Martin Eden - Jack London - E-Book

Martin Eden E-Book

Jack London

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Beschreibung

Martin Eden ist Londons am stärksten autobiografisch geprägter Roman. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes aus einfachen Verhältnissen, der im Kampf um seine große Liebe an der Realität der Welt zu zerbrechen droht. Der titelgebende Martin Enden ist ein ungebildeter, einfacher Mann mit einem wachen Verstand. Als er sich in die für ihn unerreichbare junge Ruth verliebt, beschließt er, sich im autodidaktischen Lernen seiner Angebeteten würdig zu erweisen. Nach anfänglichen Rückschlägen stellt sich bei ihm der Erfolg ein, er wird ein gefeierter Schriftsteller. Aber trotz all seiner Bemühungen drohen sein Enthusiasmus und seine Liebe an den Klippen einer hartherzigen Welt zu zerschellen. Das Schicksal scheint ihm das Glück letztlich nicht gönnen zu wollen. Der Roman wurde mehrfach für Film oder Fernsehen adaptiert. Bereits 1914 entstand unter der Regie von Hobart Bosworth eine Verfilmung, an der Jack London selbst mitarbeitete und in der er auch zu sehen ist. Null Papier Verlag

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Jack London

Martin Eden

Beide Bände

Jack London

Martin Eden

Beide Bände

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Erwin Magnus EV: Universitas Deutsche Verlags-Aktiengesellschaft Berlin, 1927 2. Auflage, ISBN 978-3-962816-99-5

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Band

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

Zwei­ter Band

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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13

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19

20

21

22

23

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

Erster Band

1

Der eine öff­ne­te die Tür mit ei­nem Drücker und trat ein. Ihm folg­te ein jun­ger Bur­sche, der lin­kisch die Müt­ze ab­nahm. Sei­ne Klei­dung war derb und er­in­ner­te an die See; of­fen­bar fühl­te er sich in der ge­räu­mi­gen Hal­le wie ein Fisch auf dem Tro­cke­nen. Er wuss­te nicht, was er mit sei­ner Müt­ze an­fan­gen soll­te und woll­te sie ge­ra­de in die Ho­sen­ta­sche stop­fen, als der an­de­re sie ihm ab­nahm. Es war eine ganz ru­hi­ge, na­tür­li­che Hand­lung, und der lin­ki­sche jun­ge Bur­sche wuss­te sie zu schät­zen. »Er hat Ver­ständ­nis da­für«, dach­te er. »Er wird mir schon wei­ter­hel­fen.«

Er folg­te dem an­de­ren auf den Fer­sen, in­dem er die Schul­tern vor und zu­rück schob und die Füße un­be­wusst weit aus­ein­an­der­setz­te, als höbe und senk­te sich der ebe­ne Bo­den wie Mee­res­wo­gen. Die großen Räu­me schie­nen ihm zu eng für sei­nen rol­len­den Gang, und er hat­te selbst eine furcht­ba­re Angst, dass sei­ne brei­ten Schul­tern mit den Tür­rah­men kol­li­die­ren oder die Kunst­ge­gen­stän­de von dem nied­ri­gen Ka­min fe­gen wür­den. Er prall­te zwi­schen den ver­schie­de­nen Din­gen hin und her und ver­viel­fäl­tig­te da­durch die Ge­fah­ren, die in Wirk­lich­keit nur in sei­ner Ein­bil­dung be­stan­den. Zwi­schen ei­nem Flü­gel und ei­nem bü­cher­be­la­de­nen Tisch in der Mit­te des Zim­mers wäre Platz ge­nug für ein hal­b­es Dut­zend Män­ner ne­ben­ein­an­der ge­we­sen, aber er wag­te den Weg nur mit Angst und Be­ben. Sei­ne schwe­ren Arme hin­gen schlaff an sei­nen Sei­ten her­ab. Er wuss­te nicht, was er mit die­sen Ar­men und Hän­den an­fan­gen soll­te, und als sei­ne ge­ängs­tig­te Fan­ta­sie ihm vor­spie­gel­te, dass er die Bü­cher auf dem Ti­sche be­rüh­ren könn­te, mach­te er wie ein scheu­es Pferd einen Satz nach der an­de­ren Sei­te und ent­ging mit Mühe und Not ei­nem Zu­sam­men­stoß mit dem Kla­vier­sche­mel. Er be­merk­te den leich­ten Gang des an­de­ren vor ihm, und zum ers­ten Mal wur­de ihm klar, dass sein Gang sich von dem an­de­rer Leu­te un­ter­schied. Plötz­lich über­kam ihn ein Ge­fühl der Scham über sei­ne ei­ge­ne Un­ge­schick­lich­keit. Der Schweiß brach in klei­nen Tröpf­chen auf sei­ner Stirn aus, er blieb ste­hen und wisch­te sich das son­nen­ver­brann­te Ge­sicht mit sei­nem Ta­schen­tuch.

»War­t’ ein biss­chen, Ar­thur, mein Jun­ge«, sag­te er, in­dem er sei­ne Angst hin­ter ei­nem scherz­haf­ten Auf­tre­ten zu ver­ber­gen such­te. »Das ist zu viel auf ein­mal für dei­nen er­ge­be­nen Die­ner. Du musst mir Zeit las­sen, mal Luft zu schöp­fen. Du weißt, dass ich nicht mit­kom­men woll­te, und ver­mut­lich wird dei­ne Fa­mi­lie sich auch nicht ge­ra­de so­viel dar­aus ma­chen, mich ken­nen­zu­ler­nen.«

»Lass nur«, lau­te­te die be­ru­hi­gen­de Ant­wort. »Du brauchst nicht ban­ge vor uns zu sein. Wir sind ganz ein­fa­che Men­schen. Hal­lo, da ist ja ein Brief für mich!« Er trat an den Tisch, riss einen Brief auf und be­gann zu le­sen, so­dass der Frem­de Ge­le­gen­heit hat­te, sich zu sam­meln. Und der Frem­de ver­stand ihn und war ihm dank­bar. Er hat­te selbst die Gabe des Ver­ste­hens, und auch jetzt ver­ließ sie ihn nicht trotz sei­ner Ängst­lich­keit. Er trock­ne­te sich die Stirn und sah sich ru­hi­ger um, wenn in sei­nen Au­gen auch der Aus­druck des wil­den Tie­res war, das die Fal­le fürch­tet. Er be­fand sich in ei­ner un­be­kann­ten Um­ge­bung, fürch­te­te sich vor dem, was da ge­sche­hen moch­te, und wuss­te nicht, wie er sich be­neh­men soll­te; aber er war sich sei­ner Un­ge­schick­lich­keit wohl be­wusst und fürch­te­te, dass sein Geist und sei­ne See­le eben­so ge­lähmt wa­ren wie sein Kör­per. Er war sehr emp­find­sam, hoff­nungs­los selbst­be­wusst, und der be­lus­tig­te Blick, den der an­de­re ihm heim­lich über den Rand des Brie­fes zu­warf, brann­te wie ein Dolch­stoß in ihm. Er ließ sich je­doch nichts mer­ken, denn un­ter den Din­gen, die er ge­lernt hat­te, be­fand sich auch Selbst­be­herr­schung. Aber der Dolch­stoß hat­te auch sei­nen Stolz ge­trof­fen. Er ver­wünsch­te sich, weil er ge­kom­men war, und be­schloss gleich­zei­tig, die nun ein­mal be­gon­ne­ne Sa­che auch durch­zu­füh­ren. Die Li­ni­en in sei­nem Ge­sicht wur­den schär­fer, und ein kampf­be­rei­ter Aus­druck trat in sei­ne Au­gen. Er sah sich mit grö­ße­rer Sorg­lo­sig­keit um und fühl­te mit sei­ner schnel­len Auf­fas­sungs­ga­be, wie jede Ein­zel­heit in dem schö­nen Raum sich sei­nem Be­wusst­sein ein­präg­te. Sei­ne Au­gen stan­den weit aus­ein­an­der; nichts in­ner­halb ih­res Ge­sichts­krei­ses ent­ging ihm; und wie sie die Schön­heit, die sie sa­hen, tran­ken, schwand der kampf­be­rei­te Aus­druck in ih­nen und wich ei­ner war­men Glut. Er war emp­fäng­lich für Schön­heit, und hier gab es ge­nug auf­zu­neh­men.

Ein Öl­ge­mäl­de fes­sel­te ihn. Schwe­re Bran­dung don­ner­te kra­chend ge­gen einen vor­sprin­gen­den Fel­sen; dro­hen­de Sturm­wol­ken be­deck­ten den Him­mel, und vor der Bran­dung lag ein Lot­sen­scho­ner mit gereff­ten Se­geln, hol­te ge­ra­de über, so­dass man jede Ein­zel­heit auf sei­nem Deck sah, und wur­de von den Wel­len in ein wol­ki­ges Aben­d­rot ge­ho­ben. Das war Schön­heit, und er fühl­te sich un­wi­der­steh­lich da­von an­ge­zo­gen. Er ver­gaß sei­nen lin­ki­schen Gang und trat ganz dicht an das Ge­mäl­de her­an. Da schwand die Schön­heit von der Lein­wand. Sein Ge­sicht drück­te Be­stür­zung aus. Er starr­te auf et­was, das schein­bar nichts als eine nach­läs­si­ge Schmie­re­rei war. Dann trat er wie­der zu­rück. So­fort kehr­te alle Schön­heit auf die Lein­wand zu­rück. »Ein Trick­bild«, dach­te er und wand­te sich ab, fand aber doch in­mit­ten der vie­len Ein­drücke, die auf ihn ein­stürm­ten, Zeit, sich dar­über zu är­gern, dass man so­viel Schön­heit auf ein Trick­bild ge­op­fert hat­te. Von Ma­le­rei ver­stand er nichts. Er war zwi­schen Öl­dru­cken und Li­tho­gra­fi­en auf­ge­wach­sen, die in der Nähe wie aus der Fer­ne im­mer gleich scharf und deut­lich wa­ren. Zwar hat­te er in Schau­fens­tern Ge­mäl­de ge­se­hen, aber die Schei­be hat­te ihn ver­hin­dert, dicht an sie her­an­zu­tre­ten.

Er blick­te sich nach sei­nem Freun­de um, der im­mer noch sei­nen Brief las, und sah die Bü­cher auf dem Ti­sche. In sei­ne Au­gen trat der träu­me­ri­sche, sehn­süch­ti­ge Aus­druck ei­nes Hung­ri­gen, der et­was Ess­ba­res sieht. Ei­ner Ein­ge­bung fol­gend, trat er mit ei­nem ein­zi­gen Schritt und ei­nem Ruck der Schul­tern von rechts nach links an den Tisch, wo er zärt­lich über die Bü­cher zu strei­chen be­gann. Er be­trach­te­te Ti­tel und Ver­fas­ser­na­men, las Bruch­stücke von ih­rem In­halt, lieb­kos­te die Bän­de im­mer wie­der mit Au­gen und Hän­den und er­kann­te ein Buch, das er ge­le­sen hat­te; die üb­ri­gen Bü­cher und Schrift­stel­ler wa­ren ihm fremd. Ein Buch von Swin­bur­ne fiel ihm plötz­lich in die Hand. Er be­gann dar­in zu le­sen, ver­gaß bald ganz, wo er sich be­fand, und sein Ge­sicht leuch­te­te. Zwei­mal blät­ter­te er zu­rück, um den Na­men des Ver­fas­sers zu se­hen. Swin­bur­ne! Den Na­men woll­te er sich mer­ken. Der Mann hat­te Au­gen im Kopf und hat­te wahr­haf­tig Far­ben und strah­len­des Licht ge­se­hen. Aber wer war Swin­bur­ne? War er seit hun­dert Jah­ren tot wie die meis­ten Dich­ter? Oder leb­te und schrieb er noch? Er blät­ter­te zur Ti­tel­sei­te zu­rück. Ja, er hat­te noch an­de­re Bü­cher ge­schrie­ben. Schön, das ers­te, was er mor­gen früh tun woll­te, war, dass er in die Volks­bü­che­rei ging und et­was von dem, was Swin­bur­ne ge­schrie­ben hat­te, zu be­kom­men such­te. Dann kehr­te er wie­der zu dem In­halt des Bu­ches zu­rück und ver­gaß al­les um sich her. Er be­merk­te nicht, dass eine jun­ge Dame ins Zim­mer trat. Das ers­te, des­sen er sich be­wusst wur­de, war die Stim­me Ar­thurs, die sag­te:

