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Wir müssen alle sterben
Wir Menschen, die Tiere im Wald und definitiv fast jede Büropflanze dieser Welt – alle müssen irgendwann sterben. Zieht der Tod in unserem Umfeld ein, bringt er Schmerz mit und hinterlässt Lücken in unseren Reihen und Herzen, die nur schwer oder gar nicht wieder zu schließen sind. Oft denken wir dann: warum, warum, warum? Und genau hier setzt dieses Buch an, denn als Biologin geht Jasmin Schreiber den Dingen gern auf den Grund. Sie sieht sich an, was Leben überhaupt ist und was mit uns im Laufe der Zeit passiert, wenn wir altern. Sie betrachtet die Zellen, aus denen wir bestehen, wir treffen mit ihr ungewöhnlich jung gebliebene Kiefern, schwimmen mit unsterblichen Quallen und durchschreiten gemeinsam das Tal der Trauer. Am Beispiel ihres verstorbenen Hamsters Hermine erfahren wir außerdem, was passiert, wenn ein Körper verwest. Und wieso dieser Prozess auch Chancen birgt – für andere. Denn es lebt und stirbt sich einfach besser, wenn wir verstehen, dass der Tod zwar unschön ist, wir ihn aber trotz allem brauchen.
»Wie liebevoll die Autorin das Leben erklärt! Ich will meine Begeisterung teilen wie eine Zelle.« Micky Beisenherz
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Seitenzahl: 296
So präzise wie unterhaltsam und hinreißend leicht widmet sich Jasmin Schreiber in ihrem zweiten Buch dem Sterben, von der kleinsten Zelle bis zur großen Frage nach dem Warum. Und ein kleiner Hamster namens Hermine kommt auch drin vor.
JASMINSCHREIBER
ABSCHIEDVONHERMINE
Über das Leben, das Sterben und den Tod – und was ein Hamster damit zu tun hat
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Inhalt
HALLO
LEBEN
Was ist das eigentlich, »lebendig« sein?Wann beginnt das Leben? Und wo endet es?Unser Leben als ZellhaufenDie ZelleZellwachstumZelltodALTERN
Unsere Sehnsucht nach UnsterblichkeitAlternstheorienHacker des AlternsBärtierchen – knallharte TapsigkeitNackt, bezahnt, königlich – der NacktmullLebenserwartungen Ein Erwachsenenleben in 5 Minuten10.000 Jahre und noch viel weiterUNSTERBLICHKEIT
Unsterbliche QuallenCyborgsSTERBEN
Abschied von HermineSterben – wie funktioniert das?Die Phasen des SterbensTOD
Fäulnis und Verwesung: Wenn man selbst der Leichenschmaus wirdAutolyse und FäulnisVon explodierenden Walen und DynamitFliegen, die Pioniere der AasfresserWeitere BeerdigungsgästeWer kommt noch vorbei?Wachsleichen – ein großes Problem auf unseren FriedhöfenDas JenseitsWie sieht er eigentlich aus, der Tod?Und was passiert auf der anderen Seite?TRAUER
Ein chaotisches GefühlHilfestellungenUNDJETZT?
DANKSAGUNG
Literaturverzeichnis
HALLO
ZUANFANGDIREKTdie schlechte Nachricht: Wir müssen alle sterben. Sie, ich, die Tiere im Wald und definitiv fast jede Büropflanze dieser Welt, die auf dem Fensterbrett über der Heizung kross gebacken wird. Der Tod ist ein Thema, bei dem man nicht einfach sagen kann: Puh, nee, das ist ja was für Mitläufer:innen, das machen ja alle. Ich aber bin Individualist:in, deshalb ist das eher nix für mich, trotzdem danke für das Angebot!
Sterben zu müssen, ohne schummeln zu können, ist sehr beunruhigend, ich weiß. Zieht der Tod in unserem Umfeld ein, bringt er Schmerz mit und hinterlässt Lücken in unseren Reihen und Herzen, die nur schwer oder gar nicht wieder zu schließen sind. Er ruft Emotionen wie Wut und Ohnmacht in uns hervor, wir fühlen uns ungerecht behandelt, sind schockiert, und es tut einfach so, so weh. Oft denken wir dann: warum, warum, warum?
Und genau hier möchte ich ansetzen, am »Warum«, denn als Biologin gehe ich Dingen gern auf den Grund. In diesem Buch möchte ich zeigen, wieso der Tod unschön ist, wir ihn aber trotz allem brauchen. Wir sehen uns an, was Leben überhaupt ist und was mit uns im Laufe der Zeit passiert, wenn wir altern. Wir betrachten die Zellen, aus denen wir bestehen, treffen ungewöhnlich jung gebliebene Kiefern und schwimmen mit unsterblichen Quallen. Wir schauen uns einen Verwesungsprozess an, erfahren, wieso Geier manchmal auch Bestattungspersonal sind, und durchschreiten gemeinsam das Tal der Trauer. Und damit das alles auch anschaulich und nicht einfach fürchterlich theoretisch wird, brauche ich dafür ein wenig Unterstützung:
Das auf meiner Schulter ist Hermine, mein Zwerghamster. Sie lebte 2,5 aufregende Hamsterjahre bei mir, war Ausbrecherkönigin und Wuthamster, klug, niedlich und verdammt gerissen. 2019 musste ich sie nach kurzer, schwerer Krankheit leider einschläfern lassen, aber gerade deshalb eignet sie sich hervorragend dazu, Leben und Tod zu erklären. Legen Sie also dieses Buch bitte nicht eilig aus Angst vor dem schweren Thema weg, sondern nehmen Sie mutig Hermines felliges Pfötchen und kommen Sie mit auf die Reise.
