Marienglas - Henrich Dörmer - E-Book

Marienglas E-Book

Henrich Dörmer

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Beschreibung

So hatte der Gerichtsmediziner Karl Wiesenholder sich seinen letzten Abend in Gießen nicht vorgestellt. Seine Abschiedsfeier auf dem Schiffenberg endet dramatisch. Offenbar wurde der Archäologe Arnd Lotner mit einer Fechtwaffe schwer verletzt. Doch von dem Historiker fehlt jede Spur. Weder die Studenten der schlagenden Verbindung "Scephenburgia", die das ehemalige Kloster als Pauklokal nutzen, noch die Mitglieder eines Geselligkeitsvereins wollen etwas mitbekommen haben. Als einziger Anhaltspunkt dient Kommissar Simon Rau ein Schriftstück aus der Renaissance, das er am Tatort entdeckt, die Handschrift eines alten Meisters. Der Besuch einer Auktion im Café Astoria, die Telefonistin Marlene Bellring und der Schweizer Sachverständige Urs Pfyn führen den Ermittler Jahrhunderte in der Kunstgeschichte zurück und in die Zeit, als der Schiffenberg noch Sitz von geistlichen Ordensrittern war.

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Für Katharina

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Pinkel ohne Labskaus

2. Gießen bei Nacht

3. Maria, hilf!

4. Brunnen, Klinge, Papier

5. Guggemüssemer!

6. Hier Amt, was beliebt?

7. Die drei vorm Café Bück-dich

8. Das rollende R

9. Das Mädchen mit den spitzen Ohren

10. Dä feini Herr Komtur

11. Camera Helvetica

12. Von Füchsen und Walfischen

13. Der Maschinenmensch

14. Rüddingshäuser Bease

15. Zuschlag zum Quadrat

16. Der blaue Engel

17. Röslein in Sonnenblumen

18. Bauernfrühstück

19. Dem Freund die Stirn

Epilog

Über die Handlung

Danke

Grundriss der Domäne Schiffenberg

Stadtplan von Gießen in 1928

Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.

Paul Klee

Prolog

27. April 1809

Die Mähne des Rappen tobte im Wind. Der Schweif schien zu fliegen, Schaumplacken stoben aus Maul und Nüstern, um sich augenblicklich in der beigefarbenen Wolke zu verlieren, die ihm und dem an seiner Seite dahin rasenden Schimmel folgte. Fast schien es, als wollten die beiden ihren noch langgezogenen Schatten endgültig entfliehen. Bald durchzog die Staubfahne fast das gesamte Tal, noch immer reichte der bräunliche Dunst zurück bis zu den südlichen Wallanlagen und verdeckte die Sicht auf Universität, Zeughaus und Stadtkirchturm. Allein, für einen Blick zurück war nicht die Zeit. Nur kurz verringerte der Reiter des pechschwarzen Rosses den Druck seiner Schenkel. Sofort verlangsamte sich die Geschwindigkeit der beiden Pferde, aber nur soviel, dass er, die Zügel sowohl des Rappen als auch des Schimmels in Händen haltend, das weiße Ross nah an sich heranziehen konnte. Wenngleich noch immer im Galopp, passte zwischen beide Tiere nun nicht mehr als eine Elle. Mit einer schnellen Bewegung kontrollierte er, dass sich der helle Mantel mit dem schwarzen Kreuz auf der linken Seite nicht im Riemenwerk verfangen hatte, dann stieg er aus dem Sattel und tat einen Satz hinüber auf den Schimmel, zum letzten Mal an diesem Morgen. Sofort entledigte er sich der Zügel des schwarzen Hengstes, den Anstieg hinauf zum Schiffenberg würde er mit nur einem Pferd schneller bewältigen. Das andere fiel bald zurück, es würde den Rest des wohlbekannten Weges im Schritt zurücklegen dürfen, um seinen Futterplatz zu finden.

Kurz nachdem der Reiter den Waldrand erreicht hatte, verfiel er in Trab, den schnelleren Galopp ließen die tiefhängenden Äste und die schmale, immer stärker ansteigende Schneise nicht zu. Zumindest verhinderte das mit zartem Grün geschmückte Gehölz des Forstgartens, dass der Reiter mit dem strähnigen Haar unter der Kapuze weiter von der Morgensonne geblendet wurde. Zu gern hätte er seinem wackeren Ross eine Rast am Hirtenbrunnen gegönnt, dem erquickenden Quellbrunnen, der an einen anderen Postillion erinnerte, wenn auch an einen, dem weiland ein viel vergnüglicherer Botendienst vergönnt gewesen war: als Postillion d'amour zwischen den Augustinern auf dem Berg und den Cellaner-Chorfrauen hier unten, wo heute nicht einmal mehr ein Stein an sie erinnerte. Doch ein Halt, so kurz vor dem Ziel, hätte die Mühen der letzten anderthalb Stunden ad absurdum geführt, wäre der wilde Ritt vom Marburger Schlossberg durchs Lahntal hindurch bis hierhin bar jeden Sinnes gewesen. Indes schlug ein herunterhängender Ast dem Reiter die Gedanken an die Vergangenheit sprichwörtlich aus dem Kopf, der bis hierhin mit Basaltsteinen gepflasterte Weg verengte sich nun zu einem Pfad, der Anstieg geriet so steil, dass mehr als Schritt dem Pferd beim besten Willen nicht länger möglich war. Nach einer knappen Meile verdunkelte sich der Wald, auch wenn sich die frühlingshafte Lichte der Bäume nicht geändert hatte. Vielmehr waren es die wie eine Felswand anmutenden, dunklen Fundamente der Propstei. Der Schimmel hob den Kopf und blubberte leise, es war ihm anzumerken, dass er über die Ankunft genauso erleichtert war wie sein Reiter, der ihm dankbar den Hals tätschelte.

Der Bote erreichte den Innenhof des Ordens über das sogenannte Eselstor, unmittelbar rechts des westlichen Chors der Basilika und links von Pferdestall und Brauhaus gelegen. Sogleich saß er in einer schwungvollen Bewegung ab und sah sich um. Direkt vor ihm trottete ein betagter Kaltblüter, dessen Trense an einer Holzstange befestigt war, auf einer nur wenige Meter messenden Kreisbahn, um auf diese Weise das Wasser des Brunnens daneben, ein großes Holzfass ruhte auf dessen Sandsteinfassung, aus großer Tiefe nach oben zu pumpen. Das ältliche Tier schien bis zu diesem Zeitpunkt das einzige Lebewesen auf dem Hof zu sein. Der Schimmel des Reiters begrüßte ihn mit einem kurzen Schnauben.

