt, aber der neue sagt dasselbe.

Ich will wieder auf ein Dach, aber der Idiot vom Arbeitsamt schickte mich in einen Esoterik-Buchladen in Schwabing, der gebrauchte Wohlfühlliteratur und Tanzkreis-CDs zu Schleuderpreisen verkauft. Die Chefin, eine verrückte Hippiebraut, die immer barfuß ging, sagte mir, ich solle mir die Haare wachsen lassen und doch bitte nicht mehr mit der Bomberjacke auftauchen. Zehn Stunden am Tag lief in dem Geschäft Free-Jazz und im unteren Stock tranken die Hippietante und ihre Freunde und Angestellten literweise Kaffee, über den sie erst ein Pendel hielten, um zu sehen, ob nicht böse Geister in ihm wohnten, philosophierten, politisierten und rauchten um die Wette. Ich durfte oben an der Kasse in der Zugluft die Stellung halten. Die laute Jazzmusik machte mich verrückt, ich musste mich betrinken, um das Gedudel und Paulo Coelhos Fresse auf dem Riesenposter an der Wand zu ertragen, aber die Hippiebraut erwischte mich mit der Wodkaflasche in flagranti. Sie warf mich raus, und ganz entgegen ihrer Love & Peace-Attitude wurde sie sogar handgreiflich dabei. Mein nächster Einsatz war als Telefonist in einem Callcenter. Ich habe dort zwei Tage gearbeitet, dann hielt ich es nicht mehr aus. Zwölf Stunden zu sitzen und Leuten etwas am Telefon vorzulügen, dafür wurde ich nicht geschaffen. Dafür wurde kein Mensch geschaffen. Das ist völlig krank.

Nein. Ich will wieder auf ein Dach. Näher an die Sonne. Näher an den Himmel. Ich will an die frische Luft. Ich ersticke in geschlossenen Räumen, ich halte das nicht aus.

***

Shane versorgte mich mit dem, was mich davon abhielt durchzudrehen. Es gab zwei, drei Wochen, da war ich jeden Tag zugedröhnt. Es gab Tage, da habe ich mich schon am Morgen völlig weggeschmissen. Ich verschiss die Zeit, so gut ich konnte. Entweder ich kiffte oder ich soff, meistens tat ich beides gleichzeitig. Mir war alles scheißegal. Es gab nur den Rausch, die Musik, das Lachen, das Philosophieren, den großen Weltschmerz. Ich hatte längst aufgegeben, die Stellenanzeigen zu lesen. Keiner wollte n Humpelbein wie mich.

Shane hatte immer Gras. Er saß dann in seinem Sessel wie n King, breitbeinig, lächelnd, das Gras auf seinen austrainierten Schenkeln angehäuft, mit ner Tüte so fett, dass Peter Tosh neidisch geworden wäre, und wenn er mir die Tüte dann reichte, tat er das so konzentriert, als wäre all das eine heilige Zeremonie. „Kauf dir mal neue Klamotten, Kai. Die Jeans kenne ich schon länger als dich.“

„Kein Wunder. Die hast du mir geschenkt.“

„Zieh sie sofort aus!“

„Das sind meine Lieblingsjeans.“

„Und dieser Kapuzenpulli! Ich sehe seit drei Wochen dieselben Mottenlöcher.“

„Ich hab nur zwei Sweatshirts.“

„Dann zieh mal das andere an.“

„Das finde ich nicht mehr.“

„Warum sagst du dann, du hättest zwei?“

„Warum nicht?“

„Weil du nur noch eines hast, Mann!“

„Es ist ja nur verschollen. Wahrscheinlich liegt es in der Waschmaschine im Keller. Vielleicht liegt es unter der Matratze, was weiß ich.“

Shane schüttelte den Kopf und strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. Ich zog an der Tüte und legte mich auf seine Couch.

„Es gibt zwei Sorten von Menschen“, sagte Shane. „Die einen sind Täter. Die anderen Opfer. Und du bist ein Opfer.“

„Wenn du das sagst.“

„Du hast Sehnsucht nach deinem Untergang. Du bist gerne unten. Ich bin gerne oben. Über mir darf keiner sein. Kein Boss, kein Gott. Ich bin frei. Dich kann keiner retten, du bist verloren.“

Ich konnte ihm nicht widersprechen, also sagte ich gar nichts, rauchte das verdammte Weed und lächelte glückselig.

Irgendwann klingelte es an der Tür, einmal, zweimal, dreimal, aber Shane rührte sich nicht. Nach einer kurzen Pause hörten wir die Tür quietschen, dann Schritte, aber irgendwie war es uns scheißegal. Ob da nun ein Bulle auftauchte, ein Dieb oder der Postbote – jeder war willkommen. Shane verlangte den Joint zurück, zog daran und lächelte. Er dachte nicht im Traum daran, das Teil zu verstecken.

Und da stand dann diese Kleine im Zimmer. Das erste, was ich mir dachte: Gebt ihr ne neue Frisur, und sie sieht klasse aus. Gebt ihr ne neue Frisur, und sie ist die Cameron Diaz von Giesing.

„Hallo“, sagte sie schüchtern, ohne aufzublicken. Verdammt, sie war heiß, aber sie hatte zu viele Haare auf dem Kopf, hatte sie hochgesteckt, mit vielen Klammern zusammengerafft, die einzige Frau, die ich jemals mit so einer Frisur gesehen hatte, war Doris Day gewesen, und die hatte damit schon in den Filmen aus den 60ern beschissen ausgesehen. „Ihr seid wohl völlig bescheuert geworden.“

„Was ist los?!“, brummte Shane und runzelte die Stirn.

„Größer geht’s wohl nicht, oder?“

Shane hob die Riesentüte lächelnd in die Höhe und schloss die Augen. „Für Senol Aydin nur das Größte! Für Senol Aydin nur das Beste!“

„Das ganze Stiegenhaus stinkt nach Gras, Shane.“

„Ich werd’ dir zeigen, dass Gras nicht stinkt!“ Shane nahm einen tiefen Zug, packte die Kleine und setzte sie auf seinen Schoß, er grapschte nach ihren Titten und drückte seine Lippen auf ihre, aber sie wehrte sich heftig und sprang auf. Sie sagte etwas, das wie „Ma bitte goarschen!“ klang und darauf schließen ließ, dass sie irgendwo aus den österreichischen Bergen kam. Sie trug einen braunen Minirock und ein graues T-Shirt. Und darüber eine dünne, schwarze Jacke. Ich weiß auch noch, dass ihre Füße ohne Söckchen in ihren schwarzen Sandalen steckten. Ihre Zehennägel waren weiß angemalt. Ich war zugedröhnt, aber ich erinnere mich an jedes Detail. Alles war verschwommen, alles floss dahin, nur sie war ganz klar, nur sie stand still. Ihre Zehennägel waren weiß.

