Mareike & die Himbeertrüffel - Silke Weizel - E-Book

Mareike & die Himbeertrüffel E-Book

Silke Weizel

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Beschreibung

Was haben der sechsundvierzigjährige Mann, die fast neunzigjährige Frau und der italienische Buchhändler mit Mareike und ihren Himbeertrüffeln gemeinsam? Vier Menschen, deren Leben nicht unterschiedlicher hätten sein können. Dennoch finden sich Tangenten und Parallelen die alles zu einem Ganzen fügen.

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Du hast mir ein Leben gezeichnet, das ich ohne Dich niemals erahnt hätte.

Silke Weizel

Mareike & die Himbeertrüffel

Ferdinand

ROMAN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2024

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Cover:

Pariya Masoudi Moghadam

Illustrationen:

Pariya Masoudi Moghadam

Gestaltung:

Silke Weizel

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Autorin.

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.engelsdorfer-verlag.de

Sehnsucht nach jemandem kann auch ganz schön sein!

Inhaltsverzeichnis

Diese Tür ist zu

Welt voller Bücher

NIEMAND

MUTTER’S HAUS

LASST MICH ALLE IN RUHE

MÜLLER’S CAFÉ

ELSE

DAS BABY

DECIN

WER IST DIESE GESELLSCHAFT?

Drei Uhr früh

WER BIN ICH?

VON ZAHLEN UND BIENEN

RIESLING MITTELRHEINISCH

DAT WÖÖRBOOK

EIN HAUS? MEIN HAUS!

GLASMALEREI

WEIHNACHTEN ALLEIN

VERLAGSFRÜHSTÜCK

NEUNERLEI VS. BOHNEN

UNLÖSBARE WURZEL

TOTE SPINNEN

GRÜßE, DEINE MAREIKE

Ein Hauch Italien

MORGENSTILLE

Bienen und Schmetterlinge

Mareike

JULES-VERNE-STRAßE

Berlin

DIE SUMME

Diese Tür ist zu

Mit einem Koffer, dessen Inhalt ich nicht näher erläutern möchte und mit meinem Handwagen voller Bücher ziehe ich die Tür hinter mir zu. So fest, dass ich sie um nichts in der Welt wieder öffnen würde.

Nun stehe ich also hier. Ich bin Ferdinand, sechsundvierzig Jahre alt, gutaussehend, erfolgreich, in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Dr. Ferdinand Mühltroff. Mathematiker, Herausgeber der Vision PI und seit einundzwanzig Minuten wieder Single. Im Kopf aber habe ich mich schon vor mehr als drei Jahren von Corinna getrennt. Soll sie die Wohnung behalten, ich habe keine Lust mehr auf ihre ausschweifenden Partys und die überbordenden Spielchen.

Es war eine furchtbare Woche. Wir schreiben August 2023. Die Sonne scheint unerbittlich heiß und die Menschen leiden unter der aufdringlichen Nähe, der Hitze und der Fülle der Aufgaben.

Schwarze Gewitterwolken ziehen auf. Es ist, als ob das Wetter mein Leben widerspiegeln möchte. Der Wind bläst mir kalt gegen die schweißnasse Stirn.

Ich atme das Sommergewittervorgeflüster ein und schließe die Augen. Mein Kopf ist leer und übervoll zugleich. Ein graues Rauschen mit endlos vielen Steinschlägen. Klitzekleine Risse in der Hässlichkeit von schwarzgrauem Knüllpapier.

Da bist du wieder – Corinna. Lass mich doch wenigstens in Gedanken ein paar Minuten in Ruhe.

»Hau endlich ab!« Ich schreie es so laut heraus, dass ich vor mir selbst erschrecke.

Der Regen fühlt sich warm an und ich weiß nicht, ob es Tränen sind oder Regentropfen, die über mein Gesicht laufen. Das ist auch egal. Hauptsache die Bücher bleiben unbeschadet und diese Tür ist endlich zu. Meine Regenjacke habe ich liebevoll über die kleine fahrende Bibliothek gelegt, die meine komplette Kindheit verkörpert.

