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Drum prüfe, wer sich vertraglich bindet: Ein ehrgeiziger Manager übernimmt die Firmenleitung eines maroden Unternehmens auf den Philippinen - und gerät zwischen die Fronten des internationalen Big Business. Don Lucio dachte nicht an den Bischof, er dachte über Hoffmann und die AG nach. Ob Hoffmann zu Schwandts Nachfolger ernannt werden würde? Don Lucio hielt Hoffmann für einen Spießer, der unfähig war, mit der Macht umzugehen. Schwandt hatte das auch nicht gekonnt, er war erpressbar gewesen. Don Lucio wünschte sich einen jungen Nachfolger. Frisch und noch nicht so erfahren sollte er sein, aber ehrgeizig, wie es diese jungen Leute in der AG waren, die sich ein halbes Leben mit Karriere ködern ließen. So einer würde ihm Spaß machen. Er würde mit ihm spielen können, so wie mit Jason und dann auch mit Lily. Don Lucios Spiele waren riskant für den, mit dem er spielte. Es musste nicht so wie mit Jason und Lily enden, Don Lucio gab jedem eine Chance. Diese Chance ergreift der Manager Kauff - jedoch nicht gänzlich freiwillig. Seine Karriere beim Weltkonzern Corpus AG hat oberste Priorität, und nur deshalb sagt er zu, als ihm - auf Betreiben eines Kontrahenten - ein Posten in Asien zugeschoben wird. Zusammen mit seiner Frau Jana fliegt Kauff nach Manila, um die dortige Niederlassung auf Vordermann zu bringen. Was Kauff nicht weiß: Nicht nur seine Widersacher wollen ihn scheitern sehen, auch die Machenschaften des skrupellosen Großaktionärs Don Lucio machen aus Kauffs Einsatz einen wahren Höllentrip. »Forbes Park« ist ein dicht erzählter Thriller über Machtmissbrauch und Manipulation im Krieg der Konzerne - so spannend wie zeitlos!
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Seitenzahl: 530
Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München
Originalausgabe © 1999 by Hubertus von Thielmann
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Autorenfoto: © Claus Gretter
ISBN: 978-3-95607-085-3
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Forbes Park
Drum prüfe, wer sich vertraglich bindet: Ein ehrgeiziger Manager übernimmt die Firmenleitung eines maroden Unternehmens auf den Philippinen - und gerät zwischen die Fronten des internationalen Big Business.
Don Lucio dachte nicht an den Bischof, er dachte über Hoffmann und die AG nach. Ob Hoffmann zu Schwandts Nachfolger ernannt werden würde? Don Lucio hielt Hoffmann für einen Spießer, der unfähig war, mit der Macht umzugehen. Schwandt hatte das auch nicht gekonnt, er war erpressbar gewesen. Don Lucio wünschte sich einen jungen Nachfolger. Frisch und noch nicht so erfahren sollte er sein, aber ehrgeizig, wie es diese jungen Leute in der AG waren, die sich ein halbes Leben mit Karriere ködern ließen. So einer würde ihm Spaß machen. Er würde mit ihm spielen können, so wie mit Jason und dann auch mit Lily. Don Lucios Spiele waren riskant für den, mit dem erspielte. Es musste nicht so wie mit Jason und Lily enden, Don Lucio gab jedem eine Chance.
Diese Chance ergreift der Manager Kauff - jedoch nicht gänzlich freiwillig. Seine Karriere beim Weltkonzern Corpus AG hat oberste Priorität, und nur deshalb sagt er zu, als ihm - auf Betreiben eines Kontrahenten - ein Posten in Asien zugeschoben wird. Zusammen mit seiner Frau Jana fliegt Kauff nach Manila, um die dortige Niederlassung auf Vordermann zu bringen. Was Kauff nicht weiß: Nicht nur seine Widersacher wollen ihn scheitern sehen, auch die Machenschaften des skrupellosen Großaktionärs Don Lucio machen aus Kauffs Einsatz einen wahren Höllentrip.
Für Dudu
Jana blickte aus dem aufsteigenden Flugzeug auf Aleppo, Kuben in gelblichem Dunst, graue Erde bis zum Horizont. Das Ramses Hotel war nicht zu erkennen. Die Farbe ihres Zimmers würde sie so bald nicht vergessen, laubfroschgrün mit dunklen Flecken. Bis spät in die Nacht war der Straßenlärm heraufgebrandet, am störendsten war das Hupen der Mopeds gewesen. Der Ventilator hatte heißen Wind auf sie geblasen.
Nach jeder Dusche hatte es nicht lange gedauert, und Kauff hatte nach ihr getastet, seine Hände waren über ihre Haut gestrichen. Jana hatte nichts dagegen gehabt. Sie hatte selten etwas dagegen, wenn er es war.
Kauff stellte die Rückenlehne zurück und sog den Luftzug aus der Frischluftdüse ein. Jana fühlte sich erleichtert, Syrien lag hinter ihr, Dreck, Staub und Hitze. Sie war glücklich, jetzt auf dem Weg nach Istanbul zu sein.
Neben Kauff saß ein schwerer Mann mit beginnender Stirnglatze. Er war Mitte dreißig, so alt und hochgewachsen wie dieser. Vor zehn Jahren hatte er mit Kauff in der Corpus AG angefangen, auf demselben Korridor, ein Zimmer weiter, in dem er mit drei anderen noch immer hockte. Kauff war damals schnell aufgefallen. Er hatte die wenigen Chancen genützt, und was er zu Papier gebracht hatte, war durchdacht genug, um nach oben gereicht zu werden. Kauff trennten heute von seinem Nachbarn, der wie am ersten Tag reinstes Hessisch sprach, Welten in der AG. Kauff hatte dafür gesorgt, dass der Hesse bei der Abnahme eines von Corpus gebauten Elektrizitätswerkes mit dabei war. Als Sohn eines Konsulatsangestellten war er in Kairo zur Schule gegangen und hatte Arabisch gelernt. In der AG hatte ihm das nichts geholfen.
Kauff hatte in Damaskus und Aleppo die Vertreter der AG besucht. Jana hatte er mitgenommen, damit sie ein bisschen von dem sah, was ihn tagsüber beschäftigte, und er reiste gern mit ihr. Die syrischen Männer waren von Jana begeistert gewesen, dieser jungen, blonden Deutschen. Auf den Einladungen mittags und abends hatte Jana nach links und rechts in Englisch und Französisch parliert, immer den gleichen Unsinn, wie sie meinte. Im Basar in Aleppo hatte sie die Fassung verloren, als sie in einem Silberladen in den Hintern gekniffen worden war.
Die Stewardessen servierten warme Coca Cola. Der Hesse fragte Kauff unentwegt nach Männern aus, von denen man in der AG redete und die weit über ihm standen, mit denen Kauff oft zusammen war und auch zu Mittag aß. Der Hesse war auf Klatsch aus, was Kauff auf die Nerven ging. Er fragte auch nach Fischer-Krautheim, den man in der Firma nur FK nannte und den Kauff in Istanbul treffen würde.
Jana konnte FK nicht ausstehen. Feist, falsch und präpotent, dachte sie, wenn Kauff von ihm sprach, und manchmal sagte sie das auch. In letzter Zeit hatte Kauff öfter von FK gesprochen.
Sie flogen jetzt über eine Ebene, die Çukurova, Baumwollfelder in welkendem Grün. Als sie sich dem Taurusgebirge näherten, wollte der Hesse wissen, ob FK wirklich ein so scharfer Hund geworden sei, wie es hieße. Auch ihn kannte er aus seinen Anfängen in der AG. Aber jetzt hätte er kaum gewagt, ihn auf dem Gang zu grüßen. Doch war es für ihn unwahrscheinlich, FK zu begegnen. Die Gänge, über die Kauff und FK eilten, waren nicht die des Hessen. Kauff hatte keine Lust, über FK zu reden, dem er sich mit jeder Minute um einen guten Kilometer näherte. Er hoffte, wenigstens einen Abend allein mit Jana in Istanbul zu verbringen.
Der Hesse ließ nicht locker, er hatte keine Scheu vor Kauff, der so wie früher geblieben war. »Ist FK wirklich so oft bei Brant?«, fragte er.
Kauff, der ebenso oft von Brant gerufen wurde, lächelte gequält und sagte: »Öfter, aber mit ihm kann man auskommen.«
»Sie natürlich!«, sagte der Hesse voller Bewunderung, die Kauff missfiel. Er schloss die Augen. Sein Nachbar ließ sich nicht beirren, der nun mit seinem Wissen über FKs Frau glänzen wollte, die eine grüne Emanze sei und Angst vorm Kinderkriegen hätte. Kauff atmete mit geschlossenen Augen tief ein und hoffte, der Hesse würde ihn in Ruhe lassen. Seine Gedanken kreisten um FK, er war sein Konkurrent. Kurz vor Kauffs Abreise hatte sich FK entschlossen, mit Kauff zusammen in Istanbul zu verhandeln. Vier Ohren hören mehr als zwei, hatte er gesagt, bei den Problemen, die sie in der Türkei hätten, könne das Kauff nur recht sein. Es sei im Interesse der AG das beste und auch schön, einmal in einer Stadt wie Istanbul zusammen zu sein und nicht nur immer im Büro. Kauff hatte dagegen nichts einwenden können. Er und FK waren die gleichberechtigten Stellvertreter des Leiters der Strategischen Abteilung, des Gehirns der AG, wie es hieß. Dass Jana ihn begleitete, hatte Kauff von seinem Chef genehmigen lassen, natürlich würde er Janas Kosten tragen. Der Chef war ein gutmütiger, phantasieloser Ingenieur, der in wenigen Wochen pensioniert werden sollte. In der AG wartete man gespannt darauf, wer sein Nachfolger werden würde, FK oder Kauff.