Sie gab Shane ein Kuvert, sah kurz zu mir rüber, dann war sie schon wieder verschwunden.

Ich war zu müde, um zu fragen, wer sie war und wie sie hieß und was sie wollte. Hätte ich es getan, alles wäre bestimmt ganz anders gekommen.

So sagte ich nur: „Ich würde alles geben, sie zu küssen.“

„Ist sie nicht ein bisschen billig?“

„Sie ist heiß!“

„Dir steigt das Zeug zu schnell ins Hirn.“

„Sie ist heiß.“

„Das meinst du nicht ernst.“

„Ich würd sterben für nen Kuss, ich schwör.“

„So was zu sagen bringt Unglück.“

„Mein Leben für nen Kuss.“

„Du kannst sie haben.“

„Ich kann sie haben?“

„Scheiße, ja.“

„Für nen Kuss? Ne Nacht? Eine Woche?“

„Von mir aus für immer.“

Ich stand auf, nahm Shane die Tüte aus der Hand, zog daran, gab sie ihm wieder und warf mich zurück auf die Couch. „Das hast nicht du zu bestimmen. Du solltest sie nicht so behandeln, hörst du? Ich mag das nicht. Du kannst kein Mädchen so behandeln.“

Shane winkte ab und streckte seinen Arm aus, um die Regler zu bedienen und die Lautstärke höherzufahren. Der Bass ließ die Fensterscheiben vibrieren. Er zog an seinem Joint wie ein Baby an seinem Schnuller. „Ich könnte Öcal fragen, ob er einen Job für dich hat.“

„Danke, nein.“

„Warum nicht?“

„Ich kenne deine Brüder.“

„Kennst du nicht.“

„Ich hab von ihnen gehört, Shane. Das genügt.“

Ich spürte, wie das Gras einfuhr. Ich tauchte ein in die Musik, ich schwamm in der Musik, mit der Musik, ich war Musik, oh fuck, ich konnte mein Hirn nicht mehr beisammenhalten. Alles flog auseinander. Die ganze Scheiße explodierte.

„Du bist jetzt 25. Du hast kein Auto, keinen Fernseher, du hast nicht mal n Bett, dein Handy gehört mir und dein Arsch gehört meinen Brüdern. Ich mach mir Sorgen.“

„Ich hab meine Musik. Ich hab die Sonne, ich hab das Gras. Du bringst mich zum Lachen, meine rechte Hand bringt mich zum Abspritzen. Was brauche ich mehr?“

Shane stand auf und setzte sich auf die Sessellehne. „Arbeite für Öcal und du hast richtig große Musik. Arbeite für Öcal und die Sonne scheint für dich auch in der Nacht und du musst nie mehr wichsen in deinem Leben, verstehst du?“

Shane zog ein paar Scheine aus seiner Hosentasche. Er schnupperte an ihnen und warf sie auf den Tisch. „Habe ich am Wochenende verdient!“

„Ich wette, das war keine ehrliche Arbeit.“

„Was ist ehrliche Arbeit?“

„Ich weiß, was dreckige Arbeit ist.“

Shane griff nach den Scheinen, knüllte sie zusammen und steckte sie wieder ein. „Ich muss dich enttäuschen. Ehrliche Arbeit gibt’s nicht mehr. Bescheißen oder beschissen werden, so läuft’s heute. Reich werden nicht die Klügsten, nicht die Fleißigsten, reich werden die Skrupellosesten, die Gewissenlosesten.“

„Ich will gar nicht reich werden.“

„Das denk ich mir. Gutmenschen wie du verhungern und fühlen sich dabei auch noch schuldig.“

„Mit Drogen will ich nichts zu tun haben.“

Shane zog an dem Joint, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch mit geschlossenen Augen aus. „Dann eben nicht. Der Job ist sowieso nichts für deutsche Schwuchteln. Ihr Deutsche seid gute Soldaten gewesen. Jetzt seid ihr nur mehr Pussys. Lasst euch in der U-Bahn von Halbstarken zusammenschlagen, macht euch vor den Islamisten in die Hosen, lasst zu, dass Kanaken eure Feuerwehrleute und Polizisten bespucken. Früher wolltet ihr Helden sein, jetzt wollt ihr nur mehr euren Arsch im Warmen haben, ihr wollt schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken und Sommermärchen erleben, euch bei Bohlen, Klum und Kerner den Finger in den Arsch stecken.“

„Was sollen wir tun? Wieder hart wie Kruppstahl werden? Hitler auferstehen lassen?“

„Nein. Eier zeigen. Nur ein bisschen Eier zeigen.“

Er nahm das englische Fußballmagazin, das er am Bahnhof geklaut hatte, weil ein zweiseitiger Bericht über Galatasaray Istanbul drinnen war, und blätterte darin. Shane verstand kaum ein Wort Englisch, er sah sich nur die Bilder an und lächelte.

Das Gras zog mich runter. Ich hatte zu viel erwischt. Ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht. Ich hatte das Gefühl, kopfabwärts gelähmt zu sein.

Shane legte das Heft beiseite und glotzte auf seine rot-gelben Socken. Rot-gelb, die Vereinsfarben von Galatasaray.

„Meine Brüder wollen bis zum Ersten ihr Geld.“

„Ich weiß, Shane.“

„Ich habe mich für dich verbürgt, Kai.“

„Nächste Woche hast du das Geld. Am zweiten, ich schwör. Am ersten zahlt mich der Meyer, am zweiten zahl ich dich.“

„Du könntest das Geld ruck-zuck abarbeiten. Fahr einmal in der Woche in die Schweiz, hol n bisschen Dope von den Marokkanern und bring’s nach München.“

„Nein, Shane, nein. Drogengeschäfte sind mir zu heiß. So was ist ne Nummer zu groß für mich.“

Shane öffnete eine Dose Bier und trank ein paar Schlucke. „Wir hatten zwei Jahre lang nen Topkurier, nen Weißrussen, den Max. Wie Max Schmeling, verstehst du? Max hatte Eier und Fäuste aus Stahl. Aber Max hatte nen Unfall. Und ich hab Einreiseverbot in die Schweiz.“