Los geht’s!
LEBEN
Was ist das eigentlich, »lebendig« sein?
Bevor wir uns mit dem Sterben befassen, müssen wir uns natürlich anschauen, was Leben bedeutet. Sie sind gerade am Leben, die Buchstaben dieses Textes schlüpfen durch Ihre Pupille über den Sehnerv in Ihr Gehirn, verbinden sich dort zu Worten und ergeben nach kurzer kognitiver Verarbeitung einen Sinn. Sie atmen, Sie haben einen Puls, Sie sind sich bewusst: Ich bin lebendig, hier und jetzt. Doch wie entscheiden wir überhaupt, was ein Lebewesen ist und was nicht?
Wie vieles in der Wissenschaft ist das nicht ganz unumstritten, und je nach Disziplin und Perspektive gibt es unterschiedliche Definitionen und Kriterien. 1999 trug der israelische Wissenschaftler Noam Lahav 48 Definitionen für »Leben« zusammen1, Sie sehen also: Eine schnelle Antwort gibt es hier nicht. Für dieses Buch verwende ich eine der biologischen Betrachtungsweisen. Ein Lebewesen definiert sich demnach unter anderem über diese Eigenschaften:
Es muss sich selbstständig fortpflanzen können, zumindest theoretisch. Entweder geschlechtlich, wie zum Beispiel Hermine, oder ungeschlechtlich, wie es Bakterien durch Teilung machen.Es hat einen (Energie-)Stoffwechsel und tauscht dadurch Ressourcen mit der Umwelt aus. Beispiel: Wir essen und müssen danach irgendwann auf Toilette.Es ist in der Lage, einen physiologischen Balancezustand namens Homöostase zu erreichen, kann sich also selbst regulieren. Dazu gehören unter anderem unser Blutdruck, unsere Temperatur und eben all das, was wir brauchen, um unseren Körper am Laufen zu halten.Es kann Eigenschaften an die Nachkommen weitergeben, zum Beispiel die Augenfarbe oder Sommersprossen.Es ist reizbar, wobei hier kein cholerisches Temperament gemeint ist, sondern der Umstand, dass ein Lebewesen auf Reize von außen reagieren können muss.Es kann wachsen und sich entwickeln.Und natürlich ist hier noch ein Punkt sehr wichtig, und zwar: Lebewesen sind sterblich, unsere Zeit auf Erden ist also begrenzt.Wichtig ist zu erwähnen, dass diese Punkte nicht immer alle während der gesamten Lebenszeit erfüllt sein müssen. Ist ein Lebewesen im Alter nicht mehr fruchtbar oder war es krankheitsbedingt nie gewesen, bedeutet das natürlich nicht automatisch, dass es plötzlich kein Lebewesen mehr ist.
Schauen Sie sich mal in der Welt um. Vermutlich haben Sie ein gutes Gespür dafür, was ein Lebewesen ist und was nicht, oder? Ein Stein ist kein Lebewesen, ein Baum schon. Ziemlich klar. Ein Bakterium oder ein anderer Mikroorganismus? Bestimmt haben Sie mal während Ihrer Schulzeit oder in einem Video ein Pantoffeltierchen unterm Mikroskop hin und her flitzen sehen, wirkt also auch ziemlich lebendig. Und ein Virus? Ist das auch ein Lebewesen? Hm. Da wird es komplizierter.
Viren werden von den meisten Menschen intuitiv erst einmal zu den Lebewesen gezählt, genau wie Bakterien oder Pilze. Dennoch ordnet sie die Forschung nicht bei den Lebewesen ein. Wie kann das sein?
Viren sind eigentlich nur ein umhülltes Stück DNA oder RNA, also Erbgut. Ein Virus dockt mit seiner Hülle über Rezeptoren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip an Zellen an, dringt in sie ein, übernimmt die Kontrolle und vermehrt sich mithilfe der vorhandenen Zellstrukturen. Da dem Virus selbst jene Strukturen und die Möglichkeit einer unabhängigen Vermehrung fehlen, fällt es aus der Definition eines Lebewesens raus.
Sie sehen also: Was auf den ersten Blick sehr unkompliziert und intuitiv erscheint, also die Einteilung in »Lebewesen« und »kein Lebewesen«, ist manchmal gar nicht so einfach. Bleiben wir noch einmal kurz bei Bakterien und Viren hängen und schauen uns genauer an, was da los ist.
In der folgenden Grafik sehen wir, wie sich ein Bakterium teilt. Dafür braucht es niemand anderes, das kriegt es selbst ganz gut hin. Da sich Lebewesen selbstständig fortpflanzen und auch alle anderen Punkte aus der Checkliste erfüllt sind, ist klar, dass Bakterien zu den Lebewesen gehören.
So weit, so gut. Jetzt schauen wir uns mal Viren an. Für dieses Beispiel habe ich einen Bakteriophagen genommen, also ein Virus, das auf Bakterien als Wirte spezialisiert ist. Es gibt hier zwei Fortpflanzungsstrategien: lysogen und lytisch.
Der lysogene Zyklus funktioniert so: Der Phage sucht sich ein Bakterium und bohrt mit seinem hohlen Schwanzstift ein Loch in die Bakterienhülle (1). Nun injiziert er sein Erbgut (2), das dann in das schon vorhandene Bakterienerbgut eingebaut wird (3). Teilt sich das Bakterium jetzt, wie wir in der vorherigen Abbildung gesehen haben, wird das Virenerbgut mitkopiert und dadurch vermehrt.
Sofern das Erbgut keinen schädlichen Einfluss auf die Bakterienzelle hat, hat diese kein Problem.
