Marathonduell - Sabina Naber - E-Book

Marathonduell E-Book

Sabina Naber

4,5

Beschreibung

Marathon in Wien. Eine Tote, ein Täter, ein perfektes Alibi und ein Chefinspektor namens Katz, der sich wie ein Pitbull in die Idee verbeißt, den scheinbar unschuldigen Verlobten des Opfers doch noch der Tat zu überführen. Zeitverschwendung in den Augen von Gruppeninspektorin Daniela Mayer, denn das Alibi ist wasserdicht. Katz lässt sich nicht beirren und entdeckt, dass schon mehrere Frauen im Umfeld des Verdächtigen abrupt gestorben sind …

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Sabina Naber

Marathonduell

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Gewidmet…

… all jenen, die jemals in einem Stück 42,195 Kilometer gelaufen sind

… und den p.t. kritischen LeserInnen; ich weiß, dass das Badeschiff im April noch nicht geöffnet hat. Doch die Location ist zu schön…

Während des Marathons, ein Zinshaus in der Böcklinstraße, 12:14 Uhr:

Der Hammer drückte sich durch das Kamel-Leder der Umhängetasche. Ihr Riemen schnitt ihm in die Schulter, so schwer war das Werkzeug. Er kreiste die Schulter und fuhr mit dem Daumen die Konturen des Hammers ab: acht Zentimeter Länge, vier Zentimeter Breite, acht Zentimeter, vier. Die Wanduhr im Design der Dreißigerjahre, beige Kordel und kupferner Rahmen, schlug Viertel nach Mittag.

Noch fünfundzwanzig Minuten.

In weniger als einer halben Stunde war die Sache erledigt. Perfekt erledigt. Niemand würde ihm etwas beweisen können. Denn die Gier musste man zu unterdrücken wissen. Und eine blöde Kuh weniger auf der Welt. Kein wirklicher Verlust. Zu wenig Intelligenz und zu wenig–sein Blick glitt über den Körper der Frau vor ihm–Klasse. Keine besondere Figur, kein Geschmack bei der Kleidung. Schon allein der Kimono aus roter Viskose mit aufgestickten Papageien war ein Grund, sie zu beseitigen. Es war gut, dass er sich nun nicht mehr länger dieser menschlichen Unvollkommenheit aussetzen musste. Die Vorbereitung hatte definitiv zu lang gedauert, beinahe hätte er das Projekt ad acta gelegt. Weil sie einfach blöd war, diese Karikatur einer Frau. Behäbig. Und aufgrund der mangelnden Intelligenz misstrauisch wie ein Tier, dessen Instinkte und Gefühle nicht vom Verstand abgelenkt werden und deshalb umso präsenter sind. Diese ihre Intuition, dass er es mit ihr nicht ernst meinen könnte, zu verwirren und schließlich auszuschalten, hatte ihn Zeit gekostet. Aber ihm wenigstens auch ein bisschen Spaß gebracht.

Sie griff sich mit der Linken über die rechte Schulter auf den Nacken und kratzte ein Wimmerl auf. Blut quoll hervor. Ihm wurde sofort speiübel, wie jedes Mal, wenn sie an ihrem Körper herumfummelte. Aber dieses Wimmerl würde das letzte sein, das sie mit ihren glatt polierten, langen Nägeln aufriss. Und es würde auch das letzte Mal sein, dass sie sich gleich umdrehte, ihn anlächelte, gedankenlos den Rest des Wimmerls mit der Zunge unter dem Nagel des Mittelfingers herausholte und schluckte. Ihm dann mit dieser abgeleckten Hand übers Gesicht fuhr. Das letzte Mal. Eine Zigarette wäre jetzt gut.

Sie studierte noch immer den Vertrag. Konzentriert und mit dem Rücken zu ihm. Zwei größere Schritte entfernt. Im Grunde sollte er sofort zuschlagen. Damit sie gar nicht die Chance bekam, ihn mit ihrer eingespeichelten Hand zu betatschen. Aber sie hatte noch nicht unterschrieben.

Dreiundzwanzig Minuten.

Er dehnte den Nacken, schob den Gurt der Tasche auf eine andere Stelle der Schulter. Er glitt ab, weil das Hemd auf der Laufdress rutschte. Und heiß war das Gewand über dem Gewand. Aber er musste nicht mehr lang leiden, dieUhr würde nicht einmal mehr die halbe Stunde schlagen.

»Ich finde es schon schade, dass du aufgegeben hast.« Sie sah ihn von seitlich unten an. »Ich hab dir so was Schönes zur Belohnung gekocht.«

Er schob die Mundwinkel nach oben. »Dann ist es unser Festessen anlässlich des Geschäftes. Außerdem habe ich nicht aufgegeben, ich hab dir gesagt, dass ich nur einen Halbmarathon laufe.«

»Das hast du nicht.«

»Doch, mein Mäuselchen.«

Ihr Finger kratzte jetzt an einer anderen Stelle. »Und warum wolltest du dann erst um zweiUhr da sein?«

Er schickte ihr einen Luftkuss. »Weil ich mich für dich erholen wollte. Aber jetzt ist der Termin dazwischengekommen. Finanzleute darf man nicht mit einer Absage düpieren. Na, was soll’s. Dann erholen wir uns dann eben gemeinsam.« Neuerlicher Luftkuss.

Sie lächelte und wandte sich wieder dem Papier zu. Diese Frau war wirklich selten dämlich. Wenn er gesagt hätte, dass ihn ein Bankier mit dem Privatjet in die Schweiz fliegen würde, sie hätte es ihm auch geglaubt. So viel Einfältigkeit gehörte ausgemerzt. Und zwar jetzt. Endlich war es so weit.

Leider war die Finalisierung der Geschichte eine dreckige Arbeit. Stinkend nach Metall durch den Hammer und das Blut. Aber es war die sicherste Methode. Schießen: zu laut plus das Beschaffungs- und Entsorgungsproblem der Waffe. Stechen: Gefahr einer Rangelei. Würgen: zu viel Körperkontakt. Gift: gefährlich aufgrund von Unabwägbarkeiten. Erschlagen war schlichtweg am effektivsten. Wenn er gut traf, wovon er ausging, eine stille, sichere Angelegenheit. Und das mit einem Hammer, der in jedem Baumarkt zu kaufen war.

Sie seufzte. »Trotzdem verstehe ich noch immer nicht, warum das ausgerechnet jetzt und so stante pede sein muss. Am Sonntag.«

Sie war und blieb eine Nervensäge mit irritierend guter Intuition. »Ich hab dir doch gesagt, es ist ein Freund von einem Freund, der mir entgegenkommt.« Das reichte nicht. »Und er muss überraschend morgen für zwei Wochen nach Liechtenstein. Irgendwelche geheimen Verhandlungen. Ja, und damit mein Antrag niemand anderem als ihm zugeteilt wird…«

Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Hintern, mit diesem dürren, ausgelaufenen Arsch, an den Sekretär aus Nussholz. Das einzige edle Möbelstück in ihrer Wohnung. Die Hand hatte sie noch immer in ihrem Nacken. »Ja, aber warum brauchst du die Bestätigung für die Schenkung wirklich? Ich hab dir doch schon das Geld gegeben, es ist auf deinem Konto. Ich meine…« Sie kicherte und zog die Schultern zu den Ohren. Die Kleinmädchennummer, die sie für eine neckische Art hielt, ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn begehrte. Was sie nicht tat, die Schlampe. Sie kaufte sich mit dem Sex nur die Chance auf Zweisamkeit. »Wieso muss das jetzt sein? Wenn wir in zwei Monaten heiraten, gehört dir sowieso alles. Also warum brauchst du dann zusätzlich noch einen Kredit? Das habe ich bis jetzt nicht verstanden. Ist es nicht glaubwürdiger für die anderen Investoren, wenn du mit deinem eigenen Moos dastehst?«

Das ist mir scheißegal, weil ich nämlich gar keinen Banktermin habe, du blöde Kuh. Moos. Sprachlich passte sie zum nahe gelegenen Wurstelprater.