«Welch trügerisches Bild!», seufzte er in sich hinein, als er den Blick über das ovale Rund des durch Ringmauer und Gebäude vollständig geschlossenen Innenhofes schweifen ließ. Südlich der altehrwürdigen Basilika, im Schatten des darauf thronenden achteckigen Turmes und ziemlich genau in der Mitte des Hofes befand sich ein Lustgarten. Auf acht symmetrisch angelegten und mit Buchsbaumhecken fein säuberlich voneinander getrennten Quadraten begrüßten rote Rosen, rosa Gerbera und Tulpen in mannigfaltiger Farbenpracht die morgendliche Frühlingssonne. Dahinter, direkt an der östlichen Ringmauer nahe der Scheune, leuchtete ein wahres Meer rötlicher und gelber Pfirsichblüten und ein rosafarbener Hauch umgab einige Aprikosenbäume. Der Blick des Mannes wanderte weiter in südlicher Richtung über die in einem Rechteck angeordneten Stallungen, an deren Außenseite sich der Hopfengarten anschloss, gefolgt von kleineren Wirtschaftsgebäuden. Die Südseite wurde vom Herz der Kommende komplettiert, der Komturei. Es war eines der beiden ältesten Gebäude, die die altvorderen Ordensbrüder des hiesigen Konvents auf dem Hochplateau hatten errichten lassen. Seit dem Jahr 1493 schmückte das sandsteinerne Wappen des Erbauers, Komtur Ludwig von Nordeck zu Rabenau den Bau mit seinen beiden aus massivem Basaltstein errichteten Untergeschossen, dem eine Etage aus Fachwerk und darüber das weithin sichtbare und steile Schieferdach folgte. Rechts davon schloss sich ein in ähnlichem Stil errichtetes, zweigeschossiges Gebäude an, das unter anderem einen Gesellschaftssaal beherbergte. Die Westseite schließlich wurde dominiert von der Propstei, die sich über eine Länge von gut zwanzig Metern erstreckte. Auch dieses Gebäude war in den unteren beiden Geschossen aus festem Basaltstein, das zweite Obergeschoss in Fachwerkbauweise errichtet worden, die Fensterrahmen waren hier mit Holzverschlägen ausgekleidet. Dieses Stockwerk wurde schon seit Langem als Fruchtspeicher genutzt. Der markante Erker an der zum Innenhof weisenden Längsseite deutete auf den Sitz des Propstes hin, wenngleich bekannt war, dass dieser markante Vorbau bis noch vor einigen Jahrzehnten einen Zwilling besessen und die Türmchen sowohl des vergangenen, als auch des noch bestehenden bis hinauf zum hohen Dachfirst gereicht hatten.

Der Bote entschied sich, zunächst in der Komturei nach dem Empfänger seiner Nachricht zu suchen. Schließlich wurden die Ämter des Propstes und die des Komturs dieser Kommende seit Jahrhunderten in Personalunion geführt. Somit war der Sitz des Obersten des Deutschen Ordens auf dem Schiffenberg derjenige, der einen unverstellten Blick gen Süden ermöglichte, über Garbenteich, Watzenborn und Grüninger Warte weit hinein in die Wetterau und über Leihgestern, den südlichen Ausläufern Gießens und dem zur Kommende gehörenden Neuhof bis bin zu Taunus und Westerwald.

Eiligen Schrittes trat er ein und spähte um die Ecke in die Räume des Erdgeschosses. In der spärlich beleuchteten Küche war niemand, das Frühstück war bereits vor über einer Stunde eingenommen worden. Ohne Umschweife machte er kehrt und nahm die Treppe ins nächste Stockwerk. Aus dem hier befindlichen Hospital vernahm er zumindest eine Stimme. Er wusste sie zuzuordnen, es war die von Johanna, diejenige, die nicht mit der Bezeichnung Schwester angesprochen werden wollte. Schließlich sei sie keine Angehörige des Ordens, bloß eine einfach Frau aus Hausen, wie sie regelmäßig betonte. Wahrhaftig kannte er aber keine andere, die ihr Handwerk im Umgang mit Kranken und Siechenden besser verstand als sie.

«Drei Löffel noch, zumindest die», hörte er sie zu jemandem sagen, noch ehe er eingetreten war. Dann sah er sie. Die Frau mit dem dunklen Arbeitskleid und der grauen Schürze saß am Rand von einem der insgesamt sechs Betten und hielt einem Mädchen im Alter von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren einen Löffel vors rot glühende Gesicht, bis sich endlich der Mund öffnete und die grünliche Flüssigkeit aufnahm.

«So ist's gut, die Kapuzinerkresse wird dir die Entzündung aus dem Rachen treiben, glaub mir», sprach sie dem Mädchen aufmunternd zu, das mühsam aber vertrauensvoll nickte. Von dem zweiten belegten Krankenlager am anderen Ende des Saales war ein leises Stöhnen zu vernehmen, was aber allem Anschein nach nicht in Zusammenhang mit dem gerade Gesagten stand. Nur flüchtig sah Johanna zu der Gestalt hinüber, von der unter der weißen Bettdecke nur ein ausgemergelt wirkendes Haupt mit schütterem, weißen Haar und einer mit tiefen Falten durchzogenen, pergamentfarbenen Haut hervorlugte. Ruhig tauchte sie den Löffel wieder in die Schale und hielt ihn erneut dem Mädchen mit den schweißnassen Haaren hin.

«Ist einige Monate her, dass wir uns gesehen haben, Trappier von Westwich», wandte sie sich dem Ankömmling zu und wartete, bis das Mädchen den heißen Aufguss schluckte.

«Zweifelsohne, das ist wahr. Umso mehr freue ich mich, dich zu sehen. Bist du doch regelmäßig die erste und die letzte, die ich hier auf dem Schiffenberg zu Gesicht bekomme.»

«Ihr ganz persönliches Alpha und Omega also?», erwiderte Johanna augenzwinkernd, ohne den Blick von dem Mädchen vor ihr zu wenden, um schnell anzufügen:

«Bei Lichte betrachtet sollte Euch dieser Umstand aber auch nicht wundern. Wer könnte Euch in diesen Zeiten hier auch sonst begrüßen? Von unseren vier Herren hetzt Trappier Hilpert von einer Abrechnung zur anderen, von einem Schäfer, Hofknecht und Müller zum nächsten, nun, wem sage ich das», sie sah zum ersten Mal zu Trappier von Westwich auf, «während an Chorherr Wismut so gut wie jegliche seelsorgliche Tätigkeit hängen bleibt. Er kommt schon gar nicht mehr vom Kirchhof runter», und sah mit wissendem Blick zu dem Mann in dem Bett ganz hinten. Nachdem der letzte Löffel Flüssigkeit in den Mund mit den blassen Lippen eingeflößt worden war, stand sie auf, stellte die Schale mit dem Löffel auf einem Tisch ab und näherte sich von Westwich, um mit gedämpfter Stimme fortzufahren:

«Wenn der Typhus weiter so wütet», sie wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und sah besorgt zu dem Mädchen zurück, «dann wird es bald weder Menschen geben, um deren Seele Ihr Euch sorgen müsst, noch welche, deretwegen Ihr den gewiss schwerlichen Weg von der Marburger Ballei aufnehmen würdet.» Der Ordensmann verzog keine Miene. Er wusste nicht, was er Johanna entgegnen sollte, hatte sie doch gerade eben das ausgesprochen, woran er zu denken nicht gewagt hatte, zumindest noch bis gestern. Sofort suchte er nach einer Auflösung dieses für ihn höchst unangenehmen Moments. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie Johanna wohl reagieren würde, wenn sie von der Nachricht erführe, die er in seiner Brusttasche verwahrte.

«Der Komtur, ist er oben?», fragte er daher sogleich.

«Drüben», antwortete die Frau mit den rosigen, von Äderchen überzogenen Wangen.

«In der Propstei?», erwiderte Westwich unsicher. Johanna blieb sein verwunderter Unterton nicht verborgen:

«Er sitzt, für ein Porträt. Seit gut zwei Wochen», ihr Gesichtsausdruck verriet nichts und sagte gleichwohl alles. Von Westwich hob die Augenbrauen, bevor er sich von der Frau abwendete, in sich hinein murmelnd:

«Bleibt zu hoffen, dass die Farbe recht schnell trocknet.» Er war schon auf der Treppe, da rief Johanna ihm hinterher:

«Wenn Ihr nur nachher so freundlich wärt und mir für das Mädchen ein frisch gebrautes, noch warmes Bier vom Brauhaus und eine Orange aus dem Lager in der Kirche bringt, ich meine, Ihr wisst wo, im nördlichen Seitenschiff. Der Hopfen und die in der Frucht gespeicherte Sonne bewirken Wunder», um leise anzufügen: «und ein solches braucht sie wohl.» Schon war sie wieder im Hospitalsaal verschwunden.