Jana verwünschte den Hessen im Stillen, der dauernd zu ihr hinsah. Sie blickte auf die kleinasiatische Küste, Strände, die in der Dämmerung verschwammen, in der das Meer dunkelte. Sie ließ die silbernen Kugeln der Kette aus dem Bazar durch die Finger gleiten, schmiegte sich an Kauff und schlief ein. Als sie aufwachte, kreiste das Flugzeug über den Lichtern Istanbuls. Hellerleuchtete Brücken spannten sich über den Bosporus. Auf Istanbul hatte sich Jana vorbereitet, sie freute sich.
Sie landeten, das Flugzeug setzte hart auf. Während es ausrollte, klatschten die Passagiere, der Hesse klatschte mit.
Eine Rolltreppe beförderte sie in die Ankunftshalle. Unter ihnen drängten sich Tausende von Menschen. Viele trugen weiße Dschellabas. Über Lautsprecher erscholl monotone Trauermusik. Um zwei der Förderbänder war es zu einem Tumult gekommen. Als die ersten Särge durch einen Vorhang aus langen Gummifransen geschoben wurden, ertönten Klagerufe, die sich schnell zu Schreien und Gekreische steigerten. Am Ende der Förderbänder warteten Gepäckträger in gelben Westen, auf die rote Nummern gedruckt waren. Jeweils zwei von ihnen stemmten einen Sarg hoch und kämpften sich zu einem der Ausgänge durch. Schluchzende, wimmernde Männer und Frauen warfen sich ihnen entgegen, Familienangehörige und Freunde, die zur Ankunft der Toten gekommen waren.
Am Ende der Treppe tauchten Jana und Kauff in das Chaos. Jana wurde sofort angerempelt, jemand stieß sie in den Rücken. Sie taumelte und wurde aufgefangen. Es war der Hesse, der sie anlächelte und freigab.
Einer der Särge fiel auf den Boden. Ein Pulk von Trauernden lag sofort über ihm. Jana presste sich an Kauff. Er suchte auf einer Anzeigetafel herauszufinden, wo ihr Gepäck ausgeliefert würde. Der Hesse redete mit einem alten Mann und schrie Kauff zu, in Mekka sei eine Unterführung für Fußgänger zusammengebrochen. Vierhundert Pilger seien bei der dann ausgebrochenen Panik totgetrampelt worden.
Kauff erhielt einen Stoß in die Rippen und hielt sich an Jana fest.
»Wir sind noch im Ramadan«, brüllte der Hesse.
Ein Pilger in wallender Dschellaba trat Jana auf den Fuß. Sie sah in ein uraltes Männergesicht, die Augen waren zu faltigen Schlitzen geschrumpft. Kauff schob Jana an dem Blinden vorbei.
Der Hesse hatte entdeckt, wo ihre Koffer ankamen, und bahnte den Weg. Jana und Kauff folgten ihm. Er flog noch am gleichen Abend weiter nach Deutschland. Sein Koffer war einer der ersten.
Das Pera Palace stammte aus dem letzten Jahrhundert. Agatha Christie hatte hier eine ihrer Geschichten geschrieben. Marmorsäulen, hohe Stuckdecken, eine geschwungene Freitreppe führte in den ersten Stock. Der Aufzug klapperte. Jana betrachtete Kauff in den Kristallspiegeln. Die Mahagoniverkleidung zierten Intarsien aus Elfenbein. FK hatte auf dem Pera Palace bestanden, einmal im Leben müsse man dort abgestiegen sein. Immer wenn es ihn nichts kostete, hielt FK auf Stil.
Im dritten Stock gingen Jana und Kauff über einen roten weichen Teppich, der eigenartig roch, nach einer Mischung aus Chlor und Zitrone. Das Zimmer war am Ende des Ganges. Der livrierte Diener zog die Samtvorhänge auf. Vor ihnen lag der angestrahlte Palast von Topkapi, unter ihnen schimmerte das Goldene Horn.
Jana war begeistert. Sie hatte sich von dem Schrecken am Flughafen erholt. Das Gepäck wurde gebracht. Kauff fischte nach Kleingeld in der Hosentasche und fand keines. Jana gab dem Hotelboy ein viel zu hohes Trinkgeld. Sie ließ sich auf das breite Bett fallen, an dessen Ende schwere Messingstangen wie Säulen aufragten. Ein Windstoß bauschte die Vorhänge. Jana roch das Meer und rief Kauff zu, wie schön es hier sei. Er duschte und verstand nichts.
Das Telefon läutete. Jana nahm ab, es war FK, der so tat, als habe er sich in der Zimmernummer geirrt. Jana sagte, er sei richtig verbunden. FK schlug vor, gemeinsam am Bosporus zu essen. Brant sei da, ganz unvermutet, und natürlich müsse Jana mitkommen, dann sei wenigstens eine Frau am Tisch. Brant war der Erste in der AG, der Vorstandsvorsitzende.
Kauff nahm Jana den Hörer aus der Hand. Kaum sprach FK mit ihm, wurde er kurz angebunden, als habe er keine Sekunde zu verlieren. »Ich rufe aus Herrn Brants Suite an, wir treffen uns in einer Viertelstunde«, sagte er und hängte ein. Kauff sank auf das Bett und trocknete sich ab. Ein Windstoß fuhr in das Zimmer. Kauff fröstelte. Der Lüster klirrte unter der Decke.
»Auch noch Brant«, sagte Jana und schloss das Fenster.
Kauff sah dem Abendessen mit einem flauen Gefühl entgegen. Von Brant hieß es, er hielte nicht viel von Frauen, was nicht stimmte. Seine Vorbehalte richteten sich gegen die Ehefrauen seiner Mitarbeiter. Mit ihnen hatte er am liebsten nichts zu tun. Ihnen gegenüber war er gehemmt und misstrauisch. Zwar berührte sie seine Macht, doch waren sie ihm nicht so ausgeliefert wie ihre Ehemänner.
Dass Frauen schwerer zu beherrschen sind als Männer, hatte Brant früh erfahren. Seit über dreißig Jahren war er mit einer forschenden Chemikerin verheiratet, mit der er nie stritt. Die Ehe war kinderlos geblieben, was die Brants nie bedauert hatten. Sie genügten sich selbst, und Erfolge hatten sie mehr als genug aufzuweisen.
»Zieh dich an«, sagte Jana. »Brant sollten wir nicht warten lassen.« Sie stand vor dem Spiegel und strich mit einem Lippenstift über ihre Lippen.
Brant und FK warteten in der Lobby, als Jana und Kauff aus dem Lift stiegen. Bevor Kauff den Mund aufmachen konnte, stellte FK Jana vor. Brant tat erfreut, Jana kennenzulernen. Sie sah ihm zu gut aus, und wie selbstsicher sie war, spürte er. Brant glaubte, dass Männer mit gutaussehenden Frauen sich zu viel um diese kümmern müssten und leicht in Gefahr gerieten, die Arbeit zu vernachlässigen.
Sie nahmen ein Taxi. Der Leiter der türkischen Niederlassung von Corpus, ein gewisser Schappmanskau, war nicht zum Abendessen aufgefordert worden. FK hatte ihn damit abgespeist, Brant wolle im Hotel arbeiten und früh zu Bett gehen. Schappmanskau sollte am nächsten Morgen gesagt werden, dass er in die Zentrale zurückkehre. Brant war sich mit FK einig, dass Schappmanskau ein zu gutes Verhältnis zu dem lokalen Partner habe und die Interessen der AG schlecht vertrete.
Brant nahm neben dem Fahrer Platz. Jana saß zwischen FK und Kauff. Sie erzählte, was sie am Flughafen erlebt hatten, und überging, dass sie aus Aleppo gekommen waren. Aber Brant hatte längst von FK erfahren, dass sie mit Kauff in Syrien gewesen war. Da sonst keiner redete, sprach Jana nun von Istanbul und berief sich auf ihren Reiseführer, den sie zu Hause schon hundertmal verkauft habe. Darüber kam sie auf ihre kleine Bücherstube zu sprechen, die sie mit einer Freundin betrieb.
»Sie haben keine Kinder?«, fragte Brant.
»Wir wollen noch ein bisschen warten und etwas vom Leben haben.«
»So, so«, sagte Brant. »Haben Sie das noch nicht, so jung sind Sie beide auch nicht mehr.«
Jana wollte erwidern, sie sei gerade einunddreißig, verstummte jedoch rechtzeitig und dachte, dass Kauff und sie für Brant, der nahezu sechzig war, provozierend jung sein mussten. Sie fuhren durch die Istiklal auf den Taksim-Platz zu. Jana sah an den Fassaden der alten Gebäude hoch. FK entschuldigte sich bei ihr, geschäftlich werden zu müssen, und schlug vor, Schappmanskau abzuhalftern. Brant dürfe ihm in der Zentrale keinen vernünftigen Posten in Aussicht stellen.
»Das ist doch ein alter Hut«, sagte Brant, worauf FK wieder in Schweigen verfiel.