Er ging zu ihr und zwang seine Hand, ihr über die Wange zu streicheln. Er küsste ganz leicht ihre Stirn, ihre mittlerweile geschlossenen Lider, ihre Nasenspitze. Atmete ganz flach, um so wenig wie möglich von ihrem Parfum in die Nase zu bekommen. Es roch, wie sie bald riechen würde: nach Verwesung. Süßlich und abgestanden. Ihre Muskeln entspannten sich noch nicht. Also fuhr er mit der Zunge den Rand ihrer Lippen ab. Sie waren das Beste an ihr. So sanft und weich wie die Nüstern einer Kuh. Passend eben. Er müsste sie abschneiden und in Formaldehyd einlegen. Ab und zu herausnehmen und ablecken. Nein, sie würden nicht mehr so geschmeidig sein. Und außerdem war Formaldehyd giftig.

Er steckte ihr die Zunge in den Mund und ließ sie kreisen, stupste ihre Wangen an, wie sie es mochte. Holte die Zunge wieder heraus und knabberte an ihrem linken Ohr. Sie war mit Abstand jene Frau, die am meisten auf diese Behandlung reagierte. Und sie erschauerte auch brav.

Er nahm ihren Hinterkopf in seine Hand und legte seine Nase auf ihre Wange. »Ich hab dir doch erklärt, dass sich das Geschäft aufgrund der Zinsen mit dem Kredit besser ausgeht. Wir verdienen auch noch dabei.« Er streckte sie von sich weg. »Oder glaubst du mir nicht? Traust du mir etwa nicht zu, dass ich…?«

Sie legte ihre Speichelhand auf seinen Mund. Er stoppte das Atmen, verbot sich, überhaupt noch etwas zu empfinden. Wenn er jetzt kotzte, dann war alles umsonst gewesen. DieUhr hinter ihrem blondgefärbten Dutt stand auf fünf vor halb.

»Aber mein Hamster, das tu ich doch nicht.« Sie kicherte erneut. »Mach nur, wie du glaubst. Ist mir einfach zu hoch, der Quatsch.«

Und das sagte eine Frau, deren Wiege mit Geld gepolstert gewesen war. Solche Leute waren üblicherweise zerfressen vor Misstrauen, das wusste er seit Kindheitstagen, hatte sich doch sein Vater ständig mit dieser Mischpoche abgegeben. Der Mann unterdrückte ein Seufzen. Er hätte sich die Mühe mit dem fingierten Vertrag und der Erpressung ersparen, das dunkle Geheimnis seines Lieblingsbankers für eine andere Notsituation aufheben können.

Sie wandte sich ihm erneut zu. »Aber warum muss in der Bestätigung das mit dem Ableben drinstehen? Abgesehen davon, dass ja auch das Testament auf dich geht, was doch Sicherheit genug ist, werd ich in den nächsten acht Wochen kaum an Krebs sterben.« Kichern.

Das nicht, aber an einem Hammer!Er stupste mit dem Finger auf ihre Nasenspitze, der ultimative Kleinmädchenliebesbeweis. »Nein, mein Mäuselchen, und hoffentlich auch nicht bei einem Unfall oder sonst wie. Ich werde dich hüten wie meinen Augapfel. Viel zu lang habe ich darauf warten müssen, dass ich eine Frau wie dich finde.« Und jetzt noch ein Kuss auf die Nasenspitze. »Aber Bankmenschen wollen sichergehen. Und wenn du das nicht unterschreibst, kann dein Bruder das Geld theoretisch von mir zurückverlangen. Weil als Verlobter bin ich rechtlich sozusagen gar nichts. Und du kennst ihn, er würde auch das Testament anfechten.« Er seufzte. »Ich wünschte, wir wären schon Mann und Frau. Und das nicht wegen des Geldes. Oh, du…«

Er lächelte und wiederholte das Ritual Stirn, Lider, Nasenspitze, Lippen. Sie drückte ihn fest an sich und wandte sich wieder dem Sekretär zu.

Er beugte sich zu ihrem Ohr. »Und vergiss nicht, das Datum wäre der…«

Sie griff nach hinten auf seinen Schwanz. Bald schon nie wieder. »Ich weiß, ich weiß. Sonst hält der Bankmensch dich für einen Lügner.« Sie kniff ihm in die Eier. »Auch wenn du für diese Voreiligkeit bestraft werden müsstest.«

Sie drehte sich zu ihm und grinste ihn an.

Jetzt unterschreib endlich, du blöde, verfickte Kuh!

»Na, dann musst du mich halt später bestrafen.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie zwinkerte zurück. Griff nach dem Kugelschreiber.

ZwölfUhr sechsundzwanzig. Noch vierzehn Minuten.

Er wich einen Schritt zurück. Hob die Klappe der Tasche an, ließ sie wieder sinken. Er musste sie von dem Papier weglocken. Das durfte nicht kontaminiert werden.

Sie setzte das Datum ein.

Er sah sich um. Irgendwas musste er finden, was seine Aufmerksamkeit fesseln könnte. Die Fotos auf der Anrichte hatten sie schon hundert Mal gemeinsam angeschaut. Die Bücher am Regal rechts daneben kannte er auswendig. Er sah zum Fenster. Auf den ovalen Tisch aus Glas, der wie ein Spiegel glänzte. Der Strauß blauer Iris, den er ihr geschenkt hatte, stand in einer weißen Vase darauf. Eine Blume war abgeknickt.

Es raschelte. Er fixierte sie. Das Papier lag jetzt schräg, sie konnte den Arm aufstützen. Sie unterschrieb.

Er schob sich zum Tisch. »So also gehst du mit meinen Geschenken um.«

Sie schnellte herum, starrte ihn an, starrte die Blumen an. »Aber mein Hamster…«

»Du bist wirklich das Allerletzte. Du weißt ganz genau, was sie dir sagen sollen. Mit meinem ganzen Sein stehe ich zu dir. Und du lässt sie, also mich, verkommen.«

Ihre Augen waren nun weit aufgerissen. Sie streckte ihm die Handflächen entgegen. Er wandte den Blick ab.

Sie stakste einen Schritt zu ihm. »Aber mein Hamster…«

»Ich hasse es, wenn du mich so nennst.« Er schob die Hand unter die Klappe, ließ sie hinaufkriechen zur Öffnung der Tasche und ins Innere hineingleiten.

»Aber wieso…?«

»Nichts wieso.« Seine Hand umfasste den Stiel des Hammers. Seine Schultern sackten ab, er atmete tief durch.

Sie stakste noch einen Schritt zu ihm. Jetzt war sie zugleich entfernt und nah genug, sie musste sich nur noch umdrehen. Er verengte seine Augen. »Glotz mich nicht so an. Wie ein Schaf. Mäh. Ein gefühlloses Schaf. Mäh.«

Sie verzog das Gesicht, es schien nur mehr aus ihrer Nase und breiten, borstigen Augenbrauen zu bestehen.

»Das alles«, er deutete mit dem Kopf zum Sekretär, »das ist alles nicht echt. Weil es dir doch nichts bedeutet. Geld ist dir egal.« Sie folgte seinem Blick. »Und ich bin es dir auch. Sonst hättest du die Blumen nicht so behandelt. Ich will dich…« Er machte ein Geräusch, als müsste er kotzen. Es fiel ihm nicht schwer. »Ich will dein verlogenes Gesicht einfach nicht mehr sehen. Kapierst du?«

Sie duckte sich weg.

