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Austernpirat, Seemann, Vagabund, Sozialist, Goldsucher, Autor, Kriegsreporter, Farmer … Jack Londons Leben war so abenteuerlich und ereignisreich wie seine Romane und Erzählungen. Der zu Lebzeiten weltweit erfolgreichste und meistgelesene Autor stellt wiederkehrend die Begegnung zwischen Kultur und Natur sprachgewaltig ins Zentrum seiner Schriften. Aber nicht nur in seinen berühmten Romanen zeigt sich sein schriftstellerisches Können. In Londons psychologisch feinsinnigen und raffiniert komponierten Erzählungen lernt man den Schriftsteller von einer neuen Seite kennen. Längst überfällig sind in diesem Band in neuer, werkgetreuer Übersetzung eine Auswahl seiner meisterhaften Erzählungen versammelt: Männergeschichten, wie man sie von London vielleicht kennt und erwartet, werden Geschichten von Frauen gegenübergestellt und zeigen den Romanautor in einem neuen Licht. Man verfällt in einen Leserausch! Enthalten sind die Geschichten: Krieg, Der Wahnsinn des John Harned, Ein Stück Fleisch, Old Tarwaters Traum vom Gold, Der Mann auf dem Trail, Das Vertrauen der Männer, Die große Frage, Siwash – Nur eine Indianerin, Eine Tochter des Nordlichts, Goldblüte, Die Nachtgeborene
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Seitenzahl: 319
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Jack London(1876–1916)
Jack London
Abenteuerliche Leben
Neu übersetzt und herausgegebenvon Herbert Schnierle-Lutz
MÄNNERGESCHICHTEN
Krieg
Der Wahnsinn des John Harned
Ein Stück Fleisch
Wie Argos in den alten Zeiten
Es lebe der Mann auf dem Trail
Das Vertrauen der Männer
FRAUENGESCHICHTEN
Die große Frage
Siwash
Eine Tochter des Nordlichts
Goldblüte
Die Nachtgeborene
ANHANG
Nachwort
Wort- und Sacherklärungen
Quellenverzeichnis
Er war ein junger Mann, nicht älter als vier- oder fünfundzwanzig, und er hätte auf seinem Pferd mit der unbekümmerten Lässigkeit der Jugend gesessen, wäre er nicht so katzenartig angespannt gewesen. Seine schwarzen Augen musterten alles genau, bemerkten jede Bewegung von Zweigen und Ästen, auf denen kleine Vögel herumhüpften, suchten beständig die neu auftauchenden Bäume und Büsche ab und kehrten dann wieder zurück zu dem Gestrüpp zu beiden Seiten. Und so wie er beobachtete, lauschte er auch, während er dahinritt durch eine Stille, die nur von dem Donnern schwerer Kanonen weit im Westen unterbrochen wurde. Dieses drang bereits seit Stunden monoton an seine Ohren, sodass lediglich eine Unterbrechung seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Die Aufgabe, die er zu erledigen hatte, war mehr hier in der Nähe. Quer über seinem Sattel lag ein Karabiner.
Er war so angespannt, dass eine Schar Wachteln, die plötzlich vor der Nase seines Pferdes explosionsartig aufflog, ihn in solchem Maße erschreckte, dass er unwillkürlich das Pferd zügelte und den Karabiner halb zur Schulter hochriss. Er grinste verlegen, fasste sich wieder und ritt weiter.
Er war so angespannt, so konzentriert auf die Aufgabe, die er zu erledigen hatte, dass ihm der Schweiß in die Augen lief, ohne dass er ihn wegwischte, und unbeachtet an seiner Nase herunterfloss und auf seinen Sattelknauf tropfte. Das Band seines Kavalleristenhutes war fleckig von frischem Schweiß. Der Fuchsschimmel unter ihm war ebenfalls schweißnass.
Es war zwölf Uhr mittags an einem atemraubend heißen Tag. Sogar die Vögel und Eichhörnchen getrauten sich nicht in die Sonne, sondern versteckten sich an schattigen Stellen in den Bäumen.
Der Mann und das Pferd waren von abgestreiftem Laub bedeckt und von Blütenpollen bestaubt, denn sie wagten sich nicht weiter als unbedingt nötig ins offene Gelände hinaus. Sie hielten sich im Gebüsch und unter den Bäumen, und stets hielt der Mann an und spähte prüfend hinaus, bevor sie eine freie Lichtung oder eine buschlose Weide des Hochlandes überquerten.
Er arbeitete sich unablässig nordwärts, obwohl sein Weg gewunden war, und im Norden schien das zu lauern, was er am meisten befürchtete und nach dem er beständig Ausschau hielt. Er war kein Feigling, aber sein Mut war lediglich der eines durchschnittlich zivilisierten Mannes, und er wollte leben, nicht sterben.
Einen kleinen Hügel hinauf folgte er einem Kuhpfad durch so dichtes Gestrüpp, dass er gezwungen war abzusteigen und sein Pferd zu führen. Als sich der Pfad aber nach Westen wandte, verließ er ihn und ging erneut nordwärts über den eichenbestandenen Kamm des Hügels. Der Kamm endete an einem steilen Abstieg – so steil, dass er im Zickzack absteigen musste, immer wieder im vermoderten Laub ausrutschend oder über wuchernde Schlingpflanzen stolpernd und dabei das Pferd im Auge behaltend, das auf ihn zu stürzen drohte. Der Schweiß lief an ihm herunter, und der Pollenstaub, der sich ätzend in Mund und Nase festsetzte, verstärkte seinen Durst. Er konnte tun, was er wollte, der Abstieg verursachte Lärm, und er hielt deshalb häufig an, in der trockenen Hitze nach Luft schnappend, und lauschte nach eventuellen Gefahren von da unten.