Beim lytischen Zyklus sieht das jedoch anders aus. Auch hier dockt der Phage an (1) und gibt sein Erbgut in die Zelle ab (2). Im ersten Schritt baut sich das virale Erbgut ebenfalls in das Bakterienerbgut ein, übernimmt dann jedoch direkt die Kontrolle über die Zelle. Statt seinem Zell-Business nachzugehen, macht das Bakterium nichts anderes mehr, als Virenteile zu produzieren und dadurch neue Viren herzustellen (3). Ist die Zelle voll, platzt sie, die neuen Phagen strömen raus und sind bereit, neue Bakterien zu infizieren (4). Die Bakterienzelle stirbt dabei ab.
Ist ein Virus also ein Lebewesen? Wohl eher nicht. Auf den zweiten Blick ist vieles nicht so eindeutig, wie es zunächst scheinen mag. Diese Uneindeutigkeit gilt übrigens auch für die Frage, wann individuelles Leben beginnt und wann es endet. Wenige wissenschaftliche Fragestellungen werden so hitzig in unserer Gesellschaft debattiert wie dieser Punkt, und wenn man die Positionen zu den Themen anschaut, könnten sie kaum vielfältiger und unterschiedlicher sein.
Wann beginnt das Leben? Und wo endet es?
Für die katholische Kirche beginnt menschliches Leben direkt bei der Verschmelzung von Eizelle und Spermium. In der jüdischen Tradition geht man davon aus, dass der Embryo am 40. Tag nach der Befruchtung, also am 41. Tag, seine »Seele« bekommt. Im Islam gibt es unterschiedliche Konzepte, als frühester Punkt für die Beseelung wird aber auch hier der Zeitpunkt 40 Tage nach der Empfängnis betrachtet. Auch im naturwissenschaftlichen Bereich gibt es hier unterschiedlichste Definitionen. Für manche Disziplinen zählt der Moment der Empfängnis, für andere die Entwicklung des Nervensystems und so weiter.
Die Frage nach dem Leben ist insgesamt nicht nur eine medizinische, sie berührt auch gesellschaftliche und ethische Bereiche. Die naturwissenschaftlichen Diskussionen stehen nicht solitär, über diese Fragestellungen wird ebenfalls aus religionswissenschaftlicher, sozialwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive diskutiert und darum gestritten. Von der Antwort auf die Frage »Wann beginnt das Leben?« hängt zum Beispiel ab, bis zu welchem Zeitpunkt wir Schwangerschaftsabbrüche zulassen und ob, wie und in welchem Umfang wir an embryonalen Stammzellen forschen möchten.
Doch nicht nur der Beginn unseres Lebens ist immer noch Verhandlungssache. Die Abwesenheit einer einfachen Antwort gilt auch für unser Lebensende. Biologisch tot ist man, wenn das Herz nicht mehr schlägt und die Atmung eingestellt ist, sodass die in unserer Checkliste aufgeführten Punkte nicht mehr durchführbar sind – ohne Herzschlag klappt es mit der selbstständigen Fortpflanzung oder dem Essen zum Beispiel eher nicht so gut. Doch oft ist dieser Zustand durch Reanimation reversibel, also umkehrbar. Für den Gesetzgeber reicht die biologische Definition demnach nicht aus, um jemanden für tot zu erklären. Denn was ist, wenn man die Person wiederbelebt? Was ist, wenn man sie an eine Herz-Lungen-Maschine anschließt und dadurch Atmung und Blutkreislauf künstlich aufrechterhält? Müsste sie auf diese Art und Weise für immer weiterleben, oder gibt es noch andere Kriterien, die wir zur Bewertung heranziehen können und müssen, sodass man die Maschine doch lieber abstellt?
Das hat sich unser Gesetzgeber natürlich auch gefragt, weshalb es einen Unterschied zwischen diesem manchmal umkehrbaren biologischen und dem gesetzlich genormten, also dem juristischen Todeszeitpunkt gibt. Die aktuell in Deutschland geltende juristische Definition vom Tod eines Menschen setzt voraus, dass Mediziner:innen keine ausreichende selbstständige Hirnaktivität mehr nachweisen können und dieser Zustand nicht mehr umkehrbar ist – es muss also ein sogenannter Hirntod vorliegen. Die Überprüfung dieser Definition ist freilich erst möglich, seit wir den Hirntod durch Verfahren wie der Messung der Hirnströme und Ähnlichem feststellen können. Ende der 1960er Jahre hat man diesen neuen Begriff eingeführt und vorgeschlagen, ihn als Todeszeichen anzuerkennen2. Seine Definition wurde im Laufe der folgenden Jahre immer mal wieder nachgeschärft, in den letzten Jahrzehnten hat sie sich jedoch nicht mehr wesentlich gewandelt.