Konstantin von Westwich verließ die Komturei linker Hand und stieg die steinernen Stufen der längs der Außenseite der Propstei verlaufenden Treppe empor, von wo aus er seinen braven Schimmel aus dem Trog am Fuß der sandsteinernen Einfassung des Brunnens saufen sehen konnte. Das ergraute Pferd an dem Pumpenantrieb vis-a-vis drehte weiter gleichgültig seine Runden. Er wusste, dass der winzig kleine Raum unter den Treppenstufen einst als Gefängniszelle genutzt worden war, aber auch, dass das erste Stockwerk des imposanten Baus darüber für gewöhnlich schon seit Jahrzehnten leer gestanden hatte. Dass der große, nur aufwändig zu beheizende Saal des Propstes wieder genutzt wurde, war wohl dem schmucken Erker und der herrschaftlichen Wandvertäfelung geschuldet, vermutete der Chorherr, gewiss ein standesgemäßer Hintergrund für die Verewigung eines Komturs der hiesigen Kommende. An sich hätte die Zeit für ein solches Andenken an die Nachwelt nicht besser gewählt sein können. Und gleichsam auch nicht ungünstiger, dachte von Westwich, während er die schwere Eichentür öffnete.

«Gelobt sei Jesus Christus», verbeugte sich der Trappier, nachdem er den Saal betreten hatte.

«In Ewigkeit, Amen», vernahm er darauf. Von seinem Standpunkt aus wirkte es, als habe ihm nicht der Komtur geantwortet, sondern dessen porträtiertes Ebenbild auf der großformatigen, etwa drei mal fünf Fuß messenden Leinwand, die ihm den direkten Blick auf das Original verwehrte. Der Künstler, auf seinem Unterarm ruhte eine große Farbpalette, stand etwas versetzt zur Staffelei und gab dadurch den Blick auf das Werk frei. Wie vermutet, saß der Kommenden-Obere auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der mittig in der Ausbuchtung des Chörleins, so wurde der Erker genannt, platziert war. Auf der linken Seite der Bildfläche hatte der Maler die dunkle Holzvertäfelung übernommen, mit Geschick und gutem Auge hatte er das durch die Rundglasfenster einfallende Morgenlicht und dessen Schattenwurf festgehalten. Rechts an der Wand hing ein barocker Bilderrahmen mit dem von Westwich bereits bekannten Motiv vor einem Samtvorhang, der dort allem Anschein nach allein als Porträthintergrund drapiert worden war. Von Westwich war beeindruckt, er konnte nicht den geringsten Unterschied im Faltenwurf des altweißen Gewandes mit dem großen, mit Silberfaden eingefassten schwarzen Kreuz auf der Leinwand gegenüber dem beim Original erkennen. Auch glitzerte die goldgelbe Farbe der winzigen Kreuzstickereien auf der hellen Stola ebenso prächtig wie das echte, silbern eingefasste Halskreuz und das Silberkettchen am Kragen, das den Umhang des leibhaftigen Komturs geschlossen hielt. Für einen Augenblick hatte sich von Westwich geradezu in die Pinselstriche und die Akkuratesse des Werkes verloren, da neigte der Porträtierte den mit einem schwarzen Birett bedeckten Kopf zur Seite, um an der Staffelei vorbei Blickkontakt mit seinem Marburger Ordensbruder aufzunehmen:

«Ihr müsst mir meine Unhöflichkeit verzeihen, ehrwürdiger Bruder, aber Meister Hegel hat genau das geschafft, woran unsere treue Johanna nun schon seit Jahren scheitert: mich dazu zu bewegen wenigstens einmal für fünf Minuten Ruhe zu halten.» Der genannte Maler nickte von Westwich flüchtig zu, um schon im nächsten Moment mit einem feinen Pinsel einen winzigen Tropfen grauer Farbe aufzunehmen und diese in einer schnellen, aber sehr präzisen Bewegung auf dem porträtierten Silberrand des Siegelrings aufzutupfen, sein Blick wanderte dabei permanent zwischen Original und Leinwand hin und her.

«Gott sei Dank habt Ihr jedoch bald genug gesehen, nicht wahr, verehrter Meister?», fügte er an. Der Bote erkannte, wie sich der Komtur über seine eigene, auf ihn recht gekünstelt wirkende Ironie amüsierte. Indes mahnte der Maler mit einer zurückhaltenden Handbewegung sein Modell still zu halten. Den Komtur focht dies jedoch nicht an:

«Aber wie zitiertet Ihr doch neulich den großen Leonardo da Vinci? Die Arbeit an einem Kunstwerk kann nie beendet werden, sie kann nur aufgegeben werden. War es nicht so?», worauf Nikolaus Hegel die mahnende Handbewegung nur noch einmal wiederholte.

Für von Westwich aber war es, als ob eine Rufglocke geklingelt hätte, als hätte Leonardo da Vinci ihn daran erinnert, weswegen er hier war. Er richtete sich auf, trat drei Schritte vor und schob sich zwischen Leinwand und des Malers Motiv:

«Euer Ehrwürden, bitte verzeiht die unvermittelte Störung, aber ich habe eine dringende Nachricht des Balleimeisters für Euch, die keinerlei Aufschub duldet und derenthalben ich beauftragt wurde, sie Euch ausschließlich persönlich zu überbringen.» Der Mann auf dem Stuhl schien ungerührt und hob seinen auf der rechten Armlehne ruhenden Zeigefinger leicht an, während er zurück gab:

«Nun, mein ehrwürdiger Bruder, mir scheint, unser hochgeschätzter Landkomtur ist besorgt über die noch ausstehende Zahlung der Allmende an die hessische Ballei. Völlig unberechtigt, will ich meinen. Und auch wenn Euer hiesiger Trappier-Bruder doch große Zweifel an der Berechnungsweise der Höhe der Abgabe hat, verzeiht meine Direktheit, will ich Euch vor Eurer Rückreise gerne mit dem entsprechenden Geldbetrag ausstatten. Sobald wir hier fertig sind.» Sein Blick ruhte noch immer auf dem imaginären Punkt an von Westwich vorbei. Der konnte ein ungeduldiges Kopfschütteln nicht unterdrücken und trat einen weiteren Schritt vor, sodass es dem Komtur nicht mehr möglich war, ihn zu übersehen.

«Vergebt nochmals, Euer Ehrwürden, doch geht es nicht um einen profanen Allmendenzins. Vielmehr handelt es sich um eine Botschaft von ungemeiner Tragweite, die ich nur berechtigt bin, Euch diskret und höchstpersönlich zu übereignen. Zudem ausdrücklich ohne Anwesenheit weiterer Personen», und sah zu dem Maler, der so tat, als hätte er von alledem nichts mitbekommen. Zeitgleich holte er den bisher gut verborgenen Umschlag aus seinem Revers. Der Oberste vom Schiffenberg regte sich noch immer nicht.