»Warum soll er abserviert werden?«, fragte Kauff.
»Sie waren gestern nicht dabei«, sagte Brant. »Wie der uns zu belehren versucht hat, geht auf keine Kuhhaut.«
»Der kungelt doch längst mit diesem Levantiner«, sagte FK.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Kauff.
»Wie!«, rief FK. »Das weiß ich auch nicht, so was hat man im Gespür.«
»Diplomingenieur Dr. Bauer wird ihn ablösen«, sagte Brant, der ebenfalls der Zunft der Ingenieure angehörte.
Kauff bereute, einen Tag zu lange in Aleppo geblieben zu sein. Bei den gestrigen Besprechungen hätte er dabei sein müssen. FK hatte ihn reingelegt, was dieser natürlich abstreiten würde. Wahrscheinlich hatte er die Probleme in der Türkei hochdramatisch dargestellt und Brant zu der plötzlichen Visite überredet.
Brant beobachtete FK und Kauff im Rückspiegel. Als stellvertretende Chefs der wichtigsten Stabsabteilung, die vor allem für ihn arbeitete, hatte er mit den beiden viel zu tun, da deren Chef, der alte Kranzler, den jungen Männern freie Bahn gelassen hatte. In seinen Analysen war Kauff oft brillanter als FK, aber deswegen fand ihn Brant nicht sympathischer. Er war Brant zu hochgewachsen und erinnerte ihn an einen Klassenkameraden, dem in der Tanzstunde die Mädchen nachgelaufen waren. Kauff sprach drei Sprachen und war gewandt, aber für Brant war das nur ein Sich-in-den-Vordergrund-Schieben. Waren er und Kauff mit Ausländern zusammen, glaubte er aufpassen zu müssen, dass ihm Kauff nicht die Schau stahl, obwohl das diesem nicht im Traum eingefallen wäre. Jetzt, da Brant Jana kennengelernt hatte, wurmte es ihn geradezu, dass er sich so oft auf Kauff hatte verlassen müssen. Bisher hatte er dessen gute Arbeit als selbstverständlich hingenommen.
Das Restaurant Kuyu schwamm auf Pontons am europäischen Ufer des Bosporus. Kam ein Schiff zu nahe heran, schwankten die Lampen und klirrten die Teller wie bei einem leichten Erdbeben. Alle Tische waren besetzt. Es roch nach Anis, Knoblauch und gebratenem Fisch. Brant kannte das Kuyu. Hier aß man noch immer so gut wie im osmanischen Reich. Ein Ober führte sie mit gehetzter Miene an den vom Pera Palace reservierten Tisch. Sie saßen an einem der Fenster, Jana gegenüber von Brant. In der Mitte des Bosporus zog ein gewaltiger Tanker vorbei. Er war leer und ragte hoch aus dem Wasser. Am asiatischen Ufer flimmerten die Lichter der in das Wasser gebauten Häuser, der Yalis, hinter denen die anatolischen Hügel anstiegen. Istanbul war für Brant eine der wenigen Städte, die er gern besuchte. »Da drüben ist das Haus unseres Partners«, sagte er zu Jana und drückte seinen Daumen gegen die Scheibe.
»Gestern Abend waren wir bei ihm eingeladen«, sagte FK stolz. In Tarik Sfeirs zweihundert Jahre altem Yali zum Abendessen gewesen zu sein, das zählte in der AG.
»Wie immer war es interessant«, sagte Brant nachdenklich und dachte daran, was Monsieur Sfeir und Don Lucio Villaraza über den wachsenden Einfluss Chinas in Asien gesagt hatten, in zehn Jahren würden die Japaner die zweite Geige spielen. Don Lucio Villaraza war Partner und Chairman der Corpus Pacific in Manila.
Was die AG auszeichnete, waren ihre Partner im Ausland, meistens ältere einflussreiche Männer, die seit Jahrzehnten mit der AG verbunden waren. Nicht Brant und seine Ingenieure hatten diese Männer aufgespürt. Dieses Netz war von einem Mann geknüpft worden, dem Brant vor Jahren die Macht aus den Händen gerissen hatte.
FK erwartete, Brant würde von dem Abend erzählen, doch dieser schwelgte stumm in der Erinnerung. Abende mit Männern wie Sfeir und Don Lucio bedeuteten Brant viel. Er fühlte sich dann unter seinesgleichen. Zum Glück ahnte er nicht, dass die beiden Männer nicht ähnlich von ihm dachten. Sie trauerten seinem Vorgänger nach. Schließlich sagte FK: »Was Don Lucio über Südostasien berichtete, war voller neuer Aspekte.«
Schleimer, dachte Jana und fragte, wer Don Lucio sei, sicherlich kein Chinese.
»Nein«, sagte Brant, aus seinen Gedanken auffahrend. »Aber das stimmt nicht ganz, etwas ist er doch Chinese. Sein Urgroßvater war einer.«
»Er sieht wie ein Südeuropäer aus, nur in seinen Augen ist etwas anderes«, sagte FK und freute sich über Brants zustimmenden Blick.
Kauff kannte Don Lucio nur vom Hörensagen, ihm haftete etwas Legendäres an, auch wenn die Philippinen in der AG als unbedeutend galten und er sich nie ernsthaft mit ihnen hatte befassen müssen.
Über ihnen schwebten breite Tabletts, die von Kellnern in die Höhe gestemmt und nun abgeladen wurden. Der Tisch füllte sich mit Schalen und Schälchen, Hommos, Cacik, Dolmas, Tarama, Baba Ghanoush, Leber, in Thymian gedünstet, Garnelen, in Knoblauch gebraten, gegrillte Krabben und Krebse, es hörte nicht auf, und das waren nur die Mezze, die Vorspeisen.
»Schwandt ist schon sehr lange in Manila«, sagte FK. Brant trank von dem verdünnten Raki, der das Wasser milchig färbte. »Das ist er«, sagte er zerstreut.
FK, der bereits den zweiten Raki getrunken hatte, warf Brant einen Blick zu, in dem etwas Anzügliches lag. Brant sah an FK vorbei. Über Schwandt hatte er keine Lust zu reden, von dem Don Lucio gemeint hatte, es sei an der Zeit, ihn abzuberufen. Aber so eigenartig Schwandt auch sein mochte, er hatte Beziehungen, die in den Aufsichtsrat reichten. Seinetwegen wollte Brant keine Spannungen aufkommen lassen. Wer war schon Schwandt, und was waren die Philippinen? Kämpfe focht Brant nur aus, wenn es sich lohnte.
Sie aßen, schwiegen und genossen. Brant dachte an die Türme, die Don Lucio in Manila in den Himmel wachsen ließ. Zu der Einweihung des Josefina Plaza, das Don Lucio nach seiner Frau benannt hatte, war Brant eingeladen gewesen. Hin und wieder nannte er die eine oder andere Vorspeise bei ihrem türkischen oder griechischen Namen, die FK dann wiederholte, um sie sich zu merken. Brants Gedächtnis war phänomenal, mit ihm erschreckte er die AG. Er blickte FK fragend an. »Was hatte Don Lucio wirklich in der Türkei vor?«
»Vielleicht ein Projekt, mit Sfeir hätte er den richtigen Partner.«
»Die gehen an uns vorbei!« Brant enthauptete eine gebratene Schnepfe.
»Vielleicht Teppiche oder Tomatenmark«, sagte Jana, die ebenfalls zwei Raki intus hatte. Kauff hielt die Luft an. FKs Blick leuchtete auf, aber Brant sagte bloß, »Sie könnten sogar recht haben, Don Lucio lässt nichts aus.«
In Wahrheit aber kannten sich Tarik Sfeir und Don Lucio sehr lange. Geschäftlich hätten sie niemals etwas gemeinsam unternommen, um ihre Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen.
Als sie ins Pera Palace zurückkamen, überlegte Brant, ob er die anderen zu einem Glas an die Bar einladen sollte, konnte sich aber nicht entschließen. Er empfand den Abend als ganz angenehm, obwohl er lieber mit Kauff und FK allein gewesen wäre.
Im Lift stiegen FK als erster und Brant als letzter aus. Für ihn war die Abdul Hamid Suite im obersten Stock reserviert. Beim Ausziehen kreisten seine Gedanken um Jana. Er wurde unzufrieden und ärgerte sich. Nackt öffnete er eines der Fenster. Die milde Meeresluft strich über seinen schmächtigen Oberkörper, den birnenförmigen Bauch. Er horchte auf die Hörner der Fähren von Galata, schaute über das Serail auf die See, dort wo der Bosporus in das Marmarameer überging. Brant konnte nicht widerstehen und befriedigte sich selbst. Brant onanierte nur in Hotels, aber an die Frau eines Untergebenen hatte er dabei noch nie gedacht. Am nächsten Tag hatte er immer schlechte Laune. Deshalb waren seine Auftritte im Ausland von allen, die dort von ihm abhingen, gefürchtet.
Während Brant duschte, lag FK im Bett. Bei seinem letzten Besuch in Istanbul hatte ihm eine junge Türkin an einem Abend Gesellschaft geleistet. Heute verzichtete er darauf, Brant war ihm zu nahe. Das Mädchen hatte darauf bestanden, dass FK einen ihrer Kondome benützte, doch hatte er eine Packung aus einem deutschen Automaten mitgebracht, von der er nicht lassen wollte. Er hatte sich schon ausgezogen, als der Streit begann. Sein Bauch war unter dem Oberkörper hervorgequollen, auf dem die Brustwarzen rötlich leuchteten.
