Maroun - Hubertus von Thielmann - E-Book

Maroun E-Book

Hubertus von Thielmann

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Beschreibung

Betörend, verstörend, einnehmend - der geheimnisvolle Halbasiate Maroun manipuliert sein Umfeld meisterhaft. Kaum jemand kann seinem Charisma widerstehen. Die Begegnung mit Fabian aber ändert alles, denn der ehemalige Manager erkennt den Strategen in Maroun und weiß: Jede Strategie hat auch ein Ziel! Maroun hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und schlenderte mit ihr in den nächsten Raum der Galerie, in der eine Ausstellung fernöstlicher Maler eröffnet worden war. Männer und Frauen, alt wie jung, sahen ihnen nach. Es war Maroun, der ihre Neugier erregte. Kurz nachdem ich die Galerie betreten hatte, war er mir aufgefallen. Genauso wie Corinna, meiner Frau. »Mit wem macht sich denn Myriam davon?«, fragte sie. Wir lebten in München, in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Damals, an jenem Abend, waren wir noch von Schrecken und Unglück verschont geblieben, obgleich ich, wie ich meinte, schon genug davon abbekommen hatte. Dachte ich später an diesen Abend zurück, hätten wir die Ausstellung sofort verlassen und uns Maroun vom Leib halten sollen. Halb Asiate, halb Europäer und ganz und gar rätselhaft - Maroun ist Ende Zwanzig und eine außergewöhnliche Erscheinung. Er zieht die Menschen an wie bittersüßer Honig die Bienen und hinterlässt neben einem bleibenden Eindruck vor allem eines: eine Menge offener Fragen. Welche kriminellen Energien treiben ihn an? Was bezweckt er mit seinem Verhalten? Und was hat eine fernöstliche Organisation damit zu tun? Auf diese Fragen will Marouns väterlicher Freund Fabian spätestens dann eine Antwort, als seine Familie und Freunde in die Ereignisse verstrickt werden. Die Suche nach den Hintergründen gleicht einem Stich ins Wespennest, und Fabian muss erfahren, dass die Wahrheit zu finden oftmals leichter ist als sie zu ertragen … Der Roman »Maroun« erzählt die Geschichte eines jungen Mannes im Spannungsfeld internationaler Kriminalität - ein Psychogramm der Kulturen!

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Hubertus von Thielmann

Maroun

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 2000 by Hubertus von Thielmann

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © Claus Gretter

ISBN: 978-3-95607-084-6

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Maroun

Betörend, verstörend, einnehmend - der geheimnisvolle Halbasiate Maroun manipuliert sein Umfeld meisterhaft. Kaum jemand kann seinem Charisma widerstehen. Die Begegnung mit Fabian aber ändert alles, denn der ehemalige Manager erkennt den Strategen in Maroun und weiß: Jede Strategie hat auch ein Ziel!

Maroun hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und schlenderte mit ihr in den nächsten Raum der Galerie, in der eine Ausstellung fernöstlicher Maler eröffnet worden war. Männer und Frauen, alt wie jung, sahen ihnen nach. Es war Maroun, der ihre Neugier erregte. Kurz nachdem ich die Galerie betreten hatte, war er mir aufgefallen. Genauso wie Corinna, meiner Frau.

»Mit wem macht sich denn Myriam davon?«, fragte sie.

Wir lebten in München, in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Damals, an jenem Abend, waren wir noch von Schrecken und Unglück verschont geblieben, obgleich ich, wie ich meinte, schon genug davon abbekommen hatte. Dachte ich später an diesen Abend zurück, hätten wir die Ausstellung sofort verlassen und uns Maroun vom Leib halten sollen.

Halb Asiate, halb Europäer und ganz und gar rätselhaft - Maroun ist Ende Zwanzig und eine außergewöhnliche Erscheinung. Er zieht die Menschen an wie bittersüßer Honig die Bienen und hinterlässt neben einem bleibenden Eindruck vor allem eines: eine Menge offener Fragen. Welche kriminellen Energien treiben ihn an? Was bezweckt er mit seinem Verhalten? Und was hat eine fernöstliche Organisation damit zu tun? Auf diese Fragen will Marouns väterlicher Freund Fabian spätestens dann eine Antwort, als seine Familie und Freunde in die Ereignisse verstrickt werden. Die Suche nach den Hintergründen gleicht einem Stich ins Wespennest, und Fabian muss erfahren, dass die Wahrheit zu finden oftmals leichter ist als sie zu ertragen …

1. Kapitel

»Maroun!«, rief die Frau. »Wo sind Sie?« Ihr Haar hatte einen rötlichen Glanz, sie war um die vierzig und auf den jungen Mann zugegangen. Er legte den Arm um sie, und sie fragte: »Wann kommen Sie zurück?«

Ohne eine Miene zu verziehen, schaute er auf sie herab, zog sie an sich und küsste sie leicht auf die Stirn. Sie versuchte sich zu lösen und sprach jetzt leiser. Er flüsterte in ihr Ohr. Sie lächelte schwach und sprach noch leiser. Ich hatte nichts mehr verstehen können.

Die Frau hieß Myriam Sardone, war eine Freundin meiner Frau und hatte in dritter Ehe einen italienischen Unternehmer und Kunstsammler geheiratet. Maroun hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und schlenderte mit ihr in den nächsten Raum der Galerie, in der eine Ausstellung fernöstlicher Maler eröffnet worden war. Männer und Frauen, alt wie jung, sahen ihnen nach. Es war Maroun, der ihre Neugier erregte. Kurz nachdem ich die Galerie betreten hatte, war er mir aufgefallen. Genauso wie Corinna, meiner Frau.

»Mit wem macht sich denn Myriam davon?«, fragte sie.

Wir lebten in München, in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Damals, an jenem Abend, waren wir noch von Schrecken und Unglück verschont geblieben, obgleich ich, wie ich meinte, schon genug davon abbekommen hatte.

Dachte ich später an diesen Abend zurück, hätten wir die Ausstellung sofort verlassen und uns Maroun vom Leib halten sollen. Er war über einen Meter neunzig und Ende zwanzig. Die nur leicht geschlitzten Augen gingen bei entsprechendem Lichteinfall in grünliches Blau über. Ich vermutete, dass er chinesisches Blut hatte, vielleicht auch koreanisches, auf jeden Fall fernöstliches. Die Backenknochen waren ausgeprägt, die schwarzen Haare glatt und dicht. Für einen fernöstlichen Asiaten war der starke Bartwuchs erstaunlich.

Die Backen glänzten dunkel. In Maroun mischte sich offenbar vieles.

Ich widmete mich den Bildern. Die meisten Maler waren jünger als ich mit meinen achtundfünfzig. Sie standen im Alter Corinna, meiner zweiten Frau, näher, die sechsunddreißig war. Seit ich pensioniert war, besuchte ich Galerien und wurde zu Vernissagen eingeladen. Gekauft hatte ich noch nichts. Unser Haus war voller Bilder, die meisten stammten von meinen Großeltern, wenige von Bea, meiner ersten Frau, die früh starb.

Corinna begleitete mich, wenn es ihre Arbeit in einer Beratungsgesellschaft erlaubte. Lyle & Bout war eine amerikanische Firma und beriet in wirtschaftlichen Fragen. Außerdem vermittelte sie Personal. Lyle & Bout ließ entlassen und ersetzte die Gefeuerten oft durch Menschen, die durch ihre Empfehlung in anderen Firmen verabschiedet worden waren. Corinna meinte, ganz so schlimm sei es nicht, aber ich wusste, wovon ich sprach. Über dreißig Jahre hatte ich für internationale Firmen gearbeitet und fast immer im Ausland.

Corinna war müde, sah an den Bildern vorbei und dachte an etwas anderes. Sie hatte einen schweren Tag hinter sich und war mir zuliebe mitgekommen.

Corinna strebte auf den Raum zu, in dem Myriam mit Maroun verschwunden war. Ich folgte ihr. Die Luft war stickig, Zigarettenrauch hing unter der Decke. In der Kunstszene rauchten viele unverdrossen weiter.

Mein Zahnarzt begrüßte mich, er investierte in Kunst. Corinna hatte einen Kollegen aus der Firma getroffen. Sie lächelte freundlich, entweder sagte sie: »Ja, ja« oder »nein, nein«.