In Zeiten, in denen wir Hirnaktivitäten noch nicht messen konnten, mussten natürlich andere Parameter her. So wurde der Tod früher vor allem durch die eben erwähnte Abwesenheit von Atmung und Herzschlag festgestellt, wobei es immer wieder zu Pannen kam. Es ist nicht unbedingt so leicht zu erkennen, ob jemand nur sehr flach atmet oder gar nicht mehr. Bis weit in die Neuzeit behalf man sich deshalb mit eher provisorischen Methoden wie Spiegeln, die vor den Mund gehalten wurden, um zu sehen, ob diese beschlügen. Oder man stellte Wassergefäße auf der Brust der Menschen ab, um zu beobachten, ob sich das Wasser bei einem kaum merklichen Heben und Senken der Brust oder einem sehr schwachen Herzschlag bewegte. Man fühlte den Puls und versuchte festzustellen, ob es noch Herztätigkeit gab. Methoden gab es viele, dennoch lieferten diese nicht immer optimale Ergebnisse; vor allem dann nicht, wenn es zu vermehrten Todesfällen bei Epidemien kam, zum Beispiel, als die Pest in Europa wütete. Die Geschichte vom »lieben Augustin« berichtet, dass dieser im Alkoholrausch gemeinsam mit Pestopfern in ein Massengrab geworfen wurde, da man ihn für tot hielt. In solchen Extremsituationen mussten Ärzt:innen sehr schnell sehr viele Menschen untersuchen und konnten nicht immer die notwendige Sorgfalt aufwenden, sodass Geschichten von lebendig vergrabenen Personen auftauchten. Die Angst, ein solches Schicksal zu erleiden, war aufgrund anekdotischer Erzählungen bei der Bevölkerung irgendwann so groß, dass Menschen testamentarisch verfügten, besonders lange in der Leichenhalle aufbewahrt zu werden, dass man ihnen doch die Pulsadern durchschneiden möge oder ihnen das Herz durchdolche, bevor man sie in den Sarg legte. Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski, der wohl zu sehr tiefem Schlaf neigte, legte sich immer einen Zettel neben das Bett, auf dem geschrieben stand: »Sollte ich in lethargischen Schlaf fallen, begrabe man mich nicht vor … Tagen!«3, und auch Edgar Allan Poe war bei diesem Thema bekanntermaßen »leicht angespannt«, wie man mehreren seiner Erzählungen entnehmen kann. In seiner Kurzgeschichte »Der Fall des Hauses Usher« wird zum Beispiel eine Frau von ihrem Bruder versehentlich lebendig begraben.
Ich bin ziemlich froh, in einer Zeit zu leben, in der wir hier schon weiter sind. Und das wird auch noch nicht das Ende sein, denn es wird ja immer noch weiter geforscht – so viele Dinge geben uns Rätsel auf, Todeszeitpunkt, Koma, Schlaf. Wir haben diese Phänomene zwar mit dem Wissen, das wir haben, definiert, jedoch gilt das eben nur bis jetzt. Bis zum Ende verstanden haben wir sie dennoch noch nicht.
Viele wissenschaftliche Prinzipien sind unumstößlich, klar. Niemand wird ernsthaft anzweifeln wollen, dass 2+2 4 ergibt. Es wird vermutlich auch niemand die Schwerkraft hier auf der Erde infrage stellen – es gibt sie also, die festgeschriebenen Regeln. Dennoch: Nicht alle wissenschaftlichen Entdeckungen sitzen dauerhaft so fest im Sattel wie die binomischen Formeln oder die beinahe kugelige Form unserer Erde. Erkenntnisse erneuern sich ununterbrochen, Definitionen verschieben sich gleichzeitig mit Werten und Normen. Viele Menschen schreiben der Wissenschaft eine Eindeutigkeit zu, die es so nicht gibt. Wissenschaft ist in Bewegung, ein niemals anhaltendes, ewig rumorendes Uhrwerk. Es werden neue Erkenntnisse generiert, die sicher Geglaubtes plötzlich grundsätzlich infrage stellen, neue Messmethoden schmeißen komplette Theorien um, und wir lernen ständig dazu. So manche:r fühlt sich dadurch verunsichert und bedroht, wünscht sich eine Wissenschaft, die sich breitbeinig hinstellt und sagt: So ist es, und so bleibt es! Doch so eine Wissenschaft gibt es nicht – zum Glück! Sonst würden wir immer noch Leute begraben, die »irgendwie tot wirken«, oder hätten gar nicht all die spannenden Phänomene entdeckt, um die es in diesem Buch noch gehen wird.
Unser Leben als Zellhaufen
Das Leben meines Dsungarischen Zwerghamsters Hermine gliederte sich – wie unseres auch – in mehrere Abschnitte: Zuerst kam es zur Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium. Aus dem dadurch entstandenen Embryo entwickelte sich Hermine im Leib ihrer Mutter so weit, dass sie sich nach rund 20 Tagen der Welt da draußen stellen konnte. Doch auch nach der Geburt war sie natürlich noch kein fertiger Hamster, nein. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf war riesig im Vergleich zum Rest ihres Körpers. Sie krabbelte wie ein blindes, behaartes Shrimp durch die Gegend, während ihre alleinerziehende Hamstermutter (der Papa wird meist noch vor der Geburt aus dem Nest vertrieben) versuchte, die Kleine immer wieder einzufangen und so lange am Leben zu halten, bis sie weit genug entwickelt war, um von zu Hause auszuziehen. Hermine erreichte bald nach ihrer Teenagerzeit die Spitze ihrer Vitalität. Sie lebte ein wildes Hamsterleben, wurde nach zwei Jahren eine gebrechliche Seniorin mit Buckel und einem blinden Auge und trat dann irgendwann in die Sterbephase ein. Schließlich ging sie, unterstützt von einer Tierärztin, in den Tod und ließ mich mit ihrer sterblichen Hülle im Leben zurück.
So weit, so traurig. Aber nicht verzagen, es geht jetzt nicht sofort um das Sterben, denn wir spulen zunächst noch einmal an Hermines Lebensanfang zurück – zur Zeit der Möglichkeiten, der Sonnenblumenkerne und der heimlichen Käfigausbrüche, als sie Teenager und noch in der Entwicklung war. Mit »Entwicklung« bezeichne ich im Folgenden alle Vorgänge, die in Hermines Körper ablaufen, um aus einer Eizelle und einem Spermium einen erwachsenen Hamster zu machen. Lassen Sie uns also jetzt ein Mikroskop nehmen und ganz nah an der Hamsterschnute vorbei ins Hamsterinnere zoomen.