Das Mädchen hatte schließlich eingelenkt und seinen Penis gestreichelt, dem der Streit nicht bekommen war. FK hatte ihre Bluse aufgeknöpft und den Büstenhalter zu öffnen versucht. Als endlich kleine, mit Leberflecken übersäte Brüste zum Vorschein gekommen waren, hatte sich FK vor Enttäuschung kaum fassen können. Dem Portier hatte er doch eindeutig zu verstehen gegeben, nach was ihm der Sinn stand. Noch enttäuschender war dann der Anblick der Schenkel und des Hinterns gewesen. »Mamma mia!« hatte er gerufen. »So was von Arsch, das gibt es nicht!«
Als hätte sie ihn verstanden und sich revanchieren wollen, hatte das Mädchen einen verächtlichen Blick auf seine Lenden geworfen.
Während FK jetzt seine Erinnerungen zu verdrängen suchte und nicht einschlafen konnte, sah Kauff aus dem Fenster und schaute den Autos zu, wie sie sich die steile, geschwungene Straße vom Ufer des Goldenen Horns zum Hotel hochschoben. Er kämpfte mit seinen Zweifeln. Dass Jana an dem Abendessen teilgenommen hatte, war nicht zu umgehen gewesen. FK hatte ihn reingelegt. Brant hatte sich weniger ruppig als üblich benommen, aber was hieß das schon. Kauff bereute, Jana zu dieser Reise überredet zu haben. Aber wie hätte er ahnen können, dass sie Brant in Istanbul treffen würden? Er hoffte, dass Jana Brant ein bisschen für sich hatte einnehmen können. Es fiel ihr sonst so leicht, andere für sich zu begeistern.
Vorsichtig ließ sich Kauff auf dem Bett nieder. Jana hatte sich in die Decke eingerollt. Sie schlief leicht ein, aber manchmal tat sie auch nur so. Kauff sank rücklings auf das Laken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und spreizte die langen Beine. Er war nackt, so schlief er immer. Pyjamas waren in seiner Jugend für ihn zu teuer gewesen. Das Fenster hatte er offengelassen. Er horchte auf die Geräusche der Stadt.
»Kannst du wegen diesem Kerl nicht schlafen? fragte Jana leise.
»Weswegen?«
»Brant.«
»FK ist nicht besser.«
»Mit was für Menschen man seine Zeit verbringen muss.« Jana schlüpfte aus der Decke. Sie wusste, was Kauff guttun würde, der nicht in der Stimmung war, von sich aus den Anfang zu machen. Sie beugte sich über ihn und küsste seinen Hals, dann strich sie mit den Lippen und Brustwarzen über seinen Oberkörper, glitt abwärts und lutschte an seinem Nabel, der etwas aus dem flachen Bauch ragte. Kauff rekelte sich und drückte den Rücken durch. Es war gut, eine Frau zu haben, die Wünsche erriet. Jana kauerte sich zwischen seine Schenkel. Er fuhr über ihre Brüste, ihr Atem strich über ihn. Kauff stöhnte wohlig. Janas Bewegungen wurden langsamer, allmählich wieder schneller, heftiger, bis sie auf ihm zusammenfiel und seinen Mund fand. Sie hatte mit Ende zwanzig geheiratet, aber die Liebe hatte ihr schon Spaß gemacht, als sie noch in die Schule gegangen war. Alle Liebhaber waren ihr länger erhalten geblieben, nur mit einem hatte sie einen Reinfall erlebt. Jana besaß Instinkt. Von schnellen Affären hatte sie nie etwas gehalten und mit älteren Männern nichts im Sinn gehabt, obwohl es an ihnen nicht gefehlt hatte, mit Freunden ihres Vaters angefangen. Aber das war ihr anstößig vorgekommen, irgendwie obszön.
»Diesen Herrn Brant hält man ja im Kopf nicht aus«, sagte sie, als Kauff aus dem Bad kam.
»Es gibt sympathischere Menschen, aber so schlimm ist er auch nicht.«
»Leg dich nicht so auf die AG fest, für dich gibt es auch andere gute Jobs.«
Aber das kam für Kauff nicht in Frage. Seit zehn Jahren arbeitete er in der AG, die für ihn, den Heimatlosen, so absurd das erscheinen mochte, zur Heimat geworden war. »Woanders ist es nicht besser«, entgegnete er. »Ich habe auch viele Freunde.«
Beim Frühstück, dem Jana fernblieb, stellte Brant fest, dass Kauff Ringe unter den Augen hatte, aber er selbst sah geradezu erbärmlich aus.
Schwandt stieg die Treppe hoch, der Teppich war abgetreten. Auf halber Höhe blieb er stehen und atmete schwer. Hinter ihm waren die beiden Jungen. Schwandt hoffte, sie würden nicht merken, wie er nach Atem rang. Er suchte sich einzureden, es sei die Hitze, und blickte zum Ende der Treppe, die auf einen Gang führte. Die Wände waren rosa gestrichen und glänzten im Neonlicht. Schwandt setzte einen Fuß auf die nächste Stufe und zog den anderen nach. Hinter ihm flüsterten die Jungen. Schwandt spürte den Herzschlag im Hals.
Je mehr er sich dem Gang näherte, desto heftiger wurde der Herzschlag. Eine schmerzende Spannung legte sich um seinen Brustkorb. Über die letzten Stufen zog er sich an dem metallenen Geländer hoch. Es fühlte sich feucht und warm an. Ein jüngerer Mann kam auf ihn zu, mehr Chinese als Malaie. Schwandt kannte ihn, stets trug er die Handtücher über dem Arm. Er schaute Schwandt an, als sähe er ihn zum ersten Mal, was Schwandt erleichterte. Er steckte eine Fünfhundert-Peso-Note in die freie Hand des Filipinos, der in der anderen einen Schlüsselbund hielt. »Das große Zimmer«, sagte Schwandt leise.
Sie gingen bis an das Ende des Ganges. Die Jungen folgten. Der Filipino schloss auf. Den Blick auf den Boden gerichtet, trat Schwandt in das Zimmer und schloss die Tür hinter den Jungen. Sie mochten fünfzehn sein, ihre Gesichter waren hellbraun und glatt, die Augen schwarz und geschlitzt. Beide waren mager und sehnig, so wie Schwandt es mochte.
In einer Ecke tropfte die Dusche. Schwandt stellte den Ventilator an, der von der Decke über dem Bett hing. Die Jungen zogen die T-Shirts über den Kopf. In ihren Armhöhlen kräuselte sich feiner Flaum. Schweiß rann über Schwandts Gesicht. Die Jungen zogen ihre Jeans aus. Schwandt setzte sich auf das Bett und deutete auf die Dusche. Die Jungen liefen mit trippelnden Schritten an ihm vorbei. Das Wasser klatschte auf die Kacheln. Die Jungen seiften sich gegenseitig ein.
Schwandt knöpfte das Hemd auf und zog es wie eine nasse Haut von seinem weißen Körper. Er schaute den beiden zu, sein Puls raste. Mit einem Lächeln kamen die beiden auf ihn zu. Sie glänzten. Schwandt schwindelte. Er streckte sich aus, schob das Kissen unter den Kopf und sog den Luftzug des Ventilators ein. Die Jungen hockten sich auf das Fußende des Bettes. Schwandt öffnete die Hose, seine Finger zitterten. Das war für ihn der elendeste Moment. Er starrte auf die beiden Nackten, von denen jeder eines seiner Hosenbeine ergriff und ihm die Hose vom Leib zerrte. Der eine kauerte jetzt neben ihm und schob den Daumen unter den Bund der Unterhose, die sich über den Bauch spannte. Schwandt durchfuhren Schauer, er fror. Der Druck auf seiner Brust wurde stärker. Die Jungen beugten sich über ihn, er spürte ihre Hände und Lippen. Er suchte sich aufzurichten. Seine Hände krampften sich in das Laken.
Eine ungeheure Kraftlosigkeit überkam ihn. Jason und Lily tauchten vor ihm in der Erinnerung auf, die er unerreichbar, aus der Ferne bewundert, geliebt hatte. Mit ihnen hatte er nichts gemeinsam gehabt. Schwandt wäre gern wie Jason gewesen. Als es um ihn grau wurde und er nach Luft rang, sah er sich in einer langen Reihe von Menschen dicht hinter Jason und Lily stehen. Es war bei einem Empfang gewesen, näher war er den beiden nie gekommen. Den Empfang hatte Don Lucio gegeben.
Schwandts Hände fuhren an die Brust und krallten sich in das weiche Fleisch. Wie ein Feuerstrahl durchflammte ihn der Schmerz. Sein Gesicht verzerrte sich. Er schrie, bäumte sich und sackte auf den Rücken.
Manila dampfte unter dem Smog, der sich zu den Marikinabergen und zur Laguna de Bay hin aufhellte. Die Sonne war eine matte, gelbe Scheibe. Schwandts Sarg wurde von hochgewachsenen Tausugs, Moslems aus Tawi-Tawi, über den Friedhof getragen. Sie waren Angestellte des Beerdigungsinstituts Happy Peace. Hinter ihnen schritten Don Lucio Villaraza und Hoffmann, denen die Belegschaft der Corpus Pacific folgte. Kaltmeyer, Ohlhammer und Quentin befanden sich unter ihnen, die wie Hoffmann von der AG nach Manila entsandt worden waren. Am Ende des Trauerzugs ging lustlos ein junger Mann, José Villaraza, Don Lucios jüngster Sohn, der seinen Vater zum Friedhof hatte begleiten müssen. Im Auto hatten sie den Kauf einer Arzneimittelfirma in Cebu besprochen.