Ich stand vor einem Bild purpurroter Wellenlinien auf braunem Grund. Mit meinem Zahnarzt hatte ich keine Lust zu reden, ihm ging es nicht anders, als Kunde war ich ihm sicher. Ich spürte Corinnas Hand auf meinem Arm.

»Das ist doch nichts«, sagte sie und zog mich weg. Ich sah auf ihren schmalen Rücken, die gewellten aschblonden Haare, die auf ihre Schultern fielen. Ihr langer Hals wirkte elegant. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und ging sehr aufrecht, sehr gelöst.

Myriam und Maroun waren in der kunstbeflissenen Menge nicht mehr zu sehen. In diesem Raum waren die Bilder sehr schmal, silberne Kurven auf dunklem Grund, die mich an EKGs oder die Charts einer nervösen Börse erinnerten. Im anschließenden Saal sah ich Maroun schon von weitem, auch Corinna hatte ihn entdeckt.

»Da sind Sie ja«, sagte sie.

Ein Klassenkamerad, den ich seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, verstellte mir den Weg. Er hatte eine Glatze, und sein Bauch war viel dicker als meiner.

»Fabian«, rief er. »Was machst du hier, ich dachte, es hätte dich in Teheran erwischt.«

»Ich lebe wieder hier.« Ich wies auf Corinna. »Meine Frau.« Der Name des Mannes, mit dem ich fünf Jahre in einer Klasse gewesen war, wollte mir nicht einfallen.

»Du hast dich wenig verändert«, sagte er.

Ich strich über meine grauen Haare, die kahle Stelle auf dem Hinterkopf. Corinna gab dem Klassenkamerad die Hand, und so wie sie lächelte, wusste ich, dass sie keine Lust hatte, ihn näher kennenzulernen. Ich sagte, wir müssten weiter, uns einmal in Ruhe sehen, und schrieb seine Telefonnummer auf. Er verbeugte sich vor Corinna und warf mir einen Blick zu, in dem Bewunderung und die Frage lag: So jung?

Dieser Mann war nicht der erste, der mich mit diesem Blick bedachte, der mich am Anfang unserer Ehe mit einem kleinen dummen Stolz erfüllt hatte. Überhaupt nicht witzig war mir jedoch vom ersten Moment an die Bemerkung vorgekommen, Corinna könnte meine Tochter sein. Je älter ihre Bewunderer waren, desto öfter bemühten sie diesen einfallslosen Vergleich. Zudem hatte ich eine Tochter, Pia, das Kind von Bea.

Myriam und Maroun standen vor einem Gebilde, das aus Autowrackteilen zusammengeschweißt war. Enzo, Myriams Mann, der wahre Kunstkenner, hätte davon wohl wenig gehalten. Maroun, der alle überragte, drückte das Kreuz durch, als wolle er nicht einen Zentimeter kleiner wirken.

Myriam winkte uns zu sich und stellte ihn vor.

Marouns Familiennamen verstand ich nicht. Jetzt, da er mir gegenüberstand, fielen mir die großen Ohrläppchen und die starken Zähne auf, die weiß und festgefügt aus dem Kiefer gewachsen waren. Seine Haut war dunkler getönt, als es von weitem ausgesehen hatte, ein gesunder Olivton. Maroun strahlte überhaupt Gesundheit aus, mir war es fast zu viel. Er unterhielt sich mit den beiden Frauen. Er war neunundzwanzig, wie wir später von Myriam erfuhren, beinah dreißig Jahre jünger als ich, fast ein Leben. Marouns Blick lief zwischen den beiden Frauen hin und her, mich ignorierte er. Ich wurde ungeduldig, trat von einem Fuß auf den anderen und wollte nach Hause. Ich hätte jedoch gern gewusst, nach wem Myriam Maroun gefragt hatte. In ihrer Stimme war eine gewisse Besorgnis gewesen, die nicht zu ihr passte. Ich hätte sie fragen sollen. Eine unterlassene Frage kann ein Leben verändern. Aber vielleicht war ich so verrückt, dass ich eine Veränderung wollte? Ich hatte nicht mehr viel zu tun.

Hinter mir schwelgten zwei Männer angesichts der eleganten Kühnheit einer Skulptur, einem Haufen alter Autoreifen. Mit Enzo hätten sie nicht so reden können.

Maroun fragte Corinna, was sie von der Ausstellung hielt.

»Es ist gut, dass was für junge Künstler getan wird«, erwiderte sie.

»Auch für ausländische, haben Sie was gekauft?«, fragte Maroun. »Noch sind diese Maler hier billig.«

Corinna machte eine bedauernde Handbewegung zu mir hin, die ich überflüssig fand. »Mein Mann meint, wir hätten genug Bilder.«

»Wir haben ganze Häuser voll«, fiel ihr Myriam ins Wort.

»Man könnte sie auswechseln, aber die meisten Männer entschließen sich da nicht so leicht, mir geht es genauso.« Wie schnell Maroun Gemeinsamkeit schaffen konnte.

»Leben Sie in München, Herr Frank?« Marouns Deutsch war fehlerfrei, der Akzent etwas hart. Meinen Namen hatte er sich also auch schon gemerkt.

»Ich bin wieder hier«, antwortete ich gegen meinen Willen, mich mit ihm zu unterhalten, und fragte, wieso er so gut deutsch konnte.

»Ich habe es von meiner Mutter gelernt, meine Großmutter war Deutsche, aus Kiel.«

»Er spricht fünf Sprachen«, sagte Myriam. »Oder mehr?«

»Mehr«, erwiderte Maroun.

Ich verabschiedete mich, ohne nachzufragen, welche Sprachen er sprach. Ich hatte das Gefühl, bereits zu viel mit ihm geredet zu haben. Corinna warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor auch sie ihm die Hand reichte. Myriam wünschte, uns bald wiederzusehen. Sie wollte ihr neues Haus mit einem Fest einweihen, und wir sollten ihr mit Ideen und Einfällen helfen. Maroun hoffte ebenfalls, uns bald wiederzusehen. Ich nicht.

Wir blieben noch kurz vor dem einen oder anderen Bild stehen. Corinna war einsilbig geworden. Bevor wir die Ausstellung verließen, mussten wir durch einen Raum, in dem riesige abstrakte Ölbilder von der Decke hingen.

»Ob jemand Platz dafür hat?«, fragte ich.

»Warum gehst du eigentlich zu Vernissagen?«, entgegnete Corinna.

»Du meinst, ich bin zu negativ?«

»Dir gefällt kaum etwas, Enzo kann von Bildern nicht genug bekommen.«

»Du wärst noch gern bei Myriam und ihrem Begleiter geblieben, wie hieß er noch?« Corinna schwieg, und ich sagte dann: »Maroun.«

Sie fuhr, wie eigentlich immer, wenn wir zusammen im Auto saßen. Meine linke Hand war zur Hälfte gelähmt. Ich konnte nur den Daumen und den Zeigefinger bewegen. Die Lähmung setzte sich teilweise bis zum Ellbogen fort. Die Hand vermochte ich nur bis in Brusthöhe zu heben. Muskeln und Nerven waren zu einem großen Teil zerstört. Zerfetzt, wie es der junge Arzt in der Ambulanz damals ausgedrückt hatte.

Es war vor einem Jahr passiert in einer Regennacht. Pia, meine Tochter, hatte am Steuer gesessen. Von einem entgegenkommenden Auto geblendet, war sie in einer scharfen Kurve an einen Baum geprallt. Im Reflex hatte ich die Arme hochgerissen, dabei war der linke Arm schwer verletzt worden. Pia war mit zwei gebrochenen Rippen davongekommen.

Aber ich fuhr noch ab und zu Auto. Ich konnte das Steuer mit den beiden gesunden Fingern der linken Hand für kurze Zeit halten. Corinna fuhr gut, manchmal ein wenig zu aggressiv, wenn sie sich ärgerte oder mit mir nicht einverstanden war. Wir stritten selten. Wenn der eine bereit war zu streiten, lenkte der andere schon ein. So wie jetzt. Ich brachte das Gespräch auf unsere Sommerferien und fragte, wann sie Urlaub nehmen könne.

Zum ersten Mal mussten wir unsere Ferien nicht aufeinander abstimmen. Ich konnte mich nach ihr richten. Für mich gab es keine unverschiebbaren Termine, Geschäftsreisen und Sitzungen mehr. Corinna entspannte sich, Juli passte. »In Viareggio«, sagte sie.