»Ruth, das ist Herr Eden.«

Das Buch wur­de über dem Zei­ge­fin­ger ge­schlos­sen, aber noch ehe er sich um­ge­dreht hat­te, fühl­te er sich schon von ei­nem neu­en Ein­druck durch­bebt, des­sen Ur­sa­che nicht das jun­ge Mäd­chen, son­dern die Äu­ße­rung ih­res Bru­ders war. Die­ser mus­ku­lö­se Kör­per barg näm­lich höchs­te Emp­find­sam­keit. Bei dem ge­rings­ten Ein­druck von der Au­ßen­welt lo­der­ten sei­ne Ge­dan­ken und Ge­füh­le in hel­len Flam­men auf. Er war un­ge­wöhn­lich emp­fäng­lich, und sei­ne Fan­ta­sie, die stets un­ter Hoch­druck ar­bei­te­te, be­müh­te sich im­mer, Gleich­hei­ten und Un­ter­schie­de fest­zu­stel­len. Was jetzt einen so star­ken Ein­druck auf ihn ge­macht hat­te, war, dass er »Herr Eden« ge­nannt wor­den war – er, der sein gan­zes Le­ben lang nur »Eden«, »Mar­tin Eden« oder ein­fach »Mar­tin« ge­hei­ßen hat­te. Und jetzt »Herr!« Das war wirk­lich ein wei­ter Schritt vor­wärts, sag­te er sich. Sein Kopf schi­en au­gen­blick­lich zu ei­ner un­ge­heu­ren Ca­me­ra obscu­ra zu wer­den, in der eine end­lo­se Rei­he von Bil­dern aus sei­nem Le­ben auf­tauch­te, Bil­der von Feue­rungs­räu­men und Mann­schafts­lo­gis, von La­gern und Küs­ten, Ge­fäng­nis­sen und Knei­pen, Fie­ber­hos­pi­tä­lern und Ar­men­häu­sern, de­ren ein­zi­ge Ähn­lich­keit in der Art be­stan­den hat­te, wie er in den ver­schie­de­nen Si­tua­tio­nen an­ge­re­det wor­den war.

Und dann dreh­te er sich um und sah das Mäd­chen an. Bei ih­rem An­blick ver­schwan­den die Schat­ten­bil­der in sei­nem Kop­fe mit ei­nem Schla­ge. Sie war ein blas­ses, äthe­ri­sches Ge­schöpf mit großen, träu­me­ri­schen, blau­en Au­gen und ei­ner Flut gol­de­nen Haa­res. Von ih­rer Klei­dung wuss­te er nichts, als dass sie wun­der­bar an­zu­se­hen war. Er ver­glich sie mit ei­ner blass­gol­de­nen Blu­me auf schlan­kem Stiel. Nein, sie war eine Elfe, eine Gott­heit; die­se er­ha­be­ne Schön­heit war nicht von die­ser Welt. Oder hat­ten viel­leicht die Bü­cher recht, und es gab vie­le ih­rer Art in den hö­he­ren Klas­sen? Sie hät­te gut von die­sem Swin­bur­ne be­sun­gen wer­den kön­nen. Vi­el­leicht hat­te er an eine wie sie ge­dacht, als er in dem Buch, das dort auf dem Ti­sche lag, die­ses Mäd­chen, die Iseult,1 schil­der­te. Dies gan­ze Über­maß an Sin­ne­sein­drücken und Ge­dan­ken be­stürm­te ihn in ei­nem Au­gen­blick. Die wirk­li­chen Din­ge, zwi­schen de­nen er sich be­weg­te, ge­bo­ten ih­nen kei­nen Halt. Er sah, wie sie die Hand aus­streck­te und ihm ge­ra­de in die Au­gen blick­te, wo­bei sie ihm die Hand so frei­mü­tig schüt­tel­te, als wäre sie ein Mann. Die Frau­en, die er bis­her ge­kannt hat­te, schüt­tel­ten die Hand nicht auf die­se Wei­se. Die meis­ten von ih­nen ga­ben über­haupt nicht die Hand. Eine Flut von Ge­dan­ken­ver­bin­dun­gen und Erin­ne­run­gen dar­an, wie er die Be­kannt­schaft von Frau­en ge­macht hat­te, schlug über sei­nem Be­wusst­sein zu­sam­men und droh­te es un­ter sich zu be­gra­ben. Aber er schüt­tel­te sie ab und be­trach­te­te das Mäd­chen. Noch nie hat­te er ein sol­ches weib­li­ches We­sen ge­se­hen. Die Frau­en, die er ge­kannt hat­te! So­fort stell­ten sich die Frau­en, die er ge­kannt hat­te, zu bei­den Sei­ten ne­ben ihr auf. Eine ewig wäh­ren­de Se­kun­de stand er mit­ten in ei­ner Bild­nis­ga­le­rie, de­ren Mit­tel­punkt sie bil­de­te, und um sie schar­ten sich vie­le Frau­en, die alle mit blitz­schnel­lem Blick ge­wo­gen und ge­mes­sen wer­den soll­ten, wäh­rend sie selbst die Ge­wichts- und Maß­ein­heit dar­stell­te. Er sah die blas­sen, kränk­li­chen Ge­sich­ter der Fa­brik­ar­bei­te­rin­nen und die al­ber­nen, lau­ten Mäd­chen süd­lich der Mar­ket Street, Mäd­chen aus den Vieh­dis­trik­ten und dun­kel­häu­ti­ge zi­ga­ret­ten­rau­chen­de Me­xi­ka­ne­rin­nen. Aber die wur­den wie­der ver­drängt von pup­pen­haf­ten Ja­pa­ne­rin­nen, die auf Holz­klöt­zen ein­her­trip­pel­ten, von Eu­ra­sie­rin­nen, de­ren fei­ne Züge vom Ver­fall der Ras­se ge­zeich­net wa­ren, von voll­blü­ti­gen blu­men­ge­schmück­ten, braun­häu­ti­gen Süd­seein­su­la­ne­rin­nen. Sie alle wur­den aus­ge­löscht durch eine lä­cher­li­che und doch furcht­ba­re Brut – tücki­sche, schmut­zi­ge Ge­schöp­fe aus den Stra­ßen Whi­techa­pels, brannt­wein­duf­ten­de He­xen der Gas­sen und der gan­ze große Höl­len­schwarm von Har­pyen, bös­mäu­lig und dre­ckig, Un­ge­heu­er in Wei­ber­ge­stalt, die auf See­leu­te lau­er­ten, der Ab­schaum der Hä­fen, der Bo­den­satz der Mensch­heit.

»Wol­len Sie nicht Platz neh­men, Herr Eden?« sag­te das Mäd­chen. »Seit Ar­thur uns von Ih­nen er­zähl­te, habe ich mich so dar­auf ge­freut, Sie ken­nen­zu­ler­nen. Es war tap­fer von Ih­nen –«

Er mach­te eine ab­weh­ren­de Hand­be­we­gung und mur­mel­te, das, was er ge­tan habe, sei nicht der Rede wert. Je­der an­de­re hät­te ge­nau so ge­han­delt. Sie be­merk­te, dass sei­ne Hand von fri­schen, in der Hei­lung be­grif­fe­nen Haut­ab­schür­fun­gen be­deckt war, und ein Blick auf die an­de­re Hand zeig­te ihr, dass sie sich in der­sel­ben Ver­fas­sung be­fand. Ihr schnel­ler prü­fen­der Blick ent­deck­te auch eine Nar­be an sei­nem Kinn, eine zwei­te un­ter den Haa­ren ver­schwin­den­de Nar­be auf sei­ner Stirn und eine drit­te am Hal­se, wo sie un­ter dem stei­fen Kra­gen ver­schwand. Sie un­ter­drück­te ein Lä­cheln beim An­blick des ro­ten Strichs, den der Kra­gen in die son­nen­ver­brann­te Haut ge­rie­ben hat­te. Er war of­fen­bar nicht ge­wohnt, stei­fe Kra­gen zu tra­gen. Ihr weib­li­cher Blick schweif­te auch über sei­ne Klei­dung und be­merk­te den schlech­ten, un­ge­schick­ten Schnitt, den Rock, der sich an den Schul­tern beu­tel­te, und die Fal­ten in den Är­meln, die sei­ne mäch­ti­gen Mus­keln ah­nen lie­ßen.

Wäh­rend er die Hand­be­we­gung mach­te und mur­mel­te, dass er nichts ge­tan hät­te, kam er ih­rer Auf­for­de­rung, sich zu set­zen, nach. Er hat­te ge­ra­de noch Zeit, die Leich­tig­keit zu be­wun­dern, mit der sie sich setz­te, dann tau­mel­te er nie­der auf einen Stuhl, der dem ih­ren ge­gen­über­stand, über­wäl­tigt von dem Be­wusst­sein sei­ner ei­ge­nen Un­ge­schick­lich­keit. Das war ihm et­was ganz Neu­es. Sein gan­zes Le­ben, bis zu die­sem Tage, hat­te er nicht dar­über nach­ge­dacht, ob er ge­wandt oder lin­kisch war. Er war gar nicht auf der­ar­ti­ge Ge­dan­ken ge­kom­men. Er setz­te sich vor­sich­tig auf die Stuhl­kan­te und wuss­te durch­aus nicht, wo er mit sei­nen Hän­den blei­ben soll­te. Wo­hin er sie auch steck­te, wa­ren sie im Wege. Ar­thur ver­ließ das Zim­mer, und Mar­tin Eden sah ihm mit sehn­süch­ti­gen Bli­cken nach. Wie er al­lein mit die­sem blas­sen Mäd­chen hier saß, kam er sich ganz ver­lo­ren vor. Hier gab es kei­nen Kell­ner, bei dem er sich et­was zu trin­ken be­stel­len, kei­nen Jun­gen, den er nach ei­ner Kan­ne Bier um die Ecke schi­cken konn­te, um mit Hil­fe ei­nes ge­mein­sa­men Trun­kes die Grund­la­ge für eine freund­schaft­li­che Ver­stän­di­gung zu schaf­fen.

»Sie ha­ben eine Nar­be am Hals, Herr Eden«, sag­te das Mäd­chen. »Wie ha­ben Sie die be­kom­men? Das ist si­cher ein gan­zes Aben­teu­er.«

»Ein me­xi­ka­ni­sches Mes­ser, Fräu­lein«, ant­wor­te­te er, in­dem er sich die tro­ckenen Lip­pen an­feuch­te­te und sich räus­per­te. »Es war nur eine Schlä­ge­rei. Als ich ihm das Mes­ser weg­ge­nom­men hat­te, ver­such­te er mir die Nase ab­zu­bei­ßen.«

So nüch­tern er das sag­te, stand doch vor sei­nem Auge das far­ben­präch­ti­ge Bild je­ner hei­ßen, ster­nen­kla­ren Nacht in Sa­li­na Cruz, der schma­le wei­ße Strand, die Lich­ter der Zucker­damp­fer im Ha­fen, die Stim­men der be­trun­ke­nen See­leu­te in der Fer­ne, die flei­ßi­gen Gü­ter­pa­cker, die flam­men­de Lei­den­schaft im Ge­sicht des Me­xi­ka­ners, das Fun­keln sei­ner Raub­tierau­gen im Ster­nen­licht, der Stich in den Hals, das her­vor­schie­ßen­de Blut, die schrei­en­de Men­ge, die bei­den Kör­per – sei­ner und der des Me­xi­ka­ners –, die, in­ein­an­der ver­schränkt, wü­tend über den Sand roll­ten, und weit in der Fer­ne das wei­che Klim­pern ei­ner Gi­tar­re. Das war das Bild, das er sah, und das ihn völ­lig in An­spruch nahm, wäh­rend er dar­über nach­dach­te, ob der Mann, der den Lot­sen­kut­ter an der Wand ge­malt hat­te, auch das wohl ma­len könn­te. Der wei­ße Strand, die Ster­ne, die Lich­ter auf dem Zucker­damp­fer müss­ten ein pracht­vol­les Bild er­ge­ben, dach­te er, und mit­ten auf dem Strand dazu die dunkle Grup­pe, die die Kämp­fen­den um­gab. Das Mes­ser wür­de auch sei­nen Platz auf dem Bil­de ha­ben, ent­schied er, und es wür­de groß­ar­tig aus­se­hen, wie es im Ster­nen­licht fun­kel­te. Aber von al­le­dem wur­de sei­ne Er­zäh­lung nicht be­rührt. »Er ver­such­te, mir die Nase ab­zu­bei­ßen«, schloss er.