„Ich vertick keine Drogen, Shane.“

„Du sollst sie auch nicht verticken. Du sollst sie nur von A nach B bringen.“

„Ich verkauf meine Seele nicht.“

„Ich will deine mickrige Seele nicht. Nur die Grübchen in der Wange. Die werden die Zöllner und Bullen davon abhalten, dich zu kontrollieren. Keiner vermutet, dass n deutsches Milchgesicht wie du Drogen schmuggelt.“

„Vergiss es.“

„Das Gras geht an Studenten. Wenn die nicht kiffen, saufen sie. Wenn sie saufen, fahren sie besoffen Auto, ficken ohne Kondom ne ukrainische Aidsnutte oder stürzen beim Bungee-Jumping in Australien ab. Die suchen den Kick. Bevor sie Spießer werden, wollen sie die Sau rauslassen, verstehst du?“

„Scheiß drauf.“

„Ich brauch nen Kurier, du brauchst die Kohle.“

„Was nützt mir die Kohle, wenn ich in Stadelheim sitze?“

„Besser in Stadelheim mit Kohle als in Giesing pleite. Aus Stadelheim kommst du eines Tages raus. In Giesing bleibst du ohne Geld für immer.“

***

Ich klickte mich durch die Fotoserie, die im Ordner Eigene Bilder gespeichert war. Ich kniete auf meiner ­Matratze, die Shorts hingen an meinen Knöcheln, mein Arsch hing in der Luft. Mein Laptop war uralt, hatte einen winzigen Bildschirm und eine Festplatte mit weniger Speicherplatz als jeder USB-Stick, außerdem waren bereits drei Tasten herausgebrochen, aber ich hatte das Gerät von Shane vor vielen Jahren geschenkt bekommen und es funktionierte immer noch, was sollte ich mich beklagen?

54 Fotos, das Übliche: Ein lächelndes Mädchen, angezogen, das lächelnde Mädchen ausgezogen, Mädchen spreizt Beine, Mädchen geht auf alle viere, Mädchen bläst, Mädchen wird geleckt, Mädchen mit Schwanz in Pussy, Mädchen mit Schwanz im Arsch, Mädchen mit Sperma im Gesicht.

Im Internet sind so viele nackte Menschen, man könnte meinen, jeden Menschen dort zu finden. ­Deine Nachbarin, die Kassiererin im Supermarkt, deine Schwiegermutter, deine Ex. Eine Schattenwelt der nackten Leiber.

Da lag also die schöne Unbekannte, keine 18 Jahre, vielleicht sogar erst 16, 17, unschuldig lächelnd, mit gespreizten Beinen, ein Muttermal am rechten Oberschenkel, die Pussy unrasiert.

„Ich fick dich, du geile Sau“, stöhnte ich, massierte meinen Schwanz und begeilte mich am Anblick ihrer gespreizten Beine. „Ich fick dich! Du willst doch meinen harten Schwanz, den willst du doch …“ Und dann ahmte ich ihre Stimme nach und sagte: „Oh ja, fick mich! Fick mich hart! Fick mich richtig hart!“

Ich kam und spritzte auf den Bildschirm, spritzte auf ihren Hintern, weil das Klopapier in meiner Linken nicht alles auffangen konnte. Außer Atem und verschwitzt lag ich vor dem Laptop und starrte in ihr Gesicht. „Baby, Baby“, sagte ich leise und berührte mit meinen Fingerspitzen den Bildschirm, wollte sie spüren, wollte ihre Haut berühren, aber sie lebte in dieser kalten Schattenwelt. Wie wünschte ich mir, ihren nackten, warmen Körper umarmen zu können, ihre roten Bäckchen nach ihrem Orgasmus zu sehen, den Duft ihres Saftes und ihres Schweißes zu riechen, ihren Herzschlag zu spüren, mit ihr zu lachen, einzuschlafen, aufzuwachen, aber das alles hier, das war so kalt und unwirklich, dass ich das Gefühl hatte, selber nur Illusion zu sein.

„Du wichst zu viel“, sagte Shane, als wir beide gleichzeitig zugedröhnt in die Kloschüssel pissten.

„Woher willst du das wissen?“

„Die Flecken auf deiner Matratze.“

„Ich sabbere im Schlaf.“

„Sabberst du aus deinem Bauchnabel? Die Flecken sind genau in der Mitte!“ Shane spuckte in die Schüssel. „Zu viel wichsen ist nicht gut. Du gewöhnst dich an den Druck, verstehst du? Und wenn du dann in ner Muschi steckst, dann kannst du nicht mehr abspritzen. Zu wenig Reibung, verstehst du mich?“

„Wichsen ist die beste Vorbeugung gegen Hodenkrebs.“

„Und wozu brauchst du die verdammten Hoden, wenn du nie ne Schlampe besteigst?“

„Wichsen ist nicht so schlecht, Shane. In Gedanken treib ich’s mit allen. Sogar mit deiner Mutter.“

„Am Wochenende geh’n wir in’ Puff.“

„Wieso? Ist dort deine Mutter?“

„Wir geh’n in’ Puff.“

„Ich will aber nicht in’ Puff.“

„Ich lade dich ein.“

„Scheiß drauf. Ich will nicht.“

„Bist du schwul?“

„Mir tun die Nutten leid.“

„Du bist schwul.“

Shane glotzte auf den tropfenden Boiler, der bedrohlich über dem Spülkasten hing. „Sag dem Vermieter, er soll das in Ordnung bringen. Das ist ja lebensgefährlich.“

„Ich hab die Wohnung zum Sonderpreis bekommen. Ich zahl nur drei viertel von der ursprünglichen Miete.“

„Du bezahlst eines Tages mit deinem Leben, wenn der Boiler runterkommt und du da sitzt.“

„Ich sitz da nie.“

„Du kackst im Stehen?“

„Was soll ich kacken, wenn ich nichts zu fressen habe?“

Shane klopfte seinen Schwanz trocken und musterte mich von oben bis unten. „Scheiße, du hast Recht. Du wirst immer dünner.“

Ich starrte in die Schüssel, die an mehreren Stellen Risse aufwies und selbst nach stundenlangem Schrubben nicht mehr sauber wurde. „Kannst’ mir was leihen, Shane?“

„Hm.“

„Fünfzig?“

Shane kramte in seiner Hosentasche und legte ein paar Scheine auf den Spülkasten. Ich wollte sie nehmen, da schlug er mit der flachen Hand drauf. „Keine Schmerztabletten!“