Auf dem Talboden kam er in eine Ebene, die so dicht bewaldet war, dass er deren Ausmaße nicht ermessen konnte. Doch hier änderte sich die Art des Waldes, und er konnte wieder reiten. Anstelle des auf dem Hügel verbreiteten Eichengestrüpps wuchsen hier hohe gerade Bäume mit großen gesunden Stämmen aus dem feuchten fetten Boden. Nur hier und da waren kleine, leicht zu umgehende Dickichte, und bald erreichte er ausgedehnte parkartige Lichtungen, auf denen das Vieh geweidet hatte in den Tagen, bevor der Krieg es vertrieb.
Sein Fortkommen beschleunigte sich, als er in das Tal kam, und nach einer halben Stunde hielt er an einem alten Weidezaun am Rande einer Lichtung. Er mochte ihre Offenheit nicht, aber sein Weg führte über sie hinweg zu einer Baumreihe, welche das Ufer eines Flusses säumte. Es war nur eine Viertelmeile bis dahin, aber die Vorstellung, sich über diese freie Fläche wagen zu müssen, widerstrebte ihm. Ein Gewehr, dutzende, gar tausende konnten dort entlang der Böschung des Flusses lauern.
Zweimal versuchte er loszureiten, und zweimal zögerte er. Er war entsetzt über seine Verlassenheit. Der Pulsschlag des Krieges, der von Westen her hörbar war, vermittelte ihm die Vorstellung der Kameradschaft tausender Kämpfer, aber hier war nichts als Stille, und er selbst, und möglicherweise todbringende Kugeln aus unzähligen Hinterhalten.
Und doch es war seine Aufgabe, das zu finden, vor dessen Auffinden er sich fürchtete. Er musste vorwärts gehen, immer vorwärts, bis er irgendwo, irgendwann einen anderen Mann oder andere Männer von der gegnerischen Seite entdecken würde, die spähten, wie er spähte, um dann Bericht zu erstatten, wie er Bericht erstatten musste über das Erspähte.
Er änderte sein Vorhaben, wich ein Stück seitlich in den Wald aus und schaute sich wieder um. Nun erblickte er in der Mitte der Lichtung ein kleines Farmhaus. Es waren keine Zeichen von Leben zu erkennen. Kein Rauch kräuselte aus dem Kamin, kein Geflügel gackerte oder bevölkerte den Hofraum. Die Küchentür stand offen, und er starrte so lange und intensiv in die schwarze Öffnung, dass er fast glaubte, es müsse jeden Moment eine Farmersfrau herauskommen.
Er leckte die Pollen und den Staub von seinen trockenen Lippen, fasste sich ein Herz und ritt in den grellen Sonnenschein hinaus. Nichts rührte sich. Er ritt weiter hinter das Haus und näherte sich der Hecke aus Bäumen und Büschen am Ufer des Flusses. Ein Gedanke peinigte ihn weiterhin. Es war der Gedanke, dass eine Kugel mit hoher Geschwindigkeit in seinen Körper einschlagen könnte. Das gab ihm das Gefühl großer Verwundbarkeit und Wehrlosigkeit, sodass er sich tiefer in den Sattel duckte.
An der Ecke des Waldes band er sein Pferd an und ging dann zu Fuß hundert Yards weiter, bis er ans Ufer des Flusses kam. Er war zwanzig Fuß breit, ohne wahrnehmbare Strömung, kühl und einladend, und der Mann spürte seinen großen Durst. Aber er wartete in der Deckung des Gebüschs ab und beobachtete das gegenüberliegende Gebüsch. Um das Warten erträglich zu machen, setzte er sich hin mit seinem Karabiner auf den Knien.
Die Minuten verstrichen, und allmählich fiel die Spannung von ihm ab. Schließlich entschied er, dass hier keine Gefahr vorhanden sei; aber gerade als er beschloss, die Deckung des Gebüschs zu verlassen und zum Wasser hinabzugehen, fiel ihm eine Bewegung im Gebüsch am anderen Ufer ins Auge.
Es konnte ein Vogel sein. Aber er wartete ab. Erneut war da eine Bewegung im Gebüsch, und dann, so plötzlich, dass es ihn beinahe aufschreien ließ, teilte sich das Gebüsch und ein Gesicht starrte heraus. Es war ein Gesicht, das von einem mehrere Wochen alten kupferroten Bart bedeckt war. Die Augen waren blau und standen weit auseinander mit Lachfalten in den Winkeln, die sichtbar waren trotz der Müdigkeit und des misstrauischen Ausdrucks im ganzen Gesicht.
All das konnte er mit mikroskopischer Genauigkeit erkennen, denn die Entfernung betrug nicht mehr als zwanzig Fuß. Und all das sah er in so kurzer Zeit, wie er benötigte, um seinen Karabiner an die Schulter zu heben. Er schaute entlang des Visiers und wusste, dass er auf einen Mann blickte, der schon so gut wie tot war. Es war unmöglich, ihn auf diese kurze Reichweite zu verfehlen.
Aber er schoss nicht. Er ließ den Karabiner langsam sinken und beobachtete. Eine Hand, die eine Wasserflasche umklammerte, wurde sichtbar, und der Rotbart beugte sich hinab, um die Flasche zu füllen. Er konnte das Gluckern des Wassers hören. Dann verschwanden Arm und Flasche und der rote Bart hinter dem sich schließenden Gebüsch. Er wartete eine lange Zeit, bis er mit ungestilltem Durst zu seinem Pferd zurückkroch, langsam über die sonnenbeschienene Lichtung ritt und in der Deckung des dahinter liegenden Waldes verschwand.