Dort hatten wir ein Ferienhaus. Doch würde ich erstmals nicht mit ihr Wasserski laufen oder surfen. Mein rechter Arm war dafür allein nicht stark genug, obwohl ich ihn, den gesunden, wie meinen ganzen Körper mit Gymnastik und Kraftübungen gestärkt hatte, zum Ausgleich für den kaputten Arm.

Krüppel hatten nicht nur mein Mitleid erregt, oft hatte ich mich auch vor ihren verstümmelten Gliedern geekelt, und jetzt, nach wie vor, drohte die Gefahr, ich könnte meinen linken Unterarm durch Amputation verlieren, wenn sich sein Zustand nicht entscheidend bessern sollte. Nichts hatte bisher geholfen, auch nicht die elektronische Strahlenbehandlung, und war ich ehrlich, musste ich zugeben, dass auch die Beweglichkeit meines Daumens und Zeigefingers nachgelassen hatte. Aber das wollte ich offen nicht zugeben, noch nicht, weder vor Corinna noch vor Pia, die sich heftige Vorwürfe gemacht hatte. Sie war mein einziges Kind, sie sollte sich nicht noch mehr belasten, zumal der Unfall wirklich nicht ihre Schuld gewesen war.

Wir fuhren an der Isar entlang. Corinnas Armreifen klimperten über dem Lenkrad. Gegen ihren Willen hatte ich nach dem Unfall den gleichen schweren Wagen wieder gekauft. Ihre Hände waren leicht gebräunt. Vor unserer Ehe hatte sie sich aus Sport nicht viel gemacht. Sie hatte sich aufs Studium und dann den Beruf konzentriert, da sie darauf angewiesen war, sich selbst zu ernähren. Ich hatte ihr Skilaufen und Tennis beigebracht. Für Surfen und Wasserskilaufen hatte sie keinen Lehrer nötig gehabt. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Corinna war früh Waise geworden. Ich habe das nie besonders bedauert, ihre Mutter, eine Bibliothekarin, wäre so alt wie ich gewesen, und der Vater, ein Hautarzt, nur einige Jahre älter als ich.

Ich weiß nicht, wie ich mit ihnen ausgekommen wäre.

Meine erste Frau hieß Beatrice und wurde Bea genannt. Mit ihren Eltern, einem Lehrerehepaar, war es nicht leicht gewesen. Sie hatten uns einmal in Teheran besucht und uns verschwenderisch genannt. Unsere Freunde hielten sie für oberflächlich, überhaupt die Art, wie wir lebten. Und Kaviar mochten sie schon gar nicht.

Corinna war auf ihre Art religiös. Ohne je darüber zu sprechen, glaubte sie an einen Gott, irgendwo musste auf dieser Welt das Gute sein. An manchen Sonntagen verschwand sie in einer der Kirchen von Bogenhausen.

Ich hatte sie bei einer Buchprüfung in Jakarta kennengelernt. Mein Vorgänger hatte die Niederlassung, die ich übernehmen sollte, um Millionen betrogen. In der Konzernzentrale hatte ich eine Prüfung der Bücher verlangt, bevor mir die Freunde meines Vorgängers die Verluste anlasten konnten. Es erschienen eine ältere Dame und Corinna, die damals sechsundzwanzig war, zehn Jahre jünger als jetzt. Es waren ihre Augen, helle Iris mit dunklem Rand, die mich sofort fasziniert hatten. Nach Bali flog sie noch mit ihrer Chefin. Aber auf die Insel Comodo zu den Waranen durfte ich sie begleiten.

Zwei Tage fotografierten wir die letzten Nachkommen der Dinosaurier, drei Meter lange, drachenartige Echsen, die mit ihren Klauen lebende, ihnen zum Fraß vorgeworfene Ziegen rissen. In der letzten Nacht, bevor wir nach Jakarta zurückflogen, kroch ich zu Corinna ins Bett.

Ich war ein achtundvierzigjähriger Witwer, der sich damals mit einer zwei Jahre jüngeren tschechischen Freundin tröstete. Aber als ich Corinna umarmte, glaubte ich, den Verstand zu verlieren. Ich bin nicht der Typ des Verführers, und deshalb weiß ich bis heute nicht, wer eigentlich wen verführt hat.

Corinna achtete auf ihren Körper, und nackt wirkte sie noch ein Stück jünger. Oft kam ich mir alt und verworfen vor, doch seitdem mich kein Büro mehr erwartete, liebten wir uns häufiger denn je. Corinna meinte, wir seien selbst am Anfang unserer Ehe nicht so emsig gewesen. Ich konnte nicht genug von ihr bekommen, und staunte selbst über mich, in knapp zwei Jahren würde ich sechzig werden. Unseren Altersunterschied hatte Corinna nie kommentiert, sie überging ihn einfach. Aus jüngeren Männern schien sie sich nichts zu machen, nur für Pia hätte sie gern einen passenden Mann gefunden.

Manchmal suchte ich Corinna zur Kündigung zu überreden. Wir brauchten ihren Verdienst nicht, glücklicherweise hatte ich genug. Ich hätte dann mehr von Corinna gehabt, lange Siestas, die mich beruhigten. Wenn meine Schmerzen sich sehr verstärkten, fürchtete ich, dass es mit uns nicht so angenehm weitergehen, dass Schluss sein könnte. Es war eine dumme neurotische Angst, natürlich konnte ich nicht ewig so mit Corinna weiterleben, aber eine Reihe von guten Jahren hatten wir doch noch vor uns.

Stets kamen die Schmerzen unangekündigt und vergingen ebenso schnell. Mittel halfen wenig, ich hatte alle möglichen Schmerzmittel ausprobiert. Am besten war es, Corinna zu lieben oder sich von ihr lieben zu lassen, dann blieb ich eine Weile schmerzfrei.

Corinna konnte keine Kinder bekommen, obschon sie gern welche gehabt hätte.

Dass sie kinderlos bleiben musste, war erst zu Beginn unserer Ehe festgestellt worden. Mich schmerzte es weniger als sie. Ich kam mir zu alt vor, und Pia, damals siebzehn, hatte eine schwierige Phase. Sie war auf Corinna eifersüchtig. Ich weiß nicht, zu was sie die Eifersucht auf ein Baby getrieben hätte.

Und so war es für Corinna leichter, Pia wie eine jüngere Schwester zu behandeln, was ihr mit der Zeit auch besser gelang. Jedenfalls glaubte ich das oder wollte es glauben. Aber mit Pia durfte man sich nie sicher sein. Sie behielt vieles für sich, und deshalb schrieb sie wohl auch.

Corinna bog in die Straße ein, in der wir wohnten. Das Haus, das ich liebte, hatte ich von meinen Eltern geerbt. Ich war als einziger meiner Familie übriggeblieben. Meine Schwester war als Tropenärztin an schwarzer Malaria in Brasilien gestorben.

Wir rollten an unserer Gartenmauer entlang, und ich öffnete das Tor mit der Fernbedienung. Ich schloss es auch, als Corinna in der Garage anhielt. Wenn das Garagentor sich senkte und mit leichtem Knacken in der Halterung einrastete, fühlte ich mich sicher. Schon als Kind hatte ich mich so gefühlt, damals hatte das Tor aus zwei schweren Flügeln bestanden.

Hinter der Mauer zur Straße war ein Pool. Zum steil abfallenden Wald hin grenzte die L-förmige Villa mit ihrer Querseite das Grundstück teilweise ab, es folgte eine Terrasse, die an einem Pavillon endete, hinter dem ein flaches Waldstück lag. Die Frontseite des Hauses und die Terrasse waren auf eine Plattform gebaut, die in den Wald ragte. Zum Ende hin schwebte sie mehr als zehn Meter über einen Spazierweg, der sich unter den Stahlträgern am Hang entlangzog.

