Marianengraben - Jasmin Schreiber - E-Book
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Marianengraben E-Book

Jasmin Schreiber

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Beschreibung

»Ein Buch, das Geborgenheit bietet und Hoffnung schenkt« Yasmina Banaszczuk

Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt - auf die eine oder andere Weise.

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Seitenzahl: 292

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungVorwort11000104309950972094009160893087508420801078007320699064805990557051104620410023303410168010705700NachwortDank und Liebe gehen an:

Über dieses Buch

Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise.

Über die Autorin

Jasmin Schreiber, geboren 1988, ist studierte Biologin und arbeitet als Kommunikationsexpertin und Autorin. 2018 gewann sie den Digital Female Leader Award und wurde als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet. Sie arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und Sternenkinder-Fotografin. Das Internet macht sie auf Twitter unter @LaVieVagabonde unsicher. Jasmin Schreiber lebt in Frankfurt am Main.

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Aylin LaMorey-Salzmann

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotiv: © Channarong Pherngjanda/shutterstock, vareen-nik/shutterstock

Illustration: AkimD/shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8795-7

www.eichborn.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

ich kann fliegen.ich kann im dunkeln sehen.ich bin unsterblich.

– Ianina Ilitcheva

»Wie tief muss man tauchen, um einen leuchtenden und noch nicht entdeckten Tim-Fisch zu finden?«, fragtest du mich kurz vor deinem Tod.

»Ich weiß nicht, aber in der Tiefsee ist noch vieles unentdeckt. Da schwimmen sicher eine Menge potenzieller Tim-Fische herum.«

»Kannst du nicht so tief runtertauchen, bis du einen neuen Fisch entdeckst?«

»Puh, dafür brauche ich ja ein Team und einen Tauchroboter, aber theoretisch kann ich das machen, ja.«

»Nennst du ihn dann Tim-Fisch?«

»Auch das kann ich machen.«

»Und wenn du eine neue Krabbe entdeckst?«

»Dann nenne ich sie natürlich Tim-Krabbe, das ist ja wohl mal klar.«

»Versprochen?«

»Ich verspreche es.«

11000

Dein allerallerallerliebstes Tier war der Gespensterfisch – bei dir mussten es immer mindestens drei »aller« sein, wenn dir etwas ganz besonders wichtig war. Der Schädel dieses Fisches ist komplett durchsichtig, weshalb man in einem Tauchboot sitzend den Scheinwerfer auf ihn richten und seinem Gehirn beim Arbeiten zugucken kann. Überhaupt Tiefseefische, das war total dein Ding. Viele dieser Lebewesen besitzen sogenannte Leuchtorgane, die durch die Biolumineszenz von Bakterien beleuchtet werden. Strahlende Tentakeln, schimmernde Flossen, eine lasziv ausgeworfene Angelrute mit leuchtendem Köder, verborgen in der Dunkelheit: Zähne. Stellt man sich die Tiefsee vor, sieht man vor seinem inneren Auge nur Schwärze, doch das ist gar nicht so. Millionen von Lebewesen schwimmen wie kleine Lampen durch das Wasser, entweder als einzelne Sterne oder in großen Gruppen, die leuchtende Galaxien bilden. Diese Parallelwelt war für dich megakrass.

Manchmal sitze ich da und dann denke ich an all das und generell an dich, und mit manchmal meine ich eigentlich oft und mit oft eigentlich ununterbrochen. Mir fallen deine weichen Kükenflaumhaare ein, ich erinnere mich, wie du deinen ersten Fisch gefangen hattest und dann sehr weinen musstest, als der Fisch starb (das war deshalb auch dein letzter Fisch). Ich denke daran, wie wir zusammen über Biologie-Bücher gebeugt saßen und den Tieren neuen und in deinen Augen bessere Namen gaben. Der Haifisch wurde zum Mehrzahn (wegen der vielen Zahnreihen), der Rochen zur schwimmenden Untertasse, das Kamel zum Zweihöcker und das Dromedar zum Einhöcker, damit man die leichter unterscheiden konnte und endlich mal Schluss mit dem ganzen Verwechseln war. Denke ich an all das, setzt das Herz kurz aus, das Blut sackt in die Beine und die Ohren rauschen, als würden alle Meere dieser Welt darin zusammenfließen. Irgendwann kommt wieder die Ebbe, das Rauschen nimmt ab, der Sinusknoten erwacht aus seiner Lethargie und lässt mein Herz sich regelmäßiger zusammenziehen. Oft lege ich mich dann auf den Boden wie wir früher und denke noch ein bisschen weiter an dich, ramme das Messer noch tiefer in meine Eingeweide. Wie du jetzt wohl aussähest. Ob Gespensterfische immer noch deine Lieblinge wären und was du dazu sagen würdest, dass schon wieder drei neue Tiefseefische entdeckt worden sind und wieder einmal keiner davon Tim-Fisch heißt. Ob du wütend wärst, dass ich das nicht geregelt habe, dass einer von ihnen Tim-Fisch heißt. Ob du dich mittlerweile mal verliebt hättest, in ein Mädchen oder in einen Jungen. Ob deine Haare immer noch so weiche Kükenflaumhaare wären und wie groß deine Hand jetzt wohl wäre, wenn sie, wie früher so oft, in meiner Große-Schwester-Hand läge. Das sind Dinge, die ich nie erfahren werde. Überlegungen, die eigentlich sinnlos, jedoch zwangsläufig sind. Gedanken sind oft so unkontrollierbar wie die Liebe, die sie auslöst. Und jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch ein Zustand war.