Er riss den Hammer aus der Tasche und schlug auf die Stelle knapp oberhalb ihres Dutts. Es knackte. Dann passierte nichts. Er holte erneut aus…verharrte, denn sie ging ganz langsam in die Knie. Dabei vollzog sie eine halbe Drehung. Ihre Hand streifte die Vase mit den Iris, sie fiel zu Boden. Ihr Fuß verhakte sich im Bein des Tisches, er schrammte über den Boden. Doch sie schrie nicht. Was auch egal wäre. Die Nachbarin war weg, und die Fenster waren geschlossen. In ihren Augen, die ihn fixierten, stand bloß Erstaunen. Er grinste. Da wurden ihre Augen silberglänzende Messerspitzen. Er grinste noch breiter. Jetzt hatte sie realisiert, dass ihre Intuition die richtige gewesen war. Er holte nochmals aus und donnerte den Hammer gegen ihre linke Schläfe. Im nächsten Moment sprühte Blut durch die Luft. Es traf ihn, aber nicht das unterschriebene Papier.

Während des Marathons, am Rand der Strecke, Abschnitt Obere Donaustraße, Ecke Friedensgasse, 12:56 Uhr:

Gruppeninspektorin Daniela Mayer trug einen Dreier in das letzte leere Quadrat ein und schlug das Große Sudoku Buch zu.

Sie hatte läppische vier Tage für 50 Rätsel gebraucht. Je mehr sie löste, desto langweiliger wurde die Sache. Vielleicht sollte sie wieder mit Billardspielen anfangen. Das war allerdings kein Hobby für den Dienst…wobei, es gab ja Tischbillard und sogar eines für die Tasche, nur mit Rahmen und … ein altbackenes Kreuzworträtsel wäre eventuell die Alternative, auch wenn dann sämtliche Kollegen ihre Geschichten mit memorierenden Großmüttern auspacken würden. Diese Ignoranten. Manchen von ihnen würde ein bissel Hirnakrobatik nicht schaden. Aber es konnte ihr egal sein, es ging sie nichts an.

Mayer warf das Sudoku-Buch auf den Beifahrersitz, sein mittlerer Teil rutschte heraus. Sie nahm das gebrochene Buch, stieg aus dem Streifenwagen, ging zum Mistkübel, der an einem Verkehrsschild montiert war, und warf die Buchreste hinein. Ihre Hand zuckte kurz zum Schlitz zurück. Scheiß auf die Mülltrennung. Der Restmüll musste ja auch mit irgendwas befeuert werden.

Sie wandte sich zur Absperrung am Ende der Gasse, an der wie ein bulimiekranker Wurm einzelne Läufer in bunten T-Shirts vorbeitrabten. Mittlerweile waren es nicht mehr Profiläufer, nicht mehr Amateurläufer, sondern Dickbäuche mit schwabbelnden Waden und Schenkeln, die sich aus unerfindlichen Gründen Kilometer um Kilometer durch die Stadt quälten, um einmal in ihrem Leben einen Marathon zu schaffen. Um Teil des Mythos zu werden, wie es in den letzten zwei Wochen aus allen Radios und Fernsehern getönt hatte. Mythos. Was war so großartig daran, einen Mann nachzuäffen, der vor zweitausend Jahren am Ende seiner Lauferei tot zusammengesunken war und tatsächlich gar nicht existiert hatte?

Mayer lehnte sich ans Auto. Noch eine gute Stunde, dann war ihr Dienst vorbei. Wieder einmal hatte sich Wien als Nabel der Welt fühlen dürfen. Immer dieses Geltungsbedürfnis, diese Jagd nach Sensationen. Alles nur eine unnötige Kraftanstrengung. Aber bitte, jeder, wie er wollte, wenn man nur sie damit in Ruhe ließ.

Sie musste grinsen. Jetzt stolperte einer vorbei, dessen Beine anscheinend so eine extreme X-Form hatten, dass sie bei jedem Schritt nach links und rechts ausschlugen. Sie waren so lächerlich, so wahnsinnig uncool, diese Hobbyläufer, die immer zwei Monate vor dem Marathon sonntags den Park von Schönbrunn oder den Prater heimsuchten und die Alleen verstopften, um sich zu beweisen, dass sie nicht eingerostet, kein Fall für ein monatelanges Wiederaufbauprogramm waren. Dennoch waren sie es. Ihre Gesichter wiesen jenen vergeistigten, starren Ausdruck auf, den Profiläufer vielleicht, aber auch nur vielleicht, kurz vor dem Zieleinlauf hatten. Bislang war ein gutes Dutzend der Trampeltiere mit schweren Kreislaufproblemen zusammengebrochen, wahrscheinlich wurden es bis zum Ende des Marathonsdrei Dutzend. Da! Na, bitte, jetzt torkelte schon wieder einer auf die Absperrung zu. Kurz davor ging er einfach in die Knie. Eine Frau, die zwei Schritte vor ihm zurückgewichen war, näherte sich ihm und schüttete ihm nach kurzem Zögern den Inhalt ihrer Wasserflasche über den Kopf.

Mayers Kollege, Gruppeninspektor Johann Oppitz, drehte sich um und suchte ihren Blick. Dann wedelte er mit der flachen Hand vor seinem Gesicht. Mayer spiegelte seine Geste. Sie lachten einander an. Dann deutete Mayer auf einen Zaun mit einer Steinmauer als Basis, bei der nächsten Kreuzung gelegen. Oppitz nickte und wandte sich wieder dem Geschehen auf der abgesperrten Straße zu. Mayer schlenderte zur Mauer und setzte sich auf den schmalen Vorsprung. Sie streckte die Beine aus, lehnte den Kopf an das Gitter des Zauns und ließ sich von der Sonne bescheinen.

Nie im Leben würde sie bei so einer Massenveranstaltung mitmachen. Dieses Gewusel am Start. Die ersten drei, vier Kilometer konnten angeblich alle nur gehen. Aber auch danach kämpften die meisten um jeden freien Meter. Nein, da waren ihr Bergtouren schon wesentlich lieber. Kein Mensch weit und breit. Nur der Fels und sie.

Mayer sah die Friedensgasse entlang. Die Sonne malte scharfkantige Schatten. Es war ein Witz mit dieser Klimaerwärmung. Die Veranstalter hatten vor ein paar Jahren den Marathon extra von Mai auf April verschoben, dennoch war es jetzt schon so heiß wie an einem Hochsommertag. Das kam ja noch dazu–bei Hitze zu rennen. Die Leute waren wirklich zu blöd. Nein, es war ein Massenwahn. Auch die Hälfte des Reviers schwitzte die 42 Kilometer mit. Die Kollegen waren ihr dankbar, dass sie gemeinsam mit Oppitz immer eine der wenigen war, die freiwillig Dienst schoben, auch wenn sie das als Ermittlerin in Zivil nicht müsste. Die Burschen wussten nicht, dass sie das sogar jedes Mal gern tat, weil ihr das einen ansonsten noch langweiligeren Sonntag ersparte. Und so sollte es auch bleiben.

Nichts bewegte sich in der Gasse, nicht einmal ein Blatt. Sie wirkte wie eine Kulisse. Alle waren beim Volksfest, das entlang der Laufstrecke aufgebaut war. Während sich Papi oder Ehemann oder Schwester oder Freundin das Beuschl vor Überanstrengung heraushusteten, schütteten sich die lieben Freunde und Angehörigen literweise Bier in den Bauch und schickten ein paar Hendln oder Koteletts zum Schwimmen hinterher. Seelische Unterstützung…also sie würde sich gefrotzelt fühlen. Auch die ständige, saulaute Musik war zum aus der Haut fahren. Gleich um die Ecke brüllten die Stones schon zum mindestens vierzigsten Mal Satisfaction. Nichts gegen die Stones, die waren schon eine leiwande Partie, auch wenn die Opas auf der Bühne irgendwie urpeinlich waren–in Prag hatte Ron Wood Keith Richards mit dem Hals der Gitarre aufhelfen müssen, wirklich so megapeinlich, Gott sei Dank hatten sie trotzdem geil angegast, aber vierzig Mal hintereinander waren sie nicht zum Aushalten.