Dieser Teil des Hauses war zweistöckig, die Längsseite bestand aus einem Stock. Als Kind hatte ich mit meiner Schwester im zweiten Stock gewohnt. Damals hatten wir über die Wipfel geblickt, von denen jetzt die höchsten ihre Schatten auf das Schieferdach warfen. Mein Großvater hatte die Villa in den zwanziger Jahren von einem Industriellen, der in Schwierigkeiten geraten war, gekauft. Im Erdgeschoss waren die Räume hoch. Zwei Wohnzimmer und die Bibliothek befanden sich an der Frontseite zum Wald. Corinna und ich schliefen im Erdgeschoss. Pia hatte sich über uns eingerichtet. Seitdem sie wieder allein lebte, war sie zu uns gezogen. Die Längsseite des Hauses war unbewohnt. Küche, Wirtschaftsräume und ein für uns zu großes Esszimmer befanden sich zu ebener Erde. Im Stockwerk darüber waren drei Zimmer und zwei Bäder mit Sicht in den Garten eines Grundstücksspekulanten.

Vor den Zimmern im ersten Stock waren Balkone. Von unserem aus konnte man im Frühling die Triebe einer Buche abbrechen. Im Winter sahen wir über die Dächer von Bogenhausen bis zur Isar, von Pias Zimmer sah man ein Stück weiter.

Meine Eltern hatten sich wie in einem Vogelnest gefühlt, so sagte meine Mutter immer, und waren am liebsten zu Hause. Ich hatte hier meine Kindheit verbracht, mehr Platz als die meisten meiner Freunde gehabt und Dinge gesehen, von denen die höchstens in der Zeitung lasen.

Wo immer ich gelebt hatte, war dieses Haus meine Zuflucht.

Erschienen mir Schwierigkeiten unüberwindlich, tröstete mich der Gedanke, dass ich diesen einen festen Platz besaß, an den ich jederzeit zurückkehren konnte. Seit kurzem lebte ich hier mit Corinna, entschlossen, dieses Haus nur als Toter zu verlassen, so wie meine Eltern und Großeltern.

Den größten Teil meines Lebens hatte ich im Ausland gearbeitet und damit verbracht, die Kohlen für andere aus dem Feuer zu holen. Gerade anfangs war ich dabei sehr weit gegangen, ohne an mich zu denken.

Mit den Jahren änderte sich das, ich ließ mich nicht mehr übers Ohr hauen. Ich lernte, wie man Personalchefs in deutschen Konzernen begegnete. Mein Ruf als Troubleshooter wuchs. Mit Mitte zwanzig holte ich einen Kollegen in Mexico City aus dem Gefängnis, nachdem ich vom Pförtner bis zu dem als unbestechlich geltenden Gefängnisdirektor alle geschmiert hatte. Mein Kollege war zu oft bei einem Engländer gesehen worden, der kein Engländer, sondern Israeli war, der für den MOSSAD arbeitete. Auf dessen Partys liefen die hübschesten Mädchen herum, und es wurde viel Whisky getrunken, ein damals in Mexico rares Getränk. Mein ahnungsloser Kollege hatte als Statist gedient.

2. Kapitel

Maroun hatte mir das Erdgeschoss der neuen Villa der Sardones gezeigt, die Salons, das Esszimmer, die Halle. Noch nie hatte ich so viele Bilder in einem Privathaus gesehen. Viele der Gemälde, Impressionisten und Expressionisten, hatte Enzo bereits als junger Mann erworben. Sie waren inzwischen alle im Preis gewaltig gestiegen, wie Maroun sagte, aber Enzo würde nicht eines verkaufen. Er liebte sie über alles.

Jetzt saß ich mit Maroun auf der Terrasse. Ich sollte mit ihm über das Einweihungsfest nachdenken. Corinna, die arbeiten musste, hatte mich hierhergeschickt. Mir fiele immer etwas ein, hatte sie mich ermutigt.

Maroun aß Apfelstrudel, auf den er einen Berg Schlagsahne geklatscht hatte. Gewichtsprobleme plagten ihn nicht. Es war ein sonniger Nachmittag, der Föhnwind fuhr durch die Bäume.

Mein Arm tat weh, die Schmerzen reichten bis in das linke Schulterblatt. Bei einem Wetter wie heute verursachte schon die kleinste Drehung der Hand ein Stechen. Marouns Blick ruhte auf meiner verkrüppelten Hand, wanderte zum Ellbogen und schließlich den Oberarm hoch. Sehen konnte er jedoch nur die Hand. Ich trug ein langärmeliges Hemd, die Jacke hatte ich ausgezogen. Seit dem Unfall trug ich nur noch Hemden mit langen Ärmeln. Den Anblick meines Armes wollte ich anderen ersparen, und auch mich ekelte der kraftlose, von tiefen Narben entstellte Unterarm.

»Maroun kann massieren«, hatte Myriam gesagt. »Und auch heilen.«

Was konnte Maroun noch alles?

»Dieses Haus gefällt Ihnen nicht besonders«, sagte er.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Das spüre ich.«

Er hatte recht, die Villa war mir zu überladen. Myriam hatte sich angeblich gegen ihren Mann nicht durchsetzen können. In Italien war sein letzter großer Erfolg eine Ökofastfoodkette gewesen. Jetzt wollte er die Deutschen vor McDonalds schützen.

»Das ist Ihnen alles etwas zu viel.«

Maroun deutete auf den ovalen Pool, um den man einige Nymphen gruppiert hatte.

»Sie sind doch ganz hübsch.« Ich trank einen Schluck Kaffee und hätte gerne soviel Schlagsahne wie Maroun gegessen. Durch die Gymnastik war mein Bauch zwar fester geworden, doch wölbte er sich nach wie vor unter der Brust. Corinna hatte nichts gegen ihn, sie fand ihn gemütlich.

»Aber sie passen nicht hierher.« Von den Nymphen sah Maroun auf meine schmerzende Hand. Ich hatte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aneinander gerieben. Eine Übung, die sie beweglich halten sollte.

»Aber hierher.« Ich deutete auf die römischen Säulen, die das Vordach trugen.

»Nicht mal da.« Seine Selbstgefälligkeit ärgerte mich, oder war es Unsicherheit? Als hätte er meinen Ärger gespürt, bot er mir Strudel an.

»Er ist noch warm, Sie müssen ihn probieren. Alles, was wirklich gut ist, soll man essen.«

»Ich mache mir nichts aus Süßem.« Das stimmte natürlich nicht, ich liebte Schokolade und Eiscreme. Maroun leckte sich die Lippen, und mir war, als lächelte er. Er fragte, ob ich in der Nähe wohnte, und ich nickte.

»Ihr Haus ist anders als dieses.«

Ich nickte wieder und schwieg. Über unser Haus, eigentlich war es ja meines, wollte ich mit Maroun nicht reden.

»Es ist eine etwas altmodische Villa. Einige Möbel könnten Sie ändern, aber Ihre Bilder sind auch nicht schlecht und die Teppiche wunderschön.«

Ich sah ihn überrascht an, er hatte ziemlich recht.

»Ihr Haus liegt in einem großen Garten, oder ist es ein Park?«

»An einem Park, der mir nicht gehört.«

»Macht nichts, Hauptsache man sieht in einen.«

»Woher wissen Sie das alles?«, rief ich. »Sie waren nie bei uns!«

»Wenn mich Menschen interessieren, erfahre ich vieles schnell über sie.«

Er sah wieder auf meine Hand. Sein Blick war intensiver geworden. Ich spreizte Daumen und Zeigefinger, die restlichen Finger blieben gekrümmt.

»Sie hatten einen Unfall«, sagte er leise. »Einen Autounfall. Aber Sie saßen nicht am Steuer, es war jemand, den ich nicht kenne, eine interessante, etwas schwierige Person. Sie hatten getrunken, ziemlich viel sogar, aber lassen wir das. Wir sollten uns Gedanken über dieses Fest machen. Es soll die Party des Jahres werden, Myriam ist sehr ehrgeizig in solchen Dingen!«

Maroun war mir unheimlich. Am liebsten hätte ich mich verabschiedet, und zwar für immer. Myriam telefonierte noch oder schon wieder, und auch von Enzo war weit und breit nichts zu sehen. Er herrschte bis spät abends in seinen Firmen. Männer wie er unterließen nichts, um im Büro zu sterben. Wenigstens hatte ich dem Bürotod ein Schnippchen geschlagen, aber viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre im Auto umgekommen.