«Na, dann lese er mir die Nachricht doch vor, sodass Meister Hegel weitermachen kann, zudem ist er keinesfalls eine gewöhnliche Person, sondern ein Meister und kann daher gar nicht ausgeschlossen werden. Schließlich genießt er mein absolutes Vertrauen, vertraue ich ihm doch mein Ebenbild für die Nachwelt an», und lächelte in Richtung des Malers. Von Westwich registrierte, wie der Künstler geschmeichelt errötete. Zugleich bemerkte er, wie ihm selbst das Blut in den Kopf schoss, wie sich Ungeduld in ihm Raum griff, wie seine rechte Hand, die den gesiegelten Umschlag hielt, leicht zu zittern begann. Doch an und für sich war es ohnehin nun einerlei, dachte er, worauf er den Umschlag am Siegel öffnete und den mit eiliger Handschrift verfassten Brief in die Höhe hielt:

«Wie belieben, Euer Ehrwürden. Die Depesche trägt das Datum des heutigen Tages, Verfasser ist, wie schon erwähnt, der ehrwürdige Landkomtur. Ich beginne nun den Wortlaut zu verlesen: Ehrwürdiger Bruder …» Weiter kam er nicht, der Mann auf dem Stuhl unterbrach ihn:

«Bitte, lieber Westwich, es genügt das Exzerpt, wir wollen doch Meister Hegel nicht allzu lange mit Nebensächlichkeiten in seiner Konzentration stören.» Für den Trappier war es offensichtlich, dass der Komtur den Maler nurmehr ob seiner eigenen Ungeduld vorschob. Genauso war von Westwich klar, dass er dem Schiffenberger Oberen die Bitte schlechterdings verwehren konnte, war es wohl ohnehin die letzte, die er würde äußern können:

«Nun denn, wie Ihr wünscht und gebietet. Unser ehrwürdiger Balleimeister zu Hessen wurde in der gestrigen Nacht darüber in Kenntnis gesetzt, dass Kaiser Napoleon am 24. April 1809 in seinem Feldlager bei Regensburg unseren hochehrwürdigen Orden der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem auf dem gesamten Gebiet der Rheinbundstaaten für aufgelöst erklärt hat. Die Auflösung betrifft die vollständige und unwiderrufliche Räumung sämtlicher Balleien und Kommenden. Ausgenommen sind die Besitzungen im Habsburger Herrschaftsbereich sowie in Schlesien und Böhmen. Sämtlicher Ordensbesitz ist unverzüglich und unmittelbar an die jeweilige, dem Kaiser in Treue verbundene Landesherrschaft zu übereignen. Die Ballei Hessen fällt somit an das Großherzogtum Darmstadt, in Teilen an den König von Westphalen, Jerome Bonaparte. Großherzogliche Inspektoren sind unter Truppengeleit bereits auf dem Weg, um die Kommenden zu inspizieren und Besitz und Vermögen einzuziehen. Soweit die Depesche.» Trappier von Westwich sah, wie Meister Nikolaus Hegel stutzte. Der überlegte, wie er es schaffen sollte, die bisher rosige Gesichtsfarbe so zu retuschieren, dass sie dem wahren Ebenbild entsprach und führte den Pinsel in Richtung des fahlgrauen Kleckses auf der Palette.

In diesem Moment stürmte Johanna in den Saal herein, völlig außer Puste, von Westwich hatte sie noch nie so aufgeregt gesehen:

«Gelobt sei … Jesus, beim Allmächtigen! Da kommen berittene Truppen von Richtung Hausen die Serpentinen herauf, was hat das zu bedeuten? Wurden wir besiegt? Sind das die Österreicher?» Schlimmer, dachte der Trappier ohne es auszusprechen.

«Was machen wir mit Ägidius? Er ist zu schwach, um fliehen zu können!», stieß Johanna hervor. Noch immer saß der Komtur vollkommen reglos auf seinem Stuhl, nun aber vollständig in sich zusammengesunken, ein wahrhaft jämmerliches Bild.

«Und Maria?», fragte Meister Hegel, zu Johannas Erstaunen, während er in Richtung Chörlein blickte. Der Komtur aber schien zu verstehen:

«Wo wir hingehen, können sie nicht mitkommen. Er bleibt hier, Maria auch, Trappier von Westwich wird für den sicheren Verbleib sorgen. Wir werden sie nicht dem Prätendenten überlassen», tonlos fällte der ehrwürdige Komtur zu Schiffenberg seine allerletzte Entscheidung.

Trappier Konstantin von Westwich saß auf der Herrenbühne, der mittelalterlichen, hölzernen Empore, die sich früher in der Westapsis und nun im vordersten östlichen Teil des Mittelschiffs der Basilika befand. Dem Bereich, der von den restlichen vier Fünfteln des Langhauses schon vor Jahrzehnten mittels einer massiven Mauer abgetrennt worden war. Es war nur noch dieser kleine Teil, der, zusammen mit Querhaus und Chor, dem originären, geweihten Zweck als Kirchenraum diente. Kurz zuvor hatte er das erledigt, was ihm aufgetragen worden war, neben ihm der Krug mit dem noch warmen Bier und die getrocknete Zitrusfrucht sowie ein paar Aprikosen als Proviant für den Weg zum vier Meilen entfernten Neuhof. Gedankenverloren ließ er den Blick durch den Kirchenraum schweifen.

«Alpha und Omega …», murmelte er, es hörte sich an, als betete er. Hier hatte alles begonnen und hier endete es. Unter dem Kreuzgewölbe, über dem die Augustiner-Chorherren mit Kloster-Stiftung im Jahr 1129 beginnend, den weithin sichtbaren, charakteristischen Turm errichtet hatten, mit seinen acht Seiten als Ausdruck der Unendlichkeit, als Beleg für die Ewigkeit Gottes. Erbaut von jenen Augustinern, deren Reich hier nach nicht einmal zweihundert Jahren geendet hatte. Sein Blick fiel auf die violetten, wollenen Teppiche im Altarbereich zu seinen Füßen. Ihre wild in alle Richtungen zeigenden Fransen schienen so aufgeregt und verwirrt wie die Menschen in der Komturei gegenüber. Noch einmal sah er auf die Grabplatte zwischen Altar und Taufstein, die an Gernand von Buseck, einen der ersten Komture des Ordens auf dem Schiffenberg und die Anfänge der Kommende seit dem Jahr 1323 erinnerte. Von dort wanderte sein Blick zu der kleinen Kanzel rechts und zu dem Fahnenmast an der Säule links, an dem noch immer ein Stück vom weißen Tuch der Ritterfahne des Komturs von Wartensleben hing. Desjenigen, der 1706 ein jähes Ende gefunden hatte, als er während des spanischen Erbfolgekrieges aufseiten der Habsburger kämpfend im italienischen Castiglione von einer Kugel tödlich getroffen worden war. Aufseiten derselben Österreicher also, die vor gerade einmal drei Tagen in Bayern zumindest auf dem Schlachtfeld ein unrühmliches Ende gefunden hatten, gegen eben das Heer des französischen Herrschers, der seine Gefolgsleute, die des Rheinbundes, für deren Treue dadurch entlohnte, dass er ihnen einen geistlichen Orden und alles, was ihn ausmachte, zum Geschenk machte. Und das ausgerechnet mit Ausnahme der Balleien in den Habsburger Landen. Dass dann auch noch ein größerer Teil der Zueignung an Jerome Bonaparte fiel, den König von Westphalen, vor allem aber Bruder des französischen Kaisers, entbehrte jeglicher Ironie, war es doch kaltes, bitteres Kalkül.