„Scheiße, Shane.“

„Rauch Gras. Das ist gesünder.“

„Ich brauch das Zeug. Manchmal fährt mir was in’ Rücken, das ist wie n Hexenschuss, da kann ich mich stundenlang nicht mehr rühren, da kann ich nur mehr schreien. Manchmal humple ich rum wie Goebbels und das verdammte Bein wird so steif, dass ich mit den Händen nachhelfen muss, wenn ich ne Treppe hochsteige. Dann brauch ich ein paar Hammertabletten, verstehst du?“

Ich pisste immer noch. Das Zeug, das da aus mir kam, gehörte auf den Sondermüll. Shane ließ nicht locker. „Überleg mal, warum der Doc sich weigert, dir das Zeug länger zu verschreiben.“

„Weil’s die Krankenkasse ruiniert.“

„Nein! Der weiß, was bei dir abgeht.“

„Was geht denn bei mir ab?“

„Das mit dem Schmerz, das ist doch nur ne Kopf­sache. Du musst den Kopf freikriegen, Babyface! Da ist n Knoten drin, den musst du lösen.“

„Ach, du glaubst, ich bilde mir das ein? Glaubst du, ich bin n Hypochonder?“

„Ich glaube, dass du dich gut fühlst, wenn du dich selbst bemitleiden kannst. Du hast den Sturz überlebt, sei dankbar! Du sitzt nicht im Rollstuhl, du bist noch mal davon gekommen! Was für n scheiß Glück du hattest, verdammt noch mal! Du solltest jeden Tag eine Party schmeißen!“

„Mir ist schon lang nicht mehr nach Party, Shane.“

„Fuck. Du kapierst es nicht. Das Leben ist ein Furz. Das ist schneller vorbei, als du es fühlen kannst. Ich will den alten Kai zurück. Den, der mit mir so viel gelacht hat. Der mit mir die verdammte Welt erobern wollte.“

„Was soll ich lachen, wenn ich mich scheiße fühle?“

„Weil du vielleicht tot bist, ehe du dich besser fühlst, und dann bereust du es, zu wenig gelacht zu haben.“

„Du redest wie diese Nutte Coelho.“

„Nein, ich red wie die alte Nutte Shane. Und die weiß, was dir fehlt. Ne Muschi. Du brauchst ganz dringend ne Muschi. Ich muss dir eine besorgen, sonst gehst du mir kaputt, und das kann ich nicht zulassen. Bist du doch mein bester Kumpel.“

Ich ging zurück in mein Zimmer, während Shane sich im Klo ne Prise Koks ins Hirn blies. Burcak, die in jenen Tagen an Shane klebte, als wäre sie sein Bodyguard (ich ahnte längst, dass sie scharf auf ihn war), empfing mich mit einem Brief in der Hand. Sie wedelte mit dem Kuvert vor ihrem Kinn, als wäre es ein Fächer.

„An Florian Samweber, Fischnalerstraße 22, 6020 Innsbruck, Österreich.“

„Mein Stiefbruder.“

„Du schreibst ihm jede Woche einen Brief“, sagte Burcak, die so dunkle Augen hatte, dass ich ihrem Blick nie lange standhalten konnte. Diese Augen hatten Voodookräfte. Die konnten dich verhexen, die Augen, und ich fragte mich, warum sie das mit Shane nicht längst getan hatten. „Du schreibst ihm jede Woche einen Brief, aber er schreibt dir nie.“

„ …“

„Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Wen?“

„Deinen Stiefbruder!“

„Vor zehn Jahren.“

„Vor zehn Jahren?“

„Er war elf, ich fünfzehn.“

„Aber er lebt doch in Innsbruck! Da bist du in zwei Stunden mit dem Zug.“

„Mit jedem Tag, der vergeht, fällt es schwerer, in den Zug zu steigen.“

Burcaks Ohrringe klimperten. „Warum schreibt ihr euch keine E-Mails?“

„Ich hab kein Internet mehr.“

„Du hast kein Internet?“, fragte Burcak und sah mich halb belustigt, halb mitleidig an. „Aber Shane hat Internet.“

„Ich habe meine Mailadresse gelöscht.“

„Wie kann man ohne Internet leben?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich richte dir eine neue Mailadresse ein“, sagte Burcak und sah mich an, als wäre ich die ärmste Sau der Welt.

Eine halbe Stunde später waren Burcak und Shane verschwunden und ich lag alleine in meiner Bude auf meiner kaputten Matratze. Ich starrte an die Zimmerdecke und hörte die Autos vorbeirauschen, die Autos und die Lkws, die Mofas und die Motorräder, hörte sie hupen und bremsen und Gas geben, hörte Kavalierstarts und untertouriges Fahren, aufgemotzte Karren und abgesägte Auspuffe.

Ich kann nicht schlafen, Florian. Es ist drei Uhr in der Nacht und ich kann nicht schlafen. Mein Rücken schmerzt. Die Nachbarn sind so laut. Sie feiern eine Party. Sie feiern jede Nacht. Saufen, Raufen, Fressen, Ficken. Hartz IV bis zum Tod. Nie mehr arbeiten! Nie mehr einen Finger krumm machen. Der Bass lässt meine Fensterscheiben vibrieren, sie grölen und poltern, sie machen Party bis morgen früh. Und ich liege da und kann nicht schlafen. Und ich liege da und habe Angst. Ich habe Angst vor allem und jedem. Vor dem Atmen, dem Träumen, meinen Gedanken, meinen Gefühlen, vor dem Morgen. Ich habe Angst, dass mir wer den Strom abdreht oder das Wasser oder dass ich für Jahre auf einem Schuldenberg sitzen muss und die Zinsen mich auffressen. Ich habe Angst, dass ein islamistischer Selbstmordattentäter die U-Bahn in die Luft jagt und die Bombe mir die Beine wegreißt oder die Nägel mein Gesicht zerfetzen.

Florian, ich habe manchmal solche Angst, dass ich mir wünsche, ich wäre tot, damit die Angst ein Ende hat. Damit nur diese verdammte Angst ein Ende hat.

***

„Muss mit dir reden“, sagte Burcak und fuhr sich mit den Händen nervös durchs Haar.

„Über Shane?“

„Über deine Schulden.“

Ich betrachtete meine Handflächen. Früher hatte ich immer Blasen und Schwielen gehabt, kaputte Nägel, Striemen. Jetzt hatte ich Hände wie ein Bankangestellter.