Die Zelle
Als Erstes schauen wir uns einen der kleinsten funktionalen Bausteine an, aus denen dieses beeindruckende Raubtier besteht (Hermine hat schon einmal eine Spinne gejagt und erlegt, also bitte). Aus diesen Bausteinen ist auch unser Körper zusammengesetzt: aus tierischen Zellen. Es gibt auch pflanzliche Zellen, da ich jedoch vermute, dass der Großteil meiner Leser:innenschaft aus Menschen oder Hamstern und nur aus wenigen Pflanzen besteht, klammere ich das jetzt erst einmal aus. Sollte sich irgendeine Pflanze dadurch benachteiligt fühlen, kann sie mir gern über meine Webseite jasmin-schreiber.de eine E-Mail schicken.
Dies hier ist natürlich eine sehr vereinfachte Darstellung, aber für das Grundverständnis reicht sie. Erlauben Sie mir kurz einen Rundgang durch diese Zelle, und verzeihen Sie mir eventuell die düsteren Erinnerungen an Ihren Biologieunterricht (ganz ehrlich, der war bei mir auch nicht immer so dolle, ich fühle Ihren Schmerz). Also:
Die tierische Zelle wird von einer flexiblen Zellmembran umgeben, die das Zellinnere gegen das Äußere abschirmt. Im Inneren der Zelle existieren Kompartimente, also Unterteilungen, genau wie in unserem Körper. Da schwimmt ja auch nicht alles wild durcheinander, sondern wir haben einzelne Organe, die vom Rest des Körpers abgegrenzt sind und an ihrem Platz gehalten werden – das Herz kann uns also zum Glück nicht wirklich in die Hose rutschen. Diese innere Organisationsform haben Zellen auch, dort nennt man die funktionalen Einheiten jedoch nicht Organe, sondern Organellen. Und jede dieser Strukturen hat natürlich eine ganz bestimmte Aufgabe.
Extrem wichtig ist der Zellkern, denn er enthält den Großteil des Erbguts der Zelle und ist quasi eine Mischung aus Informationsdatenbank und Schaltzentrale. Von der Relevanz her ist er mit unserem Gehirn zu vergleichen. Im Zellkern liegen die Chromosomen als Chromatin vor. Menschliche Zellen haben 46 Chromosomen, die Zellen von Hermine 28. Die Chromosomen enthalten Hermines DNA und damit ihre Gene. Das bedeutet, dass dort alle Informationen über sie gespeichert sind, von ihrer Fellfarbe (weiß) über die Form der Zähne (hamsterzahnförmig, zwicken gern in menschliche Finger, wenn man dem Hamster die Krallen schneiden will) bis hin zu ihren Proteinen.
Um den Zellkern herum ist eine Struktur angelagert, deren Name mich seit der Schulzeit bis in meine Träume verfolgt. Würde man mich nachts wecken und mir »BIOUNTERRICHT!« ins Gesicht schreien, würde ich noch im verschlafenen Autopilot sofort zurückschreien: »ENDOPLASMATISCHESRETIKULUM!« Ich bin mir sicher, vielen von Ihnen geht es genauso. Das Endoplasmatische Retikulum (ER) gibt es in einer rauen und einer glatten Form und stellt einerseits wichtige Bausteine für die Zelle her, dient aber auch als Kanalsystem für Stofftransporte. An der rauen Form sehen Sie in meiner Zeichnung diese kleinen Punkte, das sind die Ribosomen. Durch diese Kügelchen ist das raue ER in der Lage, Proteine herzustellen. Proteine haben wichtige Aufgaben in der Zelle, sie lesen zum Beispiel die DNA ab und bauen nach dieser Vorlage andere Zellbestandteile. Das glatte ER, an dem keine Kügelchen hängen, produziert Fettsäuren und speichert auch Kalzium. Im Großen und Ganzen ist dieser Komplex also dafür zuständig, bestimmte Proteine, Lipide und auch Steroide (Hormone) herzustellen und Stoffe einzulagern – einen Dachboden gibt es ja nicht. Auch für die Zellentgiftung ist dieses Kanalsystem sehr wichtig.
Schauen wir weiter in der Zelle umher, entdecken wir in der Zeichnung noch den sogenannten Golgi-Apparat. Er arbeitet mit dem ER zusammen und hilft, grob gesagt, beim Zellstoffwechsel mit. Das Endoplasmatische Retikulum schickt ihm Proteine, die seine Ribosomen gebaut haben. Der Golgi-Apparat schaut sich die an, sagt »ja okay, schon ganz gut, das geht aber noch besser« und baut hier und da noch etwas um, damit auch wirklich funktionstüchtige Proteine herauskommen.
Dann gibt es natürlich auch in Zellen, so wie in uns, Bereiche, die so ein bisschen für Sauberkeit und Ordnung sorgen. Die Peroxisomen gehören zu jenen Organellen, die in der Zelle aufräumen. Sie verarbeiten zum Beispiel giftiges Wasserstoffperoxid zu Sauerstoff und Wasser und sorgen auch dafür, dass Abfall, der in der Zelle bei den ganzen ablaufenden Reaktionen und Prozessen auch mal anfällt, verstoffwechselt wird.
Lysosomen sind eine Art Müllabfuhr und damit ebenfalls Teammitglieder im Putztrupp, die zelleigene und zellfremde Stoffe verdauen, damit sich der Schmodder nicht in allen Ecken sammelt. Außerdem achten sie auch darauf, dass keine Zelle dem Körper gefährlich werden kann. Wenn irgendetwas im Zellstoffwechsel schiefläuft oder eine Zelle beginnt, sich unkontrolliert zu teilen, setzen sie die Apoptose in Gang, also den kontrollierten Zelltod – doch dazu später mehr.