Alpha und Omega, Anfang und Ende, dachte von Westwich wieder. Nun also sollte auch die Unendlichkeit seiner Gemeinschaft ein jähes Ende erfahren. Aber war es bei näherer Betrachtung nicht schon lange vorbestimmt? Zumindest abzusehen? Angesichts der Tatsache, dass diese einst so erhabene Basilika nun schon seit Jahrzehnten zum größeren Teil nurmehr als Orangerie genutzt wurde, mit einem aus Tannenholz zusammengeschusterten Zwischenboden im Langhaus, der als Obstdörre diente? Das nördliche Seitenschiff abgetrennt und zugemauert, genutzt nicht mal mehr als edle Scheune, sondern als Wagnerei, als Ablageort für Kummeten und abgewetztes Zaumzeug? Oder war es schlicht der Lauf der Dinge, dass alles göttlich Himmlische irgendwann wieder weltlich werden würde, geerdet, menschlich, arm? So wie es auch begonnen hatte? Mit einer einfachen Krippe in einem Stall in Betlehem? Oder mit einem ärmlichen Hospital? In diesem Moment kam sein Blick auf der Statue der Madonna mit dem Jesuskind auf ihrem Schoß zur Ruhe, in einer viel zu eng erscheinenden Nische im südlichen Querhaus. Balduin von Trier hatte sie anlässlich der Begründung der Schiffenberg-Kommende sowohl den Deutschordensrittern, als auch den ihnen vorausgehenden Augustinern gestiftet, zum Zeichen der Verbundenheit in Jesus Christus und Maria Mutter Gottes. Sogleich musste er an das herrliche Motiv zurückdenken, an das Bildnis der Heiligen Jungfrau unter dem Schiffs-Segeltuch, das als Dach jenes allerersten Hospitals gedient hatte, das die Kreuzfahrer seines Ordens Ende des 12. Jahrhunderts am Strand von Akkon errichtet hatten. Wie endlich, wie vergänglich die Welt in Wirklichkeit doch war. War es so schlicht? Alles umsonst? Alles verloren? Das Läuten der Glocke der Komturei, sie hing direkt über dem Steintisch jenseits der Ringmauer, riss ihn aus seinen Gedanken. Johanna rief wohl den spärlichen Rest der Chorgemeinschaft herbei, um zu retten, was zu retten war.

Grundriss der Domäne Schiffenberg

1. Pinkel ohne Labskaus

Sonntag, 20. Mai 1928

«Bedaure, die Herren, Sperrstunde!» Der Wirt mit dem grau melierten Walrossbart stand vor dem Steintisch in einer Nische am Ende des schmalen Terrassenweges, der an der Südseite des ehemaligen Klosters entlang führte. Die drei Männer, die es sich rund um die basaltene Platte gemütlich gemacht hatten, die Mai-Bowle hatten sie schon am späten Nachmittag ausgetrunken, sahen erst sich und dann den Mann vor ihnen enttäuscht an. Andere Gäste verließen im Rücken des Wirtes den Innenhof durch den kleinen Torbogen. Diejenigen, die es nicht geschafft hatten den Rollbraten, das Cordon bleu oder das Wildgulasch aufzuessen, hatten für die Reste einen Henkelmann mitgebracht, nicht wenige das alte Feldgeschirr, um am morgigen Arbeitstag noch einmal lächelnd an diesen herrlichen, wolkenlosen Tag und die laue Frühlingsnacht bei Musik und Tanz zurück zu denken.

«Sie müssen verzeihen, aber ich will keinen Ärger mit der Polizei haben, die Gießener Schupos sind da wenig konziliant», und grinste Simon Rau an, den Kommissar von der Wache am Gießener Landgraf-Philipp-Platz. Der schmächtige Dreißigjährige mit dem Menjou-Bart, die Jacke seines beigefarbenen Frühlingsanzugs und der schmalkrempige Strohhut ruhten auf der halbhohen Bruchsteinmauer neben ihm, die Krawatte hatte er längst gelockert, winkte schmunzelnd ab. Auch der jüngere, deutlich größere Mann an seiner Seite grinste. Der dritte und mit Abstand älteste am Tisch, schlohweißer Schnurrbart, sonnengegerbte Haut, zeigte feixend nach oben in den noch immer nicht zu kühlen Nachthimmel:

«Ein Glück, dass es die Glocke der Deutschherren nicht mehr gibt, sonst hätte er euch schon längst abgeklingelt.» Rau stutzte, während sein Blick dem Fingerzeig des Pächters des Wirtschaftshofes auf dem Schiffenberg folgte:

«Was für eine Glocke, Rudi?»

«Genau über euren Köpfen hing früher die Komturei-Glocke. Sie wurde bei Feuer und anderen Notlagen geläutet, oder aber, wenn es eben Zeit war zu gehen!» Wie um das Gesagte zu unterstreichen, leerte er sein Bierglas und fügte an: «Irgendwann wurde sie ausgebaut und tut seither ihren Dienst am Daubringer Schulhaus. Interessant an ihr ist, dass sie eine hebräische Inschrift trägt. Vermutlich aufgrund der Verbindung des Deutschherrenordens zum Heiligen Land. Schließlich wurde dort der Orden der Brüder vom Deutschen Hospital begründet. Und genau unter jener Glocke, an eben diesem uralten Tisch, vereidigten die Ordensherren jahrhundertelang ihre Leihgesterner Schützen, selbst als sich der ehedem streitbare Ritterorden schon längst zu einem geistlichen Konvent gewandelt hatte, der der Seelsorge und der Pflege von Kranken und Bedürftigen verpflichtet war. Hier bezeugten die Männer dem Komtur ihre Treue und schworen, Kommende und zugehörigen Wirtschaftshof zu verteidigen. Ihr wisst ja, der Neuhof liegt ganz in der Nähe von Leihgestern, daher kamen die meisten Schützen auch von dort. Und später saß Georg Büchner hier, auf einem dieser Bänke. Er lobte diesen Ort als ideal für diskrete und geheime Treffen und um frei über die Politik disputieren zu können.» Darauf wandte Rudi Striegler sich wieder dem Wirt zu.

«Aber da die Glocke nun nicht mehr da ist, kann sie auch nicht mehr läuten. Und weil sie nicht mehr läuten kann, könntest du doch eine Ausnahme machen und uns noch einmal drei große Blonde zapfen. Für unseren jungen Freund und Pathologen hier wird es nämlich für lange Zeit das letzte Mal sein, dass er ein ordentliches Bier bekommt, der Mann schlürft bald nur noch Alsterwasser», und blinzelte mitleidig. Karl Wiesenholder, der Mann mit dem dunklen Lockenschopf, neben Rau sitzend, nickte artig zur Bestätigung. Der Wirt lachte:

«Pfui Deibel, da steht zu Befürchten, dass es bei Ihrer eigenen Todesursache wohl keinerlei Zweifel geben wird, mein Beileid! Angesichts dieser Tragik will ich nochmal ein Auge zudrücken.» Er warf Simon Rau einen ironischen Blick zu: «Wo habe ich diesen Satz nur schon mal gehört?», und zückte seinen Schreibblock, um die letzte Order des Abends aufzunehmen.

Ein Aufschrei, der von innerhalb der Klostermauern kam, ließ Simon Rau und Karl Wiesenholder aufhorchen. Rudi Striegler dagegen zeigte keine Reaktion, während er ein Streichholz entzündete, an seine frisch gestopfte Pfeife hielt und durch das Paffen und Nuckeln hindurch nuschelte:

«Hört sich an, als wäre wieder jemand über den Stumpf vom alten Pferde-Göpel gefallen.» Der Wirt trat einen Schritt zurück, lugte durch die Rundbogenpforte und nickte darauf dem Betreiber des Wirtschaftshofes zu, zum Zeichen, dass er richtig gelegen hatte. Die Bestätigung in Form einer wilden Schimpftirade des Mannes, der sich mühsam wieder aufrappelte, ließ nicht lange auf sich warten. Wenig später kam der Mann kopfschüttelnd und leicht humpelnd durch den Torbogen zum Vorschein. Noch immer zeterte er vor sich hin, es war seine Frau, die seinen Ärger abbekommen und ihn zu beruhigen versucht hatte. Schließlich hätte sie, die hinter ihm die Restauration verlassen hatte, ihn vor dem Stumpf warnen sollen, an dem bis vor einigen Jahren der Trensenbaum für das Zugpferd der Brunnenpumpe befestigt gewesen war. Zudem ärgerte sich der Mann darüber, dass das Eselstor geschlossen und die schmale Pforte durch die südliche Ringmauer der einzige Ausgang war, den man offen gelassen hatte. Rudi Striegler sah ihn und die ihm folgende Gattin mit dem altmodischen, breitkrempigen Hut gelassen an sich vorbeistiefeln, wobei die Pfeife in seinem Mund ein Schmunzeln überdeckte.