Na, bitte, dort vorn, wo die Gasse auf den Prater stieß, war schon wieder einer der Helden, die es nicht geschafft hatten. Der wollte offensichtlich nur schnell heim unter die kalte Dusche, so wie der mit dem Rad raste, noch komplett im Lauf-Outfit. Kiwigrün. Die Farbe schlug einem ja die Augen ein. Wenigstens hatte er aufgegeben, das zeugte von einem Mindestmaß an Vernunft. Oder es war ein Staffelläufer. Noch lächerlicher. In manchen Firmen gehörte es bereits unabdingbar zum Herausbilden des Teamgeistes, Staffeln ins Rennen zu schicken.

Es war so langweilig. Und kein Sudoku mehr. Mayers Blick fiel auf den Zeitungsständer, der auf der Stange des Vorrangschildes angebracht war. Sie stemmte sich in die Senkrechte und marschierte zu dem Ständer. Ihre Hand fuhr in die leere Brusttasche. Die Geldbörse lag im Wagen. Und der stand fünfzig Meter entfernt. Egal, die Zeitungsmacher rechneten den Schwund ohnehin in ihre Kalkulation ein. Sie griff zur Plastiktasche…Oppitz würde ihr wieder einen Vortrag halten. Er hasste es, wenn sie die Zeitung fladerte. Sonst glauben die Leute noch, dass auch Polizisten Diebe sind. Sie würde das Geld später einwerfen. Mayer sah sich um, niemand da. Sie entnahm dem Plastikbeutel eine Zeitung und machte sich auf den Weg zum Wagen.

Zwei Meter entfernt hörte sie ihn. Den Funkspruch. Mist, irgendeine Rangelei unter den besoffenen Zuschauern. Oder ein frustrierter Abbrecher, der im Hitzekoller seine Frau erschlagen hatte. Da machte man ohnehin schon Freiwilligendienst, und dann hatte man nicht einmal seine Ruhe.

Als sie sich auf einen Meter genähert hatte, hörte sie es deutlich: »Julius 1, Julius 2 von der Funkstelle.« Sie waren gemeint. Sie drückte den Knopf. »Julius 1.«

»Fahren sie einsatzmäßig Wien 2, Böcklinstraße 80. KV. Täter eventuell anwesend.«

Es war ihr Rayon. Als Streifenpolizistin, die sie ja für heute war. Als Ermittlerin ging sie der zweite Bezirk nichts an. Hätte sie die Langweile nur nie verdammt. Na ja, sie würde einfach nachschauen, was los war, und dann gegebenenfalls an die Kollegen übergeben. Wo blieb nur Julius 2? Wahrscheinlich hörten die Kollegen den Funkspruch vor lauter Lärm nicht.

»Julius 1 verstanden.«

Mayer steckte Zeige- und Mittelfinger in den Mund und pfiff Oppitz. Der runzelte die Stirn, das konnte sie sogar über die fünfzehn Meter Entfernung sehen. Was keine Kunst war, denn Oppitz glich einem Shar-pei. Der Kopf inklusive Kinn voller kurzer, borstiger sandfarbener Haare, das Gesicht ebenso eine Berg-und-Tal-Landschaft wie bei diesem Faltenhund. Sogar die Statur ihres Kollegen glich jener eines Shar-peis: kernig, wie man so schön sagte.

Mayer winkte ihm und setzte sich in den Wagen. Es war mittlerweile unerträglich heiß. Sie fächelte sich mit der Zeitung Luft zu.

Oppitz ließ sich neben sie fallen, das Auto schaukelte. »Was liegt an?«

»KV. Da hat jemand eine Schreierei gehört. Gleich da um die Ecke in der Böcklin. Wir sollen einmal die Lage checken.«

Oppitz seufzte. »Na, super. Was meinst…einer von den Zuhältern, oder wieder einmal ein Junkie?«

Mayer startete. »Durchgeknallter Jogger würde sich anbieten. Aber wart! Eifersüchtiger Moslem war schon lang nicht mehr. Statistisch müsste es einer sein.«

Oppitz wiegte den Kopf und schnallte sich an. Dann holte er einen Fünf-Euro-Schein heraus und hielt ihn ihr hin. »Junkie.«

Mayer kramte ihre Geldbörse heraus und legte fünf Euro dazu. »Moslem.«

Oppitz steckte das Geld ein. Mayer fuhr los. Ihr Kollege nahm die Zeitung in die Hand und warf ihr einen Seitenblick zu. Mayer bremste, fuhr retour. Oppitz stieg aus und steckte in die Kassa des Zeitungsständers einen Euro.

Am Vorabend des Marathons, im 16. Wiener Gemeindebezirk, 21:01 Uhr:

10439. Diese Ziffern sind auf ein rechteckiges Papier gedruckt. Rundherum leuchten die Logos von Firmen. Das Blatt liegt auf einem dunkelbraunen Küchentisch, dessen Furnier an den Ecken abgeblättert ist. Ein Mann mit grauen Augen, bekleidet mit schwarzen Boxershorts und einem schwarzen Baumwoll-T-Shirt, starrt darauf. Er blinzelt und setzt sich auf einen der vier Sessel, die rund um den Tisch gruppiert sind. Neben dem Papier liegt ein Geschirrtuch, auf dem ein Paar Laufschuhe in Grau und Silber mit zitronengelben Verzierungen steht. Daneben befindet sich eine Plakette aus Plastik, in die zwei Löcher gestanzt sind. Er nimmt die Plakette in die eine und den rechten Laufschuh in die andere Hand, stellt ihn auf seinen Knien ab. Er führt die Schuhbänder zum Loch in der Plakette, trifft nicht hinein. Haut mit der Faust auf den Tisch, presst Lippen und Augen zusammen.

Er atmet durch und versucht es erneut, trifft wieder nicht ins Loch. Er stellt den Schuh zu seinem Pendant auf dem Geschirrtuch, dabei fällt sein Blick auf die linke Hand. Sie zittert. Er schlägt mit der Rechten auf den Handrücken. Jetzt bleibt sein Blick am Papier hängen. Er streicht sich mit der ganzen Hand über seine rasierte Glatze.

Er nickt langsam. »Dein Geburtsdatum.« Er lächelt. »Das ist ein gutes Omen.« Seine Augen wandern zu einem Bild an der Wand, das von einigen anderen umgeben ist. Aber er fixiert nur das eine Foto. Es ist fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß und schwarz gerahmt. Ein junger Mann in Jeans und Lederjacke mit Elvis-Tolle und eine junge Frau mit Petticoat lächeln in die Kamera. »Ich weiß, ich weiß, Omen gibt es nicht.«

Der Mann schließt die Augen, presst die Lider zusammen. Dann atmet er tief durch. Als er die Augen wieder öffnet, rinnt ihm eine Träne über die Wange. Er wischt sie mit einer groben Bewegung des Zeigefingers weg. Erneut führt er die Schuhbänder zum Chip, jetzt trifft er durch das Loch. Mit geübten Bewegungen fädelt er die Schuhbänder in die restlichen Löcher des Laufschuhs. Dann dehnt er die Bindung, zieht die Zunge heraus, korrigiert eine Schleife, stellt den Schuh wieder neben den anderen auf das Geschirrtuch, exakt parallel ausgerichtet.