Ein anderer Tag, heiß und atemraubend. Ein verlassenes Farmhaus, groß, mit vielen Nebengebäuden und einem Obstgarten auf einer Lichtung stehend. Aus dem Wald, auf seinem Fuchsschimmel, das Gewehr quer über dem Sattel, ritt der junge Mann mit den wachsamen schwarzen Augen. Er atmete erleichtert auf, als er das Haus erreichte. Es war ersichtlich, dass früher im Jahr an diesem Ort ein Kampf stattgefunden hatte. Lederstreifen und leere Patronenhülsen, mit Grünspan überzogen, lagen auf dem Boden, der, während er nass war, von Pferdehufen zertrampelt worden war. Dicht beim Küchengarten waren Gräber, beschriftet und nummeriert. An der Eiche bei der Küchentür hingen in zerlumpter, wettergebleichter Kleidung die Körper zweier Männer. Die Gesichtszüge, vertrocknet und verunstaltet, ließen keine Ähnlichkeit mehr mit menschlichen Gesichtern erkennen. Der Fuchsschimmel schnaubte bei ihrem Anblick, und der Reiter zügelte und beruhigte ihn und band ihn in einiger Entfernung an.
Als er das Haus betrat, fand er die Einrichtung in Trümmern. Er trat auf leere Patronenhülsen, als er von Raum zu Raum ging, um von den Fenstern aus die Umgebung zu erkunden. Überall hatten Männer gelagert und geschlafen, und auf dem Fußboden eines Raumes bemerkte er Flecken, wo unzweifelhaft die Verwundeten gelegen hatten.
Wieder draußen führte er das Pferd hinter die Scheune und drang in den Obstgarten ein. Ein Dutzend Bäume hing voll reifer Äpfel. Er füllte seine Taschen und aß, während er pflückte. Dann kam ihm ein Gedanke, und er schaute zur Sonne, die Zeit abschätzend, die er zur Rückkehr in sein Lager benötigte. Er zog sein Hemd aus, verknotete die Ärmel und machte einen Beutel daraus, den er anschließend mit Äpfeln füllte.
Als er dabei war, sein Pferd zu beladen, spitzte das Tier plötzlich die Ohren. Der Mann lauschte ebenfalls und hörte das näherkommende Geräusch von Hufen auf weicher Erde. Er schlich hinter die Ecke der Scheune und hielt Ausschau. Ein Dutzend berittener Männer tauchte in unregelmäßiger Reihe von der anderen Seite der Lichtung her auf und war nur noch etwa hundert Yards entfernt. Sie ritten zum Haus. Einige stiegen ab, während andere im Sattel blieben, was auf einen kurzen Aufenthalt hindeutete. Sie schienen eine Beratung abzuhalten, denn er konnte sie aufgeregt in der verhassten Sprache der ausländischen Eindringlinge sprechen hören. Die Zeit verging, aber sie schienen unfähig zu sein, eine Entscheidung zu fällen. Er steckte den Karabiner in den Halfter, saß auf und wartete ungeduldig, während er sein Hemd voller Äpfel auf dem Sattelknauf balancierte.
Er hörte Schritte näherkommen und schlug seine Sporen so wild in die Flanken des Fuchsschimmels, dass das Tier ein überraschtes Stöhnen von sich gab, als es vorwärtssprang. An der Ecke der Scheune sah er den Eindringling, einen Jungen von höchstens neunzehn oder zwanzig in voller Uniform, der zurücksprang, um nicht niedergeritten zu werden. Im selben Augenblick schlug der Fuchsschimmel einen Bogen, und sein Reiter erhaschte einen Blick auf die beim Haus versammelten Männer. Einige sprangen von ihren Pferden, und er konnte sehen, wie sie ihre Gewehre anlegten. Er passierte die Küchentür mit den im Schatten pendelnden mumifizierten Leichen und zwang seine Gegner, um die Vorderseite des Hauses herum zu rennen. Ein Gewehr feuerte, dann ein zweites, aber er ritt schnell, vorwärtsgebeugt und tief im Sattel, mit einer Hand das Hemd voller Äpfel haltend und mit der anderen das Pferd lenkend.
Die oberste Stange des Zaunes war vier Fuß hoch, aber er kannte seinen Fuchsschimmel und sprang in vollem Galopp darüber, begleitet von vielen verstreuten Schüssen. Achthundert Yards geradeaus begann der Wald, und der Fuchsschimmel überbrückte die Distanz mit mächtigen Sprüngen. Jetzt schossen alle auf ihn. Sie feuerten ihre Gewehre so schnell ab, dass er keine einzelnen Schüsse mehr hörte. Eine Kugel durchlöcherte seinen Hut, aber er bemerkte es nicht, während er es durchaus wahrnahm, als eine andere Kugel die Äpfel auf dem Sattel durchschlug. Er zuckte zusammen und machte sich noch flacher, als eine dritte, zu tief gefeuerte Kugel zwischen den Hufen seines Pferdes einen Stein traf und als Querschläger durch die Luft davonflog, schwirrend und sirrend wie ein fremdartiges Insekt.
Die Schüsse ließen nach, als die Magazine leer wurden, bis sie plötzlich ganz aufhörten. Der junge Mann jubelte. Er war unverletzt durch diese unglaubliche Schießerei gekommen. Er blickte zurück. Ja, sie hatten ihre Magazine leergeschossen. Er konnte sehen, wie einige wieder luden. Andere rannten hinter das Haus zu ihren Pferden. Als er schaute, kamen zwei, bereits im Sattel, scharf um die Ecke reitend in Sicht. Und im selben Augenblick sah er den Mann mit dem unverwechselbaren kupferroten Bart sich auf den Boden hinknien, sein Gewehr anlegen und sich ruhig Zeit nehmen für den Distanzschuss.
Der junge Mann schlug seine Sporen in das Pferd, duckte sich tief und schlug Haken bei seinem Ritt, um dem Rotbart das Zielen zu erschweren. Und immer noch fiel der Schuss nicht. Mit jedem Sprung des Pferdes rückte der Wald näher. Es waren nur noch zweihundert Yards, und der Schuss ließ immer noch auf sich warten.