Wir waren einander so nah wie niemandem sonst, seltsam irgendwie, denn eigentlich war ich ja viel älter und immer schon das Gegenteil von dir. Nie war ich dynamisch und agil, schon als Kind wollte ich nirgendwohin, also körperlich. Wenn, dann nur in meinem Kopf, mit Fantasie und Literatur als Fluchtwagen hinaus in die Welt, mutig sein, stark sein, all das verkörpern, was ich in Wirklichkeit gar nicht war. Ein Buch in der Hand kann ein echter Rettungsanker sein – wenn die See des Lebens zu rau ist, klammert man sich an Geschichten und lässt sich von ihnen in Sicherheit bringen.

Am liebsten las ich die Geschichten der »Harry Potter«-Reihe, davon, wie der junge Zauberer bei seinen furchtbaren Verwandten im Schrank unter der Treppe leben muss, bevor er auf das Zauberinternat kommt und dadurch den Klauen seiner schrecklichen Familie entfliehen kann. Und auch wenn ich in meiner Kindheit durchaus ein richtiges Zimmer hatte, mit Bett und Schreibtisch und allem, lebte ich die meiste Zeit trotzdem irgendwie auch im Schrank unter der Treppe – nur eben in mir drin.

Wie schon gesagt, warst du da ganz anders. Während ich mit zehn Jahren unsportlich war, lieber im Haus las und mich von Menschen eher fernhielt, ranntest und tobtest du im selben Alter draußen herum und warst so drahtig wie ein junger Hund. Du wolltest immer irgendwohin, hattest immer etwas vor, hattest immer den Drang, das Haus zu verlassen, nicht stehen zu bleiben, niemals zu ruhen. Du warst Zauberer und Abenteurer, Tierdompteur und Taucher, du warst ein Seeadler, wolltest fliegen und schwimmen und rennen und tauchen und das alles, bis es eben vorbei war. Tim, der Fisch. Tim, der das Meer so liebte und dann vor zwei Jahren in ihm ertrank.

Wusstest du, dass der Marianengraben die tiefste Stelle des Weltmeeres ist? Okay, dumme Frage, natürlich wusstest du das. Elftausend Meter tief bohrt sich dieses Loch in die Erdkruste, würde man den Mount Everest hineinwerfen, versänke er spurlos darin. Du konntest dir damals nicht viel darunter vorstellen, als ich dir das erzählte, fandest es aber krass, wie du alles Unglaubliche immer erst einmal krass oder megakrass fandest. Auch mir war das mit den elftausend Metern eigentlich zu abstrakt. Erst als ich selbst dort ankam, also ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff, bekamen diese elf Kilometer und all diese Ziffern und Größenordnungen eine greifbare Qualität für mich – elftausend Meter unter Wasser sind gleichbedeutend mit einem Meter neunzig unter der Erde, der Tiefe deines Grabes.

10430

Weißt du noch, als Ronny gestorben ist und du zwei Tage lang so traurig warst, dass dir nicht einmal dein Lieblingseis geschmeckt hat? Als ich mit dir zum Kinderarzt gehen musste, weil du der Meinung warst, dass das komische Gefühl in deinem Bauch bestimmt eine sehr schlimme Krankheit sei, dabei war es nur Trauer um unseren Hund? Nach zwei Tagen konntest du wieder essen, nach einer Woche war es besser und einen Monat nach Ronnys Beerdigung hast du nur noch selten an ihn gedacht.

Bei mir ist es auch so gewesen, als du plötzlich fort warst, nur stärker. Ich konnte gar nichts mehr essen, nicht mehr zur Uni gehen. Ich hatte dieses Gefühl, das du im Bauch hattest, in meinen Armen und in meinen Beinen und in meinen Ohrläppchen und in der Nasenspitze und sogar im Blinddarm. Ja, ich weiß, was du jetzt denkst, den Blinddarm hätte ich wegmachen lassen können, so wie du damals mit sieben. Aber ich brauche ja noch meine Nasenspitze und meine Arme, daher hätte das gar nicht viel geholfen, nur den Blinddarm entfernen zu lassen. Das Gefühl war so schlimm, dass ich nicht mehr aufstehen konnte, nicht mehr duschen, gar nichts mehr. Und irgendwann ist das komisch umgekippt und ist weggegangen, aber kein neues Gefühl setzte sich an seine Stelle. Stattdessen war da nur noch: Leere.

Weißt du noch, als ich dir Die Unendliche Geschichte vorlas und die Stelle kam, an der das Nichts um sich greift?

»Wie sieht das denn aus, das Nichts?«, fragtest du mich.