„Wie viel kriegen die Gangster von dir?“

„Sagt dir Shane eigentlich auch, dass ich zu viel wichse?“

„Wie viel schuldest du Öcal und Ugi?“

„Es ist nicht so dramatisch, Burcak.“

„Wie viel?“

„Ey, Burcak …“

„Shanes Brüder sind Teufel“, sagte sie und machte mit ihren Zeigefingern Hörner an die Stirn.

„Du kennst sie?“

„Ich habe genug gehört, um zu wissen, was läuft. Die verleihen Geld nie ohne Hintergedanken.“

„Wer tut das schon?“

„Sie lassen ihre Schuldner für sich arbeiten. Sie lassen ihre Schuldner die Drecksarbeit machen. Und wenn was schief läuft, sind sie fein raus.“

„Ich krieg das auf die Reihe mit der Kohle, keine Angst.“

„Du hast das Geld bis zum Ersten beisammen?“

„Wenn die Firma zahlt und ich die Miete für einen Monat aussetze, müsste es klappen.“

„Ich lege drauf, wenn dir was dir fehlt.“

„Ich schaff das schon, Burcak.“

Wir saßen in irgendeinem von Burcaks vielen Lieblingscafés in einer Seitenstraße der Sendlinger Straße. Neben Burcak fühlte ich mich immer abgefuckt. Sie war geschminkt, nie aufdringlich, immer dezent, aber nie ohne Farben unterwegs. Sie trug die feinsten Sachen, alles perfekt abgestimmt. Ich saß da mit meiner schwarzen Bomberjacke, meinem Levispulli und meinen ausgewaschenen Jeans, meine Turnschuhe waren staubig und meine Gesichtshaut hatte seit Monaten keine Creme mehr gesehen.

„Hat Shane dir von Max erzählt?“

„Max Schmeling?“

„Pflegefall für den Rest seines Lebens.“

„Ist er auch von nem Dach gefallen?“

„Er ist vor ein Auto gefallen.“

„Shit happens.“

„Keiner glaubt, dass es ein Unfall war.“

Ich gab mich cool, aber in Wirklichkeit machte mich Burcaks Auftritt nervös. Ich hatte einiges über Öcal und Ugi gehört, aber ich dachte, ich wäre mit Shane befreundet, so what? Die würden mich schon nicht umlegen.

„Bald steh ich wieder auf nem Dach. Dann ist der Albtraum vorbei.“

„Du kannst was Besseres machen, als auf Dächern rumzuklettern.“

„Ich habe den verdammten Job geliebt.“

„Und bist vom Dach gefallen.“

„Ich war völlig übermüdet.“

„Warum gehst du nicht zurück auf die Uni? Weißt du, wie viele Leute gerne studieren würden und nicht können?“

„Glaubst du, ich könnte es mir leisten zu studieren? Glaubst du, ich hätte auch nur einen Cent für Studiengebühren?“

„Du würdest bestimmt ein Stipendium bekommen. Oder ein Darlehen von der Bank. Versuch es wenigstens!“

„Oh ja, die Banken warten nur auf mich, Burcak.“

„Man muss es versuchen, Kai! Du kannst es nicht wissen, ehe du es nicht versucht hast. Wenn man etwas wirklich will, dann schafft man es auch.“

„Ich will wieder als Dachdecker arbeiten.“

„Du solltest studieren, Kai.“

„Ich bin zu alt dafür! Ich muss jetzt Geld verdienen. Wenn ich drei Stunden in einem geschlossenen Raum sitze, drehe ich durch. Ich war meine ganze Kindheit an der frischen Luft.“

„Habt ihr unter der Brücke gehaust?“

„Auf einem Bauernhof.“

„Du vergeudest dein Leben, wenn du nicht studierst.“

„Onkel Wilfried hat studiert.“

„Und?“

„Arbeitet seit 25 Jahren für ne Unternehmensberaterfirma in Hamburg. Hat ne Eigentumswohnung dort.“

„Klingt doch nicht so schlecht, oder? Das klingt doch gut!“

„Fährt nen Ferrari.“

„Siehst du!“

„Trägt nen Herzschrittmacher und ein Toupet.“

„Keiner bleibt ewig jung.“

„Er ist erst 37, Burcak. Er ist 37 und völlig am Arsch. Studium ist Garantie für gar nichts. Die lassen den genauso bluten wie nen Hilfsarbeiter.“

Burcak seufzte.

„Ich muss“, sagte sie, nachdem ihr Handy zweimal gepiept hatte. „Drück mir die Daumen.“

Sie legte einen 10-Euro-Schein auf den Tisch, las die SMS und stand auf.

„Schwangerschaftstest?“

„Vorstellungsgespräch.“

„Ich würde dir jeden Job geben.“

„Ich leihe dir das Geld, Kai. Ich leihe nie wem Geld, aber dir würde ich es geben.“

„Vergiss es. Ich steig wieder auf ein Dach.“

Sie lächelte traurig. „Du erinnerst mich an den Typen, der sich unbedingt den Namen seiner Freundin tätowieren lassen musste.“

„Und? Hat er den Namen falsch buchstabiert?“

„Ich habe ihn gewarnt, habe ihm gesagt, er soll es bleiben lassen, aber der Sturkopf tat es doch.“

„Er ist nicht mehr mit seiner Freundin zusammen?“

„Er war nur drei Wochen mit ihr zusammen.“

„Sandy war jeden Buchstaben wert, Burcak.“

„Drei Wochen.“

„Diese drei Wochen waren mehr wert als dreißig Jahre.“

„Du Dickschädel.“ Burcak packte ihr Handy in ihre Handtasche und holte einen Zettel heraus. „Dein Passwort. Für die Mailadresse.“

Sie warf sich den Schal um den Hals.

„Mailadresse?“

[email protected].“

Sie verabschiedete sich mit einem Kopfschütteln und einem Lächeln.

„Dickschädel“, fluchte sie, als sie die Tür öffnete und noch einmal zurücksah.

Die Nazis über mir lärmen jede Nacht. Sie schlafen am Tag, feiern in der Nacht und kotzen am Morgen. Keiner im Haus wagt es, sich zu beschweren oder die Polizei zu rufen. Ich doch auch nicht. Vor einem Jahr hat der Hausmeister, ein dicker, gutmütiger Riese mit osteuropäischem Akzent, die Bullen geholt, aber die Nazis haben die nur ausgelacht. Und dem armen Kerl haben sie kurz darauf den Dackel vergiftet. Ich hab ihn gefunden, den Dackel, im Keller, als ich Wäsche waschen wollte, und hab ihn in die Biotonne geschmissen. Ich wollte dem Riesen den Anblick ersparen, und zum Verbuddeln gibt’s bei uns nix. Leider fand er den Kadaver dann doch noch, als er die Tonnen zur Straße bringen wollte. Ich sah es zufällig vom Fenster aus. Er holte den Hund heraus, befreite sein Fell von Bananen- und Eierschalen, schaukelte ihn in seinen Armen wie ein Baby. Scheiße, da ist’s mir eiskalt den Rücken runter. Ich beneidete den Hund. Kein Mensch der Welt hätte mich so liebevoll aus der Biotonne geholt.