»Oh!« sag­te das jun­ge Mäd­chen mit lei­ser, fer­ner Stim­me, und er be­merk­te den er­schro­cke­nen Aus­druck in ih­ren be­weg­li­chen Zü­gen.

Er er­schrak selbst, und eine schwa­che Röte der Ver­le­gen­heit stieg ihm in die son­nen­ver­brann­ten Wan­gen, aber er hat­te das Ge­fühl, dass sie eben­so stark brann­ten, wie wenn er vor der of­fe­nen Hei­zungs­tür im Feue­rungs­raum ge­stan­den hät­te. Der­ar­ti­ge schmut­zi­ge Din­ge wie Mes­ser­ste­che­rei­en wa­ren of­fen­bar kein Un­ter­hal­tungs­ge­gen­stand für eine Dame. In den Bü­chern spra­chen Men­schen ih­res Stan­des nicht über der­lei – wuss­ten viel­leicht gar nichts da­von.

Eine kur­ze Pau­se trat in dem Ge­spräch ein, das sie ge­ra­de in Gang zu set­zen ver­such­ten. Dann frag­te sie nach der Nar­be an sei­ner Wan­ge. Als sie frag­te, merk­te er, dass sie sich be­müh­te, so zu spre­chen, wie er zu spre­chen ge­wohnt war, und er be­schloss, in ih­rer Spra­che zu ant­wor­ten.

»Das war nur ein Un­fall«, sag­te er und leg­te die Hand an die Wan­ge. »Ei­nes Nachts, bei stil­lem Wet­ter und schwe­rer See, sprang die Groß­baum­to­pnant und gleich dar­auf die Tal­je. Die To­pnant war aus Stahl­draht und fuhr wie eine Schlan­ge hin und her. Die gan­ze Wa­che ver­such­te sie ein­zu­fan­gen, und ich krieg­te beim Zu­pa­cken mäch­tig eins in die Fres­se.«

»Oh!« sag­te sie, dies­mal in ei­nem Ton, als hät­te sie al­les ver­stan­den, ob­wohl sei­ne Spra­che das rei­ne Grie­chisch für sie ge­we­sen war und sie gern ge­wusst hät­te, was eine To­pnant war und was Fres­se be­deu­te­te.

»Die­ser Mann, der Swi­ne­bur­ne«, be­gann er mit ei­nem Ver­such, sei­nen Plan zur Aus­füh­rung zu brin­gen.

»Wer?«

»Swi­ne­bur­ne«, sag­te er mit der­sel­ben falschen Auss­pra­che, »der Dich­ter.«

»Swin­bur­ne«, be­rich­tig­te sie.

»Ja, das mei­ne ich auch«, stam­mel­te er wie­der mit hei­ßen Wan­gen. »Wann ist er ge­stor­ben?«

»Wie bit­te? Ich habe nie ge­hört, dass er tot ist!« Sie be­trach­te­te ihn neu­gie­rig. »Wo ha­ben Sie sei­ne Be­kannt­schaft ge­macht?«

»Ich habe ihn nie ge­se­hen«, lau­te­te die Ant­wort. »Aber ich habe ei­ni­ge von sei­nen Ge­dich­ten in dem Buch dort auf dem Tisch ge­le­sen, ehe Sie her­ein­ka­men. Wie fin­den Sie sei­ne Ge­dich­te?«

Und jetzt be­gann sie schnell und leicht über den Ge­gen­stand zu spre­chen, den er aufs Ta­pet ge­bracht hat­te. Er fühl­te sich woh­ler und setz­te sich et­was mehr auf den Stuhl, stütz­te sich aber im­mer noch fest mit den Ar­men auf die Leh­nen, als fürch­te­te er, dass er un­ter ihm hin­weg­schlüp­fen wür­de. Es war ihm ge­glückt, sie zum Spre­chen zu brin­gen. Und wäh­rend sie drauf­los re­de­te, streng­te er sich an, ihr zu fol­gen, ver­wun­dert über all das Wis­sen, das in dem rei­zen­den Köpf­chen steck­te, und freu­te sich über die blas­se Schön­heit ih­res Ge­sichts. Er folg­te ihr auch, ob­wohl ihn un­be­kann­te Wor­te, die leicht von ih­ren Lip­pen glit­ten, und kri­ti­sche Be­mer­kun­gen und Ge­dan­ken stör­ten, die ihm fremd wa­ren, die aber doch sei­nen Geist reiz­ten und ent­flamm­ten. Hier war geis­ti­ge Reg­sam­keit, dach­te er, und hier war Schön­heit, eine war­me, wun­der­ba­re Schön­heit, wie er sie sich nie hat­te träu­men las­sen. Er ver­gaß sich und starr­te sie mit gie­ri­gen Au­gen an. Hier war et­was, für das es sich lohn­te zu le­ben, vor­wärts­zu­kom­men, zu kämp­fen – ja, und zu ster­ben. Die Bü­cher spra­chen die Wahr­heit. Es gab sol­che Frau­en in der Welt. Sie war eine von ih­nen. Sie ver­lieh sei­ner Fan­ta­sie Schwin­gen, und große leuch­ten­de Bil­der er­schie­nen vor sei­nem Blick, un­deut­li­che, rie­si­ge Bil­der, die Lie­be, Ro­man­tik und Hel­den­tum um ei­ner Frau wil­len dar­stell­ten – um ei­ner blei­chen Frau, ei­ner gol­de­nen Blu­me wil­len. Und hin­ter der zit­tern­den schwin­gen­den Vi­si­on sah er wie hin­ter ei­ner Fata Mor­ga­na das le­ben­di­ge Weib, das hier saß und von Li­te­ra­tur und Kunst sprach. Er hör­te auch zu, aber er blick­te sie da­bei an, ohne sich be­wusst zu sein, wie starr sein Blick war, und dass al­les, was sei­ne Na­tur an Männ­lich­keit be­saß, ihm aus den Au­gen leuch­te­te. Sie aber, die we­nig von der Welt der Män­ner wuss­te, weil sie ein Weib war, sie fühl­te deut­lich sei­ne bren­nen­den Au­gen. Sie war noch nie auf die­se Wei­se an­ge­se­hen wor­den, und es mach­te sie ver­le­gen. Sie stock­te und such­te nach Wor­ten. Sie ver­lor den Fa­den ih­rer Er­klä­run­gen. Er er­schreck­te sie, und doch wur­de sie wie­der von ei­ner selt­sa­men Freu­de durch­bebt, dass je­mand sie auf die­se Wei­se an­sah. Ihre Er­zie­hung warn­te sie vor der Ge­fahr, die in die­ser ge­heim­nis­vol­len, selt­sa­men Lo­ckung lag; aber ihre In­stink­te klan­gen wie hel­le Fan­fa­ren durch ihr gan­zes We­sen und zwan­gen sie, die Hin­der­nis­se von Kas­te und Stand zu neh­men und zu ei­nem Wan­de­rer aus ei­ner an­de­ren Welt zu ge­lan­gen, die­sem lin­ki­schen jun­gen Bur­schen mit den zer­ris­se­nen Hän­den und dem ro­ten Strich am Hal­se von dem un­ge­wohn­ten Kra­gen, die­sem Men­schen, der, all­zu of­fen­kun­dig, von ei­nem har­ten, stren­gen Da­sein be­schmutzt und an­ge­steckt war. Sie war rein, und ihre Rein­heit em­pör­te sich da­ge­gen; aber sie war Weib, und sie hat­te ge­ra­de das Pa­ra­do­xe der weib­li­chen Na­tur ken­nen­ge­lernt.

»Wie ge­sagt – ja, was sag­te ich doch?« Sie un­ter­brach sich plötz­lich und lach­te hei­ter über ihre ei­ge­ne Ver­le­gen­heit.

»Sie sag­ten, dass die­ser Mann, der Swin­bur­ne, kein großer Dich­ter wur­de, weil … und wei­ter ka­men Sie nicht, Fräu­lein«, half er ihr, wäh­rend ihm schi­en, als ob er plötz­lich hung­rig wür­de und ein wun­der­vol­les lei­ses Zit­tern ihm bei ih­rem La­chen das Rück­grat ent­lang kroch. Wie Sil­ber, dach­te er, wie klin­gen­de, sil­ber­ne Glo­cken, und im sel­ben Au­gen­blick, aber nur eine Se­kun­de lang, fühl­te er sich in ein fer­nes Land ver­setzt, wo er un­ter rosa Kirsch­blü­ten saß, eine Zi­ga­ret­te rauch­te und auf die Glo­cken der spit­zen Pa­go­de lausch­te, die Gläu­bi­ge mit Stroh­san­da­len zur An­dacht rief.

»Ja, dan­ke«, sag­te sie. »Das Höchs­te er­reicht Swin­bur­ne nicht, weil er – nun ja, weil er unz­art ist. Vie­le sei­ner Ge­dich­te soll­te man gar nicht le­sen. Jede Zei­le der wirk­lich großen Dich­ter ist von Schön­heit er­füllt und wen­det sich an al­les, was er­ha­ben und edel im Men­schen ist. Von den Wer­ken der großen Dich­ter könn­te man nicht eine Zei­le ent­beh­ren, ohne dass die Welt da­durch är­mer wür­de.«

»Ich fand es groß­ar­tig«, sag­te er zö­gernd, »das biss­chen je­den­falls, das ich las. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, dass er so ein – ein Schur­ke war. Das wird wohl in sei­nen an­de­ren Bü­chern zum Vor­schein kom­men.«

»Vie­le Zei­len in dem Buch, das Sie ge­le­sen ha­ben, hät­te er sich spa­ren kön­nen«, sag­te sie, und ihre Stim­me klang streng und lehr­haft.

»Die muss ich über­se­hen ha­ben«, er­klär­te er. »Was ich las, war wirk­lich gut. Und es war so strah­lend und schim­mernd, es schi­en ge­ra­de in mich hin­ein und er­leuch­te­te mich in­wen­dig wie die Son­ne oder ein Schein­wer­fer. So wirk­te es je­den­falls auf mich, aber ich ver­ste­he ja nicht viel von Dicht­kunst, Fräu­lein.« Er hielt er­schro­cken inne. Er war ver­wirrt und hat­te ein pein­li­ches Ge­fühl von sei­ner ei­ge­nen Un­fä­hig­keit, sei­nen Ge­dan­ken Aus­druck zu ver­lei­hen. Er hat­te die große und le­ben­di­ge Glut in dem, was er las, ge­fühlt, aber sein Wort­schatz reich­te nicht hin. Er konn­te nicht aus­drücken, was er fühl­te, und er ver­glich sich selbst mit ei­nem See­mann, der sich in dunk­ler Nacht auf ei­nem frem­den Schif­fe be­fand und sich mit ei­ner Ta­ke­lung ab­quäl­te, mit der er nicht ver­traut war. Nun ja, sag­te er sich, ich muss eben se­hen, mich in die­ser neu­en Welt zu­recht­zu­fin­den. Er hat­te noch nie et­was ge­se­hen, hin­ter das er nicht ge­kom­men war, wenn er es ernst­lich dar­auf an­leg­te, und es war Zeit, dass er lern­te, sich über das, was in sei­nem In­nern vor­ging, ver­ständ­lich zu ma­chen. Sie er­wei­ter­te sei­nen Ho­ri­zont mäch­tig.

»Long­fel­low zum Bei­spiel –«, sag­te sie.