Maroun beugte sich vor und streckte seine Hand nach mir aus. Ich suchte seinem Griff zu entweichen, aber er war schneller und nahm meine verkrüppelte Faust in die Hände. Er strich über den Handrücken, vielmehr darüber, was davon übriggeblieben war, dann knöpfte er die Manschette auf und fragte: »Es stört Sie doch nicht?«

Es störte mich ganz erheblich, aber ich schwieg. Er krempelte den Ärmel hoch, und mein zerstörter Unterarm wurde sichtbar. Tiefe Narben durchfurchten ihn, wildes Fleisch glaste unter rötlicher Haut. Da die meisten Muskeln gelähmt waren, hatte der Arm an Umfang verloren und war so schmal wie der eines Kindes geworden. Dort, wo die Haut nicht zerstört war, wuchsen Inseln von Haaren. Dieser Unterarm, fand ich, glich einer deformierten Kralle.

Maroun glitt mit dem Mittelfinger über eine der tiefsten Narben, die vom Musikantenknochen in geschwungener Linie zum Handgelenk lief. »Sie haben Schmerzen«, sagte er.

Ich antwortete nicht, ich fühlte mich wie nackt vor ihm. Den Arm entblößte ich nur vor Ärzten und Krankenschwestern und nachts im Bett, da Corinna keine Pyjamas mochte, sonst hielt ich ihn selbst vor ihr und Pia bedeckt. Nach dem Duschen umwickelte ich ihn mit einem Handtuch, das ich erst wieder abstreifte, wenn ich in ein langärmeliges Hemd schlüpfte.

Meine Golf- und Tennishemden hatte Pia ihrem geschiedenen Mann geschenkt, den sie jetzt umflatterten.

Marouns Hände waren groß und glatt, unter den Knöcheln schimmerten einige Adern bläulich. Die Nägel waren kurz geschnitten.

»Wo hat es Sie sonst noch erwischt?«, fragte er.

»Hier«, ich fuhr über meinen linken Oberschenkel. »Aber längst nicht so schlimm.« Durch die Übungen war er stärker als vorher geworden. Täglich machte ich vor- und nachmittags Gymnastik.

Ich hatte viel Zeit. Ich trimmte meinen alternden Körper, und es erstaunte mich, was sich mit ihm noch machen ließ.

Corinna meinte, ich sei noch nie so in Form gewesen.

Ich hörte Myriams Schritte und streifte den Ärmel herunter. Sie trug ein geschlossenes Seidenkleid, schwarze Punkte auf weißem Grund.

Myriam war kurz davor, üppig zu werden, was sie für alle Männer reizvoll machte, die von diätgeschädigten weiblichen Skeletten genug hatten. Myriam hatte was zu bieten. Das konnte sie einen spüren lassen, und das hatten auch ihre drei Ehemänner zu spüren bekommen, die in meinem Alter oder noch älter gewesen waren, als sie Myriam geheiratet hatten. Alle drei waren sehr vermögend gewesen. Doch hatten die beiden ersten nach ihrem Tod Myriam nur wenig bedacht.

Ohne etwas zu sagen, hatte der eine alles der katholischen Kirche vermacht, und der andere hatte in seinen letzten Jahren fast alles mit einem Escortgirl in Spielcasinos durchgebracht. Mit Enzo sollte ihr so eine Pleite nicht noch einmal passieren, hatte Myriam zu Corinna gesagt. Er war gut zehn Jahre älter als ich und häufte brav Geld an.

Myriam behauptete, sie hätte wegen ihres Vaterkomplexes immer erheblich ältere Männer geheiratet. Aber so wie sie Maroun betrachtete, hatte sie diesen Komplex inzwischen überwunden.

»Hast du dir seinen Arm angeschaut?«, fragte sie Maroun. »Bei Föhn tut er ihm besonders weh.«

»Er hatte doppeltes Pech, erst den Unfall und dann noch schlechte Ärzte.«

»Können wir nicht über etwas anderes reden?« Ich bugsierte die Hand in die Hosentasche.

»Wir wollten doch mit deinem Freund über das Fest reden«, sagte Maroun.

»Mein Freund heißt Fabian.« Myriam rückte ihren Stuhl näher an Maroun.

Ich wollte meinen Familiennamen hinzufügen, um mich nicht mit Maroun duzen zu müssen, unterließ es jedoch, Maroun kannte ihn ja. Es fiel mir immer schwerer, anderen das Du anzubieten, und Maroun nach so kurzer Zeit schon gar nicht. Mit jungen Leuten war es besonders schwierig. Dauernd fielen sie mir gegenüber vom Du ins Sie, und hatte ich die neuen Duzfreunde nur einige Tage nicht gesehen, waren sie wieder beim totalen Sie, und ich war der, der sie daran erinnern musste, dass wir uns duzten.

Bevor Myriam verkünden konnte, dass wir uns nicht siezen und nicht so spießig sein sollten, fragte ich Maroun, wo er geboren sei.

»In den Philippinen, irgendwann sind meine Vorfahren aus China über Melakka eingewandert, wenn Ihnen das was sagt.« Er warf mir einen nicht zu deutenden chinesischen Blick aus wenig chinesischen, blaugrünen Augen zu, und ich erwiderte: »Nirgendwo werden so viele Schiffe geentert wie in der Melakkastraße, wie ich gehört habe.«

»Die Auftraggeber sitzen in Singapur«, sagte Maroun.

»Die Mannschaften sind Malaien und Filipinos.«

»Wie interessant.« Myriam legte ihre Hand auf Marouns Knie.

»Wo haben Sie in Südostasien gelebt?«, fragte er.

»Jakarta, Singapur und vor vielen Jahren in Manila.«

»Dort bin ich in die deutsche Schule gegangen.«

»Wollte das Ihre deutsche Großmutter?«

»Alle wollten es, meine ganze Familie. Sie wussten, wie wichtig Sprachen sind. Meine chinesischen Vorfahren waren Händler: Kokosnüsse, Trockenfisch und Gewürze im Südchinesischen Meer bis nach Australien. Auf jeder Insel wurde eine andere Sprache oder ein anderer Dialekt gesprochen.«

Wenn Maroun erzählte, bekam er etwas Gewinnendes. In Amerika und Deutschland hatte er Wirtschaft und Meeresbiologie studiert, in Oxford seinen Master gemacht. Myriam sagte, Maroun sei zur Hälfte Chinese, zu einem Viertel Deutscher und zu einem Viertel Spanier und Filipino. Sie sprach stolz über ihn, von den vielen Sprachen, den hervorragenden Examina, die er immer als jüngster und bester bestanden habe, und was für ein guter Sportler er sei. Man hatte den Eindruck, Maroun sei ihr Eigentum, dem das alles sichtlich peinlich war und der sie bat, nicht so dick aufzutragen.

»Und dieses Prachtstück ist neunundzwanzig Jahre alt!«, rief Myriam, wischte sich eine rötliche Ringellocke aus der Stirn und sagte, jetzt wolle Enzo, dass Maroun mit ihm arbeite, obwohl dieser eigentlich auf einer Bildungsreise durch Europa sei.

Im Haus läutete das Telefon. Myriam wollte aufspringen, aber Maroun drückte sie sanft in den Sessel zurück. Seine Hand hatte ihre Schulter umfasst und war einen Moment darauf liegengeblieben, eine unauffällige, aber intime Geste, die verriet, wie vertraut die beiden miteinander waren. Ob Enzo ahnte, was zwischen Myriam und Maroun vorging? Er war nahezu fünfundzwanzig Jahre älter als Myriam und fast vierzig trennten ihn von Maroun. Für ihn war es tatsächlich das Beste, im Büro Strategien für Ökofastfood zu entwickeln. Er war der Meinung, dass Altersunterschiede unter älteren Menschen nicht geringer, sondern größer würden. »Einem Neunzigjährigen gegenüber«, sagte er, »fühlen sich die Neunundachtzigjährigen wie aus einer anderen Generation.«

Zu ihrem Einweihungsfest wollte Myriam rund fünfhundert Personen einladen. Maroun fand das zu viel, ich pflichtete ihm bei. Myriam sagte, ein Drittel würde sowieso nicht kommen, was Maroun verneinte: zu Myriams Festen kämen alle. Aus dem Gedächtnis diktierte sie ihm die Namen von Gästen, bis ihr einfiel, diese aus ihrem Adressbuch auszusuchen. »Es ist auf dem Nachttisch«, sagte sie zu Maroun.