Der Strom derer, die den Klosterhof verließen, verebbte zusehends. Darunter waren nicht wenige, bei denen der Gang mitunter beträchtlich schwankte, als sie durch den kleinen Torbogen traten. Ein Kriegsversehrter griff sich im Vorbeigehen an Striegler zum Gruß an seinen Melonenhut. Nur seine linke Hand lugte aus dem deutlich zu langen Ärmel hervor, der Mantel schien gut zwei Konfektionsgrößen zu üppig ausgewählt. Zwei Corpsstudenten, die weinrote Schildmütze drohte ihnen jeden Moment vom bierseligen Haupt zu rutschen, stützten sich gegenseitig und ließen auch nicht voneinander ab, als sie versuchten sich Seite an Seite gleichzeitig durch das enge Pförtchen zu schieben. Der Versuch schlug fehl. In einer bemitleidenswerten Choreographie stolperte erst der eine über die Steinstufe, riss im Fallen seinen Kameraden der Juristerei mit herunter, worauf der mit einem sehenswerten Purzelbaum über die Beine des anderen fiel und erst kurz vor der Brüstungsmauer zum Liegen kam. Simon Rau sprang auf, um dem aufzuhelfen, der noch im Torbogen lag. Karl Wiesenholder eilte zu dem anderen am Mauersockel. Sowohl dem Kommissar als auch dem Gerichtsmediziner schlug eine gewaltige Alkoholfahne entgegen, die zu gleichen Teilen aus Bier und Korn zu bestehen schien. Rau hatte den Eindruck, dass der Pausbäckige zu schlafen schien, ein wundersamer Umstand hatte dazu geführt, dass die Schildmütze noch immer auf seinem Kopf ruhte. Erst sanft, dann etwas kräftiger tätschelte Rau ihm die Wange:

«Hallo? Aufwachen! Sind Sie in Ordnung?» Simon Rau nahm die Hand des Studenten, um ihm den Puls zu fühlen. Während er zählte, geriet die junge Kellnerin in sein Blickfeld, die ihn und seine beiden Freunde schon den ganzen Abend versorgt hatte, seit sie sich an Rau's Lieblingsort niedergelassen hatten. In der Hand hielt sie ein Tablett mit drei Biergläsern, die wohl für die Gesellschaft am Steintisch bestimmt waren, im Gespräch mit einem Mann in dunklem Anzug, etwa in ihrem Alter. Rau hatte den Eindruck, als redete er auf sie ein, mit einer Zigarette in der Hand zeichnete er nervös gestikulierend dunkelgraue Kringel in die Luft:

«Du musst mir die Wahrheit sagen!» Sie entgegnete:

«Gar nichts muss ich!», das Funkeln in ihren Augen war selbst im schwachen Schein der Hoflaterne zu erkennen. Der Mann mit dem von Pomade glänzenden Seitenscheitel nahm einen tiefen Zug:

«Doch, das musst du und das wirst du! Du wirst mich nicht zum Narren halten!» Die Kellnerin mit den dunklen Haaren und dem strengen Pagenschnitt, der Kommissar entsann sich, dass sie Adele gerufen wurde, presste die Lippen aufeinander:

«Das muss ich gar nicht, das macht du schon selber!», ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, «und jetzt lass mich vorbei, ich muss arbeiten. Schlimm genug, dass das wohl auch so bleiben muss.» Es hätte nicht viel gefehlt, dass sie mit dem Tablett an seinem Jackett hängen geblieben wäre, aber mit einer behenden Bewegung schlängelte sie sich an ihm vorbei und bewegte sich auf den kleinen Torbogen zu.

Simon Rau war zu abgelenkt, um zu bemerken, dass der Pausbäckige zwischenzeitlich die Augen geöffnet hatte. Noch etwas benommen blinzelte dieser seinem Kommilitonen zu, bevor ein Grinsen über sein Gesicht huschte. Der andere lag zwar noch immer reglos am Mauersockel, doch auch seine Augenlider öffneten sich langsam wieder. Rau sah ungläubig, wie der eben noch ernsthaft verletzt Geglaubte die Melodie anstimmte, die die beiden vor ihrem Sturz gesungen hatten:

«Hier schenkt des Wissens köstlich Nass Professor und Dekan, und mancher Spunden springt vom Fass zu Gießen an der Lahn!» Karl Wiesenholder wusste, wie die nächste Strophe von "Lob auf Gießen" lautete, schmunzelnd stimmte er mit ein:

«Wer nie von Gleibergs Mauerkranz erschaut das weite Land, vom Staufenberg im Sonnenglanz des Flusses Silberband, wem holder Maitrank nie gelacht von Schiffenbergs Altan, der kennt nicht deiner Gegend Pracht, mein Gießen an der Lahn.» Darauf brummte Rudi Striegler, Rau war zwar überrascht, aber nicht verwundert, die nächste Strophe mit. Auch der zweite Student hatte wieder seine Stimme gefunden:

«Und abends bei der Pulvermühl', still zieht die Lahn einher, dann rudre ich auf leichtem Kiel mein Lieb zum Wehr. Die letzte Sonne färbt die Flut, im Schilfe ruht der Kahn, wie schmeckt ein heimlich Küsschen gut zu Gießen an der Lahn!» Rau schüttelte den Kopf, während er dem von ihm wieder aufgerichteten Studenten einen Klaps auf die Schulter gab, der Tadel und Aufmunterung zugleich signalisieren sollte. Und er wunderte sich nicht, als die beiden, wieder Arm in Arm, den schmalen Pfad in westlicher Richtung nach Gießen nahmen und nicht die gut befestigte Straße die Serpentinen hinunter bis nach Hausen zu Füßen des Hanges.

Adele hatte mittlerweile den Steintisch erreicht und die drei Glas Bier serviert, mit einer ungewöhnlich hektischen Bewegung hätte sie dabei beinah eines der Gläser umgekippt. Für Simon Rau war es keine Kunst ihr anzusehen, wie sehr sie der Disput mit dem jungen Herrn aufgewühlt hatte.

«Sonst noch'n Wunsch?», murmelte sie abwesend.

«Ehrlich gesagt: ja. Ob Sie vielleicht noch ein paar Wiener Würstchen aus dem Siedetopf übrig hätten?», fragte Simon Rau. Seit er denken konnte, hatte die Restauration auf dem Schiffenberg die besten Würstchen der Welt. Zumindest war das für ihn so, seit er als fünfjähriger Bub das erste Mal mit seinen Eltern von Gießen bis hier hinauf gewandert war, nach seiner allerersten Bahnfahrt von ihrem Heimatort Allendorf an der Lumda in die große Stadt. Ein Ausflug auf den Gießener Hausberg und das Würstchen mit Brötchen im Klosterhof gehörte daher für ihn zu den liebsten Kindheitserinnerungen. Es war die schönste und leckerste Belohnung, nach einem mitunter doch beschwerlichen, aber immer wieder auch erlebnisreichen und frohgemuten Weg. Natürlich vor allem dann, wenn er auf den Schultern seines Vaters Platz nehmen durfte und von dort oben das Gefühl hatte, er wäre ein Riese und würde in dieser luftigen Höhe die Spitze des Turms der Basilika zuallererst entdecken können. Und das war das Wichtigste: wer die Spitze zuerst gesehen hatte, hatte gewonnen.

«Muss gucken, sind aber wahrscheinlich geplatzt», dann war Adele wieder hinter der Ringmauer verschwunden.

Simon Rau hob sein Glas und sah Karl Wiesenholder an. An seinem Blick war abzulesen, wie gerne er diesen Moment hinausgezögert hätte, da er zum letzten Mal für lange Zeit mit seinem besten Freund und Weggefährten anstoßen würde. Doch es war soweit, schon am nächsten Tag würde Karl Wiesenholder Gießen verlassen.