»Na ja, das Nichts sieht eben nicht aus. Sonst wäre es ja was.«

»Wie kann denn etwas nicht sein?«

»Hm«, sagte ich dann nur. Das war eine wirklich schwierige Frage. Du hast immer sehr schwierige Fragen gestellt, was vermutlich daran lag, dass du sehr schlau warst, vermutlich auch viel schlauer, als ich es in deinem Alter gewesen war.

»Vielleicht so wie: Hier neben mir steht kein Stuhl?«, überlegte ich laut. Neben mir stand nämlich kein Stuhl.

»Hm«, sagtest du dann.

Wir hatten keine Lösung und das beschreibt auch die Situation, in der ich damals nach deinem Tod war, sehr gut: Ich hatte keine Lösung. In mir breitete sich das Nichts aus, es hatte kein Gefühl, kein Aussehen, keinen Geruch, keinen Klang, keinen Geschmack. Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt. Depression nennt man das landläufig, behandlungsbedürftig natürlich und deshalb ging ich zu einer Ärztin in der Hoffnung, dass sie irgendwas in mich reinschütten würde. Ich ging zu einer Psychiaterin.

Eines Tages saß ich also im Wartezimmer auf einem sehr harten Holzstuhl neben einem Schirmständer, der voller Regenschirme war, obwohl sich außer mir nur zwei ältere Menschen im Raum befanden und es nicht einmal geregnet hatte. Die beiden anderen gehörten zusammen, ich schätzte das Paar auf Ende achtzig oder Anfang neunzig, sie waren so klein und zart wie Elfen, sogar älter als Oma und Opa und puh, das ist dann ja ganz schön alt. Ich glaube, sie waren so alt wie die Ticktack-Oma, kurz bevor sie starb. Du nanntest sie so, weil du lange gedacht hast, es hieße Uhr-Oma und nicht Ur-Oma, und eine Uhr macht eben Ticktack.

Ich betrachtete jetzt das Ticktack-Paar genauer. Die Frau sank immer mal wieder in sich zusammen, woraufhin der Mann sie wieder ein bisschen zurechtrückte. Sie richtete sich dann auch ein wenig von selbst auf und blieb so, wie sie positioniert worden war, bis sie nach und nach wieder in ihrem Stuhl nach unten rutschte. Die Haut an ihren Händen war so fein, dass ich aus circa drei Metern Entfernung ihre Blutgefäße sehen konnte, sie war ein fragiler Vogel aus Transparentpapier. Der alte Mann legte ihr eine Zeitschrift auf den Schoß und bemühte sich um Normalität, doch sie nahm das gar nicht wahr. Er nahm ihren Arm, hob ihn an, platzierte die Zeitung darunter und legte den Arm wieder darauf, er befestigte die Seiten regelrecht an ihr, es war traurig und skurril gleichzeitig. Die Frau schwieg und blickte durch ihren fürsorglichen Partner hindurch – ihren Partner, dem die Angst und Verzweiflung tief ins Gesicht geschrieben standen. Leise sprach er zu ihr, flüsterte ihr aufmunternde Dinge zu, wollte sie aktivieren, wollte sie für etwas begeistern (»Schau doch, da ist die Helene Fischer!«), doch eine Reaktion blieb aus. Mir kam es so vor, als ob die Frau sowieso nichts mehr mitbekam, dass sie weder wusste, wo sie war, noch, was da gerade mit ihr geschah. Ihr Blick blieb leer, er durchdrang diese Welt, schaute an uns vorbei und war auf eine Galaxie gerichtet, zu der wir keinen Zugang hatten. Ob du da jetzt auch bist und auf Asteroiden reitest? Oder vielleicht tauchst du gerade in einem unendlich großen Ozean gemeinsam mit schwimmenden Untertassen und Mehrzahn-Fischen auf der Suche nach einem Tim-Fisch. Wer weiß das alles schon.

Irgendwann wurde ich im Wartezimmer aus meinen Gedanken gerissen und aufgerufen. Ich ließ mich von der Ärztin untersuchen. Sie erklärte mir, dass meine Trauerreaktion mittlerweile pathologisch sei. Pathologisch ist etwas, wenn es krank macht. Kurz gesagt: Ich war ein bisschen falsch traurig, also ungesund traurig, so habe ich es damals zumindest aufgefasst, auch wenn das jetzt stark vereinfacht ist. Aber du bist ja kein Psychiater, sondern Meeresforscher und Abenteurer, deshalb lasse ich das jetzt so stehen. Für mich klang es jedenfalls wie: zu traurig, und ich dachte mir: Hä, wie kann das sein? Ich fand, dass ich gar nicht traurig genug war, weil mein Herz ja noch schlug, obwohl ich eigentlich dachte, ohne dich sterben zu müssen, ganz im Ernst. Normalerweise hat das Gehirn gute Mechanismen, um mit Trauer klarzukommen. Deshalb kamst du nach einer Weile ja auch wieder zurecht, nachdem Ronny gestorben war. Ich jedoch hing irgendwie fest, weshalb mir die Ärztin Medikamente verschrieb und das von der Krankenkasse angeforderte Formular ausfüllte, mit dem ich dann einen Therapieplatz suchen konnte.