Der Glatzkopf geht zum Fenster, das offen steht. Auf der Kante des Fensterrahmens hängt auf einem Kleiderbügel ein T-Shirt aus atmungsaktivem, dunkelblauem Material. Er nimmt es vom Haken, darunter befindet sich auf der Querstange des Kleiderbügels eine graue Laufhose, ebenfalls aus atmungsaktivem Material. Er nimmt auch die Hose in die Hand, riecht an beiden Kleidungsstücken, rümpft die Nase, nickt. Mit großer Sorgfalt legt er T-Shirt und Hose über die Lehne des Sessels, der links von jenem steht, auf dem er gesessen ist, als er den Chip montiert hat. Er streicht die Kleidungsstücke glatt…und verzieht das Gesicht. Er krümmt sich. Mit der Hand vor dem Mund läuft er aus der Küche in den Gang und stößt mit dem Oberschenkel an die Ecke eines Kartons, der aus einem Turm von Kisten herausragt. Er schreit auf und drischt mit der freien Hand auf den Karton. Jetzt knicken seine Beine ein. Im letzten Moment kann er sich am nächstgelegenen Kistenturm abstützen. Der ganze Gang ist voller Türme von aufgestapelten Kartons. Er torkelt zwischen ihnen Richtung einer Tür, auf der ein zwanzig mal dreißig Zentimeter großes Bild hängt. Hinter Glas ist ein Stoff aufgespannt, auf dem mit rotem Kreuzstich das Wort Thron aufgestickt ist. Um das Wort ranken sich Blumen in Rot, Gelb, Grün, Lila und Blau. Der Glatzkopf dreht sich in die Toilette hinein, beugt sich über die Schüssel. Es reckt ihn, aber es kommt nichts heraus. Er lässt sich auf den Hintern fallen und lehnt sich an die Wand. Sein Atem geht schwer.

»Ich werde es schaffen. Es ist ja nicht das erste Mal.« Er starrt auf die gegenüberliegende Wand. Dort hängt hinter Glas ein Plakat mit einer weiß-roten Grafik und dem Schriftzug Messner Mountain Museum.

Der Glatzkopf zieht Luft durch die Nase, lacht auf. »Ich hab dir das mit dem Hochschwab in einem Tag nie geglaubt. Weißt du das eigentlich? Nie. Wer so viel Zirbenen sauft, der rennt den Hochschwab nie in einem Tag.« Er kneift die Augen zusammen. »Und dein dämliches Matterhorn-Gschichtl.« Er beugt sich vor, fletscht die Zähne. »Weißt du, du warst nicht Messner. Du warst nie so gut wie er. Nie. Im Schnapssaufen vielleicht, aber nicht beim Bergsteigen. Du hast ja schon zum Kreuzwirt hinüber einen Herzinfarkt kriegt.« Er keucht.

Der Mann schließt die Augen und massiert sich mit allen zehn Fingern die Stirn und die Glatze. Mit einer schnellen Bewegung steht er auf. Er verlässt die Toilette und tastet sich Richtung Küche zurück.

Direkt unter der Deckenlampe, die nicht leuchtet, verharrt er in der Bewegung. Er wendet den Kopf halb zur Lampe, stiert dann wieder auf den Boden. »Matterhorn.« Er lacht auf. »Dir ist ja schon auf einem Sessel schwindlig geworden.«

Er schaut zur Deckenlampe, geht schnell den Gang zurück zur Eingangstür. Links daneben ist an der Wand mit Dreiecksstützen ein dunkelbraunes Brett montiert. Darauf stehen ein schwarzes Funktelefon, eine silberfarbene Halterung mit Brieföffner, ein durchsichtiger Behälter für Notizzettel, ein Igel aus Ton, in dessen Rücken Kugelschreiber und Bleistifte stecken. Hinter dem Telefon stapeln sich Dutzende Doppelpackungen Glühbirnen à sechzig Watt. Mit zwei Fingern und langsamer Bewegung nimmt er vom oberen Ende des Stapels eine Packung, es wirkt, als würde er Mikado spielen. Der Stapel wackelt leicht. Mit dem Handrücken drückt er ihn wieder gegen die Wand. Er holt aus der Packung eine Birne heraus, legt den Rest auf den Kartonstapel daneben und geht zur Küche zurück. Er packt den Sessel, der vor den Laufschuhen am Tisch steht, und platziert ihn unter der Deckenlampe, stellt den rechten Fuß darauf, verharrt.

»Ich weiß, ich weiß«, er senkt den Kopf und hebt abwehrend die Handflächen, »nie ohne Trittleiter. Aber du«, er blickt Richtung Küche, »brauchst mir gar nichts mehr sagen. Du nicht mehr.« Er gibt dem Stuhl einen Tritt. Der donnert gegen den Kartonturm mit der herausragenden Kiste. Der Turm wankt und fällt um. Die Kisten springen auf. Es purzeln Bücher heraus. Alle haben entweder das Wort Berg oder das Wort Waffen im Titel. Wanderrouten, Erlebnisberichte, kleinkalibrige Waffen, Bildbände, seltene Waffen.

Der Glatzkopf tritt in den Haufen und schleudert so die Bücher weit weg von sich. Eines zerreißt. Der Mann atmet schwer, schleppt sich in die Küche zurück. Behutsam stellt er die Laufschuhe mitsamt dem Geschirrtuch auf den Boden. Mit konzentrierten Bewegungen nimmt er den anderen Sessel und stellt ihn an die Stelle desjenigen, auf dem er zuvor gesessen ist. Er lässt sich darauf nieder, öffnet die Schublade, die unter der Tischplatte angebracht ist, holt einen Block und einen Kugelschreiber heraus. Mit dem Stift fährt er eine Liste entlang und hakt Begriffe ab–Training, allen Bescheid geben, Weg studieren, Timing durchrechnen, Gewand bereitlegen, isotonisches Getränk, Rucksack mit Wechselgewand, alte Jacke. Das letzte Wort unterstreicht er doppelt. Dann legt er das dunkelblaue T-Shirt aus atmungsaktivem Material auf den Tisch und befestigt mit kleinen Sicherheitsnadeln auf Vorder- und Rückseite das Papier, das sich als zwei idente Stücke herausstellt.

Der Glatzkopf blickt auf und schaut nun wieder genau auf das Foto mit dem jungen Pärchen. Sein Blick fixiert die Münder, die lachen. Den Glatzkopf würgt es. Er schließt die Augen und atmet einige Male tief durch, wobei er immer den Atem kurz anhält.

Schließlich schaut er das Bild nochmals an. »Ich kann alles. Das habe ich dir schon oft genug bewiesen. Und dieses Mal wird es mir wieder gelingen. Ich bin schon über die Grenze gegangen. Mehrmals. Du niemals. Deine vier Mal waren gelogen. Wie du das auch immer mit den Erinnerungsmedaillen angestellt hast.« Seine Nasenflügel blähen sich. Er betrachtet das Bild daneben. Zu sehen ist ein Mädchen mit Zahnspange, ungefähr zwölf Jahre alt und bekleidet mit Schlaghosen. »Und du wirst bezahlen, du Miststück.«

Er lässt sich vornüberfallen. Die Arme baumeln. Er atmet ein, hält die Luft an, atmet aus. Einatmen, Halten, Ausatmen. »Ich bin perfekt vorbereitet. Perfekt vorbereitet. Und Alex wird da sein. Wie immer.«

Er springt auf, rennt ins Vorzimmer, kramt aus einem grauen Kaschmir-Kurzmantel einen grünen MP3-Player. Er entwirrt mit hektischen Bewegungen die Kabel, steckt sich die Kopfhörer in die Ohren, drückt die Suchtaste, endlich die Starttaste. Das Display zeigt Rolling Stones–Out of Control.Der Glatzkopf schließt die Augen und gibt sich dem Rhythmus hin. Seine Bewegungen sind fließend. Er wirkt wie ein Mann, der es gewohnt ist, zu tanzen.