Hoffmann überragte Don Lucio um einen halben Kopf. Wie dieser trug er einen seidenen Barong, der sich über dem massigen Körper bauschte. Auf Hoffmanns Kopf wellten sich rotblonde Locken, die zu ergrauen begonnen hatten. Don Lucio wirkte neben Hoffmann weniger massiv. Von den breiten Schultern fiel der Barong locker über den gewölbten Bauch. Don Lucio trug einen Strohhut mit schwarzem Band, um die Glatze vor der Sonne zu schützen. Er war Anfang sechzig, sein Haarkranz dunkelgrau, Hoffmann war zehn Jahre jünger. Auch auf dem Friedhof dachte er hauptsächlich darüber nach, ob er Schwandts Nachfolger als Präsident der Corpus Pacific werden würde. Don Lucio war deren Chairman und fest entschlossen, Hoffmanns Wunsch nicht zu erfüllen.
Der Trauerzug stockte und hielt an. Dem Pfarrer, einem jüngeren dicklichen Mann, hatte man den falschen Weg gewiesen. Er ruderte mit den Armen und redete aufgeregt auf zwei Männer ein, die unter ihm in einem breiten Loch bis zu den Knien in einer braunen Brühe standen.
Es stank. Don Lucio und Hoffmann verbargen die Nasen in den Fäusten. Der ihnen folgende Trauerzug drängte sie nach vorn. Die Leute glaubten, am Grab des Verstorbenen angekommen zu sein. Vor dem Loch, das die Breite des Weges einnahm, wackelte der Sarg. Der Deckel verrutschte. Der Pfarrer rettete sich mit einem Sprung, den ihm niemand zugetraut hätte, zur nächsten Grabstätte.
Der Sarg war Hoffmann sehr nahe gekommen. Der Gestank mischte sich mit dem Schweißgeruch der Träger. Hoffmann stand vor dem Loch und wusste nicht, wohin. Don Lucio war dem Pfarrer gefolgt und hatte sich auf einen Stein gestellt. Seine Stimme dröhnte. Seine Handbewegungen waren die eines Herrschers.
Der Pfarrer hielt Don Lucio ein Blatt unter die Augen, den Plan des Friedhofs, auf dem Schwandts Grab eingezeichnet war. Er schwor, sich nicht geirrt zu haben.
Don Lucio kochte vor Wut, was er sich nicht anmerken ließ. »Sie müssten sich hier auskennen«, sagte er leise, aber sehr bestimmt. »Überlegen Sie, und zwar schnell!«
Der Pfarrer taumelte an Hoffmann vorbei, der ihm einen deutschen Fluch der besonders unfeinen Art nachzischte. Er hastete an dem Trauerzug entlang und setzte sich an dessen Ende. Die Soutane war auf Brust und Rücken durchgeschwitzt. Er keuchte, schaute suchend um sich und war verwirrter als zuvor.
Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung. Hinter ihm trottete die Menge auf einen Platz, auf dem zwei Hühner in den Staub pickten. Den Platz säumten Mausoleen verblichener spanischer Kolonialherren und deren Familien. Grau und verschnörkelt ragten sie in den dumpfen Himmel. Erdwege führten in verschiedene Richtungen. Verzweifelt starrte der Pfarrer auf den Plan, der in seinen Händen feucht geworden und auf dem nur noch wenig zu erkennen war. Wäre nicht Don Lucio gewesen, der mit diesem unangenehmen Deutschen hinter ihm herging, hätte sich der Pfarrer nicht derart aus der Fassung bringen lassen. Ein böses Wort von Don Lucio an den Bischof konnte ihn die Diözese kosten und ihn auf ewig in der Provinz verschwinden lassen. Und das bei Trockenfisch und Reis.
Don Lucio dachte nicht an den Bischof, er dachte über Hoffmann und die AG nach. Ob Hoffmann zu Schwandts Nachfolger ernannt werden würde? Don Lucio hielt Hoffmann für einen Spießer, der unfähig war, mit der Macht umzugehen. Schwandt hatte das auch nicht gekonnt, er war erpressbar gewesen. Don Lucio wünschte sich einen jungen Nachfolger. Frisch und noch nicht so erfahren sollte er sein, aber ehrgeizig, wie es diese jungen Leute in der AG waren, die sich ein halbes Leben mit Karriere ködern ließen. So einer würde ihm Spaß machen. Er würde mit ihm spielen können, so wie mit Jason und dann auch mit Lily. Don Lucios Spiele waren riskant für den, mit dem er spielte. Es musste nicht so wie mit Jason und Lily enden, Don Lucio gab jedem eine Chance.
Hoffmann wusste, dass Don Lucio keine großen Stücke von ihm hielt. In all den Jahren war er nicht einmal bei ihm zu Hause eingeladen gewesen. Das quälte ihn und seine Frau Aurora ganz besonders. Da sie beide vor Don Lucio großen Respekt, im Grunde Angst hatten, nahmen sie diese vermeintliche Ungerechtigkeit klaglos hin.
Der Pfarrer hatte einen Weg eingeschlagen, der an Gräbern vorbeiführte, die nichts mehr mit dem vergehenden Pomp der Mausoleen gemeinsam hatten. Flache Grabsteine lagen zwischen verbrannter Grasnarbe, hin und wieder ein trockener Busch. Am Ende des Weges ragte eine Palme in den Himmel, hoch und schön. Die dunkelgrünen Wedel glänzten wie gelackt. Der Pfarrer schritt auf diese Palme zu und wusste, dass er den falschen Weg gewählt hatte, aber umdrehen konnte er nicht mehr.
Der Trauerzug hatte sich in die Länge gezogen. Die meisten ahnten, dass Schwandt nicht in diesem Teil des Friedhofs seine letzte Ruhe finden sollte. Sie schauten um sich, murrten leise und hatten nicht die geringste Lust, in der Hitze weiter herumzuirren. Niemand war mehr bereit, den Sarg ein Stück mitzutragen.
Unter Don Lucios Hut hatte sich der Schweiß gesammelt, der in den grauen Haarkranz tröpfelte. Ab und zu nahm Don Lucio den Hut vom Kopf und wischte mit dem Taschentuch über den Schädel. Seine Wut richtete sich jetzt auf Hoffmann, obwohl dieser nichts für das Debakel konnte. Don Lucio wollte nur noch in sein kühles Büro, dort würde er als erstes einen Brief an Brant schreiben.
Hoffmann fluchte schon länger nicht mehr. Er wünschte, aus der Situation Kapital zu schlagen, gab sich gefasst und hoffte, Don Lucio damit zu beeindrucken. Seine Gedanken pendelten jetzt zwischen Schwandts Nachfolge und kaltem Bier.
Wenige Jahre nach seiner Ankunft in Manila hatte sich Hoffmann scheiden lassen. Er war einer Filipina erlegen, und das war im Büro geschehen. Nur kurz war Hoffmanns Verhältnis geheim geblieben, das ihm damals als etwas unerhört Kühnes erschienen war. Sehr bald wusste die ganze Firma davon, wofür Aurora gesorgt hatte, die jetzige Frau Hoffmann. Sie stammte aus keiner der sogenannten guten Familien. Auroras war bedeutungslos und vor allem arm. Das hatte Hoffmann häufig zu spüren bekommen. Vor ihrer Familie hatte Aurora das große Los gezogen, und daran wünschten alle teilzuhaben. Fast jeden Sonntag versammelte sich das Pack zum Mittagessen, wie Hoffmann Auroras zahlreichen Anhang heimlich nannte. Je länger sie blieben, desto teurer wurde es für Hoffmann. Für ihn war Auroras Mutter die schlimmste, und wenn etwas fehlte, war Hoffmann dran, und es fehlte dauernd etwas. Hoffmanns Schwiegervater mischte sich wenig ein und trieb sich am liebsten bei illegalen Hahnenkämpfen herum.
Dass Hoffmann Aurora geheiratet hatte, hielt nicht nur Don Lucio für eine Dummheit. Wenn ein Europäer schon eine Hiesige heiratete, dann hatte sie einem Clan anzugehören, der Geld und Macht besaß. Don Lucio fand, dass dies für einen Deutschen kein Kunststück war. Aus seinen schwarzen, sichelförmigen Brauen rannen die Schweißtropfen in die tiefdunklen Augen. Mit dem Handrücken wischte er ärgerlich über die zusammengekniffenen Lider.
Hoffmann lächelte ihm aufmunternd zu. Don Lucios Wut auf Hoffmann wuchs, doch lächelte er zurück.
Der Pfarrer hatte das Ende des Weges erreicht und hielt unter der Palme. Vor ihm lag ein Stück Brachland, auf dem sich ein Müllhaufen türmte, der bis an die Friedhofsmauer reichte. Ein Stück rechts von der Palme war ein Grab aufgeschüttet worden, auf dem ein Kranz vertrocknete. Daneben senkte sich eine frisch ausgehobene Grube in das Erdreich. Der Pfarrer schaute zum Himmel auf. Als er den Blick senkte, sah er die beiden Gräber. Wie einer Eingebung folgend, wies er auf die Grube. Er hatte auf ein Wunder gehofft, und dieses war soeben geschehen.