Therapie fand ich dann so mittel. Die ersten Stunden saß ich meinem Therapeuten gegenüber, der mich fragte, wie es mit den Medikamenten so liefe, und mich anschließend fünfzig Minuten anschwieg, während ich irgendwas aus mir selbst schöpfen sollte. Doch in mir gab es nichts zu schöpfen, ich saß im Marianengraben mit einer kleinen Suppenkelle und sollte damit all das Wasser und den Schmerz aus mir herausholen, damit es mir besser ginge, ich sollte alles hochholen und zur Betrachtung ausbreiten und zeigen. Doch das funktionierte nicht. Ich saß elftausend Meter weit unten und der Druck war so hoch, dass von außen sofort wieder alles in mich einströmte, sobald ich ein bisschen abschöpfte. Da war so viel schwarzes Wasser und Angst und Dunkelheit und kein Lichtstrahl, kein einziger. Meistens schwieg ich, manchmal stammelte ich etwas, lenkte ab, erzählte von meinen unspektakulären Tagen im Bett. Ich erzählte dem Therapeuten von der Tiefsee (»Wussten Sie, dass unten im Marianengraben auf einem Quadratzentimeter ein Gewicht von über einer Tonne lastet?« – »Nein.« – »Sehen Sie mal.«), ich philosophierte über den Zusammenhang von Feinstaub und Klima, ich erzählte ihm sogar, was meine Lieblingsnudeln waren, weil mir nach und nach wirklich die Themen ausgingen. Die Krankenkasse hatte fünfundsiebzig Stunden bewilligt, so viele Nudelsorten kannte ich gar nicht. Über dich verlor ich aber erst einmal kein Wort.

Das Ding mit dem Schmerz ist ja: Er kennt immer erst mal nur Stärke, der Auslöser ist egal. Schmerz fährt hoch, bis er einhundert Prozent hat, und dann steht man da und muss das irgendwie überleben, egal, was der Auslöser ist. Weil der Hund stirbt. Weil der Freund Schluss macht. Weil der Vater sich nicht mehr meldet. Weil der Bruder stirbt. Natürlich hängt vom Auslöser ab, wie tief der Schmerz in dich eindringt, wie lange er dort ausharrt, was er alles zerstört. Manche Dinge sind schlimmer als andere. Aber wenn einem jemand in die Nieren tritt, ist es im ersten Moment egal, wieso er das getan hat, wir liegen dann alle erst einmal am Boden und krümmen uns und versuchen, irgendwie zu atmen. Ein, aus. Ein, aus. Das Einzige, das ich damals immerhin irgendwie und mit Ach und Krach zustande brachte, war, nicht zu ersticken.

Eines Tages fragte mich der Therapeut, ob ich eigentlich dein Grab besuchen würde. Das war in der siebten oder achten der bewilligten unzähligen Sitzungen und ich spürte, dass er jetzt langsam begann, die Schlinge um mich enger zu ziehen, dass ich nicht weiter über Nudeln mit Pesto schwadronieren konnte, vor allem, da ich ohnehin eh fast nichts aß.

»Nein, ich habe sein Grab seit der Beerdigung nicht besucht«, hatte ich geantwortet. Das war einfach so, es ging nicht.

»Wieso nicht?«, fragte er mich.

Ich schwieg. Keine Ahnung, ich wollte es irgendwie nicht wahrhaben, dass das sozusagen deine neue Anschrift war. Dass du nun in der Erde lagst statt in deinem Kinderzimmer, das früher einmal meines gewesen war. Tim, der Fisch. Du warst fast zwei Meter tief gefangen in Erde, das war so gar nicht dein Element, der Gedanke daran zerriss mich. Mama und Papa gingen regelmäßig hin und ich behauptete, dass ich auch sehr oft zu dir ginge, obwohl ich über zweihundert Kilometer entfernt studierte. Es war natürlich gelogen, also das mit dem Hingehen.

»Ich fühle mich da nicht so wohl«, antwortete ich nach einer Weile.

Der Therapeut schwieg, ich fuhr fort: »Es fühlt sich nicht nach Tim an, außerdem sind da die ganzen anderen Menschen, die dort ihre Kreise ziehen und einen beobachten, während man am Grab steht. Das gefällt mir nicht.«

»Aber fühlen Sie sich gut damit? Also damit, dass Sie nicht zum Grab zu gehen?«

»Weiß nicht.«

Wieder Schweigen. Eigentlich wollte ich dich schon gern mal besuchen, aber wenn ich mir vorstellte, dass auch nur eine andere Person außer mir den Friedhof betrat, war mir das schon viel zu nah. Nähe und Distanz – ein schwieriges Thema für mich. Ich stellte mir vor, wie die Person vielleicht zweihundert Meter entfernt von mir stand, mit sich selbst beschäftigt, ich hingegen saß jedoch gefühlt auf ihrem Schoß, während ich eigentlich nur bei dir sein wollte.

»Sie könnten versuchen, zu einer Zeit zu gehen, wenn niemand da ist.«

»Wann denn?«

»Na ja, vielleicht am Abend?«

»Da ist dann doch richtig viel los, da kommen die, die tagsüber arbeiten.«

»Dann eben, wenn wirklich niemand da ist.«

»Das wäre ja nur nachts.«

»Hm«, sagte der Therapeut.