Soweit war es also schon. Als Maroun Myriam vor zwei Wochen in der Ausstellung begegnet war, waren sie noch Bekannte gewesen. »Wo sind Sie?« hatte sie gerufen. Ob das noch von Interesse war? Und jetzt lebte Maroun offensichtlich mit Myriam und ihrem Mann in dieser Villa. Wie schnell er das geschafft hatte!

Maroun verschwand im Haus. Bevor ich jetzt vorschlagen konnte, einen Feuerschlucker oder Wahrsager für das Fest zu engagieren, sagte Myriam nach einem Seufzer: »Ist er nicht wunderbar?«

»So ist es«, erwiderte ich. Dies war mein bevorzugter Ausspruch, wenn ich mich über ein Thema nicht weiter auslassen wollte. Sie schaute auf meine Hosentasche, in der ich die Hand versteckt hatte: »Du solltest dich von Maroun massieren lassen. Enzos Ischias ist schon viel besser geworden.«

»Massiert dich Maroun auch?«

»Vor dem Frühstück ist Enzo dran und ich morgens und abends. Maroun lebt bei uns, das macht alles einfacher.«

»Was hat er nach dem Studium getrieben?«

»Geschäfte. Und jetzt hilft er Enzo, sie kommen gut miteinander aus.«

Der größte Teil meines Lebens waren Geschäfte gewesen, erst für die KAHLKE AG, der die MERLO AG und die GENEX AG gefolgt waren. Die letzten zwanzig Jahre hatte ich für die ALFA AG gearbeitet. Am Ende des Firmennamens waren immer die gleichen Buchstaben gestanden, und rückblickend hatten sich meine Arbeitgeber in ihrer Hinterhältigkeit wenig voneinander unterschieden.

»Du hast Schmerzen«, sagte Myriam. »Möchtest du ihn nicht einmal versuchen?«

»Massagen nützen nichts, ich habe alles ausprobiert.«

»Sei nicht so stur!«

Ich dankte, Maroun trat zwischen uns. Wir hatten ihn nicht kommen gehört. Er gab Myriam das Adressbuch. Sie las daraus vor, und er schrieb die Namen auf. Die Liste wurde immer länger. Ich fühlte mich nutzlos und hatte Lust zu verschwinden. Aber wann immer ich Anstalten machte, mich zu erheben, bat Myriam mich zu bleiben, sie seien gleich fertig.

Bei den allermeisten Namen fragte Maroun, wer das sei, was er oder sie machten. Ob er sich das alles merken konnte? Als die Liste ein vorläufiges Ende gefunden hatte, schlug ich vor, das Fest wie einen Jahrmarkt zu gestalten, der Garten sei groß genug. Myriam zögerte, aber Maroun betonte: »Wir müssen alle gleichzeitig amüsieren oder es wenigstens versuchen. Ich werde mit einer Agentur reden.«

Ich dachte an die Kosten, aber weder Myriam noch Maroun sorgten sich deswegen. Enzo müsse sich auch einmal amüsieren, sagte Myriam, und mit Maroun würde er so ein Fest genießen. So wie ich Enzo kannte, zweifelte ich, dass er daran soviel Spaß hätte.

Etwas später erschien Pia, um mich abzuholen. Sie sagte, sie hätte auf der Straße laut gehupt, ob ich schwerhörig sei. Pia lehnte Myriam ab, sie war ihr gesellschaftlich zu umtriebig. Pia verstand nicht, dass Corinna mit Myriam befreundet war. Corinna machte sich aus der sogenannten Gesellschaft viel weniger als Myriam, doch war sie ab und zu ganz gern dabei.

Die Schickeria hänge ihr zum Hals raus, verkündete Pia bei jeder Gelegenheit, aber so wie sie vor uns stand, war sie rein äußerlich dafür wie geschaffen, dunkelblond, groß und schlank. Bea war kleiner gewesen, aber Pia hatte das Beste von ihrer Mutter mitbekommen, die tiefblauen, weit auseinanderstehenden Augen unter dunklen, langen Wimpern und den ruhig abwägenden Blick.

»Setz dich zu uns«, sagte Myriam, aber Pia blieb stehen und sah mich ungeduldig an.

»Schade, dass Sie Ihren Vater nicht bei uns lassen«, sagte Maroun. »Er hat gute Einfälle.«

»Wenn du bleiben willst?« Pias Blick wurde verschwörerisch. Ich wollte unbedingt bei ihr sein, wir hatten den Abend für uns. Pia arbeitete ausnahmsweise nicht, und Corinna musste bei einem Treffen bayerischer und französischer Wirtschaftsberater sein. Ich verabschiedete mich. Maroun gab mir die Hand. Er war einen Kopf größer als ich und einen halben als Pia. Der Druck seiner Hand war nicht zu fest und nicht zu weich. Was hatte er nur vor? Er war doch nicht bei den Sardones eingezogen, bloß um ihnen zu gefallen? Myriam im Bett und Enzo im Büro. Aber vielleicht sah ich schon wieder zu schwarz, Corinna hätte mir das vorgeworfen.

»Was hältst du von Maroun?«, fragte ich Pia im Auto.

»Ich kenne ihn nicht.«

»Der erste Eindruck ist wichtig.«

»Myriam liebt ihn.«

»Woher weißt du das?«

»Man sieht es.«

»So schnell?«

»Myriam ist in einem Alter, in dem man sich eine gute Gelegenheit nicht entgehen lässt.«

»Ist Maroun eine?«

Sie nickte. »Warum musste Enzo auch eine soviel jüngere Frau heiraten?«

Ich schwieg, Corinna war schließlich zweiundzwanzig Jahre jünger als ich. Mit Pia hatte ich sehr lange nicht mehr darüber gesprochen. Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Über die meisten Dinge hatte ich mit Bea nur einmal geredet. Wiederholungen langweilten sie. Je länger wir schwiegen, desto unbehaglicher fühlte ich mich.

»Mach dir keine Sorgen.« Pia hielt vor einer Ampel. »Enzo muss schon in deinem Alter ziemlich ältlich gewesen sein. Du bist es nicht.«

Das von Pia zu hören, hätte mich freuen sollen, doch war es mir eher peinlich. Seit ich nichts Richtiges mehr zu tun hatte, wuchs mein Verlangen nach Corinna ständig. Glücklicherweise hatte sie nichts dagegen, sie war eine Frau, der es Freude machte, zärtlich zu sein.

Pia hielt vor unserem Tor. Bevor sie in die Garage fuhr, sagte sie: »Ich wünschte, ich hätte soviel Glück gehabt wie deine Frauen mit dir.«

Mit Herrmann Überschneider, ihrem geschiedenen Mann, hatte sie es bestimmt nicht erlebt. Zwei Jahre waren sie verheiratet gewesen. Er war ein junger Schriftsteller, vielmehr glaubte er, einer zu sein, und das hatte auch Pia geglaubt. Verleger und Lektoren waren anderer Meinung. Sein »Langer Tod nach kurzem Wiedersehen« war einundzwanzig Mal abgelehnt worden. In diesem Roman entführte ein junger Schriftsteller einen berühmten Verleger und hielt ihn in seinem Keller gefangen. Täglich musste der Verleger dem Schriftsteller aus dem abgelehnten Manuskript vorlesen. Herrmann lebte nicht weit von uns und liebte Pia nach wie vor, die sich von ihm getrennt hatte, weil er wie eine Klette an ihr klebte und sie keinen Moment allein lassen wollte. Wenn Pia mit uns im Sommer nach Italien gefahren war, hatte er sich aufgeführt, als verbrächte sie die Ferien im Bordell. Italiener konnte er nicht leiden und schrieb nur Schlechtes über sie. Mir warf Herrmann vor, ich sei jederzeit zum Inzest fähig. Als er das erstmals von sich gegeben hatte, hielt ich ihn für betrunken, es war am Weihnachtsabend. Ihm war es jedoch ernst, und er versteifte sich derartig darauf, dass ich ihn am gleichen Abend aus dem Haus warf. Meine Inzestwünsche wurden für ihn zu einer fixen Idee, die er zur zentralen Idee eines weiteren Romans entwickelte, den ebenfalls niemand verlegen mochte. Die Absagen der Verlage vertieften seine Abneigung zu mir. Er war überzeugt, ich stünde hinter seinen Misserfolgen. Pia versuchte ihm das auszureden, aber er verrannte sich immer tiefer in seinen Wahn.