Schauen wir uns weiter in der Zelle um. Der nächste Satz aus dem Biounterricht, den viele meiner Freund:innen, die mit Biologie so gar nichts am Hut haben, auf Nachfrage wie aus der Pistole geschossen aufsagen können: »Die Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zelle.« Die länglichen, Hot-Dog-artigen Erscheinungen in meiner Zeichnung sollen genau diese sagenumwobenen Mitochondrien darstellen; sie sind im Wesentlichen dafür da, Energie zu gewinnen, die die Zelle braucht, um ihre Stoffwechselprozesse und Reaktionen am Laufen zu halten. Wo wir gerade bei Snacks sind: Bei den Strichen rechts handelt es sich nicht um Pommes, sondern um Mikrotubuli, die zum Zellskelett gehören und auch bei der Zellteilung eine Rolle spielen, genau wie die Centriolen.
So. Das war jetzt ein erster grober Überblick. Ganz schön viel los in so einem kleinen Ding, oder? Wenn eine Zelle jetzt eine bestimmte Aufgabe hat, trägt sie noch andere Organellen in oder an sich. Eine Spermazelle hat zum Beispiel noch eine Flagelle, also dieses kleine Schwänzchen, mit dem sie sich fortbewegt. Andere Zellen haben Strukturen, mit denen sie Sekrete abgeben oder etwas binden und transportieren können, und so weiter.
Um einen ganzen Hamster zusammenzubauen, braucht man natürlich erstens mehr und zweitens ganz bestimmte Zellen. Und das führt uns zu den nächsten Punkten:
Zellwachstum
Für Hermines Wachstum sind Prozesse essenziell, die sich im Laufe ihres Lebens häufig wiederholen werden. Der wichtigste Vorgang ist dabei die Zellteilung und daraus resultierend die Zellvermehrung, was wir in der Fachsprache Proliferation nennen. Doch Zellvermehrung allein macht noch keinen Hamster, sonst wäre Hermine nur ein unförmiger, kleiner Zellhaufen.
Wenden wir uns also dem zweiten wichtigen Vorgang zu: der Zelldifferenzierung. Eine Nierenzelle hat einen ganz anderen Job als eine Blutzelle – jede Zelle in Hermines und auch in unserem Körper hat eine eigene Spezialisierung, genau wie ich Biologin und Schriftstellerin bin und meine Hündin hingegen denkt, ihr Job sei es, den Mülleimer »heimlich« und »unbemerkt« auszuräumen, während ich nicht zu Hause bin. Wir haben also alle unsere Aufgaben.
Betrachten wir jetzt erst einmal, wie Hermine ganz am Anfang ihres Lebens aussieht – und zwar als einzelne Zelle. Hermines Mutter war ungefähr alle vier bis fünf Tage empfängnisbereit, Hamster könnten also theoretisch in Massenproduktion gehen (und machen das auch). Nachdem ihre Eltern ein unvergessliches 1,4 Sekunden langes Sexdate hatten, liegt Hermine als Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, genannt Zygote, im Uterus ihrer Hamstermutter vor. Diese eine Zelle reicht, um einen kompletten, (aufgerichtet) sechs Zentimeter großen und sehr resoluten Zwerghamster hervorzubringen. Und das kann diese einzelne Zelle, weil sie totipotent ist, was bedeutet: Sie kann alles werden! Ja, genau – das ist das, was wir unseren Kindern immer erzählen, nur dass es bei diesen Zellen stimmt und wir ihnen das nicht nur einreden, damit sie sich bitte endlich ein bisschen mehr beim Mathelernen anstrengen.
Zygoten-Hermine behält diese Flexibilität für insgesamt drei Zellteilungen bei: Aus einer Zelle werden zwei, daraus vier, aus diesen vier Zellen schließlich acht Zellen. Würde man den kleinen Zellhaufen, der später einmal Hermine heißen wird, auseinandernehmen, also aus den vier vorliegenden Zellen zwei mal zwei Zellen machen, würden sich daraus problemlos zwei komplette Hamster entwickeln. Wieso? Weil die Zellen immer noch totipotent sind und spüren: Okay, wir sind jetzt wieder nur zu zweit, jetzt müssen wir uns also noch mal ein bisschen teilen, bis wir irgendwann zu acht sind!
Der kleine Zellhaufen verliert im Laufe der Teilungen bald die Möglichkeit, sich in sich neu entwickelnde Organismen auseinandernehmen zu lassen – die Zellen sind dann nur noch pluripotent, was aber immer noch ganz schön viel zu bieten hat. Ein zweiter Hamster kann daraus jetzt zwar nicht mehr entstehen, jedoch können sich diese Zellen auf alles Mögliche spezialisieren. Sie können zu Nierenzellen heranreifen oder zu Herzzellen, sie können die Wände der Blutgefäße bilden oder den Sehnerv, sind also noch für alle Gewebetypen offen. Wenn sich die Zellen für einen Weg entschieden haben, verlieren sie auch ihre Pluripotenz und spezialisieren sich noch etwas mehr: Sie werden zu organspezifischen, multipotenten Zellen, die wir in der Wissenschaft als adulte Stammzellen kennen – vielleicht haben Sie davon auch schon einmal in der Zeitung gelesen. Diese Zellen haben sich bereits für ein Organ entschieden und sind dann relativ festgelegt auf diesen Bereich, wenngleich es innerhalb der Niere beispielsweise auch noch verschiedene Zelltypen gibt.