Während des Marathons, Zinshaus in der Böcklinstraße, 13:04 Uhr:

Die Nachbarin lehnte mit verschränkten Armen am Rahmen der halb offenen Flügeltür. Er war ozeanblau gestrichen, die Tür hellblau. Die Frau selbst trug eine türkisfarbene kurze Hose, leicht ausgestellt wie bei Schwimmerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts, und ein eng anliegendes weißes Ripp-Shirt. Darunter zeichnete sich die Ahnung von Brüsten ab. Sie passten zum schlanken Körper der Frau, der bereits jetzt im April gebräunt war, dessen Haut keine Delle und kein Wimmerl aufwies. Der hohe Vorraum hinter der höchstens einen Meter fünfundsechzig großen Schönheit schimmerte in Eisblau, die Hängelampe in Weiß war eingeschaltet und leuchtete wie eine Corona über ihr. Sie brachte die Spitzen des kurzgelockten schwarzen Haares zum Flirren.

Oppitz schnaufte hörbar.

Daniela Mayer senkte mit angehaltenem Atem den Kopf und tat so, als wäre sie gegen eine Unebenheit auf dem alten Fliesenboden des Ganges gestoßen. Am Revier machten sie sich alle regelmäßig über die üblichen Nachbarinnen, die etwas gehört oder gesehen hatten, als alte Schabracken lustig. Immer in Leggings oder geblümte Kleiderschürzen gekleidet, immer vom gleichen Kochmief und vom gleichen süßlichen Parfum umgeben. Sie würde diese Damen ab nun schätzen, denn sie lenkten nicht von der Arbeit ab wie diese Frau vor ihr.

Oppitz spulte das Polizeisprüchlein ab. Mayer ließ den Blick über den Fußboden zur Tür und von der Schwelle zu den Beinen der Frau schweifen. Sie stand barfuß da, den Ballen des rechten Fußes auf die Zehen des linken gestellt. Wie eine Lipizzanerstute.

Die Frau nannte ihren Namen: Susanna Ilic. Sie erklärte, dass es sich um die Wohnung nebenan handelte. Oppitz gurrte etwas von vorbildlichem Verhalten, die Menschen würden mittlerweile ja kaum mehr ihre Umgebung wahrnehmen, geschweige denn, sich irgendwo…

Mayer reichte Ilic die Hand. Deren Druck war fest und trocken. Die Augen der Frau waren ebenfalls blau. »Sie haben also einen Schrei gehört.«

Ilic schüttelte den Kopf. »Nein, da war ein Rumpeln.«

»Aha.« Mayer runzelte die Stirn, Ilic zuckte mit den Schultern.

Allgemeines Schweigen. Aus der Ferne war durch das offene Gangfenster ein Wummern zu hören, die Musik jedoch nicht mehr identifizierbar. Man konnte sich glatt einbilden, dass gar kein Marathon stattfand.

Mayer betrachtete die Tür neben jener von Ilic. Sie war klassisch in Dunkelbraun gestrichen, wie es sich für den Eingang einer Altbauwohnung gehörte. Der Fußabstreifer stellte eine grüne Katze dar. Keine Einbruchsspuren.

»Und die Katze von Frau…«, Mayer musterte das silberne Namensschild auf der Tür, »Zwirn kann es nicht gewesen sein?«

Ilic entwirrte die Arme und stellte sich gerade hin. »Woher wissen Sie, dass Lisbeth…?« Ihr Blick fiel auf den Fußabstreifer. Sie nickte und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Theo ist vor zwei Jahren gestorben.« Sie ging einen Schritt zu Zwirns Tür und machte mit der Hand eine vage Geste. »Es ist ja nicht das Rumpeln allein. Ich hab bei ihr angeläutet, weil ich ihr das Brot geben wollte, das ich für ihr Mittagessen vom Praterstern mitbringen sollte. Ich hab nämlich dort beim Billa einkaufen gehen müssen, weil ich gestern spät in der Nacht, also genau genommen heute früh, von einem Seminar zurückgekommen bin. Eigentlich hätte ich erst heute Abend heimkommen sollen, aber mich hat es nicht gefreut, noch einmal in diesem stinkigen Hotel zu übernachten. Jetzt habe ich dadurch zwar heute meine Freundin in Linz nicht besuchen können, aber so ist es mir trotzdem lieber.«

»Aha.« Mayer wagte keinen Hinweis auf die Unerheblichkeit von Ilic’ Redefluss zu äußern, denn die Stimme der Frau war rau und vibrierend, was ihr selbst trotz der nervenden Suada Herzklopfen und wahrscheinlich eine ebenfalls raue Stimme bescherte. Zu verräterisch.

Oppitz steckte die Hände in die Hosentaschen. Sicherlich waren sie schweißnass, wie immer, wenn ihm eine Frau gefiel. »Seminar?«

Sie waren schweißnass, sonst würde er der schwadronierenden Unerheblichkeit nicht auch noch Vorschub leisten. Er hasste üblicherweise zu viele Worte, so wie sie selbst.

Ilic lächelte ihn an. »Ich bin Stimmtrainerin. Also eigentlich Schauspielerin, aber Sie wissen ja, man muss schauen, wie man über die Runden kommt. Irgendwie zumindest.«

Gut, dass sie sich auf Aha beschränkt hatte. Aber das funktionierte natürlich nicht auf Dauer. Mayer lehnte sich an die Tür der Zwirn und tat so, als würde sie lauschen. Ilic war damit aus ihrem Blick verschwunden. Sie atmete durch. »Sie haben also geläutet. Und Frau Zwirn hat nicht geöffnet. Ist sie vielleicht selbst Brot kaufen gegangen?«

»Sicher nicht. Sie hat ein dreigängiges Menü vorbereitet, war total im Stress, deshalb hat sie mich ja gebeten.«

»Sie erwartete Gäste?«

»Einen Gast. Andreas Niederle. Ihren Verlobten.«

Oppitz lachte auf. »Und für den kocht sie ein Dreigang-Menü?« Die Stute verwirrte ihn eindeutig, normalerweise würde ihn so etwas nicht interessieren.

Ilic verschränkte die Arme erneut und sog die Wangen ein. »Lotto-Sechser.«

Oppitz schob die Schultern zurück und den Kopf nach vorn. Der aufmerksame Falke war erwacht. »Frau Zwirn hat im Lotto gewonnen?« Das wäre natürlich theoretisch ein Motiv für einen Raubüberfall.

Ilic lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, Niederle ist ihr Gewinn. Sie hat schon geglaubt, dass sie nie wieder eine Beziehung haben wird. Tja, und er läuft heute den Marathon, da wird er natürlich belohnt.« Sie stellte sich aufrecht hin. »Wollen Sie nicht endlich nachschauen?«

Mayer ging zur Tür und drückte vier Sekunden lang den Klingelknopf. Nichts außer dem Wummern weit entfernt. Sie legte nochmals das Ohr an die Tür. Dieses Mal lauschte sie tatsächlich. Kein Stöhnen oder Jammern.

»Das habe ich auch schon alles gemacht. Und ich wollte ja schon hinein, wenn mir dann nicht eingefallen wäre, dass ich kurz zuvor dieses Poltern gehört habe.«

Mayer richtete sich auf und sah Ilic an. »Das heißt, Sie haben einen Schlüssel.«

Ilic nickte.

»Und warum gehen Sie dann nicht einfach hinein? Warum rufen Sie uns? Vielleicht braucht Frau Zwirn ja nur einen Rettungswagen.«

Ilic biss sich auf die Lippen und schaute zu Zwirns Tür. Sie schien nachzudenken. »Ein blödes Gefühl. Aber natürlich haben Sie recht. Wahrscheinlich ist sie nur ausgerutscht und ohnmächtig.« Sie verschwand in ihrer Wohnung.