Da sie wieder in ihrem Zimmer über uns wohnte, vertiefte sich sein Hass auf mich. Er willigte nicht in die Scheidung ein. Ab und zu rief er an. Nahm ich ab, hängte er meistens wieder ein. Aber einmal nannte er mich »Drecksau«, und ein andermal fiel ihm »Altes Arschloch« ein.

Als wir im Haus waren, hörte Pia den Anrufbeantworter ab. Die meisten Anrufe waren für sie. Herrmann hatte auch angerufen, er sei schwer krank. Aber diesen Trick von ihm kannten wir schon. Mit ihm wollte er Pias Mitleid erregen, damit sie nach ihm sah.

Sie bereitete das Abendbrot vor. Hier am Rand des Waldes erschien der Föhn wilder, peitschend fuhr der Wind durch die Bäume. Das an- und abschwellende Rauschen des Waldes, die ächzenden Stämme und die aneinanderschlagenden Zweige und Äste gehörten zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen.

Pia deckte in der Küche. Es war eine Freude ihr zuzuschauen, wie sie sich bewegte. Bea hatte sie als Kind ins Ballett geschickt. Zum Skilaufen hatte ich sie mitgenommen, und Volleyball hatte sie in der Schule und in einem Club gespielt.

Wir aßen kalt. Gerade hatte ich eine Flasche Rotwein geöffnet, als das Telefon läutete. Erst wollte Pia nicht abnehmen, aber dann tat sie es doch. Es war Maroun, ich hätte meinen Geldbeutel bei Myriam verloren, er sei mir wohl aus der Tasche gerutscht. Pia dankte, und Maroun wünschte einen schönen Abend. Sie legte auf und griff mit den Händen an den Hals. Ein heftiger Schmerz hatte sie durchzuckt, der jedoch rasch nachließ. Sie glaubte, eine falsche Bewegung gemacht zu haben.

3. Kapitel

Die Schmerzen im Arm überfielen mich in Wellen. Zwar war ich oft viele Stunden schmerzfrei, aber dann wurden die Stiche auf einmal so heftig, dass ich immer häufiger an Amputation dachte. Ich konnte doch nicht für den Rest meines Lebens stärkste Schmerzmittel nehmen, die wenig halfen. Ich hatte Angst vor der Operation, aber ich würde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, eines Abends in ein Krankenhaus einzuchecken und am nächsten Morgen auf dem Operationstisch zu liegen. Corinna redete mir zu, obgleich zu erwarten war, dass traumatische Schmerzen mich noch lange heimsuchen würden.

Sie hatte sich über Prothesen kundig gemacht und meinte, ich würde mit einer gut angepassten Prothese besser zurechtkommen als mit dem Arm in seinem jetzigen Zustand.

Durch die täglichen Übungen war mein restlicher Körper muskulöser als früher, selbst mein linker Oberschenkel, der zweimal gebrochen war, nur dem Bauch war nicht beizukommen, der zwar steinhart wurde, wenn ich ihn anspannte, aber im Umfang keinen Zentimeter verlor.

Corinna schlief nackt. Bis zu unserer Ehe hatte ich im Pyjama geschlafen. Bea hatte immer Nachthemden angezogen, einige hatte ich sogar gekauft, ausgeschnitten und ärmellos. Sie hatte auf einem breiten Bett bestanden, zwei Kopfkissen und für jeden eine Decke. Bevor sie einschlief, war sie meist ein Stück abgerückt, und mit den Jahren war der Abstand immer größer geworden. Das änderte sich mit Corinna. Wir kauften ein neues Bett, ein schmaleres. Ich verstand, dass sie ihre Ehe nicht im Bett ihrer Vorgängerin beginnen wollte. Nicht so schnell konnte ich verstehen, dass ich ohne Pyjama schlafen sollte. Ich war immerhin achtundvierzig. Als Kompromiss suchte Corinna mir ein Nachthemd einzureden, was ich ganz unmöglich fand. Wie konnte eine junge Frau so etwas vorschlagen? Wollte sie mit einem Großvater schlafen?

Schließlich einigten wir uns darauf, dass ich ohne Hose schlief. Die Jacke konnte ich erfolgreich verteidigen. Wir lebten ja in Jakarta. In unserem Schlafzimmer war es kalt, der Airconditioner lief die ganze Nacht, wir hätten sonst vor Feuchtigkeit und Hitze kein Auge zugemacht. Ich behauptete, mich ohne Pyjamajacke zu erkälten, was sich als Irrtum herausstellte. Corinna bekämpfte die Jacke von der ersten Nacht an, und bald wachte ich immer öfter nackt ohne Erkältung auf. Mit einer Hand zwischen meinen Beinen, die andere auf meiner Brust, schlief Corinna am liebsten ein. Bea, die auf die meisten Menschen eher kühl wirkte, war auch im Bett nicht viel anders, doch ließ sie anderen Frauen keine Chancen. In unserer elfjährigen Ehe hatte ich sie nur zweimal betrogen, einmal mit einem rumänischen Stubenmädchen in einem Hotel in Lyon, das ins Bad kam, als ich mich rasierte.

Mit Pia, die Bea sehr ähnlich war, hatte ich über diese Dinge nie geredet. Doch hätte ich es vielleicht tun müssen, sie hatte ja keine Mutter mehr. Ich wusste nicht, wie ich es hätte anfangen sollen und wie weit ich gehen könnte. Außerdem glaubte oder hoffte ich, dass in Pias Generation sowieso alles Sexuelle früh bekannt war, viel natürlicher genommen wurde und ich in derlei Dingen altmodisch war.

Corinna war im Grunde zurückhaltender als Bea, die sich gern ohne große Umschweife pudern ließ, wie sie das nannte. Corinna war viel zärtlicher, und oft wollte sie auch nur zärtlich sein. Anfangs vermutete ich, sie wollte mir nicht zu viel zumuten. Aber das war es nicht. Wenn ihr danach war, konnte sie viel ausgelassener als Bea sein. Vom Manager eines Feriendorfes in Penang wurden wir sogar einmal gebeten, nachts mehr Rücksicht auf die Gäste in den anliegenden Zimmern zu nehmen.

Pia hatte mit Männern keine glückliche Hand. Das fiel mir wieder einmal auf, als ihr neuer Freund, Walter Grebe, sie und mich zum Abendessen einlud. Das koreanische Lokal war teuer. Kimchi, dem schärfsten Knoblauch Asiens, wurden wundersame Kräfte zugesprochen. Grebe liebte Kimchi. Ich hatte ihn für Ende Fünfzig gehalten, er aber hatte behauptet, zweiundfünfzig zu sein. Später fand Pia heraus, dass er über sechzig war. Alle paar Jahre korrigierte er sein Alter nach unten, färbte die Haare blond und hatte das Gesicht schon zum zweiten Mal geliftet.

Ich verstand meine Tochter nicht, aber sie war verliebt oder redete sich das ein, so wie sie es mit Herrmann getan hatte, der wenigstens ihrem Alter entsprochen hatte.

Mit seinen Filmen war Grebe jedoch erfolgreich. Pia war dankbar, mit ihm arbeiten zu dürfen. Er nörgelte zwar dauernd an ihrem Drehbuch herum, aber Pia fand das richtig. Noch nie hätte sie soviel gelernt, ständig schrieb sie um. Wie es sich in der Branche gehörte, war Grebe einige Male verheiratet gewesen und hatte vor einigen Monaten wieder eine Scheidung überstanden, über die seitenlang in den Illustrierten berichtet worden war. Ich war sicher, dass Pia eine Scheidung von Grebe nicht erspart bleiben würde, falls sie ihn heiratete. Die verliebten Blicke, die sie sich zuwarfen, beunruhigten mich. Wäre Grebe doch wenigstens jünger! Dass er seine Haare färbte, sah man doch! Corinna hatte an diesem Abenteuer nicht teilnehmen können, sie war geschäftlich in Berlin.

Grebe hatte versucht, mich kennenzulernen, den leiblichen Vater Pias, wie er sich ausdrückte. Sogleich betonte er: »Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt, dicker, blond oder graublond, oder Halbglatze oder noch weniger Haare. Aber Sie sind ja ein lateinischer Typ, dunkle Augen, starker Bartwuchs und eine römische Nase.«

Unwillkürlich fuhr ich über meine frischrasierten Backen und überlegte, wie eine römische Nase war.