Ich schreibe »relativ«, weil man in neueren Forschungen entdeckt hat, dass man aus einer adulten Blutstammzelle durchaus wieder eine Knochenstammzelle machen kann, wenn man sie in die entsprechende Umgebung verpflanzt. Auch hier sehen Sie wieder: Es ist nicht immer alles schwarz-weiß.
Nach der Festlegung auf ein Organ entwickeln sich die multipotenten Zellen zu Vorläuferzellen, was eine Vorstufe der fertig spezialisierten Organzelle ist, und im darauffolgenden Stadium können die Zellen endlich ihrer wahren Bestimmung folgen und legen sich dauerhaft fest.
Diese ausgereiften Organzellen nehmen dann sofort ihre Arbeit auf und können sich selbst nicht mehr teilen, weil ihre wilde Teeniezeit vorbei ist und sie nun ausgewachsene und verantwortungsvolle Mitglieder der Zellgesellschaft sind. Wenn sich Hermine also versehentlich irgendwo das kleine Hamsterknie aufreißt, teilen sich nicht die erwachsenen Hautzellen, die sind in ihrer Karriereplanung nämlich schon so weit, dass eine Familiengründung keine Option mehr ist. Nein, es teilen sich die ebenfalls immer noch vorhandenen Vorläuferzellen, die sogenannten Progenitorzellen, damit das Loch in der Haut geschlossen und das Knie schnellstmöglich wieder von intakter Haut bedeckt wird.
Diese ganzen Prozesse, die ich eben beschrieben habe, finden nicht nur in der Entwicklungszeit, also während des Heranwachsens, statt. Zellteilung, Differenzierung und Wachstum begleiten uns unser Leben lang, was sehr wichtig ist. Durch diese Vorgänge können sich unsere Organe regenerieren, und wenn sich der Friseur verschnitten hat, wissen wir, während wir vorgeben, die neue Frisur zu mögen, dass wir nicht für immer so herumlaufen müssen, denn: Haare wachsen nach.
Ich nehme mir hier einmal kurz Zeit, um in diesem Kontext mit einem Mythos aufzuräumen. Bestimmt haben Sie auch schon einmal gehört oder gelesen, dass sich der menschliche Körper alle sieben Jahre komplett erneuere. Die schlechte Nachricht: Das ist nicht wahr. Die gute: Es ist so ähnlich.
Würde sich unser Körper alle sieben Jahre komplett erneuern, hätten Zahnärzt:innen wenig zu tun, und wir wären alle ewig jung. Doch unser Zahnschmelz regeneriert sich zum Beispiel nicht von selbst, egal, was Ihnen Zahnpasta-Firmen einreden wollen. Die Leber ist alle zwei Jahre wie neu, unser Skelett ist nach rund zehn Jahren einmal runderneuert, und unsere Rippenmuskulatur hat ungefähr fünfzehn Jahre auf dem Buckel. Unser Dünndarm? Braucht sechzehn Jahre, um einmal komplett ausgetauscht zu sein. Das gilt übrigens alles für nicht geschädigte Organe; wenn zum Beispiel Alkoholiker:innen schon eine Leberzirrhose haben, gestaltet sich das alles anders, klar. Recht eilig mit dem Regenerieren hat es unsere Haut, die erneuert sich alle zwei Wochen. Fun Fact: Pro Tag verteilen wir ungefähr vierzehn Gramm abgestorbener Hautzellen in unseren Wohnungen und Büros. Pro Person. Lecker!*
Das klingt natürlich alles erst einmal so, als ob wir eigentlich gar nicht sterben müssten. Dass dem leider nicht so ist, erzähle ich im Laufe dieses Buchs.
Zelltod
Würden unsere Zellen einfach immer weiterwachsen, wären wir irgendwann komplett überwuchert. Und wären sie irgendwann fertig und würden niemals absterben, müssten wir mit uralten Zellen herumlaufen, die an allen Ecken und Enden quietschen und knarzen – nicht sehr effizient. Es ist also klar: Zellen können nicht ewig leben. Und damit in Hermines und unseren Körpern ein gleichmäßiges und gut organisiertes Entstehen, Wachsen und Absterben von Zellen möglich ist, hat sich die Natur auch dafür etwas sehr Schlaues einfallen lassen: den kontrollierten Zelltod durch Apoptose.
Die Apoptose ist sehr wichtig für Entwicklungsprozesse und die Instandhaltung eines Körpers. Ohne das gezielte Absterben der Haut zwischen unseren Fingern während der Embryonalentwicklung hätten wir zum Beispiel alle noch Schwimmhäute. Auch Kaulquappen würden ohne Apoptose ihren Schwanz nicht abwerfen, sodass sie als erwachsene Frösche immer mit dem Gebimsel am Hintern herumhüpfen müssten.
Apoptose kann durch äußere Signale ausgelöst werden, die Zelle kann den Vorgang aber auch selbst starten. Wenn sie zum Beispiel merkt, dass ihre Teilung außer Kontrolle gerät, kann sie den Notschalter drücken und sich selbst töten. Der Zellinhalt fragmentiert, die Zelle schrumpft und wirft Bläschen, Immunzellen entdecken diese dann und entsorgen sie – Problem gelöst. Dieser Prozess ist sehr wichtig für die Vermeidung unkontrollierten Zellwachstums, denn dieses kann bei verminderter Apoptose-Tätigkeit letztlich zu Tumoren und damit auch zu Krebs führen. Das andere Extrem: Bei übereifrig ausgelöster Apoptose werden Zellen eliminiert, die unser Körper eigentlich braucht. So etwas geschieht bei Autoimmunerkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes Typ I oder Multipler Sklerose.