Welt voller Bücher

Als kleiner Junge von ungefähr neun Jahren saß ich stundenlang in der winzigen Lesestube, unten am Ende der Straße. Marcello, der Buchhändler, hatte immer ein Lied auf den Lippen. Er schien ein schrulliger alter Mann zu sein, doch wirkte er nur von weitem so. Marcello hatte sehr weißes Haar, buschige Augenbrauen und ein faltiges Gesicht. In seinen braunen Augen blitzte etwas märchenhaft Spannendes. Ich muss unwillkürlich lächeln, wenn ich an ihn denke. Eine warme Harmonie steigt in mir auf und ich fühle diese familiäre Geborgenheit, die nur er mir gab. Er sah uns Kinder an und wusste sofort, welches Buch wir heute würden lesen wollen. Kindheitserinnerungen kommen in mir auf.

»Ciao Ferdinando, entra, ragazzo mio. Ich habe schon auf dich gewartet.«

Es duftet nach Schokolade und Büchern. Eine seltsame Kombination und doch die meines väterlichen Freundes.

Der schrullige, alte Buchhändler war mir mehr Vater, als es irgendwer je hätte sein können. Ich gehe zwei lange Wände entlang, an riesigen Bücherregalen vorbei. Hinter dem Tisch mit der Kasse steht Marcellos Sessel.

Ein bisschen alt sieht er schon aus. Aber da liegen Kissen und seine dunkelbraune Decke drauf. Immer wenn ich hier im Buchladen bin, will ich darunter sehen. Dann aber trau ich mich doch nicht.

Schnell gehe ich weiter an Tisch und Sessel vorbei in das kleine Zimmer hinter dem grünen Vorhang. Von hier aus höre ich am liebsten zu, wie die Besucher nach den besten Büchern fragen. Ich bin fasziniert, wenn Marcello sie liebevoll beschreibt, so als wären sie alle seine Freunde.

Irgendwann, ein paar Sommer später, sitze ich wieder hier bei meinem alten Freund. Die Ladentür geht auf und eine Frau kommt herein. Klein ist sie, sehr gebückt ihre Haltung. Zuerst fällt ihr grüner Mantel auf und farblich dazu passende, flache Schuhe. Ihre Bluse ist cremeweiß und um ihren Hals gelegt ein ebenfalls grünes Seidentuch. Sie trägt einen kleinen, kastanienbraunen Koffer.

»Guten Tag Marcello«

»Buongiorno Christa. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Das Laufen tut ihr scheinbar weh und sie fasst immer wieder an ihre Hüfte. Dennoch lässt sie ihre munteren Augen über die Regale gleiten, um Buch für Buch zu inspizieren. Christa bleibt stehen und nimmt eins davon sorgsam heraus. In diesem Moment muss ich laut niesen und fast wäre Christa das Buch aus der Hand gefallen.

»Ferdinando, komm doch zu uns.«

Ich kenne diese Frau nicht. Marcello bietet ihr einen Espresso an. Meine Schokolade mit Orangensirup steht bereits auf dem Tisch. Er macht uns miteinander bekannt und schon sitzen wir alle in der gemütlichen Leseecke der Buchhandlung. Die beiden sprechen über Christas Buch und so einen Nietzsche. Noch nie hatte ich diesen Namen vorher gehört.

Fritz, wie der große Fritz. Wie nun, Friedrich oder Fritz? Es ist verwirrend, und ich schlürfe leise meinen Kakao, während sich Marcello mit Christa über Philosophie, den Seiltänzer aus Zarathustra und den König von Preußen unterhalten. Ich habe wirklich absolut nichts davon verstanden. Christa gibt mir das Buch, das sie eben angeschaut hatte.

»Lies es, Junge, und wenn Du fertig bist Ferdinando – so war doch Dein Name, richtig? – dann leg es bitte wieder hier bei Marcello auf den Tisch.«

»Grazie«, höre ich mich antworten.

Marcello lächelt verschmitzt und Christa ist verwundert. Von diesem Tag an wollte ich alles über ihn wissen. Nietzsche, wer war dieser Nietzsche und was konnte ich von ihm lernen? Marcello versorgte mich mit Nietzsches Theorien und ich philosophierte, so gut es ein Zwölfjähriger eben konnte. Das hat mich quasi gefesselt. Bereits damals hat das schon niemand verstanden. Mit Marcello konnte ich auch über die Philosophen sprechen und ihm meine spätkindlich-frühpubertären Gedanken dazu mitteilen.

Niemand

Einsamkeit. Ein abgebrochener Ast fällt vor mir auf den Weg. Da bin ich wieder im August 2023 hier in dieser Stadt, die ich zuhause nenne. Bestimmt kenne ich fünfunddreißig von den fast hunderttausend hier lebenden Menschen persönlich. Alle anderen sind mir fremd.