»Sie wollen, dass ich nachts auf einem Friedhof einbreche?«

»Unsinn, da verstehen Sie mich jetzt komplett falsch«, antwortete er mir, sah mich dabei jedoch auf eine Art und Weise an, die sagte: Doch, doch, genau so meine ich es, meine Liebe, ich sag es nur nicht, weil es ja reicht, wenn Sie vor Gericht landen wegen Störung der Totenruhe, da muss ich ja nicht auch noch wegen Anstiftung mit drinhängen.

»Die Idee ist total bescheuert«, sagte ich entschieden.

Das ist die beste Idee der Welt, dachte ich. Das hättest du auf jeden Fall megakrass gefunden, das ist schon mal sicher.

Ich tat dann erst mal das, was jeder normale Mensch tun würde, der plant, auf einem Friedhof einzubrechen: Ich googelte. Nach kurzer Zeit war mein Suchverlauf angefüllt mit Phrasen wie friedhof einbruch konsequenzen, friedhof einbrechen was passiert wenn man erwischt wird, friedhof einbruch werkzeug und Ähnlichem. Unser Friedhof war schließlich nicht auf dem Land oder so, Mama und Papa lebten ja, genau wie ich, in einer Großstadt mit etlichen Friedhöfen, und deiner wurde um neunzehn Uhr abgeschlossen und wer dann noch drauf war, beging mindestens eine Ordnungswidrigkeit. So stand es zumindest im Internet.

Ein weiteres Problem war meine Unsportlichkeit, für dich jetzt natürlich nichts Neues. Ich würde die ein Meter achtzig hohe Mauer erklimmen müssen und hatte noch keinen Masterplan, wie zur Hölle ich das anstellen sollte. Vielleicht mit einer Trittleiter? Dennoch würde ich dann meine rund achtzig Kilo und meinen ein Meter dreiundsechzig kleinen Körper hochziehen müssen. Ich überlegte, ob ich vielleicht dafür trainieren sollte, also so als Underdog ein halbes Jahr jeden Tag Muckibude und Klimmzüge, doch ich sah schnell ein, dass das ein absolut unrealistisches Vorhaben war. Als Depressive jeden Tag zum Sport, mich noch gesund ernähren und zur Uni gehen und ganz normal leben, zack, Problem gelöst! Sicher nicht. So ging das alles nicht. Ich musste erst einmal tagsüber zum Friedhof fahren und mir die Sache ansehen, das war klar. Die Vorstellung, da jetzt doch zu den normalen Öffnungszeiten hin zu müssen, beunruhigte mich, doch ich beschloss eisern so zu tun, als lägst du da nicht verbuddelt in der Erde. Ich würde hinfahren, um mir einfach nur eine Mauer anzusehen, mehr nicht. Dabei war es egal, wie viele Leute da herumliefen, es war egal, wer da alles in der Erde herumlag, es ging um die Mauer. Nur um die Mauer.

Dennoch entschied ich mich dazu, vorher wenigstens ein oder zwei Mal joggen zu gehen. Ich wollte herausfinden, wie fit (oder eher: unfit) ich war. Wie weit und schnell ich davonlaufen könnte, wenn mich jemand auf dem Friedhof überraschte. Oder etwas. Ja, haha, tagsüber ist man ja mutig und Wissenschaftlerin und alles, aber nachts auf einem Friedhof überlegt man dann vielleicht doch, ob es eigentlich Geister geben kann, ob man sich wirklich sicher ist, dass keine Zombies existieren, all so etwas. Zombies fandest du auch immer »megakrass«.

Jedenfalls stellte ich als Nächstes meine halbe Wohnung auf den Kopf – bei einer winzigen Zweizimmerwohnung ist das auch nicht so schwer –, um meine Pulsuhr zu finden. Früher trug ich sie täglich, als ich abnehmen wollte und zum Sport ging und all diese gesunden und sehr erwachsenen Sachen machte. Die Uhr sendet alle möglichen Daten an mein Smartphone, unter anderem meinen Puls, den sie jede Minute einmal misst und in einem Graphen aufzeichnet, wenn ich sie am Handgelenk trage.

An meinem Kühlschrank hing damals ein kleiner Ausdruck aus diesem Graph, ein Ausdruck vom 23.09.2016, auf dem man sah, wie mein Herz von vierundsiebzig Schlägen pro Minute auf einhundertsechsundfünfzig Schläge beschleunigte, wie die Herzrate dann noch auf einhundertzweiundsiebzig kletterte und sich dort eine Weile stabilisierte und nicht mehr sank, minutenlang. Das war, als Mama mich aus eurem Urlaub auf Mallorca angerufen hat, als ich erst beim zweiten Mal Klingeln ans Telefon ging und sie erst nichts sagte, es war, als ich sie dann genervt anfuhr: »Mama, was ist denn? Ich bin gerade einkaufen«, denn ich dachte, dass das wieder einer ihrer berüchtigten versehentlichen Hosentaschenanrufe sei, und dann sagte sie: »Der Tim ist tot.«

An meinem Kühlschrank hängt bis heute ein Graph, auf dem man sieht, wie ein menschliches Herz zerbricht.