Ich bin müde, so müde, aber ich kann nicht schlafen. Sie lassen mich nicht schlafen. Sie singen von Juden, die sie in ihre Messer flutschen lassen wollen. Vom dreckigen Zigeunerpack, das auf den Scheiterhaufen gehört. Ich ziele mit dem Zeigefinger meines ausgestreckten rechten Arms hoch zur Decke und wünsche mir, es wäre eine Knarre.

Ich würde denen allen ein zweites Loch in den Arsch schießen, ich schwör. Hätte ich eine Knarre, ich würde da rauf und sie durch die Wohnung jagen und aus dem Fenster springen lassen, eine braune Schwuchtel nach der anderen, und sie dann in die Biotonnen im Hinterhof stecken.

***

Ich sah die Kleine mit der Frisur auf der Straße, als ich gerade mit einer Bierkiste vom Getränkemarkt kam. Ich sah sie vor der Auslage eines Schmuckgeschäfts in der Nähe vom Gärtnerplatz, sie stand da vor dem Schaufenster, trug einen grauen Einteiler, der ihr nur knapp über den Hintern reichte, schwarze Stiefel und halterlose Strümpfe. Sie ging weiter, ohne sich umzusehen. Erst folgte ich ihr mit der Kiste, stellte sie dann aber auf eine Treppe in einer Hauseinfahrt, als sie mir zu schwer wurde. Ich hielt Abstand, ohne die Kleine auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

Sie spazierte herum, sah in Schaufenster, kaufte sich eine Zeitschrift in einem Kiosk und quatschte auf dem Gehsteig mit einer älteren Frau. Fast eine Stunde lang verfolgte ich sie.

Vor einer Bankfiliale in der Fraunhoferstraße blieb sie plötzlich stehen, drehte sich um und – wartete auf mich. Ich wollte sofort über die Straße, aber da war zu viel Verkehr.

„Was versprichst du dir davon?“, rief sie.

Ich drehte mich um, als wüsste ich nicht, mit wem sie sprach.

„Mensch, sei nicht kindisch, du!“

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu ihr zu gehen.

„Was immer du vorhast, vergiss es“, sagte sie.

„Schade.“

Ihr Blick war traurig und müde. „Was willst du von mir?“

„Dass du mit mir auf ein Bier gehst.“

„Auf ein Bier?“

„Ja. Lass uns was trinken!“

Sie sah auf das Display ihres Handys. „Es ist erst halb 11!“

„Für n Bier ist es nie zu früh.“

„Bier stinkt.“

„Ich hab ne ganze Kiste hier in der Nähe geparkt.“

„Dann lass sie ruhig stehen.“

„Mach einen besseren Vorschlag.“

„Latte Macchiato?“

„Oh Gott, nein!“

„ …?“

„Was trinkst du, wenn du trinkst?“

„Wodka-Lemon.“

„Okay. Okay! Wodka-Lemon. Ich lade dich ein! Lass uns Wodka-Lemon trinken.“

„Aber doch nicht jetzt …“

„Komm! Komm mit!“

Sie zuckte mit den Schultern. Ich mochte ihre Stimme. Ihren österreichischen Dialekt. Ihre winzig kleinen Sommersprossen auf dem sonnengebräunten Gesicht.

„Shit“, sagte ich, als wir ein paar Schritte gegangen waren und mir eingefallen war, dass ich höchstens noch ein paar Centstücke in der Tasche hatte. „Ich habe meine Geldtasche vergessen.“

„Tja“, sagte sie und stemmte ihre Hände in die Hüfte.

„Willst du nicht doch n Bier? Ich hab ne ganze Kiste, ich schwör.“

Sie musterte mich. Sie wollte ernst bleiben, aber sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Warte hier“, sagte sie. „Ich wollte sowieso gerade was abheben. Ich lade dich ein.“

Sie verschwand im Vorraum der Bank. Im Vorraum meiner Bank. Der Bank, der ich Kohle schuldete. Der Bank, die mich mit Briefen und Anrufen bombardierte. Ich sah mein Spiegelbild in der Scheibe und schämte mich. Shane hatte Recht. Meine Klamotten gehörten verbrannt. Ich glotzte auf die ausgewaschene Jeans, bis ich bemerkte, dass der Fuzzi hinter dem Schalter mich anstarrte und dann losfetzte. Ich humpelte davon, ich hatte einen kleinen Vorsprung, denn der Fuzzi musste einen Umweg über einen Nebenraum machen. Ich bog in die nächste Seitenstraße links ab und blickte erst zurück, als ich ihn rufen hörte: „HERR SAMWEBER! HERR SAMWEBER! ICH MUSS MIT IHNEN REDEN! BLEIBEN SIE DOCH STEHEN!“

Ich lief weiter und weiter, ich wusste, was der von mir wollte, ich wollte es doch auch, aber ich konnte die verdammten Schulden nicht tilgen, ich konnte nicht mal verhindern, dass sie jeden Monat größer wurden.

Ich dachte, der Typ würde mich jeden Moment einholen, aber als ich zurückblickte, sah ich, dass er immer noch am selben Fleck stand.

„HERR SAMWEBER! SEIEN SIE DOCH VERNÜNFTIG! LASSEN SIE UNS REDEN!“

Ich lachte und zeigte ihm meine Mittelfinger.

Als der Bankmensch wieder weg war, stoppte ich ein Taxi und fuhr zurück, der Taxifahrer warf mich vor der Bank raus, als ich ihm sagte, dass ich mein Geld vergessen hätte, und das war genau das, was ich wollte. Ich hätte keine Kraft mehr gehabt zurückzusprinten. Ich suchte nach der Kleinen, aber die Kleine war verschwunden. Ich suchte sie, suchte sie überall, eine halbe Stunde humpelte ich rum wie irr, die Straße auf und ab, aber sie war verschwunden.