Und dann hörte er ihn. Es war das Letzte, was er hören sollte, denn er war tot, noch bevor er bei seinem langen Sturz aus dem Sattel krachend auf dem Boden aufschlug. Und die, die ihn vom Haus aus beobachteten, sahen ihn stürzen, sahen seinen Körper auf den Boden aufprallen und sahen die Explosion von rotbackigen Äpfeln, die über ihn rollten. Sie lachten bei diesem unerwarteten Sturzregen von Äpfeln und klatschten mit ihren Händen Beifall für den gelungenen Schuss des Mannes mit dem kupferroten Bart.
Ich erzähle die Wahrheit. Es geschah in der Stierkampf-Arena in Quito. Ich saß in der Loge mit John Harned, und mit Maria Valenzuela, und mit Luis Cervallos. Ich sah, wie es geschah. Ich sah es vom Anfang bis zum Ende.
Ich reiste auf dem Dampfer Ecuadore von Panama nach Guayaquil. Maria Valenzuela ist meine Cousine. Ich kenne sie schon immer. Sie ist sehr schön. Ich bin Spanier – ein Ecuadorianer, gewiss, aber ein Nachkomme von Pedro Patino, der einer von Pizzaros Hauptmännern war. Es waren tapfere Männer. Es waren Helden. – Führte Pizzaro nicht dreihundertfünfzig spanische Ritter und viertausend Indianer auf der Suche nach Schätzen weit in die Berge der Anden? Und starben bei dieser vergeblichen Suche nicht alle viertausend Indianer und dreihundert der tapferen Ritter? Aber Pedro Patino starb nicht. Er überlebte, um die Familie der Patinos zu gründen. Ich bin Ecuadorianer, gewiss, aber ich bin spanischstämmig. Ich bin Manuel de Jesus Patino. Ich besitze viele Haziendas, und zehntausend Indianer sind meine Sklaven, obwohl das Gesetz sagt, sie seien freie Menschen, welche aus freiem Willen arbeiten. Das Gesetz ist eine komische Sache. Wir Ecuadorianer lachen darüber. Es ist unser Gesetz. Wir machen es für uns. Ich bin Manuel de Jesus Patino. Merken Sie sich diesen Namen. Er wird eines Tages in die Geschichte eingehen. Es gibt Revolutionen in Ecuador. Wir nennen sie Wahlen. Ist das nicht ein guter Witz – oder was Ihr ›ein Wortspiel‹ nennt?
John Harned war Amerikaner. Ich traf ihn erstmals im Tivoli-Hotel in Panama. Er hatte viel Geld, wie ich hörte. Er wollte nach Lima reisen, aber er traf im Tivoli-Hotel Maria Valenzuela. Sie ist meine Cousine, und sie ist schön. Es ist wahr, sie ist die schönste Frau in Ecuador. Aber sie wäre auch die schönste Frau in jedem anderen Land – in Paris, in Madrid, in New York, in Wien. Überall schauen alle Männer auf sie, und John Harned schaute sie lange an in Panama. Er liebte sie, das weiß ich sicher. Sie war Ecuadorianerin, gewiss, – aber sie war aus allen Ländern, sie gehörte der ganzen Welt. Sie sprach viele Sprachen. Sie sang – oh! wie eine Künstlerin. Ihr Lächeln – wundervoll, göttlich. Ihre Augen – ach! habe ich nicht Männer in sie blicken sehen? Sie waren, was Ihr ›erstaunlich‹ nennt. Sie waren Verheißungen des Paradieses. Männer ertränkten sich in ihren Augen.
Maria Valenzuela war reich – reicher als ich, der ich in Ecuador als sehr reich gelte. Aber John Harned interessierte sich nicht für ihr Geld. Er besaß ein Herz – ein seltsames Herz. Er war ein Narr. Er ging nicht nach Lima. Er verließ den Dampfer in Guayaquil und folgte ihr nach Quito. Sie war auf der Rückreise aus Europa und anderswo. Ich kann nicht begreifen, was sie an ihm fand, aber sie mochte ihn. Das weiß ich genau, denn sonst wäre er ihr nicht nach Quito gefolgt. Sie forderte ihn auf, mitzukommen. Ich erinnere mich gut an die Angelegenheit. Sie sagte:
»Kommen Sie nach Quito, und ich werde Ihnen den Stierkampf zeigen – den tapferen, intelligenten, prachtvollen!«
Aber er erwiderte: »Ich gehe nach Lima, nicht Quito. So ist meine Passage auf dem Dampfer gebucht.«
»Sie reisen doch zum Vergnügen – oder nicht?«, sagte Maria Valenzuela, und sie blickte ihn an, wie nur Maria Valenzuela blicken konnte, mit warmen Augen voll Versprechen. Und er kam. Nein, er kam nicht wegen des Stierkampfes. Er kam wegen dem, was er in ihren Augen gesehen hatte. Frauen wie Maria Valenzuela werden nur einmal in hundert Jahren geboren. Sie gehören zu keinem Land und zu keiner Zeit. Sie sind, was Ihr ›universal‹ nennt. Sie sind Göttinnen. Männer knien zu ihren Füßen nieder. Sie spielen mit Männern und rinnen diesen durch die Finger wie Sand. Kleopatra war eine solche Frau, sagt man, und auch Kirke. Die verwandelte Männer in Schweine. Ha! Ha! Es ist doch wahr – oder?