»Ja, den habe ich ge­le­sen«, un­ter­brach er sie, an­ge­spornt von dem Ehr­geiz, so­viel wie mög­lich von sei­nen Kennt­nis­sen zu zei­gen, und be­müht, ihr ver­ständ­lich zu ma­chen, dass er kein dum­mer Töl­pel war. »›Der Psalm des Le­bens‹, ›E­ly­si­um‹ und … ich glau­be, das ist al­les.«

Sie nick­te lä­chelnd, und er hat­te das Ge­fühl, dass ihr Lä­cheln ein we­nig nach­sich­tig war – mit­lei­dig nach­sich­tig. Er war ein Narr, dass er ver­such­te, sich auf die­se Wei­se auf­zu­spie­len. Die­ser Long­fel­low hat­te wahr­schein­lich zahl­lo­se Ge­dicht­bü­cher ge­schrie­ben. »Ent­schul­di­gen Sie, Fräu­lein, dass ich so drauf­los­schwat­ze. Ich weiß ja ei­gent­lich nicht viel von die­sen Sa­chen. Es ge­hört nicht zu mei­nem Be­ruf. Aber ich will es zu mei­nem Be­ruf ma­chen.«

Das klang wie eine Dro­hung. Sei­ne Stim­me war ent­schie­den, sei­ne Au­gen blitz­ten, die Li­ni­en in sei­nem Ge­sicht wur­den hart. Ihr schi­en, dass sein Kinn sich ver­än­dert hät­te; es wirk­te fast un­an­ge­nehm an­ma­ßend. Gleich­zei­tig aber war es, als ob ihr eine Woge star­ker Männ­lich­keit von ihm ent­ge­gen­schlug.

»Ich glau­be wirk­lich, Sie soll­ten es zu Ihrem … Be­ruf ma­chen«, schloss sie la­chend. »Sie sind sehr stark.«

Ihr Blick weil­te einen Au­gen­blick auf dem mus­ku­lö­sen, seh­ni­gen, fast stier­ar­ti­gen Na­cken, der von der Son­ne ge­bräunt war und von ro­her Kraft und Ge­sund­heit strotz­te. Und ob­wohl er rot und ver­le­gen da­saß, fühl­te sie sich doch von ihm an­ge­zo­gen. Zu ih­rer ei­ge­nen Über­ra­schung schoss ihr plötz­lich ein tol­ler Ge­dan­ke durchs Hirn. Ihr schi­en, sie müs­se ihre bei­den Hän­de um sei­nen Hals le­gen, und all sei­ne Stär­ke und Kraft wür­den auf sie über­strö­men. Ihr schi­en, dass sich ihr plötz­lich eine un­ge­ahn­te Ver­derb­nis ih­rer Na­tur of­fen­bar­te. Zu­dem war Stär­ke für sie et­was Gro­bes, Bru­ta­les. Ihr Ide­al männ­li­cher Schön­heit war im­mer schlan­ke An­mut ge­we­sen. Aber der Ge­dan­ke ver­ließ sie nicht. Es ver­wirr­te sie, dass sie wirk­lich den Wunsch ver­spü­ren soll­te, ihre Hän­de um die­sen son­nen­ver­brann­ten Hals zu le­gen. Tat­säch­lich war sie selbst zart, und das, was ihr Kör­per und ihre See­le brauch­ten, war eben Stär­ke. Aber das wuss­te sie nicht. Sie wuss­te nur, dass kein Mann je eine sol­che Wir­kung auf sie aus­ge­übt hat­te wie die­ser, der sie je­den Au­gen­blick durch sei­ne schreck­li­che Spra­che er­schreck­te.

»Nein, ein al­tes Weib bin ich nicht«, sag­te er. »Wenn es dar­auf an­kommt, kann ich al­tes Ei­sen ver­dau­en. Aber jetzt bin ich ge­ra­de ein biss­chen ver­stopft. Das meis­te von dem, was Sie ge­sagt ha­ben, kann ich nicht ver­dau­en. Ich habe mich nie mit dem Zeug ab­ge­ge­ben, wis­sen Sie. Ich habe Bü­cher und Poe­sie gern, und wenn ich mal Zeit hat­te, habe ich ge­le­sen, aber ich habe nie so drü­ber nach­ge­dacht wie Sie. Da­rum kann ich nicht drü­ber re­den. Mir geht es wie ei­nem See­mann, der ohne Kar­te und Kom­pass auf ei­nem frem­den Meer treibt. Jetzt möch­te ich gern pei­len. Vi­el­leicht kön­nen Sie mir da­bei hel­fen. Wie ha­ben Sie all das ge­lernt, was Sie da er­zäh­len?«

»In der Schu­le wohl und durch Stu­di­um«, ant­wor­te­te sie.

»Ich bin auch zur Schu­le ge­gan­gen, als ich klein war«, wand­te er ein.

»Ja; aber ich mei­ne das Gym­na­si­um und Kur­se und die Uni­ver­si­tät.«

»Sie sind auf der Uni­ver­si­tät ge­we­sen?« frag­te er ehr­lich er­staunt. Er fühl­te, dass sie einen Ab­grund von min­des­tens ei­ner Mil­li­on Mei­len zwi­schen sich und ihn ge­legt hat­te.

»Ich be­su­che jetzt noch die Uni­ver­si­tät. Ich höre Vor­le­sun­gen im Eng­li­schen.«

Er ver­stand nicht, was sie mit »Eng­lisch« mein­te, merk­te sich aber die­sen Man­gel in sei­nem Wis­sen und frag­te wei­ter:

»Wie lan­ge müss­te ich ler­nen, um auf die Uni­ver­si­tät kom­men zu kön­nen?«

Sie lä­chel­te er­mu­ti­gend über sei­nen Lernei­fer und sag­te: »Das hängt da­von ab, was Sie schon ge­lernt ha­ben. Sie ha­ben nie ein Gym­na­si­um be­sucht? Na­tür­lich nicht. Aber ha­ben Sie die Ge­mein­de­schu­le ganz durch­ge­macht?«

»Es fehl­ten zwei Jah­re, als ich ab­ging«, er­wi­der­te er. »Aber ich war im­mer sehr gut in der Schu­le.«

Im nächs­ten Au­gen­blick är­ger­te er sich so über sei­ne Prah­le­rei, dass er die Stuhl­leh­ne pack­te, bis die Fin­ger­spit­zen ihm förm­lich brann­ten. Da be­merk­te er, dass eine Frau ins Zim­mer trat. Er sah, wie das Mäd­chen vom Stuhl auf­stand und der Ein­tre­ten­den ent­ge­ge­neil­te. Sie küss­ten sich und ka­men dann Arm in Arm auf ihn zu. Das muss ihre Mut­ter sein, dach­te er. Sie war eine hoch­ge­wach­se­ne blon­de Frau, schlank, statt­lich und schön. Ihre Klei­dung war so, wie er sie in ei­nem sol­chen Hau­se er­war­tet hat­te. Sei­ne Au­gen hin­gen mit Ent­zücken an den an­mu­ti­gen Li­ni­en. In ih­rer Tracht er­in­ner­te sie ihn an Frau­en, die er auf der Büh­ne ge­se­hen hat­te. Dann er­in­ner­te er sich, dass er ähn­lich ge­klei­de­te Da­men in die Lon­do­ner Thea­ter hat­te hin­ein­ge­hen se­hen. Er hat­te ih­nen nach­ge­se­hen, bis der Schutz­mann ihn in den Sprüh­re­gen vor der Mar­ki­se ge­scho­ben hat­te. Gleich dar­auf mach­ten sei­ne Ge­dan­ken einen Sprung nach dem Grand Ho­tel in Yo­ko­ha­ma, wo er auch vom Bür­ger­steig aus große Da­men ge­se­hen hat­te. Dann be­gann Yo­ko­ha­ma selbst mit sei­nem Ha­fen in tau­send Bil­dern vor sei­nen Au­gen zu er­schei­nen. Aber er lös­te sich schnell von die­sem Ka­lei­do­skop der Erin­ne­rung, in dem Be­wusst­sein, dass er jetzt sei­ne gan­ze Geis­tes­ge­gen­wart nö­tig hat­te. Er wuss­te, dass er auf­ste­hen muss­te, um vor­ge­stellt zu wer­den, und so er­hob er sich denn be­schwer­lich und stand da, mit Ho­sen, die sich an den Kni­en beu­tel­ten, mit hän­gen­den Ar­men und zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen, be­reit, die be­vor­ste­hen­de Prü­fung über sich er­ge­hen zu las­sen.

(Tris­tan und) Isol­de  <<<

2

Der Weg ins Spei­se­zim­mer war ein bö­ser Traum für ihn. Er stol­per­te und stieß sich, mach­te ent­schlos­sen einen Schritt vor­wärts und blieb wie­der ste­hen, und zu­wei­len schi­en ihm fast, als wür­de er nie hin­ein­ge­lan­gen. Schließ­lich aber war er drin­nen und wur­de ne­ben SIE ge­setzt. Der Über­fluss an Mes­sern und Ga­beln jag­te ihm Schre­cken ein. Sie droh­ten mit un­be­kann­ten Ge­fah­ren, und er starr­te sie be­nom­men an, bis ihr Glanz der Hin­ter­grund für eine Rei­he von Bil­dern aus der Back wur­de, wo er und sei­ne Ka­me­ra­den sa­ßen und Salz­fleisch mit dem Ta­schen­mes­ser und den Fin­gern aßen oder di­cke Erb­sen­sup­pe mit Blechlöf­feln in sich hin­ein­schau­fel­ten. Er konn­te ge­ra­de­zu den Ge­ruch von ver­dor­be­nem Fleisch spü­ren und das Schmat­zen der Es­sen­den zum Knar­ren der Höl­zer und Äch­zen der Schoo­te hö­ren. Er sah die Ka­me­ra­den es­sen und kam zu dem Er­geb­nis, dass sie wie Schwei­ne aßen. Nun, er woll­te sich hier schon zu­sam­men­neh­men. Er woll­te kein Geräusch ma­chen. Er woll­te un­un­ter­bro­chen auf sich ach­ten.

Er ließ sei­nen Blick über den Tisch schwei­fen. Ihm ge­gen­über sa­ßen Ar­thur und Ar­thurs Bru­der Nor­man. Er dach­te dar­an, dass es ihre Brü­der wa­ren, und fühl­te war­me Freund­schaft für sie. Wie alle in die­ser Fa­mi­lie sich lieb­ten! Er dach­te wie­der dar­an, wie SIE und ihre Mut­ter sich ge­küsst hat­ten und ihm Arm in Arm ent­ge­gen­ge­kom­men wa­ren. In sei­ner Welt zeig­ten El­tern und Kin­der ihre Ge­füh­le nicht so. Es war eine Of­fen­ba­rung von den Hö­hen des Le­bens, die man in die­ser hoch über der sei­nen lie­gen­den Welt er­rei­chen konn­te. Die­ser klei­ne Ein­blick in eine neue Welt hat­te ihm das Schöns­te ge­zeigt, das er je ge­se­hen. Es mach­te einen tie­fen Ein­druck auf ihn, und sein Herz ström­te über vor mit­füh­len­der Zärt­lich­keit. Sein gan­zes Le­ben hat­te ihn nach Lie­be ge­hun­gert. Sein We­sen brauch­te Lie­be. Sie war eine Le­bens­be­din­gung für sei­nen Or­ga­nis­mus. Und den­noch hat­te er sie ent­beh­ren müs­sen, aber er war hart da­bei ge­wor­den. Er hat­te selbst nicht ge­wusst, dass er Lie­be brauch­te, und auch jetzt wuss­te er es nicht. Er sah nur ihr Wir­ken, und das durch­schau­er­te ihn tief und er­schi­en ihm herr­lich und er­ha­ben.