«Auf dich, Karl. Auf dass sich die Bande zwischen Lahn und Elbe niemals lösen.» Rudi Striegler stieß mit an, die Pfeife im linken Mundwinkel, durch den rechten hindurch zischend:

«Auch wenn ich nicht verstehen kann, wie jemand unseren guten Hüttenberger Handkäs' gegen so etwas Ekliges wie Labskaus eintauschen kann, wünsche ich euch beiden viel Glück und, wie sagt man da oben, allseits eine Handbreit Wasser unterm Kiel!» Rudi wusste um Karls Geschichte und um die der Frau, die es geschafft hatte, den Ur-Gießener und tüchtigen Pathologen in ihre Heimat nach Hamburg zu locken. Zudem war er mit diesem Wissen nicht allein. Schließlich hatte es nicht nur in der Lokalpresse gestanden, wie die kecke, junge Hanseatin erst vor wenigen Wochen Kommissar Rau dabei geholfen hatte, einen dramatischen Kriminalfall aufzuklären, mit der ihr eigenen Schlagfertigkeit und Klugheit, die Karl auf Anhieb begeistert hatte. Nicht nur deswegen hatte es sofort bei ihm gefunkt. Vor allem war es ihr Lachen, das ihn in den Bann gezogen hatte. Dass das Gießener Institut für Rechtsmedizin, kaum dass es als eigenständige Fakultät eröffnet werden sollte, schon wieder geschlossen worden war und zeitgleich mit Riekes Eintritt in sein Leben ihre Heimatstadt Altona einen Pathologen gesucht hatte, musste Karl fast schon als Wink des Schicksals verstehen. Rieke Hansen dagegen hatte sich nicht nur in Karls wilde Locken verliebt, sondern auch in seinen einzigartig trockenen Humor. Wie zum Beweis hierfür erwiderte Karl Rudis Salut:

«Besser einen feinen Labskaus mit Pinkel als einen feinen Pinkel ohne Labskaus!», und ließ schwungvoll die Gläser erklingen, wobei Simon Rau rief: «Auf Karl, Rieke und den Labskaus ohne Pinkel!»

«Hab's ja gesagt, sind alle geplatzt.» Die junge Kellnerin servierte den drei Männern am Steintisch je einen Teller, jeweils mit einem Wiener Würstchen, das als solches allerdings nur noch schwerlich zu erkennen war. Rau bedankte sich dennoch und übergab ihr zwei Groschen Trinkgeld, bevor er das Würstchen in das Senfschälchen tunkte, um dann genüsslich hineinzubeißen. Adele hatte sich gerade bei Rau mit einem gequälten Lächeln bedankt, als Rudi einen Mann in einer erdfarbenen Tweed-Jacke begrüßte, der sich ihnen vom Terrassengang jenseits der Klostermauer genähert hatte. Er war der einzige, der den heimwärts strebenden Gästen entgegen kam:

«Wird's nicht langsam etwas zu duster zum Arbeiten?» Der Mann, circa Mitte dreißig, sein Alter war schwer zu schätzen, trug einen rotbraunen, gestutzten Vollbart. In der Hand hatte er eine Tasche aus Segeltuch. Daraus ragte ein in eine Wolldecke eingewickelter, länglicher Gegenstand hervor. Er war schon halb im Mauerdurchgang verschwunden, als er abrupt stoppte und Striegler irritiert ansah. Für Rau schien es, als wäre er geradezu erschrocken. Zwei Schritte später stand er vor dem altehrwürdigen Tisch und neben der jungen Kellnerin, die ihn mit einem scheuen Lächeln bedachte.

«Oh, nein, nein, ich war, ich habe nur …», stammelte er. Rau nahm kleine Schweißperlen im Bart des Neuankömmlings wahr.

«Schon gut, war doch nicht ernst gemeint», erwiderte Rudi jovial, «kommen Sie her, setzen Sie sich doch noch ein bisschen auf einen Schoppen zu uns, ich lade Sie ein!»

«Nun, ich bedaure, aber leider muss ich ablehnen», Rau registrierte, wie der Mann sich langsam fing, «Ich muss nach oben. Habe noch eine Aufgabe zu erledigen.»

«Gewiss, Herr Lotner. Aber betrachten Sie meine Einladung auch für die nächsten Tage als aufrechterhalten», erwiderte Rudi Striegler freundlich. Der Mann namens Lotner nickte flüchtig und machte kehrt, Adele folgte ihm auf dem Fuß. Die beiden waren schon auf der Stufe des Pförtchens, als Rau die Kellnerin sanft sagen hörte:

«Wir haben oben noch frische Würstchen, die nicht aufgeplatzt sind.» Soso, dachte Kommissar Simon Rau, offensichtlich war sein Trinkgeld wohl doch etwas zu knapp bemessen gewesen.

«Wer war denn das?», fragte Karl Wiesenholder. Rudi wischte sich den Bierschaum von seinem Schnurrbart:

«Das ist unser Schliemann Junior.»

«Du meinst, er ist Archäologe?», war Rau sicher, sich die richtige Antwort bereits selbst gegeben zu haben. Striegler nickte, bevor er fortfuhr:

«Arnd Lotner. Vom Reichsamt für Archäologie. Ein echter Kopfgeldjäger!» Rau's gekräuselte Augenbrauen drückten Belustigung und Neugierde zugleich aus:

«Hört sich an, als müsste ich mich von Berufs wegen für ihn interessieren?» Rudis Schnurrbart verbreiterte sich zu einem Grinsen:

«Nicht wirklich. Die Köpfe, auf die er es abgesehen hat, waren nie am Leben und sind aus weißem Sandstein. Du kennst doch diese Skulptur der Madonna im Flur des Komturei-Gebäudes, vor dem Eingang zur Wirtschaft. Ihr Kopf wurde erst vor einigen Jahren von spielenden Kindern im Wald wieder gefunden, wohingegen das Jesuskind auf ihrem Schoß weiterhin verschollen ist.» Rau überlegte, ob er sich an solch eine Skulptur überhaupt erinnern konnte. Unsicher zog er die Mundwinkel nach unten.

«Mach dir nichts draus, die wenigsten tun es. Wie auch, der Wirt stellt die Bildhauerei meistens mit dem Bilderrahmen der Tageskarte zu.» Kommissar Rau kombinierte:

«Aber jetzt hat sie dieser Lotner entdeckt und sich auf die Suche nach dem Jesuskind gemacht? Ist die Skulptur denn alt?»

«Nach seinen Schätzungen frühes 14. Jahrhundert», Karl nickte anerkennend, «sie befand sich wohl ursprünglich in einer Nische im Querhaus der Basilika.»

«Seit wann ist die Heilige Mutter eigentlich so kinderlos und wann hatte sie ihren Kopf verloren?», ungewollt verfiel Rau fast in seinen dienstlichen Befragungston.

«Tja, wenn man dass wüsste. Doch nachdem die Deutschherren den Schiffenberg in 1809 verlassen hatten, war sie, wie auch das Kloster, erst einmal sich selbst überlassen. Die Basilika wurde von Tieren und Vandalen gleichsam heimgesucht. Ihr wisst, wie das Kirchenschiff heute noch aussieht, selbst mein Pferdestall ist in einem besseren Zustand. Wenn ihr mich fragt, käme es einem Wunder gleich, wenn, nach der Wiederkehr des Madonnenkopfes, auch noch das Jesuskind wieder auftauchen würde. Aber natürlich hat Lotner den Auftrag, das gesamte Areal hier oben wissenschaftlich zu untersuchen. Und er ist tüchtig, die Wiesen jenseits der nördlichen Ringmauer sehen aus, als wären sie von Riesen-Maulwürfen heimgesucht worden.» Karl nahm sein Glas in die Hand:

«Freunde, darauf trinken wir: Auf die Madonna vom Schiffenberg, auf dass sie bald wieder mit ihrem heimgekehrten Sohn über euch wachen kann, wenn ihr schon auf mich verzichten müsst!»