Vielleicht fragen Sie sich gerade: Ich habe Bio damals abgewählt, wieso erzählt die das jetzt? Ganz einfach: Durch das Verständnis von Zellentstehung und Zelltod haben wir zwei Dinge gelernt:
Auch Zellen kommen zur Welt.Auch Zellen müssen sterben.Ein optimales Gleichgewicht von Leben und Tod in unserem Körper ermöglicht uns überhaupt erst ein gesundes Leben. Gäbe es den Tod nicht, würden wir uns entweder mit uralten und kaum funktionierenden Zellen eher schlecht als recht herumschleppen, oder wir wären durch die Gegend suppende Zellhaufen, die immer größer werden würden. Für mich persönlich klingt beides jetzt nicht unbedingt nach Optionen, auf die ich viel Lust habe.
Der Tod kann fies sein, ja. Kann er unfair sein? Na klar. Aber er ist auch notwendig, im Kleinen wie im Großen, so ungern ich das zugebe. Als Vorsitzende der Menschen mit Aufschieberitis e.V. wäre ein Leben ohne absehbares Ende eine absolute Katastrophe für mich. Keine Ahnung, ob ich überhaupt noch etwas tun würde, wenn ich es noch morgen oder in zweitausend Jahren machen könnte. Dieses Buch hätte ich dann wohl nie an meine Lektorin abgegeben, ich würde für immer am selben Baum vorbeilaufen, für immer mit denselben Menschen zu tun haben, seit Jahrtausenden dieselben Kolleg:innen haben – und jetzt nichts gegen die, aber ich würde vermutlich schon nach hundert Jahren um den Tod flehen. (Einige von Ihnen werden das kennen.)
Ohne den Tod gäbe es weder Entwicklung noch Zukunft, sondern lediglich ein immer gleiches Hier und Jetzt. Dinge können nur anfangen, wenn vorher etwas geendet ist, wenn da vorher eine Leerstelle war, die ja irgendwo herkommen muss. Sonst wäre es kein Anfang. Ja, das sind Binsenweisheiten, aber das macht sie nicht weniger wahr. Vielleicht geht es Ihnen da anders, aber eine Welt ohne Wandel wäre für mich eine absolut albtraumhafte Vorstellung.
Also, Tod? Nein, ich bin deshalb immer noch kein Fan. Ich vermisse Hermine, ich vermisse meine Menschen, die mich mit ihren sterblichen Hüllen in dieser Welt zurückgelassen haben und unwiederbringlich fort sind. Außerdem habe ich keine Lust zu sterben. Und dennoch ist mir klar, dass ich in keiner Welt leben wollte, in der es keinen Tod gäbe. Von daher: Arrangieren wir uns im Verlauf dieses Buchs mit dem Umstand, dass es so ist.
* als begeisterte Milbe gesendet
ALTERN
VORKURZEMHABEich mein erstes graues Haar entdeckt, als ich im Dorf meiner Mutter im Feld spazieren war und dabei viele peinliche Selfies geschossen habe in der Hoffnung, dass mich niemand dabei beobachtet. Vielen Menschen macht die Vorstellung des ersten grauen Haares Angst, sie reißen es raus, holen im nächsten Drogeriemarkt eine Packung Farbe, würden gerne die Zeit anhalten. Meine Begegnung mit dem ersten grauen Haar war eine friedliche, ich dachte: aha! Ich werde alt! Dabei werde ich das ja nicht erst seit Kurzem. Während ich das hier tippe, bin ich zweiunddreißig Jahre alt. Das ist jetzt nicht sonderlich beeindruckend in der westlichen Welt im Jahr 2020 – wäre ich jedoch eine Ehefrau Heinrichs des Achten, hätte ich quasi meinen Lebensabend schon erreicht.
Bei der Definition von Altern ist es wie bei der eines Lebewesens: wirkt im ersten Moment recht einfach. Dennoch gibt es auch hier wieder einmal keine allgemein anerkannte Definition, die alles abdeckt und auf die sich alle Wissenschaftler:innen einigen können. Dennoch: Nehmen Sie mal einen Stift und ja, Sie sollen jetzt hier ins Buch kritzeln. Schreiben Sie bitte hier Ihre persönliche Definition hinein, und wir schauen dann gleich mal, ob sie nach diesem Kapitel bestehen bleibt oder sich ändert.
Wenn ich jetzt gleich über die Gesetzmäßigkeiten des »Alterns« schreibe, beziehe ich mich hier auf das sogenannte primäre Altern. Mit diesem Ausdruck beschreiben wir die zellulären Alterungsprozesse, also unser physiologisches Altern. Veränderungen, die unser Körper durchmacht, ohne dass eine Krankheit dafür ausschlaggebend ist. Dabei geht es um Prozesse, die wir auch durchlaufen würden, wenn wir für immer kerngesund wären – also Falten, Haarausfall, die plötzliche Fixierung auf das Einhalten mittäglicher Ruhezeiten in der Nachbarschaft, so was eben.
Es gibt noch eine weitere Form des Alterns, und zwar das sekundäre Altern durch Schäden. Das beschreibt Einflüsse, die das primäre Altern verstärken und auch beschleunigen: Krankheiten, zu wenig Sport, Drogen- und Alkoholkonsum, ein etwas lascher Umgang mit Strahlung (ja, auch Sonneneinstrahlung!) und falsche Ernährung sind nur einige Aspekte, die uns dem Grab schnell näher bringen**. Darum geht es aber jetzt erst einmal nicht.
Früher definierte man Altern grob gesagt so: als Verlust von Fähigkeiten im Laufe der Zeit.