Ich selbst bin mir unsagbar fremd und Corinna ist mir fremd geworden. Ich habe uns einfach verloren. Ein enges Gefühl im Hals verhindert, dass ich atmen kann.

Bin ich eigentlich irgendjemand?

Mich braucht doch tatsächlich gar keiner!

Habe ich irgendetwas erreicht?

Mir ist alles einfach zugeflogen, in die Wiege gelegt und zufällig passiert. Aber ich selbst habe nichts aktiv beigetragen. Außer, dass ich wohl gut auf mein Äußeres achte.

Ganz gegen meinen klassischen Chic trage ich jetzt nur ein schwarzes Shirt und meine hellgraue Jeans. Offensichtlich haben alle Gedanken an Kleidung für diese eine Entscheidung Platz gemacht. Vor mir steht dieser kleine braune Koffer. Soll ich ihn nicht einfach in den nächsten Mülleimer legen?

Ich heule wie ein Schlosshund. Vor Wut, vor Glück, vor Angst, vor Einsamkeit. Vor dieser grausamen Einsamkeit, die mich in den letzten Jahren mit Corinna begleiten sollte. Wie viele Jahre waren das noch mal? Ich will es gar nicht wissen.

Kennengelernt hatten wir uns auf einer dieser Schickimicki-Partys, die Mutter für ihre bezaubernden Freundinnen und ihre ebenso abgedrehten Töchter veranstaltete. Ich hatte gerade erst promoviert. 2017 muss es gewesen sein. Corinna hat sich gern an meiner Seite sehen lassen. Manchmal gab sie mir das Gefühl, dass sie sich mit mir schmücken wollte. Der Gedanke kam mir damals überheblich vor, so eine berechnende Abgebrühtheit hatte ich ihr nicht zugetraut.

Doch es sollte noch viel unangenehmer werden.

Daran will ich jetzt besser nicht denken. Allerdings lässt sich der Gedanke einfach nicht abschütteln.

Jahreswechsel 2020/2021. Wie jedes Jahr hatte ich in Ruhpolding die Hütte gebucht. Ein uriger, entspannter Urlaub in den Bergen sollte es werden und das Skiareal bot sich an. Knapp vier Stunden bin ich gefahren, im Winter fahre ich immer den T-Roc. Corinna hatte die ganze Fahrt über von ihrem Kosmetiktermin in der nächsten Woche zu erzählen und dass Michelle, ihre nun-nicht-mehr-Freundin, sich mit so einem Looser eingelassen hat, der nicht mal einen Neujahrsempfang gibt und überhaupt wie armselig diese Menschen um uns herum alle seien.

Kurz vor Ruhpolding sagt Corinna, sie hätte umgebucht. Wir würden ins „Mandarin München“ fahren und sie habe auch alles bereits erledigt. Eine Überraschung für mich und – richtig – eine Überraschung für meine Kreditkarte. Ihre drei besten Freundinnen habe sie auch eingeladen und einen weiteren Freund – die müssten wohl schon da sein. Nur zu zweit auf der Hütte wäre doch viel zu langweilig. Mir stocken die Worte sogar heute noch beim Denken! Ich habe es ertragen, aber mein Jahreswechsel war anders geplant.

Mutter’s Haus

Nun laufe ich also im August 2023 durch den Sommerregen, den ich seit langer Zeit überhaupt nicht mehr wahrgenommen hatte. Doch wohin will ich eigentlich? Und noch wichtiger, wovon muss ich weg? Erst einmal brauche ich Zeit zum Nachdenken. Hart reißt mich das Quietschen der Straßenbahn aus den Gedanken und direkt sehe ich mich hier vor Deinem Haus, in Deiner Straße, in dieser mir sehr vertrauten Stadt, mit meinem Wägelchen voller Bücher. Und es regnet. Es ist dennoch irgendwie ein guter Tag. Ich fühle, dass Du ganz in meiner Nähe bist. Ich wollte mich so gern emotional bei Dir anlehnen. Aber Du bist toxisch, Corinna.

Ich muss hier weg!

Ich laufe einfach los. Autos hupen mich an, ich laufe schneller, immer schneller und sehe nichts. Es blitzt und donnert und alle Menschen beeilen sich, nach Hause zu ihren Liebsten zu kommen. Ich habe heute kein Ziel. Da klingelt plötzlich mein Handy. So ein Scheiß. Du hast nicht ernsthaft bei Mutter angerufen?!