Es geschah alles, weil Maria Valenzuela sagte: »Ihr englischen Menschen seid – wie soll ich sagen – brutal – oder? Ihr liebt Boxkämpfe. Zwei Männer schlagen sich dabei mit ihren Fäusten, bis ihre Augen zugeschwollen und ihre Nasen gebrochen sind. Scheußlich! Abscheulich! Und die anderen Männer schauen zu und schreien laut und sind begeistert. Es ist barbarisch – oder etwa nicht?«
»Aber sie sind Männer«, erwiderte John Harned, »und sie boxen, weil sie es wollen. Niemand zwingt sie zum Kämpfen. Sie tun es, weil sie es mehr wollen, als alles andere in der Welt.«
In Maria Valenzuelas Lächeln war Verachtung, als sie sagte: »Sie töten einander oft – ist es nicht so? Ich habe es in den Zeitungen gelesen.«
»Aber der Stier«, wandte John Harned ein. »Der Stier wird während des Stierkampfes immer getötet, und der Stier kommt nicht freiwillig in den Ring. Es ist nicht fair gegenüber dem Stier. Er wird zum Kämpfen gezwungen. Dagegen der Mann beim Boxkampf – nein, er wird nicht gezwungen.«
»Aber er ist der Brutalere«, sagte Maria Valenzuela. »Er ist grausam. Er ist primitiv. Er ist ein Tier. Er schlägt mit seinen Pranken zu wie ein Bär in einem Käfig, und er ist bösartig. Dagegen der Stierkampf – ach! Sie haben noch keinen Stierkampf gesehen – oder? Der Torero ist intelligent. Er muss Kunstfertigkeit besitzen. Er ist modern. Er ist romantisch. Er ist nur ein Mensch, schwach und verletzlich, und er stellt sich dem wilden Stier zum Kampf. Und er tötet mit einem Schwert, einem schmalen Degen, mit einem Stich – so – direkt in das Herz des mächtigen Tieres. Es ist erhebend. Es lässt das Herz schlagen, wenn man es sieht – der schmächtige Mann, das mächtige Tier, die weite sandbestreute Arena, die Tausenden, die atemlos zuschauen: Das mächtige Tier setzt zum Angriff an, er fürchtet sich nicht, und in seiner Hand blitzt der schmale Degen wie Silber in der Sonne; näher und näher stürmt das gewaltige Tier mit seinen scharfen Hörnern, aber der Mann bewegt sich nicht, und dann – so – blitzt das Schwert auf, der Stoß ist vollbracht, ins Herz, bis zum Griff, der Stier fällt in den Sand und ist tot, und der Mann ist unverletzt. Das ist tapfer. Das ist bewundernswert. Ach! – ich könnte den Torero lieben. Dagegen der Mann beim Boxkampf – er ist der Brutale, er ist das menschliche Tier, der wilde Primitive, der Besessene, der zahllose Schläge in sein dumpfes Gesicht erhält und sich darüber auch noch freut. Kommen Sie nach Quito, und ich werde Ihnen den tapferen Sport, den Sport der Männer, den Torero und den Stier zeigen.«
John Harned ging jedoch nicht des Stierkampfs wegen nach Quito. Er ging wegen Maria Valenzuela. Er war ein großer Mann mit größerer Schulterbreite als wir Ecuadorianer, höher gewachsen und schwerer im Körperbau. Er war sogar größer als die meisten Männer seiner eigenen Herkunft. Seine Augen waren blau, obwohl ich sie auch grau gesehen habe und manchmal kalt wie Stahl. Seine Gesichtszüge waren ebenfalls ausladend – nicht feingliedrig wie unsere, und seine Kinnlade sah sehr stark aus. Sein Gesicht war glattrasiert wie das eines Priesters. – Warum sollte ein Mann Scham über das Barthaar in seinem Gesicht empfinden? Hat es Gott nicht dahin gepflanzt? Ja, ich glaube an Gott. Ich bin kein Heide, wie viele von euch Englischen. Er machte mich zu einem Ecuadorianer mit zehntausend Sklaven. Und wenn ich sterbe, werde ich zu Gott gehen. Ja, die Priester haben recht.
Aber zurück zu John Harned. Er war ein ruhiger Mann. Er sprach immer mit leiser Stimme, und er bewegte beim Sprechen nie seine Hände. Mancher wird geglaubt haben, sein Herz sei ein Stück Eis; doch er hatte eine Spur von Wärme in seinem Herzen, denn er folgte Maria Valenzuela nach Quito. Aber obwohl er immer leise sprach, ohne seine Hände zu bewegen, war er ein Tier, wie Ihr sehen sollt – der tierische Primitive, der dumme, grausame Wilde der Vorzeit, der sich in rohe Felle kleidete und zusammen mit den Bären und Wölfen in Höhlen hauste.
Luis Cervallos ist mein Freund, der beste der Ecuadorianer. Er besitzt drei Kakaoplantagen in Naranjito und Chobo. Bei Milagro ist seine große Zuckerplantage. Er besitzt große Haziendas bei Ambato und Latacunga, und an der Küste drunten ist er an Ölquellen beteiligt. Außerdem hat er viel Geld investiert in Anpflanzungen von Gummibäumen entlang des Guayas. Er ist auf der Höhe der Zeit wie ein Yankee und wie ein Yankee immer geschäftig. Er hat viel Geld, aber es steckt in vielen Unternehmungen, und er benötigt ständig mehr Geld für neue Unternehmungen und für die alten. Er ist überall gewesen und hat alles gesehen. Als er noch ein sehr junger Mann war, ging er auf die Yankee-Militärakademie, die Ihr West Point nennt. Dort geschah irgendwas. Er war gezwungen zu gehen. Er mag die Amerikaner nicht. Aber er liebte Maria Valenzuela, die aus seinem eigenen Land war. Zudem benötigte er ihr Geld für seine Unternehmungen und für seine Goldmine in Ost-Ecuador, wo die Indios leben, die sich bemalen. Ich war sein Freund. Es war mein Wunsch, dass er Maria Valenzuela heiraten sollte. Außerdem hatte ich viel von meinem Geld in seine Unternehmungen investiert, am meisten in seine Goldmine, die sehr vielversprechend war, aber zunächst viel Geld benötigte, bevor sie ihren Reichtum zeigen würde. Wenn Luis Cervallos nun Maria Valenzuela heiratete, würde ich sehr bald mehr Geld bekommen.
Aber John Harned folgte Maria Valenzuela nach Quito, und es war sehr schnell ersichtlich für uns – für Luis Cervallos und mich –, dass sie John Harned mit großer Herzlichkeit behandelte. Es wird gesagt, dass eine Frau ihren Willen durchsetzt, aber in diesem Fall traf das nicht zu, denn Maria Valenzuela bekam ihren Willen nicht – jedenfalls nicht bei John Harned.