Mayer spürte den nahezu unerträglichen Drang, der Frau zu folgen und sie ohne viele Worte auf das sicherlich große und bequeme Bett zu schmeißen. Oder stattdessen zumindest einen Berg hinaufzulaufen. Bis zur Gier tötenden Erschöpfung. Sie verschränkte die Hände und massierte die Finger.

Oppitz lehnte sich mit seinem massigen Körper an die Mauer zwischen den beiden Türen, was einen satten Ton erzeugte »Nur? Das reicht doch. Vielleicht ist sie auf den Kopf gefallen und blutet langsam aus.«

»Auf jeden Fall wären wir dann unnötig.« Und bald weit weg von dieser Verführung. Daheim rekelte sich Carmen sicherlich schon auf der Terrasse und spielte an sich herum. Um bereit zu sein, wenn Mayer nach Hause kam. Sie hatten immer am Sonntagnachmittag Sex. Immer. Jeden Sonntag. Zwischen vier und fünfUhr. So sicher, wie das Amen im Gebet…

Oppitz nickte ihr zu. »Dir war doch eh fad.«

Ilic kam heraus und enthob Mayer so einer Antwort. »Ich dachte mir, wenn wirklich was Schlimmes passiert sein sollte, dann wäre es besser, wenn nicht ich die Tür aufgemacht habe. Aber jetzt sind Sie ja dabei.«

»Ja, aber wenn Sie…« Ilic kam direkt neben Mayer zu stehen. Sie roch nach Maiglöckchen. Irgendeinen Gedanken hatte sie da eben gehabt.

»Ja?« Große blaue Augen.

»Äh…ja, wenn Sie schon das Poltern so beunruhigt hat…ich meine, haben Sie gleich nachgeschaut? Haben Sie jemanden gesehen?« Sie stammelte. Sie stammelte!

»Das hätte ich doch gesagt. Nein, ich habe auch gar nicht nachgeschaut. Ich hab geglaubt, sie verrückt vielleicht die Möbel. Um Niederle besser massieren zu können. Das macht sie oft bei ihm, hat sie mir erzählt. Dafür legt sie ihn auf den Boden, weil der schön hart ist und der Niederle es mit dem Kreuz hat, und dann macht sie auf Geisha, mit einem roten Kimono und so…ja, das habe ich gedacht. Ich bin erst auf die Idee, dass ihr…also, dass etwas nicht…«, sie atmete durch, »als sie nicht geöffnet hat.« Sie steckte den Schlüssel ins Loch und verharrte. »Das ist der Beweis.«

Oppitz stieß sich von der Wand ab. »Wieso?«

»Sie lässt immer den Schlüssel stecken, wenn sie daheim ist.« Ilic drehte den Schlüssel herum.

»Also ist sie nicht daheim. Sie hat sicher irgendeinen Kleinschaß vergessen und wird gleich auftauchen.« Er wandte sich zur Treppe.

Mayer schob Ilic zur Seite, öffnete die Tür. Rief durch den Spalt Zwirns Namen. Rief ihn nochmals, erklärte, dass die Polizei da sei. Sie betrat die Wohnung.

Der Flur war lindgrün gestrichen, was aber nur direkt beim Fenster zum Hof erkennbar war, denn er war nicht beleuchtet und aufgrund seiner Länge sehr dunkel. Einige Türen zweigten ab. Mayer öffnete die erste. Ein Kabinett mit Regalen voller Kisten, Skiern, Koffern, die obenauf lagen, und einer Couch. Es folgte das Schlafzimmer mit einem großen französischen Bett aus Edelstahl und einem Spiegelschrank. Gestrichen war es in Hellgelb. Die Toilette wartete mit einer geblümten Klobrille aus Plexiglas auf. Das Bad war in Schwarz und Weiß gehalten, die Möbel bestanden aus Glas. Die Küche war ebenfalls in Stahl und Glas gestaltet. Alle Räume wirkten, als wären sie aus dem Katalog eines Massenmöbelhauses. Nur die Nippes, die auf jedem freien Fleckchen platziert waren, störten die Beliebigkeit. Oder verstärkten die Durchschnittlichkeit. Je nach Sichtweise. Auf einem Hocker neben der Couch im Kabinett stand eine beleuchtbare venezianische Gondel, eine Flamencotänzerin auf dem Spülkasten im Klo. Es gab Muscheln in der Küche, aber auch Fächer, einen Reispapierkalender, einen künstlichen Blumenstock mit großen roten Blüten.

Mayer schloss die Augen und visualisierte Carmens Wohnung, um die Hässlichkeit, die sie umgab, zu neutralisieren. Bei all den Fehlern, die ihre Freundin hatte, Geschmacklosigkeit gehörte nicht dazu. Wahrscheinlich hielt ihre Beziehung deswegen schon zweieinhalb Jahre.

»Da ist das Wohnzimmer.« Maiglöckchen. Dieser Duft war an einer Frau wie Ilic wirklich betörend. Und lästig. Denn diese Frau war sicherlich hetero und nicht einmal bi. Verlorene Liebesmüh. Außerdem tabu. Denn Carmen wartete daheim. Auf der Terrasse.

Mayer drückte die Schnalle nach unten, die Tür einen Spalt breit auf. Und sofort roch sie es. Sie schob Ilic hinter sich. Oppitz nahm die Nachbarin am Oberarm und bugsierte sie aus der Wohnung. Sie stammelte ein paar Aber, die zunehmend ängstlich klangen und schließlich diffundierten.

Als Oppitz wieder hinter Mayer stand, öffnete sie die Tür zur Gänze. Der metallene Geruch nahm ihr den Atem. Das blutige Bündel Fleisch in der Mitte des Raumes am Boden brachte ihn ihr zurück. Der alte Teppich, der die Mitte des Wohnzimmers füllte, schimmerte rund um den Kopf in Schwarzrot. Unweit von ihm lag ein Bund Iris, deren kobaltblaue Blüten mit dem Rot elegant harmonierten.

Synchron mit Oppitz seufzte sie. Auch wenn vom Schädel nichts anderes übrig war als ein Brei aus Knochen, Muskeln, Hautfetzen und Haaren, identifizierte der Körper die Leiche als Frau Zwirn. Denn er war mit einem roten Kimono bekleidet.

Am Tag des Marathons, in der Wiener Innenstadt, 6:30 Uhr:

So ein Mist. Die Ohren tun mir weh. Hab ich das Fenster offen gelassen? Eine Verkühlung ist wirklich das Letzte, was ich brauch. Shit.

Der Mann öffnet die Augen und betrachtet den Raum, der sechs mal sechs Meter misst. Graues Licht strömt durch ein Atelierfenster. Sein Blick wandert über den Schiffboden und über einen zwei Meter langen Garderobenständer mit schwarzen Kleidungsstücken zum Fußende seines Bettes. Seinen Körper entlang zu seiner Brust. Dort liegt ein schwarzer MP3-Player. Er greift sich an die Ohren, in denen Kopfhörer stecken, sein Körper entspannt sich. Der Mann drückt die Tasten, zielsicher, als würde er Kommandos folgen. Dann startet er eine Nummer. Flip The Switch von den Stones.

Ich brauch’s. Längst fällig. Brauch’s. Noch einen Tag länger…ich würd’s nicht durchstehen.

Der Mann springt auf, geht mit dem MP3-Player in der Hand zum freien Platz vor dem Fenster und schließt die Augen. Er formt Laute, die nach Digidigidigidigi wie das rasendeUhrwerk einer Bombe klingen, und vollzieht langsam mit den Armen Kraulbewegungen. Groß und ausladend, vor dem Brustkorb schnell und abgehackt, als würde er mit der Faust ins Wasser eintauchen oder auf etwas einschlagen.