Er freu­te sich, dass Herr Mor­se nicht an­we­send war. Es war schwer ge­nug, mit ihr, ih­rer Mut­ter und ih­rem Bru­der Nor­man be­kannt zu wer­den. Ar­thur kann­te er schon ein we­nig. Der Va­ter, das wuss­te er, hät­te dem Fass den Bo­den aus­ge­schla­gen. Ihm schi­en, dass er sich noch nie im Le­ben so ab­ge­müht hät­te. Die schwers­te Ar­beit war Kin­der­spiel da­ge­gen. Win­zi­ge Schweiß­trop­fen tra­ten ihm auf die Stirn, und sein Hemd war durch­nässt, weil er sich be­müh­te, so­viel Un­ge­wohn­tes auf ein­mal zu tun. Er muss­te es­sen, wie er noch nie ge­ges­sen hat­te, muss­te mit selt­sa­men Gerä­ten han­tie­ren und da­bei ver­stoh­le­ne Bli­cke auf die an­de­ren wer­fen, um zu se­hen, wie sie mit je­dem neu­en Din­ge um­gin­gen; er muss­te die Flut von Ein­drücken be­wäl­ti­gen, die über ihm zu­sam­menschlug und in sei­nem Be­wusst­sein ge­sich­tet und ge­klärt wer­den soll­te. Dazu fühl­te er eine hef­ti­ge Sehn­sucht nach ihr, eine Sehn­sucht, die die Form dumpf na­gen­der Rast­lo­sig­keit an­nahm, und spür­te einen hef­ti­gen Drang, sich em­por­zu­sch­win­gen zu der Höhe des Le­bens, auf der sie sich be­fand. Im­mer wie­der ver­irr­ten sich sei­ne Ge­dan­ken in un­kla­ren Plä­nen, wie er sich auf ihre Höhe schwin­gen könn­te. Wenn sein Blick heim­lich zu Nor­man, der ihm ge­ra­de ge­gen­über saß, oder zu den an­de­ren glitt, um her­aus­zu­be­kom­men, wel­ches Mes­ser oder wel­che Ga­bel bei ei­ner be­stimm­ten Ge­le­gen­heit zu ge­brau­chen war, so nahm das Ge­sicht des Be­tref­fen­den sei­ne Ge­dan­ken in An­spruch, und er ver­such­te me­cha­nisch zu er­ra­ten, was er – stets im Ver­hält­nis zu ihr – war.

Dann muss­te er wie­der spre­chen, hö­ren, was zu ihm ge­spro­chen wur­de, und was die an­de­ren un­ter sich spra­chen, und, wenn nö­tig, ant­wor­ten mit ei­ner Zun­ge, die die un­an­ge­neh­me Nei­gung hat­te, durch­zu­ge­hen, und stets ge­zü­gelt wer­den muss­te. Und um sei­ne Ver­wir­rung noch zu ver­meh­ren, war der Die­ner da, eine be­stän­di­ge Dro­hung, die sich laut­los hin­ter ihn schlich, ein un­heim­li­cher Spi­on, der ihm un­an­ge­neh­me Rät­sel auf­gab, die er stets so­fort lö­sen muss­te. Wäh­rend der gan­zen Mahl­zeit be­drück­te ihn der Ge­dan­ke an die Spül­kum­men. Im­mer wie­der, un­auf­hör­lich muss­te er dar­über nach­den­ken, wann sie in die Er­schei­nung tre­ten und wie sie aus­se­hen wür­den. Er hat­te von die­sen Din­gen ge­hört und wuss­te, dass er sie im Lau­fe we­ni­ger Mi­nu­ten se­hen soll­te, dass er mit hö­he­ren We­sen bei Ti­sche saß und sie wie die­se be­nut­zen soll­te. Und das Wich­tigs­te von al­lem: auf dem Grun­de sei­ner Ge­dan­ken und doch stets dicht an der Ober­flä­che lag die große Fra­ge, wie er sich die­sen Leu­ten ge­gen­über be­neh­men soll­te. Wel­che Hal­tung soll­te er ein­neh­men? Mit die­sem Pro­blem kämpf­te er an­dau­ernd und furcht­sam. Da wa­ren fei­ge Ein­wen­dun­gen, die ihn Ko­mö­die spie­len las­sen woll­ten, und noch fei­ge­re, die ihm sag­ten, dass ein sol­cher Ver­such miss­lin­gen muss­te, dass sei­ne Na­tur sich nicht dazu eig­ne­te, und dass er sich zum Nar­ren ma­chen wür­de. Wäh­rend des ers­ten Tei­les des Es­sens rang er mit sich, wie er sich ver­hal­ten soll­te, und war sehr still. Er wuss­te nicht, dass er durch sein Schwei­gen Ar­thur Lü­gen straf­te, der am Tage zu­vor ge­sagt hat­te, er wür­de einen Wil­den mit zu Tisch brin­gen, dass sie aber kei­ne Angst zu ha­ben brauch­ten, denn es sei ein in­ter­essan­ter Wil­der. Mar­tin Eden hät­te sich nicht vor­stel­len kön­nen, dass ihr Bru­der sich ei­nes sol­chen Ver­rats schul­dig mach­te, zu­mal er ja eben­die­sem Bru­der bei ei­ner schlim­men Prü­ge­lei ge­hol­fen hat­te. Und so saß er denn bei Ti­sche, be­drückt durch sei­ne ei­ge­ne Un­wür­dig­keit und doch zu­gleich von al­lem, was um ihn her vor­ging, be­zau­bert. Zum ers­ten Mal er­kann­te er, dass Es­sen et­was an­de­res als eine nütz­li­che Funk­ti­on war. Er hat­te kei­ne Ah­nung, was er aß. Es war eben Es­sen. Er still­te sei­nen Schön­heits­durst an die­sem Tisch, wo Es­sen eine äs­the­ti­sche Funk­ti­on war. Aber es war auch eine geis­ti­ge Funk­ti­on. Sein Geist war an­ge­sta­chelt. Er hör­te Wor­te, die kei­nen Sinn für ihn hat­ten, und an­de­re Wor­te, die er nur in Bü­chern ge­fun­den hat­te, und die kei­ner der Män­ner oder Frau­en sei­ner Be­kannt­schaft im­stan­de ge­we­sen wä­ren aus­zu­spre­chen. Wenn er die­se Wor­te von den Lip­pen die­ser wun­der­vol­len Fa­mi­lie – ih­rer Fa­mi­lie – aus­spre­chen hör­te, als ob es das Na­tür­lichs­te von der Welt wäre, wur­de er von Ent­zücken durch­bebt. Die Ro­man­tik und Schön­heit, das Er­ha­be­ne, von dem er in Bü­chern ge­le­sen hat­te, wur­de hier Wirk­lich­keit. Er be­fand sich in dem selt­sa­men, se­li­gen Zu­stand, in dem ein Mann sei­nen Traum aus den Win­keln der Fan­ta­sie her­aus­spa­zie­ren und Wirk­lich­keit wer­den sieht. Noch nie hat­te er auf sol­chen Hö­hen des Le­bens ge­stan­den, und er hielt sich selbst im Hin­ter­grund, lau­schend, be­ob­ach­tend und sich freu­end, wäh­rend er ein­sil­big Ja und Nein ant­wor­te­te. Er muss­te sich Mühe ge­ben, dass er ih­ren Brü­dern nicht die­sel­be Ehr­er­bie­tung wie ihr und ih­rer Mut­ter er­wies. Aber er sag­te sich, dass das un­mög­lich sei, wenn er je hof­fen woll­te, SIE zu ge­win­nen. Au­ßer­dem lehn­te sich sein Stolz da­ge­gen auf. »Weiß Gott!« sag­te er ein­mal bei sich, »ich bin ge­nau so gut wie sie, und wenn sie auch vie­les wis­sen, was ich nicht weiß, so könn­te ich sie doch auch ein ganz Teil leh­ren.« Als aber sie oder ihre Mut­ter ein paar Au­gen­bli­cke spä­ter ihn »Herr Eden« an­sprach, ver­gaß er sei­nen an­ma­ßen­den Stolz und wur­de von Freu­de ganz rot und warm. Er war ein zi­vi­li­sier­ter Mensch, ja­wohl, und er saß hier, Schul­ter an Schul­ter, bei Tisch mit Leu­ten gleich de­nen, über die er in Bü­chern ge­le­sen hat­te. Jetzt war er selbst mit im Bu­che, mit­ten in ei­nem Aben­teu­er, das die Druck­sei­ten ei­nes di­cken Ban­des füll­te.

Wäh­rend er aber Ar­thurs Be­schrei­bung auf die­se Art Lü­gen straf­te, und eher ein from­mes Lamm als ein Wil­der zu sein schi­en, zer­brach er sich die gan­ze Zeit den Kopf, wie er auf­tre­ten soll­te. Er war kein from­mes Lamm, und die zwei­te Gei­ge zu spie­len, pass­te sei­ner hoch­flie­gen­den Herr­scher­na­tur durch­aus nicht. Er sprach nur, wenn er muss­te, und sei­ne Rede war wie sein Gang, ab­ge­bro­chen und stol­pernd.

Er such­te in sei­nem Sprach­schatz, grü­bel­te, wel­che Wor­te wohl bei die­ser oder je­ner Ge­le­gen­heit pass­ten, fürch­te­te aber, dass er sie nicht aus­spre­chen könn­te, und ver­warf wie­der an­de­re Wor­te, von de­nen er wuss­te, dass sie sie nicht ver­stan­den, oder dass sie in ih­ren Ohren roh und ge­wöhn­lich klin­gen wür­den. Aber die gan­ze Zeit be­drück­te ihn das Be­wusst­sein, dass die­se Vor­sicht in der Wahl sei­ner Wor­te ihn dumm mach­te und ihn ver­hin­der­te, sei­nem In­nern Aus­druck zu ver­lei­hen.

Dazu em­pör­te sich sei­ne Frei­heits­lie­be ge­gen die­sen Zwang un­ge­fähr eben­so, wie sein Hals von dem stei­fen Kra­gen ir­ri­tiert wur­de, und end­lich wuss­te er, dass es auf die Dau­er doch nicht ge­hen wür­de. Er war ein Kraft­kerl, er konn­te den­ken, und der schöp­fe­ri­sche Geist in ihm hob das Haupt und woll­te sich gel­tend ma­chen. Er wur­de schnell über­mannt von dem Ge­fühl, das sich in ihm in Ge­burts­we­hen wand, um Aus­druck und Form zu fin­den, und dann ver­gaß er sich und sei­ne Um­ge­bung, und die al­ten Wor­te – die Werk­zeu­ge der Rede, die er kann­te – schlüpf­ten her­aus.

Als der Die­ner ihm ein­mal et­was an­bot, ihn da­bei un­ter­brach und an sei­ne Schul­ter stieß, lehn­te er mit ei­nem kur­z­en, ent­schie­de­nen »Pau!« ab.

So­fort rich­te­ten sich alle Au­gen bei Ti­sche er­war­tungs­voll auf ihn, der Die­ner war of­fen­bar be­lus­tigt, und Mar­tin Eden schäm­te sich sehr. Aber er ge­wann schnell sei­ne Selbst­be­herr­schung wie­der.

»Das ist ein Kana­ken­wort für ›fer­tig‹«, er­klär­te er. »Und es kam ganz von selbst!«

Er sah, wie ihre Bli­cke neu­gie­rig sei­ne Hän­de such­ten, und da er ein­mal Mut ge­fasst hat­te, re­de­te er wei­ter: »Ich kam auf ei­nem Schiff von der Pa­ci­fic-Post­li­nie die Küs­te her­un­ter. Wir wa­ren ver­spä­tet, und in al­len Hä­fen am Pu­get-Sund schuf­te­ten wir wie die Nig­ger, um die La­dung zu ver­stau­en – Stück­gut, wenn Sie wis­sen, was das heißt. Da­bei hab’ ich mir die Haut ab­ge­schrammt.«

»Ach, das mein­te ich nicht«, er­klär­te sie schnell. »Ihre Hän­de schei­nen zu klein für Ihren Kör­per.«

Er er­rö­te­te. Er dach­te, dass wie­der eine sei­ner Un­voll­kom­men­hei­ten ans Ta­ges­licht ge­bracht wor­den sei.

»Ja«, sag­te er är­ger­lich. »Sie sind nicht groß ge­nug, Arme und Schul­tern hab’ ich wie ein Maul­tier. Die sind zu stark, und wenn ich ei­nem Mann die Fres­se zer­haue, wer­den mir die Hän­de da­bei auch zer­hau­en.«

Was er ge­sagt hat­te, ge­fiel ihm nicht. Er war wü­tend auf sich. Er hat­te sei­ne Zun­ge ge­löst und Din­ge ge­sagt, die sich nicht schick­ten.