Der Sarg verschwand in der Erde. Der Trauerzug hatte sich um den Pfarrer versammelt.
Auf dem frischen Grab daneben schimmerte ein Emailschild, auf dem stand: Roby Lim. Jetzt erinnerten sich die ersten. Roby Lim war Drogenhändler und früher Bauchredner gewesen. Bei seinem Prozess hatte er für Aufregung gesorgt. Er und sein Komplize Billy Chua waren erhängt in ihrer Zelle aufgefunden worden. Was war mit Billy Chuas Sarg passiert? Die Frauen bekreuzigten sich zuerst, die Männer etwas später.
Alle wünschten, so bald wie möglich von diesem Friedhof wegzukommen. An Schwandt dachte kaum einer. Wie er gestorben war, hatte sich herumgesprochen. Aber erzählt wurde vieles, und Schwandt war immer freundlich gewesen. Niemand hatte je ein böses Wort von diesem einsamen Mann gehört. Es gab Schlimmeres als das, was über Schwandt gemunkelt wurde.
Der Sarg war unter Erdbrocken verschwunden. Einer der Firmenboten hatte auf dem Abfallhaufen ein Kreuz aus Bambus gefunden, das er auf dem Grab in die Erde bohrte. Die teuren Kränze wirkten auf Schwandts letzter Ruhestätte etwas verloren.
Der Pfarrer, der nur daran dachte, wie er Don Lucio beschwichtigen konnte, räusperte sich nervös und hob die Stimme. Seine Grabrede fiel kurz aus. Er brachte einige Stellen aus der Bibel durcheinander, was in der Hitze niemand merkte, und rühmte Schwandts Pflichtgefühl. Er nannte ihn einen Mann, der stets ein Freund der Filipinos gewesen sei und in all den schlechten Zeiten zum Land gehalten habe.
Dann trat Don Lucio vor die Belegschaft der Corpus Pacific. Die meisten sahen ihn zum ersten Mal. Auch von Schwandt hatte Don Lucio nicht viel gehalten, der ihm zu alt und zu schwul gewesen war. Aber einige würdigende Worte hatte er sich zurechtgelegt, doch die waren ihm jetzt vergangen.
Er sagte etwas vom ehrenden Andenken, dass die Firma Schwandt viel verdanke, und schließlich fiel ihm noch der himmlische Frieden ein, den Schwandt wohl verdient habe. Als Hoffmann sich neben ihn stellte und auch etwas zu Ehren des Verstorbenen sagen wollte, brachte er ihn mit einem bösen Knurrlaut zum Schweigen.
Am Nachmittag diktierte Don Lucio in der Kühle seines Büros im obersten Stock des Crystal Tower einen Brief an Brant.
»Aus Sorge um die Zukunft unseres Geschäfts wäre ich Ihnen dankbar, wenn der Nachfolger des verstorbenen Hieronymus Schwandt nicht wieder ein konfuser, mitleidiger Mensch ist, der in seiner Verwirrung vor allem sich selbst bemitleidet. Leider gelten die Verhältnisse in unserem Land als unberechenbar und kaum durchschaubar, was nichts weiter als eine oberflächliche Betrachtungsweise ist.
Wir brauchen einen jungen, klardenkenden Mann, der persönliche Probleme hintanstellt. Dessen Ehefrau muss dem Geschäft in loyaler Weise verbunden sein. Mit einem entschlossen handelnden Nachfolger könnten Sie in den Philippinen das Blatt für Ihre Firma in einer Art wenden, die in Ihrem Haus Aufsehen erregen würde. Hoffmann kommt für die Nachfolge nicht in Frage, obwohl er dreiundzwanzig Jahre im Land ist, dreiundzwanzig Jahre zu lang, wie ich meine.«
Kauff stand vor einer Silberplatte, die mit belegten Brötchen bedeckt war, Lachs, Kaviar und Gänseleber. In der Mitte des Buffets leuchtete rot ein Hummer. Kauffs Schwiegermutter feierte ihren sechzigsten Geburtstag.
Sie strich über Kauffs Hand. »Du arbeitest zu viel«, sagte sie, zog die Tüllvorhänge zurück und öffnete das hohe Fenster. Kauff sah in den weiten Garten, in dessen Mitte ein Springbrunnen in einem sternförmigen Tulpenbeet sprudelte. Vor der geschwungenen Terrasse blühten Stiefmütterchen. Immerhin ist es Frühling geworden, dachte Kauff.
Als Schüler hatte Kauff Freunde gehabt, die in Villen mit solchen Gärten lebten. So schön wie damals fand er diese Villen und Gärten nicht mehr. Er war in einer kleinen Wohnung groß geworden und lebte mit Jana noch immer in einer, aber die Aussicht hatte sich verbessert. Jetzt sah er auf den Rhein.
Kauffs Schwiegervater, der Professor und Anwalt, schenkte Sekt ein. Seine beiden anderen Schwiegersöhne verteilten die Gläser. Jana unterhielt sich mit einem älteren Ehepaar, einer ihrer Tanten und deren Mann, der sich Konsul nennen durfte. Warum, vergaß Kauff immer wieder. Jana war die hübscheste Tochter des Professors und Kauff der vielversprechendste seiner Schwiegersöhne, auch wenn er aus keiner guten Familie kam, eigentlich aus gar keiner. Kauff hatte seine Eltern früh verloren. Sein Vater war Taxifahrer gewesen und betrunken mit seiner Frau gegen eine Scheune gerast. Kauff war damals gerade sechzehn und hatte in den zwei Zimmern der Sozialbauwohnung allein weitergelebt. Etwas Geld hatte er von der Versicherung bekommen, das sein Klassenlehrer für ihn erstritten hatte, und die Fürsorge hatte etwas da-zugezahlt. Kauff liebte Musik. Sein Vater hatte ihm eine Gitarre hinterlassen, die ihm das Alleinsein erleichtert hatte. Eine jüngere Übersetzerin, die im gleichen Haus wohnte, hatte sich ab und zu um ihn gekümmert. Zu den Rhythmen von Django Reinhardt war er eines Abends mit ihr im Bett gelandet. Er war ein hübscher Junge gewesen.
Der Professor reichte Kauff ein Glas. Er war kleiner als Kauff und korpulent. Die wenigen grauen Haare waren lose über den Schädel verteilt. Er warf seinem Schwiegersohn einen bewundernden Blick zu. Kauffs Gesicht war dreieckig geschnitten, die Backenknochen stachen hervor. Die dichten schwarzen Haare, die immer etwas zu lang waren, fielen leicht in die Stirn.
Der Professor klopfte mit einem silbernen Quirl an sein Glas und hielt auf seine Frau eine Rede. Kauff hörte nur halb zu, mit den Gedanken war er bei der AG. Einer seiner Schwäger blinzelte ihm zu, ein kurzbeiniger Adliger, der wenig adlig aussah.
Der Professor hatte seine Rede beendet. Kauff klatschte mit den anderen. Der Professor küsste seine Frau und stieß dann mit Kauff an. Während er das Glas mit zwei Zügen leerte, drehte Kauff das seine in den Händen.
»Trink doch was!«, sagte der Professor und klopfte Kauff väterlich auf die Schulter. Ein bisschen war er in Kauff verliebt. Ältere Männer glaubten öfter in Kauff das zu sehen, was sie gern gewesen wären. Bisher hatte das Kauff nicht geschadet. Die tiefblauen Augen trugen sicherlich dazu bei. Meistens lag in seinem Blick etwas, das auf Abstand hielt. Aber die Augen nahmen seinem Gesicht einen Teil der Schärfe.
Jana sprach mit einer Gruppe von Vettern und Cousinen, die aus der Familie ihrer Mutter stammten, Papierfabrikanten aus dem Rheinland. Kauff fragte sich, ob Jana mit sechzig so wie ihre Mutter sein würde, sehr dünn und mit sich selbst beschäftigt. Aber bis dahin war ja viel Zeit. Jana war mit ihren einunddreißig Jahren vier Jahre jünger als Kauff.
Der Professor hatte sich von Kauff abgewandt, füllte sein Glas und stand dann wieder neben ihm. Jemand stimmte »Happy Birthday« an. Das Lied wurde erst zögernd, doch bald umso lauter gesungen. Kauff setzte das Glas an den Mund. Jana warf ihm einen langen Blick zu. In ihren Lippen hing ein kaum merkliches Lächeln. Zum Leidwesen des Professors hatten sie noch keine Kinder. Er hätte gern Enkelsöhne gehabt, solche wie Kauff.
»Wie geht's in der Firma?«, fragte er.
»Gut, sehr gut.«
»Ihr expandiert.«
»Immer.«
Jetzt musste Kauff sich anhören, was vor einigen Tagen die »Wirtschaftswoche« über die AG geschrieben hatte. Was sein Schwiegervater vorlas, merkte er sich Wort für Wort.
Die Geburtstagsgäste beluden ihre Teller. Kauff unterbrach den Redefluss des Professors. Er zeigte auf seinen Magen und ging zu Jana, die in dem Hummer stocherte.