»Scharf und wie ins Gesicht gerammt«, sagte Grebe.

Pia strich über meine kaputte Hand. »Das macht er immer so, wenn er Menschen, die ihn interessieren, zum ersten Mal sieht. Er typisiert wie beim Casting.«

Auch ich achtete auf gewisse Gesichtsmerkmale. Zum Beispiel auf Ohrläppchen. Sie durften nicht angewachsen und mussten so groß wie möglich sein, so wie die Marouns. Sie waren dann ein Zeichen von Intelligenz, wie man im Mittleren Osten sagte.

Grebe sprach mit mir in einem Ton, als trennten uns Generationen. Wir unterhielten uns über Russland, er wollte nach Moskau.

»Damals im Krieg muss es dort schrecklich gewesen sein«, sagte er. »Aber das haben Sie ja alles mitgemacht. Für uns Nachgeborene ist das kaum nachvollziehbar.«

Während er Pias Backe tätschelte, erwiderte ich, dass ich am Ende des Krieges sechs Jahre alt gewesen war und Kleinkinder am Russlandfeldzug nicht teilnehmen durften. Er fand mich ulkig, wie er lachend ausrief. Er begann mich zu ärgern, dieser Grebe. Ich hatte mich noch nie mit einem Regisseur unterhalten, hatte aber gewisse klischeehafte Vorstellungen, die wenig schmeichelhaft waren. Walter Grebe überschritt sie erheblich.

Er nervte mich weiter, als er meinen Teller über den Tisch hob und das Fleisch in kleine Stücke schnitt. Zu Pia sagte er: »Eigentlich hättest du das machen sollen, hilfst du deinem Vater nicht?«

Pia wurde rot und bat mit einem Blick, dem ich schon immer schwer hatte widerstehen können, um Verständnis. An diesem Abend tat mir der Arm besonders weh. Zeigefinger und Daumen konnte ich nur unter Schmerzen krümmen. Ich sah meinem Wohltäter zu, wie er mit beneidenswert gesunden Händen das Fleisch zerschnitt, und sah auch die weißen Flecken auf seinem Handrücken. Dort waren wohl die braunen Altersflecken abgebrannt worden.

Plötzlich befiel mich die Angst, Grebe würde um Pias Hand anhalten, aber dann hätte sie mich vorher gewarnt, so wie sie es mit Herrmann gemacht hatte.

Grebe stand auf und platzierte den Teller vor mir auf den Tisch.

»Väter und Töchter«, sagte er. »Ich finde es hinreißend, wenn Töchter in ihre Väter verliebt sind, jedenfalls ein bisschen.« Begütigend legte er seine Hand auf meine. Ich wollte eine Einschränkung zu seiner Bemerkung machen, aber schon sagte er: »Natürlich möchten Sie das nicht zugeben, und schon gar nicht vor Ihrer Tochter.«

»Haben Sie eine?«, fragte ich.

»Eben nicht, deshalb musste ich Sie ja kennenlernen. In meinem, nein unserem Manuskript ist die Beziehung zwischen der Heldin und ihrem Vater nicht innig genug.«

»Sollte sie vielleicht auch nicht sein.«

»Doch!«, rief er. »Sie muss, sie muss!«

Wenn man Myriam glauben wollte, leistete Maroun im Bett Außerordentliches. So etwas wie ihn hätte sie noch nie erlebt, erfuhr Corinna von Myriam, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Corinna hatte mir das ins Ohr geflüstert, bevor sie eingeschlafen war, eine Hand zwischen meinen Beinen, die andere auf meiner Brust. In der Nacht wachte ich auf. Ein schweres Gewitter tobte über München. Ich ging ins Bad, und als ich wieder ins Bett wollte, lag Corinna auf dem Bauch, ihr Gesicht mir zugewandt.

Ihr Körper war warm und wunderbar weich.

Ich lag noch lange wach und horchte dem Sturm zu, nachdem Corinna längst wieder eingeschlafen war. Mit Myriam hatte sie Mittag gegessen, die mit ihr über das Fest hatte reden wollen, dann aber hauptsächlich von Maroun geschwärmt hatte, der mit Enzo im Büro arbeitete.

Marouns Tag begann früh, er stand um fünf Uhr auf, meditierte zwei Stunden, machte dann Yoga und Tai Jing, chinesisches Schattenboxen. Gegen acht massierte er Enzo und frühstückte mit ihm. Wenn dieser vom Chauffeur abgeholt worden war, massierte Maroun Myriam und liebte sie danach oder machte beides gleichzeitig, was sie am schönsten fand.

Warum erzählte Myriam das alles? Wollte sie Corinnas Neid erregen, oder erlebte sie sämtliche Wonnen noch einmal, wenn sie diese einer Freundin erzählte? Nach uns hatte Maroun immer wieder gefragt, vor allem nach Pia, und nun hatte Myriam auch mehr über Pia wissen wollen. Je länger sie mit Corinna über meine Tochter gesprochen hatte, desto nervöser hatte sie an den Stirnlocken oder Augenbrauen gezupft.

Am gestrigen Spätnachmittag hatte Maroun Myriam in der Waschküche geholfen und sie dort auf der laufenden Waschmaschine geliebt. Dabei hatten sie Champagner getrunken, das einzige alkoholische Getränk, das Maroun nicht verweigerte. Abends hatte Myriam Corinna angerufen und detailliert berichtet.

Kurz vor Sonnenaufgang wachte ich auf. Der Sturm hatte sich gelegt, es wehte ein leichter Sommerwind. Ich horchte auf Corinnas Atemzüge und roch den schwächer gewordenen Duft ihres Parfüms.

Die Sonnenstrahlen fielen aufs Bett, im Wald zwitscherten Vögel.

Ich fühlte mich wohl und gesund, mein Arm schmerzte nicht. Den Gedanken, Maroun könnte gefährlich für mich sein, hatte ich verdrängt. Ich zog die Beine an, wollte aus dem Bett, um mich auf den Balkon zu setzen. Corinna ließ mich nicht. Sie schlang die Arme um meinen Hals und rutschte auf mich, küsste mich und glitt abwärts.

Myriam hatte Corinna auch von den Becker-Manzinis erzählt, Carlo und Sylvia, Freunde der Sardones. Vor allem Enzo und Carlo waren eng miteinander befreundet. Sie waren im gleichen Alter, Sylvia war einige Jahre jünger als ihr Mann und seit vierzig Jahren mit ihm verheiratet, was Myriam unglaublich fand. Mit Becker-Manzinis war Maroun in den Fernen Osten gereist, und nach ihnen hatte Myriam auf der Vernissage gefragt, als sie Maroun getroffen hatte.

In ihrer Frage hatte Besorgnis mitgeklungen, aber dafür gab es wohl keinen Grund. Den Becker-Manzinis ginge es gut, sagte Maroun. Sie genossen die Reise, die Maroun organisiert hatte, und hielten sich seit einigen Wochen in China auf. Maroun hatte Carlo Becker-Manzini beraten, der sich an einer Bank in Singapur beteiligen wollte. Carlo war Italiener, in Deutschland aufgewachsen, und sprach Deutsch so gut wie Italienisch. Seine Frau war Schweizerin und verlegte teure Kunstbücher. Sie war eine damenhafte, schlanke Erscheinung, mit einem länglichen, noch frischen Gesicht und lebhaft freundlichen Augen. Grauweiße Strähnen durchzogen ihre dunklen Haare.

Die Becker-Manzinis waren Kunstliebhaber, und Carlo war Sammler, was ihn mit Enzo wohl am meisten verband. Beide konnten stundenlang über Malerei und Kunst diskutieren, was wir an einem Abend bei Enzo und Myriam erlebt hatten. Die Becker-Manzinis lebten zwischen Mailand und dem Tessin. Ihre Häuser waren ebenso voller Bilder wie die Villa der Sardones in München. Maroun war über einen Monat ihr Gast gewesen.

Er hatte mit Carlo Becker-Manzini, einem schweren, weißhaarigen Mann, dessen Gesicht an Julius Cäsar erinnerte, Golf und Schach gespielt. Carlo war gerade siebzig geworden, hatte vier Bypässe, ein beginnendes Lungenephysem, rauchte aber weiter Zigarre.