9950

Ich war bereit. Es war ein Uhr sechsundvierzig in einer warmen Sommernacht und ich stand vor der Stelle der Friedhofsmauer, die ich mir bei meinem Besuch eine Woche zuvor ausgesucht hatte. Sie war perfekt. Der Blick von der Straße zu mir wurde von einem Haselstrauch versperrt, sodass ich in Ruhe die mitgebrachte Trittleiter in Position bringen konnte. Ich sah mich noch einmal um, stellte fest, dass die Luft rein war, und stieg die fünf Stufen hinauf, durch die ich die Mauer recht einfach überwinden konnte. Oben angekommen drehte ich mich zur Leiter und zog sie an dem Seil hoch, das ich an ihrem Griff befestigt hatte. Dabei schlug und scharrte sie an der Mauer entlang, was mir in der nächtlichen Stille unendlich laut vorkam. Ich hielt kurz inne und horchte, ob ich Geräusche oder Rufe vernahm, doch es blieb alles ruhig. Ich zog die Leiter vollständig hoch und ließ sie auf der anderen Seite hinunter, sodass ich entspannt hinunterklettern konnte, ohne mir wehzutun. Ich klappte die Leiter zusammen und hängte sie mir mit dem Seil über die Schulter. Das war geschafft.

Ich sah mich um und das Herz rutschte mir in die Hose. Ja, ein nächtlicher Friedhof ist genau so gruselig, wie man es sich vorstellt, und ich wette, du hättest das richtig super gefunden. Ich hatte vorsorglich drauf geachtet, dass ich mein Vorhaben in einer klaren Mondnacht umsetzte, um möglichst viel zu sehen, ohne eine Taschenlampe benutzen zu müssen. Jetzt bereute ich es jedoch, weil ich für meinen Geschmack ein bisschen zu viel sah. Ich blickte auf einen Weg, der von schwarzen hohen Nadelbäumen gesäumt war, die bizarre Schatten auf dem Kiesweg warfen. Direkt gegenüber von mir lag ein Brunnen, der von einem lebensgroßen Steinengel ohne Kopf bewacht wurde. Was käme als Nächstes? Wolfsgeheul? Kettengerassel? Alles in mir schrie Paula, renn weg!, doch ich riss mich zusammen und schaute auf dem Handy nach, wo ich mich befand. Dein Grab hatte ich auf der Karte meines Smartphones markiert, sodass ich mir die Route dorthin anzeigen lassen konnte. Einhundertsechsundziebzig Meter.

Ich setzte mich in Bewegung, meine Hände zitterten und das Herz schlug mir bis zum Hals. Jedes noch so kleine Geräusch versetzte mich in Angst und Schrecken, und als plötzlich neben mir ein Vogel losflog, musste ich fast weinen. Tagsüber rational und logisch zu denken, ist sehr einfach. Nachts auf einem Friedhof jedoch ist man plötzlich wieder sieben Jahre alt und erinnert sich an Bücher wie Friedhof der Kuscheltiere oder ES und Monster werden im Kopf auf einmal zu einer möglichen Komplikation.

Nach ein paar Metern machte der schmale Weg eine Rechtsbiegung und führte mich auf einen deutlich breiteren Hauptweg, der jetzt von großen Laubbäumen gesäumt wurde. Hier sah alles etwas freundlicher und lichter aus und die Grabsteine und verstümmelten Engel rückten ein wenig weiter vom Weg ab. Einmal rechts, einmal links, dann würde ich da sein, sah ich auf der Karte. Ich lief an einem Mausoleum vorbei, an das ich mich von deiner Beerdigung verschwommen erinnern konnte. Dort hatte sich Mama kurz auf die Stufe gesetzt, als wir vom Grab kamen und ihr die Beine versagten. »Es geht schon, es geht schon«, hatte sie damals immer wieder gesagt, obwohl jeder sehen konnte, dass gar nichts ging. Wie sollte es auch, wo wir dich doch gerade in der Erde zurückgelassen hatten?

Ich schüttelte die Gedanken ab, konzentrierte mich auf meine Mission und ging weiter, bis ich ganz plötzlich vor deinem Grab stand, einfach so. Bumm, da war es. Ich blickte auf den viereckigen dunkelgrauen Grabstein hinab, in den wir einen sehr großen Gespensterfisch haben eingravieren lassen. Ich musste ganz schön mit Papa streiten deshalb, weil er das albern und unangemessen fand. Das liegt daran, dass er nicht so ein Abenteurer und Meeresforscher ist, wie du einer warst. Was soll man machen, sie sind eben nur Eltern, oder? Auf deinem Stein steht eingraviert:

Tim: Abenteurer, Meeresforscher, weltbester Schwimmer, Bruder und Sohn.

Darunter dein Geburts- und dein Sterbedatum, mehr nicht.