«Auf die Maria und den Hamburger Michel!», stießen die drei Männer noch einmal miteinander an.

2. Gießen bei Nacht

Im Treppenhaus der Komturei hielt Arnd Lotner inne, sein Blick streifte die Tageskarte in dem Brokatrahmen, der flach auf dem Tisch direkt hinter dem Eingang ruhte. Die Menüfolge und die Empfehlung des Tages waren von einer schwungvollen, geradezu kunstvollen Handschrift verfasst worden. Dann erklomm er gemächlich die Steinstufen. Adele folgte ihm, das Tablett mit den geleerten Biergläsern in der Hand, bis beide den ersten Stock erreichten. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, ließ er sie links in den Schankraum vorgehen. Aus Richtung des Gesellschaftssaals auf der gegenüberliegenden Korridorseite, vielen als Rittersaal bekannt, drangen Stimmen und Applaus herüber. Die gebohnerten Holzdielen knarrten unter seinen Schritten. Der Archäologe wusste, dass die tiefen Kerben im Holzboden von den Füßen schwerer Bettgestelle herrührten, die zu Zeiten des Deutschen Ordens in diesem als Hospital genutzten Raum gestanden hatten. Kaum hatte er die Segeltuchtasche vorsichtig auf dem Boden abgestellt, servierte Adele ihm schon einen Teller mit zwei heiß dampfenden Wiener Würstchen, der Duft vom extra scharfen Senf, den er so sehr mochte, stieg ihm in die Nase.

«Lass … lassen Sie es sich schmecken», ihr Lächeln verharrte für einen Moment auf ihm, bevor ein für andere unsichtbares Zucken ihren Körper durchfuhr. Schnell wandte sie sich den beiden Herren ihr gegenüber zu, sie waren neben Lotner die einzigen noch verbliebenen Gäste im Raum.

«Darf es noch etwas sein, Herr Schurfheim?», fragte sie den Mann mit dem ergrauten Spitzbart und den schütteren, fein säuberlich zurückgekämmten Haaren. Seine hinter dicken Gläsern einer Hornbrille punktförmig erscheinenden Augen fanden den Blick der Kellnerin nur flüchtig:

«Eins noch, auch für den verehrten Herrn hier, dann entlassen wir Sie in den Feierabend», und wandte sich sofort wieder dem Mann an seiner Seite zu. Der nickte Schurfheim dankend zu. Eine purpurfarbene Narbe zog sich quer über seine rechte Wange. Die dunklen Haare und der Schmiss, der ihm bis zum Mundwinkel reichte, bildeten einen starken Kontrast zu einem ungewöhnlich blassen Teint.

«Sie entschuldigen mich für einen kleinen Moment?», fragte er, bevor er zu Lotner hinüber ging, der an einem kleinen Tisch nahe des aus Bruchsteinen gemauerten Kamins Platz genommen hatte, direkt unterhalb eines kapitalen Hirschgeweihs, an dem drei Glühlampen hingen, um den Raum mit warmem Licht zu bescheinen. Die Lampenschirme wollten nicht recht zu dem Kopfschmuck des einst erhabenen Tieres passen, erinnerten sie doch eher an Zipfelmützen von Zwergen aus Grimms Märchen.

Adele stand hinter der Theke und hauchte in ein Bierglas, bevor sie es auswischte und in das Wandregal räumte. Dabei sah sie, wie der Mann mit der Narbe zunächst auf die Segeltuchtasche zu Lotners Füßen schaute, bevor er ihn ansprach. Der am Tisch Sitzende, das eine Würstchen hatte er bereits gegessen, sah zu dem Mann auf:

«Bitte?»

«Gestatten Sie, König mein Name», Lotner hob die Augenbrauen, «ob Sie mir einen kleinen Moment Ihrer Aufmerksamkeit widmen würden?» Adele hatte den Eindruck, dass Arnd Lotner überrascht war.

«Jetzt? Nun, bedaure, aber Sie werden sicher verstehen, dass es heute schon etwas spät ist. Worum geht es denn, um die Ausgrabungen?» Königs Finger rieben nervös aneinander:

«Nein, nein, es handelt sich um etwas ganz anderes. Es geht um eine … wie soll ich mich ausdrücken», er blickte in das Kaminfeuer, während er überlegte, «um eine Familienangelegenheit.» Die Kellnerin wienerte das Glas schon eine gute Minute lang und auch wenn sie nicht hinsah, konnte sie doch hören, wie der Gast namens König versuchte, mit diesem eher nebulösen Hinweis doch noch Lotners Interesse zu wecken. Doch die Strategie verfing nicht. Einen Bissen vom Brötchen kauend, entgegnete Lotner:

«Tut mir leid, das wird beim besten Willen heute nichts mehr. Zudem habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen.» Erneut glitzerten kleine Schweißperlen in seinem rötlichen Bart, ob sie durch die Schärfe des Senfs oder aufgrund von Königs Ansprache hervorgerufen wurden, war für die Kellnerin nicht auszumachen. Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab, stand auf und nahm die Tasche in die Hand:

«Sie finden mich morgen den ganzen Tag an der nordöstlichen Ringmauer, direkt hinter der Basilika, falls es dringend ist. Wenn Sie mich nun aber bitte entschuldigen wollen», und verließ den Gastraum in Richtung des Rittersaals. Das zweite Würstchen ließ er unangetastet zurück. Sowohl der Mann namens König, als auch die Kellnerin sahen Lotner überrascht hinterher.

«Die Wirtschaft hat die Händ' im Sack, Händ' im Sack, Händ' im Sack, die Wirtschaft hat die Händ' im Sack, Händ' im Sack!», skandierte es vom Rittersaal herüber. Adele weitete angestrengt die Augen, öffnete die Schiebetür zur Küche und warf einen Blick auf die kleine Wanduhr über dem Telefonapparat. Es war kurz nach halb eins. Hilflos zuckte sie mit den Schultern und atmete tief durch, dann nahm sie das Tablett und lief hinüber. König kehrte zu seinem Platz an der Theke zurück. Mit nur einem Schluck leerte er sein Glas gut bis zur Hälfte, dann schob er es in Richtung des Wirtes, der mittlerweile die Aufgabe übernommen hatte, die Gläser in den Schrank zu räumen.

«Habe die Ehre, meine Herren», darauf wandte sich der Mann mit dem Schmiss zum Gehen.

«Wissen Sie eigentlich, wie lange der Archäologe noch hier auf dem Schiffenberg bleibt?», fragte der Wirt den einzig verbliebenen Gast im Schankraum, Otto Schurfheim schüttelte resigniert den Kopf:

«Viel zu lange, wenn Sie mich fragen. In all den Liegenschaften, die ich hier im Volksstaat verwalte, hat noch keiner von diesen Maulwürfen so lange gewütet und soviel Erde aufgeworfen wie unser Sportsgenosse Lotner», wieder schüttelte er den Kopf. «Die alte Treppe hoch in den ersten Stock der Propstei hätte ich schon längst abreißen lassen, wenn er mir nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Schließlich sei sie doch ein Relikt aus den Anfängen der Deutschritter und der Dachstuhl der Propstei der älteste Hessens. Dafür lässt er bald keinen Quadratmeter im Hof unangetastet», er machte eine wegwerfende Handbewegung.

«Nicht zu vergessen das Riesen-Loch direkt hinterm Eselstor», ergänzte der Wirt.