Das heute wird meine Meisterleistung. Jawoll, Herr Papa, du kannst ruhig den Kopf schütteln. Machs dir bequem auf deinem Wolkerl und schau zu. Die Augen werden dir herausfallen. Ich habe alles perfekt vorbereitet. Absolut perfekt. Jedes Detail ist durchdacht.

Er stoppt die Bewegungen.

Okay, fast. Aber es wird funktionieren, ich weiß es. Wenn ich es mir so recht überlege, dann waren die anderen Male davor eigentlich nur Fingerübungen. Viel zu sicher angelegt. Aber heute gehe ich an die Grenze. Du würdest das nie schaffen. Nie.

Der Mann reißt sich die Kopfhörer aus den Ohren und wirft den Player aufs Bett. Er tänzelt durch eine offen stehende Flügeltür in den Wohnraum, der zehn mal zwölf Meter misst und ebenfalls mit einem Schiffboden ausgelegt ist. Gegenüber einem die Wand füllenden Atelierfenster ist eine offene Küche eingebaut. Der Mann geht zur Arbeitsfläche, steckt das Kabel des Standmixers in die Steckdose, schält eine Banane und wirft sie in den Mixbecher. Er fügt noch Kekse, einen Apfel, Magnesium und Traubenzucker hinzu, mixt das alles zu einem Brei, den er in eine vorbereitete Flasche mit Trinkloch füllt.

Eigentlich unnötig. Nein, Tommy braucht’s. Und er liebt das Zeug, das Schleckermaul. Ich muss ihn bei Laune halten.

Der Mann dreht die Flasche in seinen Händen. Er grinst.

Mit ausgreifenden Schritten geht er zum vier Meter langen Esstisch aus Olivenholz in der Mitte des Raumes und stellt die Flasche ab. Er setzt sich auf einen Stuhl im Barockstil und studiert einen Zettel mit einzelnen Punkten. Er hakt sie der Reihe nach ab. Zweites Gewand, Fahrrad, Nachbarin, Trafikant, Tasche…er springt auf, dabei fällt der Sessel um.

Verdammter Mist, verdammter.

Er hebt ihn auf, streift dabei ein kiwigrünes Laufshirt von der Lehne des benachbarten Sessels in Form eines grob zu einem Stuhl geschnitzten Baumstammes. Darunter kommt eine graue Laufhose zum Vorschein. Er hebt das Shirt auf und wirft es auf den vergoldeten Thonetsessel rechts daneben.

Grässliche Farbe, dieses Grün. Wie von einer überreifen Kiwi. Ich hätte nicht so lang warten sollen. Natürlich war alles ausverkauft.

Ansatzlos greift er sich an die Schläfen. Er schließt die Augen.

Bald ist es vorbei. In…er schaut auf die einen halben Meter große Wanduhr…ja, in sechs Stunden ist es vorbei. Und nachher ist alles gut. Dann ist alles wieder in Ordnung. Komm, Alter, reiß dich zusammen. Du musst jetzt Tommy wecken, du musst ihn nochmals präparieren. Und du brauchst nicht zu flippen. Er wird halten, wie immer. Du bist mit ihm die Strecke durchgegangen, du bereitest alles für ihn vor. Er wird genau das tun, was du von ihm verlangst. Wie immer. Verdammter Schwindel. Shit. Shit. Shit.

Der Mann setzt sich wieder auf den Barockstuhl. Er atmet tief ein und aus. Mit flatternden Lidern öffnet er die Augen. Sein Blick fällt auf ein längliches Kuvert ohne Beschriftung, kurz zuckt sein Mund, dann auf die Startnummerblätter aus Papier, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches liegen und die Zahl 10.441 tragen. Mitten auf der Null prangt eine Plakette aus Plastik mit gestanzten Löchern. Er duckt sich unter den Tisch. Dort steht ein Paar Laufschuhe in Weiß mit hellblauem Muster. Der Mann nimmt den rechten Schuh, dann vom Tisch den Chip und befestigt ihn am Schuhband. Er seufzt.

Echt ein bissel viel Aufwand. Zwar perfekt, aber ein zweites Mal tu ich mir das nicht an. Sicher nicht. Das nächste Mal zieh ich’s wieder gemütlich durch.

Er grinst.

Oder noch mehr am Punkt. Ja…

Er springt auf und reißt einen Teil des Atelierfensters auf. Zieht die Luft durch die Nase ein. Atmet sie durch den Mund aus. Sein Blick schweift über die Dächer und Ausschnitte der Gassen. Unweit ist der Stephansdom erkennbar. Er fixiert tief unter ihm eine Frau auf der Gasse, die den Hinterreifen ihres Fahrrades untersucht, und lächelt. Es wirkt, als würde er gleich ausspucken wollen. Dann sticht ihm eine Ameise ins Auge, die gerade von der Außenseite des Fensters in die Ritze zu schlüpfen versucht. Er zerdrückt sie mit dem Daumen.

Während des Marathons, Zinshaus in der Böcklinstraße, 14:12 Uhr:

Nur mehr ein Zahnstocher. Mayer schob die Zündholzschachtel zu und wieder auf. Es war und blieb nur ein Zahnstocher. Sie steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum. Er würde nur für eine halbe Stunde reichen, niemals für die gesamte Dauer der Spurensicherung am Tatort. Sie stieß sich vom Vorzimmerfenster ab und schlenderte zur Küche. Alle Menschen hatten hölzerne Zahnstocher gebunkert. Erst recht so eine durchschnittliche Person wie Elisabeth Zwirn.

Staatsanwalt Rössler lehnte am Rahmen der Wohnzimmertür und sah ihr entgegen, unbeeindruckt von den Spurensicherern, die immer wieder an ihm vorbeiwischten. So, wie er durch diese Männer hindurchschaute und Mayer anstarrte, mussten die weißen Gestalten für ihn wie schwingende Gardinen wirken.

Mayer lehnte sich ihm schräg gegenüber an die Küchentür. »Und? Wissen Sie jetzt schon, wer den Fall übernimmt?«

Rössler nickte zwei Mal, und zwar ganz langsam. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Es war anstrengend, seine Traumfrau zu sein. Seit sie ihm am Polizeiball das sündteure Seidel Bier über den Smoking gegossen hatte, tauchte er beruflich überall dort auf, wo sie war, wenn es nur irgendwie vertretbar schien. Auch seine Präsenz heute war an der Grenze des Auffälligen, denn kaum einer der anderen Staatsanwälte ließ sich für gewöhnlich am Tatort blicken, auch wenn es ihre Pflicht als Herren des Verfahrens war, wie es seit der Reform so schön hieß. Könnte sie ihren fünfprozentigen Bi-Anteil doch nur ein wenig vergrößern…er wäre eine gute Partie. Sie musste es ihm irgendwann sagen, dass er chancenlos war.

Sie hängte die Daumen in den Gürtelbund. »Und? Darf man es wissen?«

»Chefinspektor Katz.«

Rössler hatte die Abteilung nicht dazugesagt, musste er auch nicht, denn der Mann mit dem crazy Namen war hinlänglich für seine Erfolge bekannt, wenn für Mayer auch nur vom Hörensagen. Eigentlich müsste er Pitbull und nicht Katz heißen. Der Fall Zwirn war also der Regionalliga entzogen und der Landesliga zugeschoben worden. Aber das war normal, die meisten interessanten Mordfälle gingen von den Polizeikommissariaten zum Landeskriminalamt. Aber dass gleich ein Star eingesetzt wurde? Mayer hob die Augenbrauen.