Jana sorgte sich nicht um Kauffs Karriere. Sie war überzeugt, dass er eine machen würde. Dass Männer Erfolg zu haben hatten, war normal. Diejenigen in ihrer Familie, die nicht so erfolgreich waren, hatten genügend Geld, dass das nicht weiter auffiel. Drohte Misserfolg, wurde mit Einfluss ausgeglichen. Beziehungen sind das halbe Leben, sagte der Professor allzu gern. Kauff hatte davon nie Gebrauch gemacht. Das gab ihm gegenüber Janas Familie Sicherheit. Für die meisten von Janas Verwandten war Kauffs Zurückhaltung erstaunlich, für manche sogar unheimlich. Sie hielten ihn für arrogant. Dass für Kauff die AG sehr viel mehr als Janas Familie zählte, hielten sie nicht für möglich. Jana war sich darüber im Klaren.
Von der AG hatte sie keine gute Meinung, aber von ihrer Familie auch nicht. Nur an ihren Eltern hing sie. Jana hatte Germanistik studiert, was ihr Vater für Unfug gehalten hatte. Sollte sie Lehrerin werden? Jana vermied den Schuldienst, sie landete in einem Verlag. Was sie dort als Assistentin eines Lektors lesen musste, hätte ihr fast das Vergnügen an der Literatur genommen. Sie kündigte und fing als Volontärin in einer Buchhandlung an. Seit drei Jahren führte sie mit einer Freundin ihren eigenen kleinen Buchladen.
Eine Tante bewunderte ihren Schmuck, ein Fünfeck aus ziselierten Silberplättchen, das auf Janas Ausschnitt ruhte. Kauff hatte es ihr aus Ägypten mitgebracht. Jana erzählte der alten Dame, der Schmuck sei von Beduinen aus dem Sinai. Kauff spürte, dass Jana sich langweilte. Sie sah über die Tante hinweg und strich über die schulterlangen, aschblonden Haare, die neben ihren hellen Augen dunkler wirkten, als sie waren.
Kauff fragte sich, an was Jana dachte. Jetzt erzählte sie von der Kunstfertigkeit der Beduinen, ihrer Tradition und dem Schmuck, den sie ihren Töchtern als Mitgift geben, als hätte sie ihr halbes Leben auf einem Kamel verbracht. Druckreif flössen die Sätze über ihre Lippen. Kauff legte die Hand auf Janas Hüften. Sie lehnte sich an ihn. Die Augen der Tante leuchteten auf. Kauff wusste, dass die alte Dame kinderlos und reich war. Ob Jana etwa eine kleine Absicht verfolgte? Aber sie war nicht berechnend, dafür war sie zu spontan.
Das Fest dehnte sich bis in die Frühe. Wer nicht tanzen wollte, trank Wein und redete von Erfolgen, es konnte alles nur noch besser werden.
Kauff tanzte die ganze Nacht, hauptsächlich mit Jana. Er hatte keine Lust zu reden und tanzte gut. Wo er das wohl gelernt hätte, fragten sich die jüngeren aus Janas Sippschaft. Er war nie in einer Tanzstunde gewesen, dafür hatte er kein Geld gehabt, er war nur musikalisch.
FK rekelte sich in seinem Sessel und sah auf die dunstige AG-Landschaft. In wenigen Minuten würde Brant vor der versammelten Abteilung verkünden, dass er, Fischer-Krautheim, zum Leiter des Strategischen Ressorts befördert worden war. Von dort, so hoffte er, würde sein Weg in den Vorstand der Corpus AG führen, einer der großen Konzerne Europas. Corpus, das waren Kraftwerke, Maschinen, Motoren, Stahl.
FK genoss die Minuten vor seinem bisher größten Erfolg. Er putzte die Brille und zupfte an der zum Himmel gerichteten Nase, was er sich gestattete, wenn er mit sich zufrieden war. Er hatte gesiegt. Kauff war auf der Strecke geblieben. Kopf an Kopf waren sie im Rennen gelegen, so hatte es jedenfalls in der AG ausgesehen, was nicht ganz stimmte. FK hatte bei Brant immer einen hauchdünnen Vorsprung gehabt. An dem Abend in Istanbul hatte sich Brant entschieden.
Kauff war zum Untergebenen von FK geworden, der bereits darüber nachdachte, was mit diesem geschehen sollte. Ob Brant seinem Vorschlag zustimmen würde? Kauff muss hier weg, dachte FK, am besten an den Arsch der Welt.
FK stand auf, in dem Sessel hielt er es nicht mehr aus. Sein Büro befand sich in dem mittleren der drei silbernen Türme, die das Gelände der AG zierten. FK fuhr mit einem Kamm durch seine dünner werdenden Haare. Vor einem Monat hatte er seinen sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Kauff war ein Jahr jünger, und um dieses Jahr hatte ihn FK vom ersten Tag an beneidet.
FK, der zur Fülle neigte, hoffte, später, wenn er ganz oben war, würde man ihm die Fülle nachsehen. Aber jetzt wäre er gern drahtig erschienen, so wie Kauff. Frühmorgens quälte er sich mit Gymnastik ab. Tennis hatte er aufgegeben, den Platz hatte er selten als Sieger verlassen. Für Golf glaubte er zu jung zu sein. Auch wurde von Golfspielern in der AG nicht viel gehalten. Die hätten wohl zu viel Zeit.
An die Brille hatte sich FK bereits als Kind gewöhnen müssen. Jetzt gefiel sie ihm sogar. Die goldumrandeten Gläser verliehen seinen kurzsichtigen Augen Undurchdringlichkeit. Noch immer dachte er, ein stärkerer Bartwuchs würde ihm besser stehen. Morgens nach der Rasur glänzten Kauffs Kinn und Backen dunkel. Vor Jahren hatte FK sich einen Schnurrbart wachsen lassen, von dem er erhofft hatte, er gäbe seinem Gesicht mehr Schärfe. »Was soll denn die zerfranste Zahnbürste«, hatte seine Frau gefragt.
FK nahm einen Schluck von dem kalt gewordenen Kamillentee. Kaffee mied er, den hatte er damals schon Kauff überlassen, als sie das Büro mit zwei anderen jungen Männern teilten, die namenlos geblieben waren.
FK war entschlossen, Kauff in Vergessenheit geraten zu lassen.
Kauff hob sein Glas und zwang sich, FK zuzuprosten. Soeben hatte Brant FKs Triumph verkündet.
Kauff setzte das Glas an die Lippen und nippte nicht einmal daran. Er dachte, mach dich bloß nicht lächerlich, und lächelte Brant zu, der keine Miene verzog und auf die Uhr sah.
FK trat in die Mitte der Kollegen und klopfte mit einem goldenen Kugelschreiber an sein Sektglas. Er war erregt. Seine Rede wurde länger, als er es vorgehabt hatte. Die neue eigene Größe überwältigte ihn. Brant trat von einem Fuß auf den anderen. Seine kleinen Füße steckten in schweren Halbschuhen aus Rindsleder, deren Sohlen einige Zentimeter dick waren. Kauff war ruhiger geworden und atmete tief die abgestandene Büroluft ein. Er spürte die Blicke der anderen. Vor ihm wisperten zwei Sekretärinnen. Sprachen sie über ihn? Von jetzt an würde nur noch über FK gesprochen und gemutmaßt werden.
Kauff, dem bisher viel gelungen war, fühlte sich kraftlos. Einmal hatte es eine Niederlage setzen müssen. Er suchte sich damit zu trösten, dass eine verlorene Schlacht kein verlorener Krieg war. Ihn durchfuhr der Gedanke, dass es ein langer Krieg werden könnte, den ihm FK jetzt offen erklären würde. Aber müssten ihn Brant und FK nicht zufriedenstellen? Ein gutes Angebot sollte doch zu erwarten sein. Aber vom Geben und Nehmen hatte FK nur gehört. Wer gibt, vergibt, pflegte er zu denken.
Noch waren sie sich nie offen angegangen. Das hatten sie als Gleichberechtigte in scheinheiliger Kameraderie vermieden. Für viele hatte es so ausgesehen, als seien sie ein starkes Gespann, das sich ergänzte. Kauff war wie FK als einer der jungen Männer mit goldener Zukunft in der AG gehandelt worden.
FK stand kerzengerade neben Brant, der in den Wochen nach Istanbul Kauff mit dem gleichen Abstand behandelt hatte wie vorher. Aus nichts hätte Kauff schließen können, dass Brant sich für FK entschieden und sein Interesse an ihm verloren hatte. Noch vor zwei Tagen hatten er und FK mit Brant über eine Akquisition in Japan laut nachgedacht, wie Brant das nannte. Kauff spürte das starke Verlangen zu beweisen, wie gut er war. Er würgte. Eine ältere Frau aus der Registratur schob sich an ihn heran. »Die suchen immer die Falschen aus«, flüsterte sie.
Kauff wandte sich ab und hätte am liebsten den Sitzungssaal verlassen. Er streifte einen rotgesichtigen Mann am Arm. »Mit diesem Sparbrötchen werden wir was erleben«, sagte der Rotgesichtige leise und wies aus der Hüfte mit gespreiztem Zeigefinger auf FK.
Kauff widerstand dem Drang, erklären zu wollen, und winkte ab. Brant hatte zu einer Rede angesetzt. Er sah zur Decke. Vor vielen Menschen zu sprechen war ihm noch nie leichtgefallen, obwohl er bereits in jungen Jahren an Rednerkursen teilgenommen hatte. Brant schwitzte. Das von Falten durchfurchte Gesicht glänzte. Der Kopf war zu groß für den Körper, auf dem er thronte.