Ich legte die Leiter auf den Boden und setzte mich im Schneidersitz auf die Wiese, in die dein Grab eingebettet war. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. In Filmen unterhalten sich die Leute ja gern mal mit Grabsteinen, doch für so etwas bin ich einfach nicht spirituell genug. Ich las die Inschrift immer und immer wieder, obwohl ich sie auswendig kannte, weil ich sie damals formuliert hatte. Ich hoffe, dir gefällt, was ich mir ausgedacht habe, aber ich fand eben: Man muss einfach schnörkellos sagen, wie es ist. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich wohl unbewusst begonnen hatte, mit den Händen Grasbüschel auszureißen, woraufhin ich sofort damit aufhörte. Du hättest mich ziemlich geschimpft. Was ist mit den Ameisen?, hättest du bestimmt gerufen, oder du tötest Lebewesen! Ich knibbelte am rechten Ärmel meines T-Shirts herum, steckte meinen Zeigefinger in eins der Löcher an den Knien meiner Jeans, übersetzte meine Überforderung in kinetische Energie und schaffte es nicht, einfach still dazusitzen.

»Hi«, sagte ich irgendwann leise.

Das Schweigen, das als Antwort kam, traf mich wie eine Faust ins Gesicht. Normalerweise hättest du jetzt mit »-fisch!« geantwortet, doch das ging nicht, da du einen Meter neunzig tief unter der Erde lagst und langsam von kleinen Tieren aufgegessen wurdest. Weil alles vorbei war. Weil deine Stimme aus dieser Welt gefallen war und alle Worte mitgenommen hatte. Weil das sowieso nur noch dein Körper und nicht mehr du selbst warst. Dieses Selbst, das durch neuronale Verbindungen in deinem Gehirn geformt worden war und das mir noch immer so nah war.

Ich fühlte mich beschissen.

Wütend dachte ich an meinen Therapeuten und fragte mich, was genau das hier bewirken sollte, außer, dass ich mich noch schlechter als ohnehin schon fühlte. Ich konnte nicht aufhören mir vorzustellen, wie dein Körper von Würmern und Käfern angeknabbert wurde, wie deine Augäpfel geschmolzen aus den Höhlen gelaufen waren, wie grau deine Zunge sein müsste, wie dein Bauch aufgebläht und voll mit faulenden Organen gegen den Sargdeckel drückte. In meinem Kopfkino lief ein fürchterlicher Horrorfilm ab und ich war nicht in der Lage, ihn zu stoppen. Gleichzeitig musste ich fast lachen, weil ich daran dachte, dass du total begeistert davon wärst. In meinem Kopf war alles Matsch.

Da vernahm ich auf einmal eine Stimme. Ich war mir erst nicht sicher und dachte, das sei vielleicht der Wind oder einfach Stimmengewirr, das von der Straße herübergeweht worden war, doch dafür war ich zu tief im Herzen des Friedhofs.

»Verfluchte Scheiße!«, hörte ich jemanden sagen.

Ich hielt den Atem an. Fuck! Wann fingen Friedhofsgärtner eigentlich an zu arbeiten? Ich richtete mich ein wenig auf und sah über das Gewirr aus Grabsteinen, das mich verbarg, hinweg und versuchte, etwas zu erkennen. Erschreckend wenige Meter von mir entfernt sah ich einen schwachen Lichtschein flackern und eine Gestalt, die sich hin und her wand. Scheiße, war das ein Totengräber? Es sah aus, als hielt er eine Schaufel. Aber wurden Gräber heutzutage nicht mit dem Bagger gegraben? Langsam robbte ich in seine Richtung, kauerte mich hinter einen Grabstein und spähte rüber. Ich sah eine gebückte Gestalt, die definitiv mit einem Spaten in der Erde herumwühlte. Das alles sah mir jedoch wenig nach professioneller Gärtnerei aus. Eher ein wenig chaotisch und bestimmt nicht legal. Ich zog mich wieder zu deinem Grab zurück und beschloss, mich auf den Rückweg zu machen. Als ich die Leiter hochhob, klapperte sie laut und ich drehte mich noch einmal zu der Gestalt hinter mir um – sie hatte innegehalten.

»Wer ist da?«, rief eine brüchige Stimme.

Ich reagierte nicht, sondern versuchte, die Leiter zu schultern und mich aus dem Staub zu machen. Da das jedoch ein wenig hektisch ablief, stolperte ich sofort über einen niedrigen Grabstein seitlich von mir und fiel unter lautem Scheppern der Länge nach hin. Deine Schwester glänzte mal wieder als ein Ausbund an Eleganz und Geschicklichkeit, es war magisch.

»Verdammte Scheiße«, fluchte diesmal ich und hielt mir mein rechtes Schienbein, das ich mir schmerzhaft gestoßen hatte. Nun bewegte sich das flackernde Licht auf mich zu und ich sah, dass die Gestalt ein Mann war und es sich bei dem Licht um eine kleine altmodische Petroleumlampe handelte, was du natürlich ziemlich piratenmäßig finden würdest. Ich krabbelte panisch rückwärts, wer wusste das schon, vielleicht war der Typ ja irgendein verrückter Mörder, der hier eine Leiche verbuddelte? Doch als die Person schließlich vor mir stand, konnte ich erkennen, dass sie zumindest nicht sonderlich gefährlich aussah.