»Es war brav von Ih­nen, dass Sie Ar­thur auf die­se Wei­se zu Hil­fe ka­men – Sie, als Frem­der«, sag­te sie takt­voll, als sie sei­ne Ver­le­gen­heit sah, ob­wohl sie den Grund nicht kann­te.

Er hin­ge­gen ver­stand sehr gut, was sie ge­tan hat­te, eine war­me Wel­le der Dank­bar­keit über­spül­te ihn, und er ver­gaß sei­ne lose Zun­ge.

»Das war nicht der Rede wert«, sag­te er. »Je­der an­de­re hät­te ge­nau das­sel­be ge­tan. Die Row­dys woll­ten Spek­ta­kel ma­chen, und Ar­thur hat­te ih­nen nichts ge­tan. Sie gin­gen auf ihn los, und da ging ich wie­der auf sie los und ver­mö­bel­te ein paar von ih­nen. Bei der Ge­le­gen­heit ging wohl auch ein biss­chen Haut von mei­nen Hän­den, zu­gleich mit ein paar Zäh­nen von den Ker­len. Ich freue mich heut noch dar­über. Wenn ich sehe …«

Er hielt inne, mit of­fe­nem Mun­de, wie er­schro­cken über sei­ne ei­ge­ne Ver­derb­nis und sei­ne Un­wür­dig­keit, die­sel­be Luft wie sie zu at­men. Und wäh­rend Ar­thur zum zwan­zigs­ten Mal sein Aben­teu­er mit den be­trun­ke­nen Row­dys auf der Fäh­re be­rich­te­te und er­zähl­te, wie Mar­tin Eden sich auf sie ge­stürzt und ihm ge­hol­fen hat­te, saß die­ser Mar­tin Eden mit ge­run­zel­ter Stirn da, dach­te, dass er sich jetzt voll­kom­men lä­cher­lich ge­macht hät­te, und kämpf­te ver­bit­ter­ter als je mit der Fra­ge, wie er sich vor die­sen Leu­ten be­neh­men soll­te. Bis jetzt hat­te er wahr­haf­tig nicht viel Glück ge­habt. Er ge­hör­te nicht zu ih­rer Klas­se und sprach ihre Spra­che nicht, so er­klär­te er es sich selbst. Er könn­te nicht so tun, als ob er ih­res­glei­chen wäre. Eine sol­che Mas­ke­ra­de wür­de ihm miss­glücken, zu­mal jede Art Mas­ke­ra­de sei­nem We­sen fremd war. Ver­stel­lung oder List hat­ten kei­nen Teil an ihm. Was auch ge­sch­ah, er muss­te er selbst blei­ben. Er konn­te ihre Spra­che nicht spre­chen, aber das wür­de schon noch kom­men. Dazu war er fest ent­schlos­sen. In­zwi­schen aber muss­te er spre­chen, und zwar in sei­ner ei­ge­nen Spra­che, die er na­tür­lich dämp­fen muss­te, da­mit sie ih­nen ver­ständ­lich wur­de und sie nicht all­zu­sehr ver­letz­te. Fer­ner woll­te er nicht mehr durch schwei­gen­des Hin­neh­men so tun, als ken­ne er Din­ge, die er in Wirk­lich­keit nicht kann­te, und mehr­mals un­ter­brach er die bei­den Brü­der in ei­ner Un­ter­hal­tung, um zu er­fah­ren, was dies oder je­nes be­deu­te­te.

Er er­hielt einen Ein­blick in ein Wis­sen, das ihm un­be­grenzt zu sein schi­en. Was er sah, nahm greif­ba­re Ge­stalt an. Sei­ne un­er­hör­te Ein­bil­dungs­kraft half ihm da­bei. In der Werk­statt sei­ner Ge­dan­ken wur­den die ver­schie­de­nen Zwei­ge der Wis­sen­schaft, wur­de der Wald der Kennt­nis­se zu ei­ner gan­zen Land­schaft. Er sah die Wege mit grü­nen Blät­tern und Lich­tun­gen, über­flu­tet von ge­dämpf­tem Licht und hel­len Son­nen­fle­cken. Die Ein­zel­hei­ten in der Fer­ne wa­ren ver­schlei­ert und von ei­nem dun­kel­vio­let­ten Ne­bel ver­wischt, da­hin­ter aber lag der Zau­ber des Un­be­kann­ten, die zwin­gen­de Macht der Ro­man­tik. Es wirk­te auf ihn wie Wein. Hier gab es Aben­teu­er. Hier gab es et­was, das Kopf und Hän­de ver­rich­ten konn­ten, hier war eine Welt zu be­sie­gen, und so­gleich tauch­te vor dem Hin­ter­grund sei­nes Be­wusst­seins der Ge­dan­ke auf, dass er sie­gen woll­te, um sie zu ge­win­nen, die­se li­li­en­wei­ße Elfe, die ne­ben ihm saß.

Die leuch­ten­de Vi­si­on wur­de von Ar­thur zer­ris­sen, der den gan­zen Abend ver­sucht hat­te, den wil­den Mann zum Aus­bruch zu brin­gen. Mar­tin Eden er­in­ner­te sich sei­nes Ent­schlus­ses. Zum ers­ten Mal wur­de er der ech­te Mar­tin Eden, an­fangs be­wusst und mit vol­ler Über­le­gung; bald aber ver­gaß er al­les über der Freu­de, zu schaf­fen und das Le­ben, wie er es kann­te, vor den Au­gen der Zu­hö­rer er­ste­hen zu las­sen.

Er hat­te sich auf dem Schmugg­ler­scho­ner »Hal­cy­on« be­fun­den, der von ei­nem Zoll­kut­ter ge­fasst wur­de. Er sah mit of­fe­nen Au­gen und konn­te er­zäh­len, was er sah. Er ließ das wo­gen­de Meer und die Män­ner und Schif­fe des Mee­res vor ih­nen er­ste­hen. Er teil­te ih­nen von sei­ner Ein­bil­dungs­kraft mit, bis sie mit sei­nen Au­gen sa­hen, was er ge­se­hen hat­te. Aus der un­ge­heu­ren Men­ge von Ein­zel­hei­ten wähl­te er mit dem si­che­ren Griff des Künst­lers, zeich­ne­te Bil­der des Le­bens, die von Licht und Far­ben flamm­ten, und blies ih­nen Be­we­gung ein, so­dass sei­ne Zu­hö­rer von die­sem Strom ro­her Be­red­sam­keit, Be­geis­te­rung, Stär­ke und Macht ge­packt wur­den. Zeit­wei­lig er­schreck­te er sie durch die Le­ben­dig­keit der Er­zäh­lung und sei­ner Aus­drücke, aber auf Hef­tig­keit folg­te im­mer so­fort wie­der Schön­heit, und die Tra­gö­die wur­de be­lebt durch Hu­mor und den ei­gen­ar­ti­gen sprin­gen­den Ge­dan­ken­gang des See­manns.

Und wäh­rend er sprach, sah das jun­ge Mäd­chen ihn mit großen er­schro­cke­nen Au­gen an. Sein Feu­er durch­glüh­te sie. Sie dach­te, ob sie wohl ihr gan­zes Le­ben ge­fro­ren hät­te. Sie sehn­te sich da­nach, sich an die­sen bren­nen­den, flam­men­den Mann zu leh­nen, der wie ein Vul­kan Stär­ke und Ge­sund­heit aus­spie. Sie fühl­te, dass sie sich an ihn leh­nen muss­te, und wi­der­stand der Ver­su­chung nur mit Mühe. Aber sie hat­te auch eine ent­ge­gen­ge­setz­te Emp­fin­dung: sie schau­der­te vor ihm zu­rück. Sie wur­de ab­ge­sto­ßen von den zer­ris­se­nen Hän­den, die von Ar­beit be­su­delt wa­ren, als hät­te al­ler Schmutz des Le­bens das Fleisch ver­seucht, von dem ro­ten Strich vom Kra­gen und den schwel­len­den Mus­keln. Sei­ne Ro­heit er­schreck­te sie. Je­des rohe Wort ver­letz­te ihr Ohr, je­der der­be Satz war ein Hohn auf ihre See­le. Aber im­mer wie­der fühl­te sie, wie er sie an­zog, bis ihr schi­en, dass er schlecht sein müss­te, um eine sol­che Macht über sie aus­zuü­ben. Al­les, was am tiefs­ten in ihr wur­zel­te, droh­te zu­sam­men­zu­stür­zen. Der Schim­mer von Ro­man­tik und Aben­teu­ern, der über ihm lag, häm­mer­te ge­gen al­les Her­kömm­li­che. Sei­nen leicht be­sieg­ten Ge­fah­ren und sei­nem stets be­rei­ten La­chen ge­gen­über war das Le­ben nicht mehr et­was Erns­tes mit Mühe und Zwang, son­dern ein Spiel­zeug, das man nach Be­lie­ben dre­hen und wen­den, das man nach­läs­sig le­ben und nach­läs­sig bei­sei­te­wer­fen konn­te. »Des­halb spie­le!« rief es in ihr. »Leh­ne dich an ihn, wenn du Lust dazu hast, und lege ihm dei­ne Hän­de um den Hals!« Sie hät­te gern die­sen wil­den Ge­dan­ken ver­bannt, und sie such­te ver­ge­bens, ihre ei­ge­ne Rein­heit und Kul­tur, al­les, was sie war, in die Wag­scha­le zu wer­fen ge­gen das, was er nicht war. Sie sah auf die an­de­ren und be­merk­te, dass sie ihn auf­merk­sam und hin­ge­ris­sen an­blick­ten, und sie wür­de ganz den Mut ver­lo­ren ha­ben, hät­te sie nicht den Schre­cken in den Au­gen ih­rer Mut­ter ge­se­hen – einen Schre­cken, der halb Be­geis­te­rung, aber den­noch Schre­cken war. Die­ser Mann aus der äu­ßers­ten Fins­ter­nis war schlecht. Ihre Mut­ter sah es, und ihre Mut­ter hat­te recht. Sie woll­te sich in die­ser Sa­che wie im­mer auf das Ur­teil ih­rer Mut­ter ver­las­sen. Das Feu­er, das aus ihm lo­der­te, wärm­te nicht mehr, ihre Angst vor ihm war nicht mehr so über­wäl­ti­gend.

Spä­ter setz­te sie sich an den Flü­gel und spiel­te für ihn, nur für ihn, ag­gres­siv, mit dem un­kla­ren Ziel, den un­über­brück­ba­ren Sch­lund zwi­schen ih­nen zu be­to­nen. Ihre Mu­sik war eine Keu­le, die sie bru­tal über sei­nem Haup­te schwang, aber wenn sie ihn auch be­täub­te und in den Staub warf, so wirk­te sie doch an­spor­nend auf ihn. Er starr­te sie ehr­fürch­tig an. In sei­nem Ge­müt wie in dem ih­ren er­wei­ter­te sich der Sch­lund zwi­schen ih­nen; aber noch fes­ter wur­de sein ehr­gei­zi­ger Ent­schluss, die­sen Sch­lund zu über­brücken. Sei­ne Ge­füh­le wa­ren je­doch zu wirr, als dass er den gan­zen Abend hät­te ru­hig da­sit­zen und auf den klaf­fen­den Sch­lund star­ren kön­nen, na­ment­lich wenn mu­si­ziert wur­de. Er war merk­wür­dig emp­fäng­lich für Mu­sik. Sie war wie ein be­rau­schen­der Trank, der sei­ne Ge­füh­le zu un­ge­wohn­ter Kühn­heit an­sporn­te, wie ein Gift, das sich in sei­ne Fan­ta­sie schlich und sie bis in die Wol­ken hob. Mu­sik ver­jag­te die schmut­zi­ge Wirk­lich­keit, er­füll­te sein Ge­müt mit Schön­heit, ließ die Ro­man­tik los und be­schwing­te sie. Er ver­stand die Mu­sik, die sie spiel­te, nicht. Sie war ganz an­ders als die, die er kann­te: das häm­mern­de Kla­vier und der Lärm der Horn­blä­ser in den Tanz­lo­ka­len. Aber er hat­te durch die Bü­cher eine Vor­stel­lung von die­ser Mu­sik, und er nahm sie da­her fast wie eine Art Glau­bens­satz hin, war­te­te ge­dul­dig auf die takt­fes­ten Töne ei­nes be­stimm­ten Rhyth­mus und wur­de all­mäh­lich ganz ver­wirrt, weil die Mo­ti­ve so oft wech­sel­ten. So­bald er die Me­lo­die er­fasst hat­te und sei­ne Fan­ta­sie durch den Raum schwei­fen ließ, ver­schwan­den die Mo­ti­ve im­mer wie­der in ei­nem wir­ren Cha­os von Tö­nen, von de­nen er sich kei­ne Vor­stel­lung ma­chen konn­te, und sei­ne Fan­ta­sie stürz­te schwer zu Bo­den.