Vielleicht wäre alles geschehen, wie es geschah, auch wenn Luis Cervallos und ich an diesem Tag nicht in der Loge in der Stierkampf-Arena von Quito gewesen wären. Aber eins weiß ich: Wir saßen in der Loge an diesem Tag. Und ich werde Ihnen erzählen, was geschah:
Wir saßen zu viert in der Loge, als Gäste von Luis Cervallos. Ich saß direkt neben der Präsidentenloge. Auf der anderen Seite war die Loge von General José Eliceo Salazar. Bei ihm waren Joaquin Endara und Uricisino Castillo, beide Generäle, und Colonel Jacinto Fierro sowie Captain Baltazar de Echeverria. Nur Luis Cervallos hatte die Stellung und den Einfluss, die Loge neben dem Präsidenten zu bekommen. Ich weiß mit Sicherheit, dass der Präsident selbst gegenüber der Organisation den Wunsch geäußert hatte, dass Luis Cervallos diese Loge bekommen sollte.
Die Kapelle hatte gerade die Nationalhymne von Ecuador gespielt. Der Einmarsch der Toreros war beendet, und der Präsident gab das Zeichen für den Beginn. Die Fanfaren ertönten, und der Stier stürmte herein – Sie kennen das: erregt, verwirrt durch die Wurfpfeile, die wie Feuer in seinen Schultern brannten, wie wahnsinnig auf der Suche nach einem Gegner, den er vernichten könnte. Die Toreros verbargen sich hinter ihren Schutzwänden und warteten. Plötzlich erschienen die Capeadores, fünf von ihnen, von allen Seiten mit ihren weiten flatternden Capas. Der Stier erstarrte angesichts dieses Überangebots von Gegnern und war nicht fähig zu entscheiden, wen er zuerst attackieren sollte. Da trat einer der Capeadores allein vor, um sich dem Stier zu stellen. Der Stier war sehr wütend. Mit seinen Vorderhufen scharrte er im Sand der Arena, bis der Staub alles um ihn herum einhüllte. Dann griff er mit gesenktem Haupt den einzelnen Capeador frontal an.
Der erste Angriff des ersten Stiers ist immer besonders interessant. Nach einer gewissen Zeit ermüdet man natürlich ein wenig; ein Umstand, der die Leidenschaftlichkeit etwas abstumpfen lässt. Aber diese erste Attacke des ersten Stiers! John Harned sah das zum ersten Mal, und er konnte sich der Erregung nicht entziehen – dem Anblick des Mannes, bewaffnet nur mit einem Stück Tuch, und des Stiers, der durch den Sand auf ihn zuraste mit seinen weit ausladenden spitzen Hörnern.
»Schauen Sie!«, schrie Maria Valenzuela. »Ist es nicht großartig?«
John Harned nickte, sah sie aber nicht an. Seine Augen funkelten und waren ganz auf die Arena fixiert. Der Capeador machte einen Schritt seitwärts, täuschte den Stier mit einer wirbelnden Bewegung der Capa und ließ ihm diese über die Schultern gleiten.
»Was sagen Sie dazu?«, fragte Maria Valenzuela. »Ist das nicht – wie sagt Ihr – eine sportliche Herausforderung – oder?«
»Das ist es sicherlich«, erwiderte John Harned. »Es ist sehr clever.«
Sie klatschte in die Hände vor Vergnügen. Es waren kleine Hände. Das Publikum applaudierte. Der Stier wendete und kam zurück. Wieder täuschte ihn der Capeador und ließ die Capa über seine Schultern gleiten, und wieder applaudierte das Publikum. Drei Mal wiederholte sich das. Der Capeador war exzellent. Dann trat er zurück, und ein anderer Capeador spielte mit dem Stier. Danach platzierten sie die Banderillas in den Schultern des Stiers, auf beiden Seiten des Nackens, je zwei auf einmal. Anschließend trat Ordonez vor, der Chefmatador, mit dem langen Degen und dem scharlachroten Tuch. Die Fanfaren kündigten den Tod an. Ordonez ist nicht so gut wie Matestina, aber er ist gut, und mit einem einzigen Stoß senkte er den Degen mitten ins Herz, und dem Stier knickten die Beine weg, und er legte sich hin und starb. Es war ein gelungener Stoß, sauber und sicher; es gab eine Menge Beifall, und eine Menge Zuschauer warfen ihre Hüte in die Arena. Maria Valenzuela klatschte in die Hände wie die anderen, und John Harned, dessen kaltes Herz von dem Ereignis nicht berührt war, schaute mit Neugier auf sie.
»Sie mögen das?«, fragte er.
»Immer«, sagte sie, weiter in die Hände klatschend.
»Schon als kleines Mädchen«, sagte Luis Cervallos. »Ich erinnere mich an ihren ersten Kampf. Sie war vier Jahre alt. Sie saß bei ihrer Mutter, und wie jetzt klatschte sie in die Hände. Sie ist eine echte spanische Frau.«
»Nun haben Sie es gesehen«, sagte Maria Valenzuela zu John Harned, als die Maultiere vor den toten Stier gespannt wurden, um ihn aus der Arena zu ziehen. »Sie haben den Stierkampf gesehen, und Sie mögen ihn – oder? Was denken Sie?«
»Ich denke, der Stier hatte keine Chance«, sagte er. »Der Stier war dem Tod geweiht von Anfang an. Es gab keinen Zweifel bezüglich des Endes. Jedermann wusste schon bevor der Stier die Arena betrat, dass er sterben würde. Damit etwas eine sportliche Veranstaltung ist, muss das Ende aber offen sein. Es war ein unwissender Stier, der noch nie gegen einen Mann gekämpft hatte, gegen fünf erfahrene Männer, die bereits gegen viele Stiere gekämpft haben. Es wäre möglicherweise ein wenig fairer, wenn es nur ein Mann gegen einen Stier wäre.«
»Oder ein Mann gegen fünf Stiere«, sagte Maria Valenzuela, und wir lachten alle, Luis Cervallos am lautesten.