Hoffmann saß in dem salonartigen Sitzungszimmer im obersten Stock des Crystal Tower und wartete auf Don Lucio. Er sah auf das Josefina Plaza, den ersten Büroturm, den Don Lucio in Makati gebaut hatte. Bald waren höhere Türme gefolgt, der Villaraza Court, das Highland Pacific und das Asian Center in Ortigas, wo sich wie im Stadtteil Makati wirtschaftliche Macht ballte. Der Crystal Tower war das höchste und jüngste von Don Lucios Denkmälern und sollte nicht das letzte sein. Er liebte es, über seine Türme zu schauen und immer höhere und kühnere entstehen zu sehen. Eine Leidenschaft, die ihn erst in vorgerücktem Alter überkommen hatte, und nicht nur die.
Seit über einem Monat suchte Hoffmann ein Gespräch mit Don Lucio. Er fühlte sich unsicher. Vielleicht war es falsch, den Chairman zu bitten, sich für ihn einzusetzen. Aber versucht musste er es haben! Don Lucio sollte wissen, dass er Schwandts Nachfolger werden wollte, und das fand auch Aurora, Hoffmanns Frau.
Hoffmann rieb seine fleischigen Hände, dehnte den massigen Körper. Sein Blick fiel auf einen kolorierten Stich, eine Szene spanischen Koloniallebens in Manila. Das waren Zeiten, dachte Hoffmann.
Don Lucio nahm die Zigarre nicht aus dem Mund, als sie sich die Hand gaben. Hoffmann begrüßte Don Lucio in Spanisch, der ihm in Englisch antwortete, obwohl Hoffmann fließend Spanisch sprach. Don Lucio war das zu intim. Spanisch war seine Sprache, in ihr duzte er. Enttäuscht fuhr Hoffmann in Englisch fort. Er sprach von der Firma, die er in den vergangenen Wochen geführt hatte. Don Lucio sah auf die Uhr und fragte: »Irgendwelche Probleme?«
Hoffmann schüttelte den Kopf, die rötlichgrauen Locken zitterten.
»Was noch?«, fragte Don Lucio, die Zigarre zwischen den Lippen. Hoffmann schwieg für einen Augenblick, sein Gesicht wurde schärfer. Don Lucio griff nach der Zigarre. Sicherer geworden, sagte Hoffmann, er komme für die Nachfolge Schwandts am ehesten in Frage, der ohnehin nur das getan hätte, was er ihm geraten habe. Dreiundzwanzig Jahre lebe er in diesem Land, das er liebe. Es folgten einige Unwahrheiten mehr. Don Lucio dachte bereits an anderes.
»Glauben Sie mir«, sagte Hoffmann, »für die Firma ist es das Beste.«
Don Lucio blies den Rauch aus, der Hoffmann einhüllte, und sagte, »die AG wird wissen, was sie macht.«
Von Brant hatte er zwar noch nichts gehört, dennoch waren seine Hoffnungen nahezu geschwunden. Bei einem Empfang hatte er ein junges italienisches Ehepaar getroffen, das gerade in Manila angekommen war. Die Italiener waren gut anzusehen gewesen, das hatte ihn angezogen. Die Unterhaltung mit ihnen hatte ihn jedoch schnell enttäuscht. Von Jason und Lily keine Spur. Einfach keine Klasse, hatte er gedacht. Von Brant war wohl auch nicht viel zu erwarten. Erstklassige Leute wurden äußerst selten nach Manila geschickt. Diese erneute Erkenntnis hatte Don Lucio so verärgert, dass er sich grußlos von den Italienern zurückgezogen hatte.
Einige Tage nach der bisher größten Stunde seines Lebens schaffte es FK, mit Brant allein zu sein. Tage, in denen er Kauff gemieden hatte, was dessen Unruhe schürte. Jana hatte er noch nichts erzählt, aber dass ihn etwas stark beschäftigte, spürte sie.
FK saß Brant gegenüber, der gekrümmt hinter seinem Schreibtisch hockte und hin und wieder die klobigen Hacken auf die Kunststoffplatte klacken ließ, die den Teppich schützte. Sie sprachen eine Reihe von Problemen durch, bis FK sagte: »Wir müssen Manila neu besetzen.« Er sah an Brant vorbei und fürchtete, dass dieser ihn durchschauen würde.
»An was Schwandt wohl gestorben ist?« murmelte Brant.
FK verkniff sich eine Bemerkung. Brant lachte nie über Schlüpfriges. »Er wurde in Ehren begraben«, sagte FK. »Ich ließ Kränze schicken, einer war in Ihrem Namen.«
Brant lächelte anerkennend, wie es FK schien. Eine Urne würde jedenfalls nicht durch die Personalabteilung irren, von einem Schrank in den anderen. »Wer kommt für Manila in Frage?«, fragte Brant.
»Kauff«, sagte FK und atmete tief durch. »Er hat noch nie im Ausland gearbeitet, bestimmt wird er viel lernen.«
»Wenn er das noch muss, ist er nicht der richtige Mann.« Brant zog die hellen Augenbrauen hoch, die bis zur Nase hin ergrauten. Sein Lächeln war verflogen.
»Ich drückte mich falsch aus«, sagte FK schnell. »Ich meine, dass Kauff in Manila wertvolle Erfahrungen sammeln wird, die uns später nützen werden.«
»Sie wollen ihn loswerden, er ist Ihnen zu unbequem!« Brant schnellte hoch. Der Stuhl rollte zurück und stieß gegen einen Schrank. FK zog den Kopf ein und fuhr mit dem Finger unter den Hemdkragen. Brant blieb vor ihm stehen. Er war kaum größer als FK und wirkte schmaler, obwohl er Ende fünfzig war. Nur der Bauch wölbte sich über den Hüften. Kauff, dachte Brant, das ist die Antwort auf Don Lucios Brief. Zu FKs Überraschung sagte er leise: »Dann ist es Kauff, der sein Glück in Manila versuchen wird.«
Er wandte sich von FK ab, der ihm noch nie sympathisch gewesen war, aber Kauff mochte er seit Istanbul noch weniger. Seit dem Abendessen im Kuyu glaubte er, ohne Kauffs Intelligenz auskommen zu können. Was er an FK schätzte, waren dessen Arbeitswut und Ehrgeiz. Das ließ sich ausbeuten.
»Ich rede mit Kauff«, sagte FK, der es kaum abwarten konnte.
»Wird er ein C-Land akzeptieren?«
»Alle Bs sind besetzt, und ein A-Land dürfte für ihn nicht in Frage kommen.«
Also ab in die Drittklassigkeit, dachte Brant und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. FK sah dankbar über Brant hinweg in einen grau bewölkten Himmel. Brants Büro befand sich im obersten Stock des mittleren der drei silbernen Türme, die über der AG-Landschaft aufragten. Der mittlere Turm war der höchste von den dreien. Brant war dem Himmel am nächsten. FK fragte sich, wann er in dieses Büro einziehen würde. Es war ein kurz aufwallender Gedanke, den er in Brants Gegenwart sofort unterdrückte.
Brant dachte, Kauff sei eigentlich für Manila zu schade, aber etwas besseres fiel ihm nicht ein oder wollte er sich nicht einfallen lassen. Don Lucio würde zufrieden sein. Jetzt konnte er ihm mitteilen, ein hochkarätiger Mann käme nach Manila.
Don Lucio gehörte zu den wenigen Menschen, die Brant bewunderte. Für Don Lucio war er nicht viel mehr als ein eifriger Angestellter. Unerbittlich hatte Don Lucio seine Macht gemehrt, in den Philippinen kontrollierte er Imperien, Banken in Hongkong, Singapur und Tokio zählten zu seinem Besitz. An der Corpus Pacific, der Niederlassung der AG in Manila, hielt er seine wenigen Aktien aus Gefälligkeit. Der Chairmantitel war ihm früher einmal nützlich gewesen, um Verbindungen zu knüpfen. Heute wäre er leicht ohne ihn ausgekommen. Wer Don Lucio Villaraza war, wusste jeder zwischen Bombay und Shanghai, der am goldenen Geldrad Asiens drehte.
Kauff hatte mit Jana noch immer nicht gesprochen und war ihr ausgewichen, wenn sie ihn fragte, warum er so merkwürdig sei. Kauff redete sich ein, bei Brant gut abgeschnitten zu haben. Ob er ihn in sein Lager aufgenommen hatte, war ihm verborgen geblieben. Aber selbst die Glücklichen, die sich dazuzählen durften, konnten nie völlig sicher sein. Seit über zwei Jahren war Kauff ohne Paten. Sein Förderer war aus der AG ausgeschieden. Schutzlos hatte er seine Ziehsöhne hinterlassen. Von einem neuen, mächtigen Paten in kurzer Zeit akzeptiert zu werden, war schwierig. Das Stigma des Ehemaligen musste verblassen, und trotzdem hatte sich Kauff bei Brant nicht grundlos Chancen ausgerechnet. Seine Analysen und Vorschläge waren oft von Brant übernommen und als eigene Ideen ausgegeben worden. Manchmal hatte ihn Brant sogar gelobt.
Als Kauff von FK in dessen Büro gerufen wurde, und zwar sofort, ahnte er, dass es um seine Zukunft gehen würde. Zehn erfolgreiche AG-Jahre standen auf dem Spiel.