Ein­mal fiel ihm ein, dass dies ein be­wus­s­ter Ver­such sein moch­te, ihn zu­rück­zu­wei­sen. Er fühl­te ihre Ab­wehr und be­müh­te sich, die Bot­schaft zu er­ra­ten, die ihre Hän­de durch die Tas­ten aus­drück­ten. Dann aber schob er die­sen Ge­dan­ken als un­wür­dig und un­mög­lich von sich und über­ließ sich ganz der Mu­sik. Wie­der über­kam ihn das alte Ent­zücken. Sei­ne Füße wa­ren nicht mehr erd­ge­bun­den, sein Fleisch wur­de Geist. Vor und hin­ter sei­nem Blick ent­zün­de­te sich ein mäch­ti­ger Strah­len­kranz. Er ver­gaß sei­ne Um­ge­bung und hob sich im Flu­ge über eine Welt, die ihm so teu­er war. In dem Traum­bild, das vor sei­nen Au­gen auf­tauch­te, misch­te sich Be­kann­tes mit Un­be­kann­tem. Er er­reich­te frem­de Hä­fen in son­ni­gen Län­dern und be­trat Markt­plät­ze bar­ba­ri­scher Völ­ker, die kein Mensch je ge­se­hen hat­te. Er konn­te den Duft der Ge­wür­zin­seln spü­ren, wie er ihn in war­men stil­len Näch­ten auf See ge­spürt hat­te, er be­geg­ne­te dem Pas­sat der lan­gen Tro­pen­ta­ge, dem Pas­sat, der die Pal­men­we­del der Koral­len­in­seln in das tür­kis­blaue Meer hin­ter ihm ver­senk­te und die Pal­men­we­del der Koral­len­in­seln aus dem tür­kis­blau­en Meer vor ihm hob. Alle die­se Bil­der ka­men und schwan­den mit der Schnel­lig­keit des Ge­dan­kens. Im einen Au­gen­blick saß er ritt­lings auf ei­nem Prä­rie­hengst und flog durch das mäch­ti­ge Wüs­ten­land mit sei­nen Mär­chen­far­ben; im nächs­ten starr­te er durch flim­mern­den Dunst auf die Grä­ber des To­ten­tals oder ru­der­te über ein halb zu­ge­fro­re­nes Welt­meer, aus dem sich klei­ne Eis­in­seln ho­ben und in der Son­ne glit­zer­ten. Er lag am Ufer ei­ner Koral­len­in­sel, de­ren Ko­ko­spal­men dicht an der Bran­dung mit ih­ren Moll­tö­nen wuch­sen. Auf dem Rumpf ei­nes al­ten Wracks brann­ten blaue Flam­men, und in ih­rem Schim­mer tanz­ten die Hu­la­tän­zer zu bar­ba­ri­schen Lie­bes­lie­dern, klim­pern­den Uku­le­les und ras­seln­den Tom-Toms. Es war eine sin­nen­er­re­gen­de tro­pi­sche Nacht. Im Hin­ter­grund hob sich die dunkle Sil­hou­et­te ei­nes vul­ka­ni­schen Kra­ters vom Ster­nen­him­mel ab. Dar­über stand ein blas­ser Halb­mond, und ganz un­ten am Ho­ri­zont flamm­te das Kreuz des Sü­dens.

Er war wie eine Har­fe; sein gan­zes Le­ben, wie er es bis­her ge­kannt, und wie es sich in sei­nem Be­wusst­sein ab­ge­zeich­net hat­te, bil­de­te die Sai­ten der Har­fe, und die wo­gen­den Töne der Mu­sik wa­ren der Wind, der ge­gen die Sai­ten schlug und sie un­ter Erin­ne­run­gen und Träu­men schwin­gen ließ. Er fühl­te nicht nur. Sei­ne Fä­hig­keit zu füh­len nahm Form, Far­be und Strah­len­kranz an und ver­kör­per­te mit er­ha­be­ner, zau­be­ri­scher Kraft, was sei­ne Ein­bil­dungs­kraft wag­te. Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft wur­den eins, und er schwang sich wei­ter über die große war­me Welt, durch Aben­teu­er und edle Ta­ten, hin zu ihr – ja, und zu­sam­men mit ihr, die er ge­win­nen woll­te; er schlang sei­nen Arm um sie und trug sie im Flu­ge durch das Reich sei­ner Fan­ta­sie.

Und als sie ihm über die Schul­ter hin­weg einen ver­stoh­le­nen Blick zu­warf, sah sie et­was von al­le­dem auf sei­nem Ge­sicht. Es war ein ver­klär­tes Ge­sicht mit großen, leuch­ten­den Au­gen, die durch den Zau­ber der Töne und hin­ter den klop­fen­den Puls­schlag des Le­bens in die mäch­ti­gen Phan­to­me des Geis­tes sa­hen. Sie er­schrak. Der der­be, lin­ki­sche Bur­sche war ver­schwun­den. Die schlech­te Hal­tung, die zer­schramm­ten Hän­de und das son­nen­ver­brann­te Ge­sicht wa­ren noch da, aber sie gli­chen ei­nem Ge­fäng­nis­git­ter, hin­ter dem eine große See­le sprach­los starr­te, weil die Lip­pen un­fä­hig wa­ren, ihr Aus­druck zu ver­lei­hen. Sie sah das al­les nur einen flüch­ti­gen Au­gen­blick; dann sah sie wie­der den lin­ki­schen Bur­schen und lach­te über ihre ei­ge­ne Ein­bil­dung. Aber den Ein­druck die­ses flüch­ti­gen Bil­des konn­te sie nicht ab­schüt­teln, und als der Zeit­punkt kam, da er sich, stol­pernd und un­si­cher, ver­ab­schie­de­te, lieh sie ihm den Band Swin­bur­ne, in dem er ge­blät­tert hat­te, und einen Band Brow­ning – sie hör­te ge­ra­de Vor­le­sun­gen über Brow­ning. Wie er, er­rö­tend und sei­nen Dank stam­melnd, da­stand, war er ein rich­ti­ger Kna­be, und eine Woge von fast müt­ter­li­chem Mit­leid durch­fuhr sie. Sie dach­te we­der an den lin­ki­schen Bur­schen, noch an die ge­fan­ge­ne See­le oder den Mann, der sie mit all sei­ner Männ­lich­keit an­ge­st­arrt, der sie ent­zückt und doch ab­ge­schreckt hat­te. Sie sah nur einen großen Kna­ben, der ihre Hand mit ei­ner Hand drück­te, so hart von Ar­beit, dass sie sich wie ein Reib­ei­sen an­fühl­te und ihr die Haut kratz­te, einen großen Kna­ben, der sto­ckend und ab­ge­dro­schen sag­te:

»Die größ­te Stun­de mei­nes Le­bens. Wis­sen Sie, ich bin so was nicht ge­wohnt …« Er sah sich hilf­los um. »Leu­te und Häu­ser wie dies. Das ist mir al­les neu, und es ge­fällt mir.«

»Dann be­su­chen Sie uns hof­fent­lich wie­der«, sag­te sie, als er ih­ren Brü­dern gute Nacht sag­te.

Er setz­te die Müt­ze auf, stürz­te ver­zwei­felt zur Tür hin­aus und war ver­schwun­den.

»Nun, wie fin­dest du ihn?« frag­te Ar­thur.

»Er ist äu­ßerst in­ter­essant – wie ein fri­scher Luft­zug«, ant­wor­te­te sie. »Wie alt ist er?«

»Zwan­zig – fast ein­und­zwan­zig. Ich frag­te ihn heu­te Nach­mit­tag. Ich hät­te ihn nicht für so jung ge­hal­ten.«

Und ich bin drei Jah­re äl­ter, dach­te sie, wäh­rend sie ih­ren Brü­dern den Gu­te­nacht­kuss gab.

3

Wäh­rend Mar­tin Eden die Trep­pe hin­un­ter­ging, fuhr sei­ne Hand in die Rock­ta­sche. Sie kam mit ei­nem Stück brau­nem Reis­pa­pier und ei­nem biss­chen me­xi­ka­ni­schen Ta­bak her­aus, und er roll­te sich ge­wandt eine Zi­ga­ret­te. Er zog den ers­ten Zug tief in die Lun­ge ein und blies ihn lang­sam aus. »Bei Gott!« sag­te er laut, mit Ehr­furcht und Er­stau­nen in der Stim­me. »Bei Gott!« wie­der­hol­te er. Und er mur­mel­te noch ein­mal: »Bei Gott!« Dann hob er die Hand zum Kra­gen, riss ihn ab und stopf­te ihn in die Ta­sche. Ein kal­ter Staubre­gen fiel, aber er ent­blö­ßte den Kopf und knöpf­te sich die Wes­te auf, wäh­rend er mit ei­ner herr­li­chen Sorg­lo­sig­keit durch die Stra­ßen schlen­der­te. Er be­merk­te kaum, dass es reg­ne­te. Er be­fand sich in Ver­zückung, träum­te hohe Träu­me und durch­leb­te in Ge­dan­ken noch ein­mal das so­eben Er­leb­te.

End­lich hat­te er das Weib ge­trof­fen – das Weib, aus dem er sich bis­her so we­nig ge­macht hat­te, weil es ihm nicht ge­ge­ben war, an Wei­ber zu den­ken, wenn er auch da­von ge­träumt hat­te, ih­nen ein­mal in der Zu­kunft zu be­geg­nen. Er hat­te ne­ben ihr bei Ti­sche ge­ses­sen. Er hat­te ihre Hand in der sei­nen ge­fühlt, hat­te ihr in die Au­gen ge­blickt und den Schim­mer ei­ner schö­nen See­le ge­se­hen – die doch nicht schö­ner war als die Au­gen, aus de­nen sie leuch­te­te, oder der Kör­per, der ihr Form ver­lieh. Er dach­te nicht an ih­ren Kör­per als sol­chen, was neu für ihn war, denn bei den Frau­en, die er bis­her ge­kannt, hat­te er an nichts an­de­res ge­dacht. Aber mit ihr war es ganz an­ders. Er konn­te sich nicht vor­stel­len, dass ihr Kör­per den Krank­hei­ten und Schwä­chen des Flei­sches un­ter­wor­fen war. Ihr Kör­per war eher wie ein Ge­wand ih­res Geis­tes. Er war eine Auss­trah­lung ih­res Geis­tes, eine rei­ne, schö­ne Kris­tal­li­sie­rung des Gött­li­chen in ih­rem We­sen. Dies Ge­fühl des Gött­li­chen er­schreck­te ihn. Es riss ihn aus sei­nen Träu­men und brach­te ihn zu erns­tem Nach­den­ken. Nie zu­vor hat­te er auch nur in Ge­dan­ken einen Hauch des Gött­li­chen emp­fun­den, nie hat­te er an das Gött­li­che ge­glaubt. Er war stets Frei­den­ker ge­we­sen und hat­te in al­ler Gut­mü­tig­keit über die »Him­mels­lot­sen« und ihr Ge­re­de von der Uns­terb­lich­keit der See­le ge­spot­tet. Ein Le­ben nach dem Tode hat­te er ge­leug­net; es gab nur den Au­gen­blick, das Jetzt, und dann ewi­ge Fins­ter­nis. Was er aber in ih­ren Au­gen ge­se­hen hat­te, war die See­le – die un­s­terb­li­che See­le, die nie ster­ben konn­te. Kein Mann, den er bis­her ge­kannt hat­te, und kei­ne Frau hat­ten ihm je eine Bot­schaft von der Uns­terb­lich­keit ge­bracht. Sie aber hat­te es ge­tan. Sie hat­te sie ihm zu­ge­flüs­tert im ers­ten Au­gen­blick, als sie ihn an­ge­schaut. Wäh­rend er durch die Stra­ßen schritt, stand ihr Ge­sicht leb­haft vor ihm, blass und ernst, süß und vol­ler Ge­fühl, mit ei­nem Lä­cheln, so mit­leids­voll und sanft, wie nur die se­li­gen Geis­ter lä­cheln kön­nen, und so rein, wie er es nie für mög­lich ge­hal­ten. Ihre Rein­heit traf ihn wie ein Schlag. Sie er­schreck­te ihn. Er hat­te Gu­tes und Bö­ses ge­kannt, aber an Rein­heit als We­sens­aus­druck hat­te er nie ge­dacht. Und jetzt hat­te er bei ihr eine Rein­heit ge­se­hen, die der höchs­te Grad von Güte und Un­schuld war, und de­ren Sum­me das ewi­ge Le­ben aus­mach­te.