Ich fand nur einen verwahrlosten Hund, der ebenfalls hilflos umherirrte und glaubte, in mir seinen neuen Meister gefunden zu haben. Nachdem ich die Suche nach der Kleinen aufgegeben hatte und zurück zu meiner Bierkiste wollte, fing es an zu regnen und der Hund machte sich davon. Er hatte schnell kapiert, dass ich ihm nichts zu bieten hatte. In wenigen Sekunden ging ein Wolkenbruch nieder, aber ich wagte es nicht, mich in ein Lokal oder Geschäft zu flüchten.

Ich hatte kein Geld.

Tag für Tag lockten die beleuchteten Schaufenster, aber es hatte keinen Sinn, diese Läden zu betreten.

Ich hatte kein Geld.

Kein Geld für neue Jeans, eine neue Jacke, neue Schuhe, kein Geld für ein Buch oder eine CD. Die Shorts, die ich trug, hatten Löcher. Die Socken hatten Löcher.

Scheiße, ja, diese Stadt fickt dich, wenn du kein Geld hast. Und ich hatte keins. Aber hätte ich eins gehabt, hätte ich die Kleine eingeladen, auf nen Wodka-Lemon oder zwei. Und das wär mein Tag geworden. Ich schwör. Mein Tag. Aber so trottete ich nach Hause, ohne Kohle und ohne die Kiste Bier, die mir irgendein Penner geklaut hatte.

Oh ja, es gibt eine Welt jenseits von ihrer Welt. Eine Welt voller Angst und Sorgen, voller Schmerz, Verzweiflung und Traurigkeit. Eine Welt nahe dem Tod und dem Wahnsinn. Ich wandle zwischen der heilen Welt und der dunklen. Ich bin mal da, mal dort. Ich habe ein Dach über dem Kopf, ich friere nur selten und stinke nur manchmal, ja, verdammt, es gibt Leute in der Stadt, denen geht es viel dreckiger. Ich muss noch keine Essensreste oder Pfandflaschen in Müllkübeln suchen, ich muss nicht betteln oder meinen Arsch verkaufen. Aber manchmal bin auch ich ganz tief unten, dann spüre ich, wie schwer mein Herz schlägt, weil all der Druck auf mir lastet, all die Schulden, all die Sorgen, dann spüre ich, wie mit jedem Tag ein Stück Lebensfreude verschwindet.

Heute Nacht haben sie ein fettes NO FUTURE an die Hauswand gegenüber gesprayt. Ja. NO FUTURE ist zurück. Ich habe das Gefühl, dass mir die Scheiße bis zum Hals steht und dass ich da nie mehr rauskomme. Das Gefühl, dass ich für immer verloren bin. Verdammt bin. No fucking future.

Ich bin nicht neidisch auf die großen Autos, auf die schönen Wohnungen, auf die schicken Kleider. Jeder Arsch weiß, dass Glück was anderes ist. Dass Glück so was wie die Kleine ist. Dass Glück ist, so n Kumpel wie Shane zu haben. Keinen Hodenkrebs zu haben.

Trotzdem wünsche ich mir einen Tag, an dem ich mir keine Sorgen um das Geld machen muss. Ich möchte eines Abends schlafen gehen ohne diesen Schatten über mir. Ich möchte eine Kanone auf den Spruch an der Wand da draußen richten und ihn in Grund und Boden bomben.

Ich will eine Zukunft!

Ich will leben. Ich will nen Job.

Ich bin verdammt noch mal zu jung für No Future.

***

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand Shane mit dem Rücken zu mir am Fenster. Seine Gestalt verdunkelte den Raum. Shane hatte mächtige Schultern. Wie ein Footballspieler.

„Burcak will heiraten“, sagte er, ohne sich umzudrehen.

„Ne Bessere kriegst du nie wieder.“

„Ich habe nicht gesagt, dass sie mich heiraten will.“

„Sie will dich heiraten.“

„Woher weißt du das?“

„Sie hat mir gesagt: Ich kenne Shane, seit ich neun bin. Ich war schon so oft verliebt in ihn und er wollte nie was von mir wissen. Das ist meine letzte Chance. Und seine letzte Chance.“

Shane steckte sich einen Kaugummi in den Mund. „Das hat sie gesagt?“

„Ich habe sie gefragt, wie man auf nen Typen wie dich stehen kann, da fragte sie mich, ob ich dich schon mal nackt gesehen hätte.“

„Das hat sie gesagt?“

„Du hättest Muskeln an Stellen, von denen sie gar nicht gewusst hätte, dass man da Muskeln haben könnte.“

Shane lachte. „Das hat sie wirklich gesagt?“

„Ich bin mir sicher, sie meinte deine Hämorrhoiden.“

Shane seufzte. „Wenn jemand Probleme mit dem Arsch hat, dann sie.“

„Furzt sie?“

„Ihr Arsch ist zu fett.“

„Burcak hat nen geilen Arsch.“

„Der passt nicht mal mehr in ne Levis!“

„Sie hat nen geilen Arsch!“

„Das habe ich ihr auch knallhart ins Gesicht gesagt. Dass ihr Hintern zu dick ist.“

„Das ist doch scheiße, Shane.“

„Ich hab ihr gesagt, sie soll dafür sorgen, dass ihre Arschbacken wieder in ne Levis passen, dann kriegt sie mich.“

„Das ist doch lächerlich! Schau in den Spiegel! Du siehst aus wie n Taliban!“

„Ein Mann muss nicht schön sein. Ein Mann muss ein Mann sein.“

„Ich würde meine rechte Hand geben, wenn ich Burcak einmal den verdammten Arsch küssen dürfte.“

„Fahr nach Thalkirchen. Im Zoo, da gibt’s genug Elefantenärsche.“

Ich knallte ihm das Kopfkissen an den Schädel.

„Burcak ist 1a. Die Frau hat Stil. Die ist klasse, die Burcak.“

„Dann heirate du sie doch“, sagte Shane und kickte das Kissen mit dem Fuß zurück.

„Pah. Ihr Bruder würde mich abstechen. Ich kenn euch Türken doch.“

„Was willst du denn damit sagen?“

„Du weißt doch selber, wie’s ist.“

„Ich frage mich, warum ich dein bester Kumpel bin, wenn du keine Türken magst.“

„Weil ich keinen anderen Kumpel hab.“

Shane sah mich an und schien zu überlegen, ob ich scherzte oder es ernst meinte. Ich wusste es selber nicht.