»Ja«, sagte John Harned, »gegen fünf Stiere, und der Mann dürfte wie die Stiere noch nie im Stierkampfring gewesen sein – ein Mann wie Sie, Señor Cervallos.«
»Wir Spanier mögen jedenfalls den Stierkampf«, erwiderte Luis Cervallos, und ich schwöre darauf, dass ihm der Teufel dabei ins Ohr flüsterte, das zu tun, was ich berichten werde.
»Dann muss es eine Sache des anerzogenen Geschmacks sein«, meinte John Harned. »Wir töten tausende Stiere jeden Tag in Chicago, aber niemand würde Eintritt dafür bezahlen, um es anzuschauen.«
»Das ist bloße Schlachterei«, sagte ich, »aber dies – dies ist eine Kunst. Es ist gefühlvoll. Es ist durchdacht. Es ist außergewöhnlich.«
»Nicht immer«, wandte Luis Cervallos ein. »Ich habe unfähige Matadore gesehen, und ich sage Euch, das war nicht schön.« Er schüttelte sich, und sein Gesicht verriet Ekel, sodass ich wusste, dass der Teufel ihm ins Ohr flüsterte und er anfing, eine Rolle zu spielen. »Señor Harned mag recht haben«, sagte er. »Es mag dem Stier gegenüber nicht fair sein. Denn es wird nicht allen von uns bekannt sein, dass dem Stier zuvor vierundzwanzig Stunden lang kein Wasser gegeben wird, er aber unmittelbar vor dem Kampf sich volltrinken darf?«
»Er kommt also voll mit Wasser in die Arena?«, fragte John Harned sofort, und ich sah, dass seine Augen sehr grau, sehr scharf und sehr kalt wurden.
»Das ist notwendig für diesen Sport«, sagte Luis Cervallos. »Würden Sie den Stier so stark wollen, dass er die Toreros töten könnte?«
»Ich würde wollen, dass er im Kampf eine Chance hätte«, erwiderte John Harned, die Arena beobachtend, in die jetzt der zweite Stier kam. Es war kein guter Stier. Er war ängstlich. Er rannte im Kreis herum auf der Suche nach einem Fluchtweg. Die Capeadores gingen vorwärts und schwenkten ihre Capas, aber er weigerte sich, sie anzugreifen.
»Das ist ein blöder Stier«, sagte Maria Valenzuela.
»Ich bitte um Verzeihung«, erwiderte John Harned, »aber mir kommt er eher klug vor. Er weiß, dass er nicht gegen Menschen kämpfen sollte. Schauen Sie! Er riecht den Tod da in der Arena.«
Tatsächlich. Der Stier verharrte, wo der vorherige gestorben war, beschnupperte den nassen Sand und schnaubte. Dann rannte er wieder um das Rund mit erhobenem Haupt und blickte in die Gesichter der Tausenden, die ihn ausbuhten, Orangenschalen nach ihm warfen und ihn verhöhnten. Aber der Geruch des Blutes brachte ihn zu einem Entschluss, und er griff einen Capeador ohne jede Vorwarnung an, sodass der Mann nur knapp entkam. Er ließ seine Capa fallen und hechtete hinter eine Schutzwand. Der Stier prallte krachend gegen die Wand. Und John Harned sagte mit ruhiger Stimme, als würde er mit sich selbst reden: »Ich werde einen Tausender an das Krankenhaus von Quito spenden, wenn ein Stier heute einen Mann tötet.«
»Sie mögen Stiere?«, fragte Maria Valenzuela mit einem Lächeln.
»Ich mag diese Männer weniger«, erwiderte John Harned. »Ein Torero ist kein tapferer Mann. Er kann mit Sicherheit kein tapferer Mann sein. Schauen Sie, dem Stier hängt schon die Zunge raus. Er ist müde, und es hat noch gar nicht begonnen.«
»Das macht das Wasser«, erläuterte Luis Cervallos.
»Ja, es ist das Wasser«, sagte John Harned. »Würde es nicht noch sicherer sein, ihm die Füße zu fesseln, bevor er in die Arena kommt?«
Maria Valenzuela wurde ärgerlich bei diesem Hohn in John Harneds Worten. Aber Luis Cervallos lächelte, was nur ich sehen konnte, und da erkannte ich plötzlich das Spiel, das er spielte. Er und ich waren dabei die Banderilleros. Der mächtige amerikanische Stier war mit uns in dieser Loge. Wir hatten die Banderillas in ihn zu stechen, bis er wütend würde, und dann würde es keine Hochzeit mehr mit Maria geben. Es war eine sportliche Herausforderung. Der Geist des Stierkämpfers steckte uns in Fleisch und Blut.
Der Stier war nun wütend und aufgebracht. Die Capeadores hatten leichtes Spiel mit ihm. Er war sehr schnell, und manchmal wendete er so scharf, dass seine Hinterläufe einknickten und er mit dem Hinterteil durch den Sand pflügte. Aber er griff immer nur die geschwungenen Capas an und verletzte niemand.
»Er hat keine Chance«, sagte John Harned. »Er kämpft gegen den Wind.«
»Er denkt, die Capa sei der Feind«, erklärte Maria Valenzuela. »Schauen Sie, wie geschickt die Capeadores ihn täuschen.«
»Es liegt in seiner Natur, sich täuschen zu lassen«, erwiderte John Harned. »Deshalb ist er dazu verdammt, gegen den Wind zu kämpfen. Die Toreros wissen das, das Publikum weiß das, Sie wissen es, ich weiß es – wir alle wissen von Anfang an, dass er gegen den Wind kämpfen wird. Nur er weiß es nicht. Das ist seine unwissende Tiernatur. Er hat keine Chance.«
»Es ist ganz simpel«, sagte Luis Cervallos. »Der Stier schließt seine Augen, wenn er angreift. Deshalb –«
» – tritt der Mann beiseite und der Stier rennt vorbei«, unterbrach ihn John Harned.