Es war ein alter Mann, dessen dünne Haarsträhnen im leichten Sommerwind wehten – ein bisschen sah er wie unser Ticktack-Opa auf den alten Fotos aus oder wie ein Taubenküken, die haben auch so einen wirren Flaum auf dem Kopf. Der Mann trug eine dunkle altmodische Hose, darüber ein kurzärmeliges Karohemd, dessen Farbe ich jedoch im gelblichen Laternenschein nicht sicher bestimmen konnte. Über dem Kragen des Hemdes starrte mich ein erschrockenes Gesicht misstrauisch und irgendwie auch wütend an. So viel Gefühle auf so wenigen Zentimetern runzeliger Haut! Ich dachte an meine eigene Leere und wurde neidisch auf die Fülle der Emotionen.

»Was machen Sie denn hier um diese Uhrzeit auf einem Friedhof?«, murrte mich der alte Mann an.

»Ich habe meinen Bruder besucht.«

»Um die Zeit? Wieso gehen Sie nicht tagsüber ans Grab, so wie jeder normale Mensch?«

Ich hatte mich mittlerweile hingesetzt und prüfte im Licht der Laterne, ob ich irgendwie verletzt war, schaute aber immer wieder zu dem Mann mit dem Spaten in der Hand herüber. Sicher war sicher.

»Hallo? Ich bin ja wohl nicht der, der hier mitten in der Nacht auf einem Friedhof herumbuddelt«, entgegnete ich. »Was machen Sie da eigentlich?«

»Das geht Sie ja schon einmal gar nichts an«, brummte der Mann.

»Vergraben Sie eine Leiche, oder was?«

»Sie spinnen ja, sehe ich aus wie ein Krimineller?«

»Ich weiß nicht, aber wie ein Nicht-Krimineller jedenfalls auch nicht, so mit dem Spaten und der Laterne und der ganzen Grabbuddelei«, antwortete ich ihm.

Ich erhob mich und klopfte mir die Erde von meinen Klamotten. Da standen wir nun und musterten uns, zwei Friedhofseinbrecher, die sich gegenseitig in flagranti erwischt hatten. Die ganze Situation erinnerte mich an einen deiner Lieblingswitze, der mit Trafen sich zwei Jäger im Wald begann, und ich musste absurderweise lachen.

»Was lachen Sie denn jetzt? Sind Sie vielleicht doch eine Irre? Sind Sie Satanistin oder so und praktizieren hier irgendwelche Rituale?«, fragte mich der alte Mann und beäugte mich mit leicht zusammengekniffenen Augen.

»Ich habe doch schon gesagt, dass ich meinen Bruder besucht habe. Der liegt hier«, sagte ich und zeigte auf das Grab hinter mir.

Der Mann wandte seinen Blick nicht von mir ab.

»Was Sie hier machen, haben Sie mir immer noch nicht gesagt«, versuchte ich es noch einmal. Irgendwie war ich neugierig und wollte wissen, was ein alter Mann, schätzungsweise um die achtzig, nachts auf einem Friedhof zu graben hatte. Sich selbst wollte er sicher nicht einbuddeln, denn dafür sah er noch ein wenig zu fit aus.

»Ich hole eine Freundin ab.«

Okay, das war zu viel. Ich versuchte noch, das Lachen zu unterdrücken, was jedoch nicht klappte und in einem Geräusch resultierte, das wie das eines Autoreifens klang, in den man hineingestochen hatte und aus dem daraufhin gluckernd und zischend die Luft entwich.

»Das finden Sie wohl lustig?«, fragte er mich.

»Na ja, schon. Ich nehme an, diese Freundin ist tot? Sie wollen eine Leiche stehlen?«

»Quatsch, ich hole nur die Urne raus. Ich hab ihr was versprochen und in Ihrer Generation ist das vielleicht anders, aber in meiner hält man gegebene Versprechen.«

»Ähm … ja gut …«

Wir schwiegen beide.

»Was machen Sie denn dann mit Ihrer Freundin, wenn Sie sie hier rausgeholt haben?«

»Das geht Sie auch nix an«, murrte er nur.

»Ist ja schon –«, setzte ich an, doch weiter kam ich nicht. Ich hatte etwas gehört und, dem Blick nach zu urteilen, der Alte offensichtlich auch.

»Waren das Stimmen?«, flüsterte er alarmiert.

»Ich glaube schon«, antwortete ich.

Wir lauschten beide. Wieder trug der Wind Geräusche zu uns hinüber, die durchaus von Stimmen herrühren konnten.

»Verdammt, das sind bestimmt die Friedhofsgärtner, die fangen manchmal schon um drei Uhr nachts an«, sagte der Mann.

»Dann sollten wir mal lieber gehen. Schnappen Sie sich Ihre Freundin und dann ab nach Hause«, riet ich ihm und nahm die Leiter wieder auf die Schulter.

»Ich bin noch nicht ganz unten angekommen, ich bin dreiundachtzig Jahre alt, da buddelt es sich nicht mehr so einfach wie mit zwanzig.«

»Oh, tja. Dann vielleicht ein anderes Mal?«

»Was meinen Sie denn, wie oft ich in meinem Alter auf einem Friedhof einbrechen kann?«, kam die wütende Antwort.

Wieder Stimmengewirr.