„Es liegt nur an ihrem Arsch, Kai.“

„Du hast keine Ahnung …“

„Fuck! Wenn dieser fette Arsch nicht wär!“ Er setzte sich auf das Fensterbrett. „Und überhaupt: Könntest du dir vorstellen, für den Rest deines Lebens immer mit der gleichen Frau Sex zu haben?“

Ich stand auf, zu schnell, der Schmerz schoss mir in den Rücken, mir wurde schwindlig, also setzte ich mich wieder.

„Ich könnte mir nicht vorstellen, mich nie mehr in jemand anderen verlieben zu dürfen.“

Shane warf mir ein Papierknäuel auf die Matratze. „Es ist immer dasselbe. Ich red vom Vögeln und du denkst an Scheißliebe.“

„Was ist das?“, fragte ich und nahm das Papier.

„Ticket für ne Runde Arschficken, Babyface.“

„Scheiße, was ist das fürn Wisch?“

„Lag in deinem Postkasten.“

„Hast du jetzt auch einen Schlüssel für meinen Briefkasten?“

„Meine Hände sind in Übung.“

„Du hast ihn einfach aufgebrochen?“

„Ey, ich bin dein bester Kumpel“, sagte er.

„Musst du deshalb meine Post lesen?“

Ich glättete das Papier. Der Brief war von Meyers Sekretärin.

„Sehr geehrter Herr Samweber, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir … nach nochmaliger intensiver rechtlicher Prüfung zu dem Schluss gekommen sind … kein Fehlverhalten unsererseits … Ihrem Unfall, den wir natürlich sehr bedauern … nicht um ein Arbeitsverhältnis im Sinne von § … nicht verpflichtet …“ Ich überflog den Inhalt, schnappte ein paar Satzfetzen auf und las sie Shane vor, aber erst die letzten beiden Sätze versetzten mir den K.o.-Schlag. „Aufgrund der finanziell angespannten Situation und des Ausbleibens eines erhofften Kredits war die Firma Fritz Meyer gezwungen, letzten Donnerstag Insolvenz anzumelden.“

Ich sah Shane an und ich wartete darauf, dass er loslachte und sagte, es wäre alles nur n Scherz. Aber Shane sagte nichts.

„Insolvenz?“

Mein Herz pumpte mein ganzes Blut in meinen Kopf. Mein Schädel wurde heiß, ich dachte, er müsste platzen. Meine Hände zitterten. Das Schreiben fiel zu Boden.

Bei meiner Ehre, hatte er gesagt. Bei meiner Ehre, hatte der verfluchte Schwanzlutscher gesagt.

„Der fette Meyer ist pleite“, sagte Shane. „Der zahlt dir keinen Cent.“

„Der zahlt mir jeden Cent.“

„Der fette Meyer fickt dich.“

„Wenn der nicht zahlt, schlitz ich ihn auf. Ich stech den ab, ich schwör.“

„Der hat dicht gemacht. Zugesperrt!“

„Das kann der nicht bringen, Shane.“

„Der fette Meyer kann alles.“

„Der muss mir meinen Lohn bezahlen.“

Shane hob den Brief auf, zerknüllte ihn und kickte ihn mit seinem Fuß zum Fenster raus.

Scheiß auf deine Ehre, Meyer. Scheiß auf dich.

Shane sah mich mit großen Augen an, spuckte seinen Kaugummi aus, verfehlte aber den Aschenbecher. Der Kaugummi landete auf einem Berg Schmutzwäsche. Shane machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuheben, er steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Ich sprang auf und wollte ihn zu Boden reißen, aber ich schaffte es nicht, ich schlug zu, links-rechts-links, die Fäuste prasselten auf ihn ein, aber er wehrte sie ab, duckte sich weg, schubste mich zurück, schlug mit seiner Linken zu und hielt in seiner Rechten die verdammte Zigarette in die Höhe. „Kämpf, Babyface! Kämpf! Lass dich nicht unterkriegen!“

Wir prügelten uns oft, Shane und ich, einfach so, aus Spaß, wenn wir zu viel getrunken hatten oder übermütig waren. Wir boxten, wir boxten uns gut. Ich hörte meinen Kiefer knacksen, ich spürte, wie meine rechte Faust explodierte, als sie auf Shanes Killerfaust traf. Ich roch seinen Schweiß, roch Zwiebel und Döner und Red Bull und Haarshampoo. Ich schmeckte Blut in meinem Mund. Der Schweinehund machte mich alle. Wie jedes Mal machte er mich alle.

„Was ist los, Babyface? Beiß, schlag, kratz! Wehr dich!“

Ich schlug, so fest und schnell ich konnte, die Schläge gingen nur ins Leere oder wurden pariert.

„EINMAL IN DEINEM GOTTVERDAMMTEN LEBEN SOLLST DU DICH WEHREN! STEH EINMAL DEINEN MANN! EINMAL! NUR EINMAL!“

Shane war ein verdammt guter Boxer. Weil er Schultern und Muskeln hatte für zwei und weil er einstecken konnte. Shane hatte keine Angst vor Schmerzen, keine Angst vor einer platten Nase oder einer Zahnlücke. Shane hatte nur Angst zu verlieren.

„Meine Brüder wollen ihr Geld“, sagte er, nahm meinen Kopf in den Schwitzkasten und hob mit der Linken die Zigarette auf, die auf den Boden gefallen war. „Ihr Geld oder deinen Arsch.“

„Ich krieg das Geld nicht zusammen“, keuchte ich und trat ihm auf den rechten Fuß. „Wie denn?!“

Shane knallte mich auf den Boden.

„Ich kann Öcal anrufen. Ich kann ihm sagen, du fährst die nächsten Monate in die Schweiz und holst das Gras von den Marokkanern. Dann ist das gebongt, verstehst du? Die brauchen nen Kurier, du willst die Schulden loswerden. Der Deal ist fair.“ Shane zog an seiner Zigarette und stand auf. „Und du wärst der perfekte Mann dafür.“

„Quatsch“, stöhnte ich. „Ich würd mir in die Hose scheißen.“

Shane half mir auf die Beine, ich stand da, krümmte mich vor Schmerzen, schaffte es nicht, meinen Oberkörper aufzurichten. Er legte seine Hand auf meinen Rücken.

„Keiner kontrolliert mein Babyface. Die Kanaken, die als Kuriere arbeiten, die fliegen alle früher oder später auf. Und wenn alle Stricke reißen – du bist nicht vorbestraft, du kriegst Bewährung, du kriegst bestimmt Bewährung. Sag mir, dass du es machst, und ich ruf meine Brüder an.“

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen, denken, tun sollte.