»Genau«, bestätigte Luis Cervallos, »das ist alles. Der Stier schließt die Augen, und der Mann weiß das.«
»Kühe dagegen schließen ihre Augen nicht«, sagte John Harned. »Ich kenne eine Kuh bei mir daheim, das ist eine Jersey und gibt Milch, die würde die ganze Mannschaft über den Haufen rennen.«
»Aber Toreros kämpfen nicht mit Kühen«, warf ich ein.
»Sie fürchten sich davor, mit Kühen zu kämpfen«, erwiderte John Harned.
»Ja«, sagte Luis Cervallos, »sie fürchten sich vor Kämpfen mit Kühen. Es wäre kein Sport, Toreros zu töten.«
»Es wäre durchaus sportlich«, antwortete John Harned, »wenn ab und zu ein Torero getötet würde. Wenn ich ein alter Mann werde und vielleicht ein Krüppel und meinen Lebensunterhalt verdienen muss, aber unfähig zu harter Arbeit bin, werde ich Stierkämpfer. Es ist ein leichter Beruf für ältere Männer und Pensionäre.«
»Aber sehen Sie doch!«, rief Maria Valenzuela, als der Stier tapfer angriff und der Capeador sich mit einem Schwung seiner Capa ihm entzog. »Es erfordert Geschicklichkeit, das Tier so abzuwehren.«
»Sicherlich«, sagte John Harned. »Aber glauben Sie mir, es benötigt tausend Mal mehr Geschicklichkeit, die zahlreichen und schnellen Schläge eines Boxers abzuwehren, der seine Augen offen hält und mit Überlegung schlägt. Außerdem möchte dieser Stier nicht kämpfen. Sehen Sie, er rennt weg.«
Es war kein geeigneter Stier, denn erneut rannte er um das Rund und versuchte einen Ausgang zu finden.
»Aber diese Stiere sind manchmal die gefährlichsten«, erklärte Luis Cervallos. »Man kann nie wissen, was sie als nächstes tun. Sie sind schlau. Sie sind halbe Kühe. Die Stierkämpfer mögen sie überhaupt nicht. – Sehen Sie! Er hat gewendet!«
Noch einmal, verwirrt und wütend gemacht durch die Wände des Arenarings, die ihn nicht entkommen ließen, attackierte der Stier mutig seine Feinde.
»Seine Zunge hängt heraus«, sagte John Harned. »Zuerst füllen sie ihn mit Wasser. Dann ermüden sie ihn, ein Mann nach dem anderen, verführen ihn, bis zur Erschöpfung gegen den Wind zu kämpfen. Während die einen ihn ermüden, ruhen die anderen aus. Aber den Stier lassen sie nie ausruhen. Danach, wenn er völlig erschöpft und nicht mehr schnell ist, sticht der Matador den Degen in ihn.«
Es war nun die Zeit für die Banderilleros gekommen. Drei Mal versuchte einer der Kämpfer die Spieße zu platzieren, und drei Mal missglückte es ihm. Er verletzte den Stier nur und machte ihn rasend. Die Banderillas müssen, wie Sie wissen, in den Schultern stecken bleiben, zwei gleichzeitig, auf jeder Seite des Nackens eine und nahe beisammen. Wenn nur eine Banderilla platziert wird, ist es ein Fehler. Die Menge buhte und rief nach Ordonez. Und Ordonez machte es tadellos. Vier Mal trat er vor den Stier, und vier Mal steckte er im ersten Versuch die Banderillas, sodass acht von ihnen, gut platziert, gleichzeitig aus dem Nacken des Stiers ragten. Die Menge war außer sich, und ein Regen von Hüten und Goldstücken flog in den Sand der Arena.
Und eben in diesem Augenblick griff der Stier unerwartet einen der Capeadores an. Der Mann glitt aus und verlor seine Beherrschung. Der Stier erwischte ihn – glücklicherweise nur zwischen seinen weit ausladenden Hörnern. Und während das Publikum atemlos und gebannt zuschaute, stand John Harned auf und schrie vor Genugtuung. Allein, mitten in unserem Schweigen, schrie John Harned. Und er schrie für den Stier. Wie Sie selbst daraus ermessen können, wollte John Harned den Tod des Capeadors. Das war sein brutales Herz. Dieses schlechte Benehmen machte jene ärgerlich, die in der Loge von General Salazar saßen, und sie beschimpften John Harned. Und Urcisino Castillo sagte ihm ins Gesicht, dass er ein Hund von einem Gringo sei, und andere Dinge. Allerdings in Spanisch, sodass John Harned es nicht verstand. Er stand und schrie vielleicht zehn Sekunden lang, bis der Stier durch die anderen Capeadores abgelenkt wurde und der Mann unverletzt aufsprang.
»Der Stier hatte keine Chance«, bemerkte John Harned missmutig, als er sich wieder setzte. »Der Mann war unverletzt. Sie lockten den Stier trotzdem von ihm weg.«
Dann wandte er sich Maria Valenzuela zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung. Ich war erregt.«
Sie lächelte und schlug ihm mit ihrem Fächer tadelnd gegen den Arm.
»Es ist ihr erster Stierkampf«, sagte sie. »Sobald sie mehr davon gesehen haben, werden Sie nicht mehr für den Tod des Mannes schreien. Ihr Amerikaner seid, wie man sieht, brutaler als wir. Das kommt von den Boxkämpfen. Wir kommen nur, um den Tod des Stiers zu sehen.«
»Aber ich wünschte lediglich, der Stier bekäme eine Chance«, erwiderte er. »Zweifellos werde ich mit der Zeit aufhören, mich aufzuregen über Männer, welche die Vorteile für den Stier zunichtemachen.«