Und so­fort sporn­te sein Ehr­geiz ihn an, nach die­sem ewi­gen Le­ben zu grei­fen. Er war nicht ein­mal wür­dig, ihr das Schuh­band zu lö­sen – das wuss­te er; es war ein Wun­der und ein fan­tas­ti­sches Spiel des Schick­sals, das ihm an die­sem Abend er­mög­licht hat­te, sie zu se­hen, mit ihr zu­sam­men zu sein und zu spre­chen. Es war Zu­fall, nicht sein Ver­dienst. Er ver­dien­te ein sol­ches Glück nicht. Er war ganz re­li­gi­ös ge­stimmt. Er war be­schei­den und de­mü­tig, von der Er­kennt­nis sei­ner ei­ge­nen Klein­heit und Un­wür­dig­keit er­füllt. Es war die Stim­mung, die Sün­der zum Beicht­stuhl treibt. Er war von sei­ner Sün­de über­zeugt. Aber wie die Ge­rin­gen und De­mü­ti­gen, wenn sie Buße tun, einen strah­len­den Schim­mer ih­rer ei­ge­nen künf­ti­gen Grö­ße se­hen, so sah auch er einen Schim­mer des­sen, was er durch ih­ren Be­sitz er­rei­chen wür­de. Die­ser Ge­dan­ke an ih­ren der­eins­ti­gen Be­sitz war je­doch dun­kel und ver­schwom­men und hat­te nichts mit der Art Be­sitz zu tun, die er bis­her ge­kannt hat­te. Sein Ehr­geiz hob sich in wahn­sin­ni­ge Hö­hen, und er sah, wie er ge­mein­sam mit ihr sich zu die­sen Hö­hen em­por­kämpf­te, sei­ne Ge­dan­ken mit ihr teil­te und sich mit ihr über schö­ne, edle Din­ge freu­te. Es war ein Be­sitz der See­le, von dem er träum­te, von al­ler ir­di­schen Plump­heit ge­rei­nigt, eine geis­ti­ge Ka­me­rad­schaft, der sei­ne Ge­dan­ken kei­ne Form ver­lei­hen konn­ten. Er dach­te über­haupt nicht. Das Ge­fühl trat an die Stel­le des Den­kens, und nie ge­kann­te Stim­mun­gen lie­ßen ihn be­ben und zit­tern, bis er ent­zückt auf ei­nem Meer von Ge­füh­len trieb, die, selbst er­ha­ben und ge­läu­tert, ihn auf die höchs­ten Zin­nen des Le­bens führ­ten.

Er schwank­te wie ein Be­trun­ke­ner und mur­mel­te laut und be­geis­tert: »Bei Gott! Bei Gott!«

An ei­ner Stra­ßen­e­cke sah ihn ein Schutz­mann miss­trau­isch an und be­merk­te sei­nen rol­len­den See­manns­gang.

»Wo hast du dir den ge­holt?« frag­te der Schutz­mann. Da war Mar­tin Eden auf die Erde zu­rück­ge­kehrt. Sein Or­ga­nis­mus war wie ein leicht­flüs­si­ger Stoff, der so­fort alle Win­kel und Rit­zen fül­len konn­te. Der An­ruf des Schutz­manns brach­te ihn so­fort zu sich, und er er­fass­te die Si­tua­ti­on klar.

»Der ist nicht schlecht, was?« ant­wor­te­te er la­chend. »Ich wuss­te gar nicht, dass ich laut re­de­te.«

»Du wirst bald an­fan­gen zu sin­gen«, mein­te der Schutz­mann.

»Nein, das tue ich nicht. Gib mir ein Streich­holz, und dann fah­re ich mit der nächs­ten Stra­ßen­bahn nach Haus.«

Er zün­de­te sich sei­ne Zi­ga­ret­te an, sag­te gute Nacht und ging wei­ter. »Dem hab’ ich wohl einen Schre­cken ein­ge­jagt«, mur­mel­te er. »Der Blaue dach­te, ich sei be­trun­ken.« Er lä­chel­te und dach­te nach. »Das war ich wohl auch«, füg­te er hin­zu, »aber ich hät­te nicht ge­dacht, dass man das von ei­nem Frau­en­ge­sicht wer­den könn­te.«

Er stieg in eine Stra­ßen­bahn, die nach Ber­ke­ley ging. Sie war über­füllt mit jun­gen Bur­schen und Män­nern, die san­gen und lärm­ten und hin und wie­der ein Ge­brüll aus­stie­ßen. Er be­trach­te­te sie mit In­ter­es­se. Es wa­ren Stu­den­ten. Sie be­such­ten die­sel­be Uni­ver­si­tät wie Ruth, ge­hör­ten der­sel­ben so­zia­len Klas­se an wie sie, kann­ten sie viel­leicht, sa­hen sie je­den Tag, wenn sie Lust dazu hat­ten. Er wun­der­te sich, dass sie kei­ne Lust dazu hat­ten, dass sie heu­te hin­aus­fuh­ren, um sich zu be­lus­ti­gen, statt in ei­nem ehr­er­bie­ti­gen, be­wun­dern­den Kreis um sie zu sit­zen. Sei­ne Ge­dan­ken gin­gen wei­ter. Er be­merk­te einen jun­gen Mann mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen und hän­gen­den Lip­pen. Das ist ein Mist­kerl, dach­te er. An Bord ei­nes Schif­fes wür­de man ihn einen Schlei­cher, einen Wasch­lap­pen, ein Klatsch­weib ge­nannt ha­ben. Er, Mar­tin Eden, war ein bes­se­rer Mann als die­ser Bur­sche. Der Ge­dan­ke er­mu­tig­te ihn. Es war, als ob er ihn ihr nä­her­brach­te. Er be­gann sich mit den an­de­ren Stu­den­ten zu ver­glei­chen. Er war sich sei­nes Mus­kel­me­cha­nis­mus be­wusst und war über­zeugt, dass er ih­nen in kör­per­li­cher Be­zie­hung über­le­gen war. Aber ihre Köp­fe wa­ren mit ei­nem Wis­sen ge­füllt, das sie be­fä­hig­te, so zu spre­chen, wie sie zu spre­chen pfleg­te. Die­ser Ge­dan­ke ent­mu­tig­te ihn. Aber wozu hat man denn einen Kopf? frag­te er sich hef­tig. Was die ge­tan hat­ten, konn­te er auch tun. Sie hat­ten das Le­ben in Bü­chern stu­diert, wäh­rend er ge­nug zu tun ge­habt hat­te, das Le­ben selbst zu stu­die­ren. Sein Kopf war ge­nau so mit Wis­sen ge­füllt wie die ih­ren, es war nur eine an­de­re Art von Wis­sen. Wie vie­le von ih­nen konn­ten wohl einen Tal­jen­reep­kno­ten ma­chen, am Ru­der ste­hen oder Wa­che ge­hen? Sein Le­ben lag vor ihm aus­ge­brei­tet in ei­ner gan­zen Rei­he von Bil­dern, Bil­dern von Ge­fahr, Kühn­heit, Müh­sal und Fleiß. Er er­in­ner­te sich sei­ner Fehl­schlä­ge bei sei­nen Ver­su­chen, sich Wis­sen zu ver­schaf­fen. So­viel hat­te er je­den­falls doch ge­won­nen: sie muss­ten spä­ter auch hin­aus ins Le­ben und die Tret­müh­le durch­ma­chen, wie er es ge­tan. Schön! Wäh­rend sie da­mit be­schäf­tigt wa­ren, konn­te er die an­de­re Sei­te des Le­bens aus Bü­chern ler­nen.

Als der Wa­gen die schwach be­bau­te Zone durch­fuhr, die Oa­k­land und Ber­ke­ley trenn­te, hielt er Aus­schau nach ei­nem wohl­be­kann­ten zwei­stö­cki­gen Ge­bäu­de, das an der Stra­ßen­front das stol­ze Schild »Hig­gin­bo­thams Bar-und Kas­sa­ge­schäft« trug. An die­ser Ecke stieg Mar­tin Eden aus. Er starr­te einen Au­gen­blick auf das Schild. Es ver­kün­de­te ihm mehr als die Buch­sta­ben selbst. Es war ge­ra­de, als ob er hin­ter die­sen Buch­sta­ben eine klein­li­che, egois­ti­sche und tückisch be­rech­nen­de Per­sön­lich­keit sähe. Ber­nard Hig­gin­bo­tham war mit sei­ner Schwes­ter ver­hei­ra­tet, und er kann­te ihn gut. Er öff­ne­te die Haus­tür mit ei­nem Drücker und stieg die Trep­pe hin­auf zum zwei­ten Stock. Hier wohn­te sein Schwa­ger. Das Ge­schäft be­fand sich un­ten. Ein Duft von wel­kem Ge­mü­se hing in der Luft. Auf dem dunklen Vor­platz stol­per­te er über einen Spiel­zeug­wa­gen, den ei­nes von sei­nen zahl­rei­chen Nef­fen oder Nich­ten hat­te ste­hen­las­sen, und fiel mit ei­nem Krach, der im gan­zen Hau­se wi­der­hall­te, ge­gen eine Tür. »Der Kni­cker!« dach­te er. »Er ist zu gei­zig, um für zwei Cent Gas zu bren­nen. Lie­ber kann sich sein Pen­sio­när den Hals bre­chen.«

Schließ­lich fand er den Tür­griff und be­trat ein er­leuch­te­tes Zim­mer, in dem sei­ne Schwes­ter und Ber­nard Hig­gin­bo­tham sa­ßen. Sie war da­bei, ein paar alte Ho­sen ih­res Man­nes zu fli­cken, und er re­kel­te sei­nen ma­ge­ren Kör­per auf ei­nem Stuhl, wäh­rend sei­ne Füße in ganz aus­ge­tre­te­nen Filz­pan­tof­feln von ei­nem zwei­ten Stuhl her­un­ter­bau­mel­ten. Er blick­te mit ei­nem Paar dunk­ler, un­zu­ver­läs­si­ger, ste­chen­der Au­gen über den Rand sei­ner Zei­tung hin­weg. Mar­tin Eden konn­te ihn nie an­se­hen, ohne sich von ei­ner Art Wi­der­wil­len ge­packt zu füh­len. Was sei­ne Schwes­ter an die­sem Man­ne sah, ging über sei­nen Ver­stand. Auf ihn wirk­te er stets wie ein gif­ti­ges Ge­würm, und er fühl­te im­mer die Ver­su­chung, ihn un­ter sei­nem Ab­satz zu zer­tre­ten. »Ei­nes schö­nen Ta­ges zer­schla­ge ich ihm doch die Frat­ze«, sag­te er oft bei sich, um sich dar­über zu trös­ten, dass er sich die Exis­tenz die­ses Man­nes ge­fal­len las­sen muss­te. Die wie­sel­ar­ti­gen, grau­sa­men Au­gen sa­hen ihn ge­reizt an.

»Na?« frag­te Mar­tin. »Heraus da­mit!«

»Ich hab’ erst vo­ri­ge Wo­che die Tür strei­chen las­sen«, sag­te Ber­nard Hig­gin­bo­tham in halb jam­mern­dem, halb ge­bie­te­ri­schem Ton, »und du weißt, was Ge­werk­schafts­löh­ne sind. Du könn­test ger­ne et­was vor­sich­ti­ger sein.«