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Martin Salander ist der letzte Roman Gottfried Kellers. Er schildert einerseits den Konflikt zwischen dem windigen Wohlwend und dem braven Salander, andererseits Martin Salanders Kampf um die Existenz seiner Familie, seine Frühlingsgefühle, die ihm sein Sohn ohne Wissen darum zerstört und seine Liebe zu seiner Frau. Im Hintergrund steht die Staatswerdung der modernen Eidgenossenschaft. Je nach Leseinteresse kann sie ohne Weiteres nach vorne rücken.
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Gottfried Keller
Martin Salander
Roman
Ein noch nicht bejahrter Mann, wohlgekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die früheren neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand.
Die reichgegliederte, kaum zu übersehende Steinmasse leuchtete auch so still prächtig in der Nachmittagssonne, daß der Mann wie verzückt hinsah, bis er von dem Verkehrstrubel unsanft gestört wurde und das Feld räumte. Aber der erhobene Kopf, die an der Hüfte gelind sich hin und herwiegende Reisetasche ließen erkennen, wie er vom Schwunge der Gedanken bewegt, von Genugtuung erfüllt dahinschritt, um Weib und Kinder aufzusuchen, wo er sie vor Jahren gelassen. Jedoch vergeblich forschte er zwischen der rastlosen Überbauung des Bodens nach Spuren früherer Pfade, die sonst zwischen Wiesen und Gärten schattig und freundlich hügelan geleitet hatten. Denn diese Pfade lagen auch weiterhin unter staubigen oder mit hartem Kies beschotterten Fahrstraßen begraben. Obgleich das alles seine Bewunderung stetig erhöhte, war er endlich doch angenehm überrascht, als er unvermerkt, um eine Ecke biegend, sich in einen Häuserwinkel versetzt fand, den er augenblicklich an seiner verjährten ländlichen Bauart wiedererkannte. Die vorspringenden Dächer, das rote Balkenwerk, die kleinen Vorgärtchen waren die nämlichen, wie seit Menschengedenken.
»Da ist ja der Zeisig!« rief der Wandersmann, indem er stillstand und mit warmem Heimatgefühl die alte Lokalität betrachtete, »wahrhaftig der Zeisig! Im Zeisig, heißt es hier! Wer kann sagen, warum einem eine solche Sache und ein solches Wort während sieben Jahren nicht ein einziges Mal eingefallen ist, und haben wir doch als Schüler hier so schönen Apfelmost getrunken, wenn wir einen Batzen besaßen! Und der alte Brunnen steht auch noch, mit welchem man den Zeisigbauer aufzog, daß er Most und Milch daraus speise!«
In der Tat sprudelte aus der uralten Holzsäule das klare Bergwasser in denselben Trog, wie ehemals, und zwar durch den gleichen abgesägten Flintenlauf, der statt einer eisernen Brunnenröhre darin steckte. Diese Entdeckung erregte dem Mann eine neue Begeisterung.
»Sei mir gegrüßt, ehrwürdiges Zeichen friedlicher Wehrkraft!« dachte er halblaut; »dies Rohr, das einst Feuer gesprüht, spendet das lautere Quellwasser für Mensch und Tier! Aber schon hängt in jedem Hause, wie ich vernehme, das gezogene Gewehr und harrt der ernsten Prüfung; möge sie der Heimat lange erspart bleiben!«
In diesem Augenblicke näherte sich ein Trupp spielender Kinder dem Brunnen, kleines Volk von zwei bis sechs Jahren. Letzteren Alters konnten zwei Knaben und überdies Zwillinge sein, weil sie genau dieselbe Größe, ganz ähnlich runde Köpfe mit dicken Backen und vor den Bäuchen aus gleichem Wachstuch geschnittene, mit Blümchen bedruckte Schürzen aufwiesen, offenbar ebensowohl als Auszeichnung wie zum Schutze der Kleider. Etwas seitwärts stand einsam ein bleicher Junge, der seinen achten Sommer zählen mochte und Anlaß zu einer kleinen Begebenheit bot, welche die Aufmerksamkeit des heimkehrenden Mannes von dem alten Flintenlauf ablenkte.
Einer der beiden Schurzträger rief nämlich den einsamen Jungen hochmütig an: »Was tust du denn hier? Was willst du?«
Als der Angerufene nicht antwortete und nur melancholisch herüberblickte, trat der andere Zwilling, die Hände auf dem Rücken, den beschürzten Bauch vorstreckend, näher hin und sagte patzig: »Ja, auf was wartest du hier?«
»Ich warte auf meine Mutter!« erwiderte nun der Junge, unsicher werdend, ob er das Recht habe, dortzustehen. Der andere aber versetzte trocken und verächtlich wie ein Alter: »So, du hast eine Mutter?« während sein Bruder laut auflachte und schrie: »Ha, ha! Der hat eine Mutter!«
Sogleich sang der ganze Kinderchor mit drollig nachgeahmtem Gelächter: »Der hat eine Mutter!«
Und nie hörte man ein fröhlicheres Lachen so kleiner Leute. Als ob das lustigste Ereignis sie königlich erheitere, holten sie immer ein neues »Hahaha« aus der Tiefe ihrer arglosen Kinderherzchen herauf und standen dabei im Kreise beisammen, innerhalb dessen ein zweijähriges Watschelbübchen, indem es sich mit den fetten Händchen die Seiten hielt, wiederholte: »O! eine Moder hat der!«
Als dies Vergnügen, wie alles hienieden, allmählich sein Ende erreicht, fragte der mit der Reisetasche, der es wohl beobachtet hatte und nichts davon verstand, mit freundlichen Worten: »Warum lacht ihr Kinder so darüber, daß der Knabe eine Mutter hat? Habt ihr denn keine Mutter?«
»Nein! Wir sagen Mama!« erklärte der eine Rädelsführer der Kleinen, und gleichzeitig nahm er einen Tonscherben von dem Boden, schöpfte Wasser aus dem Brunnenbecken und schleuderte es auf den Inhaber einer Mutter. Der verlor aber die Geduld. Er sprang herbei, um den bösen Zwilling ein weniges zu zausen, worauf beide Brüder zu zetern und »Mama! Mama!« zu schreien begannen.
»Isidor! Julian! Was gibt's denn, was habt ihr wieder?« ließ sich eine Stimme vernehmen, und aus einem der Häuser kam eine rüstige Frau, unzweifelhaft vom Waschzuber weg. Die feuchte Schürze war zurückgeschlagen, auf der einen Faust hielt sie einen modisch mit Blumen und Seide aufgeputzten Strohhut vor sich hin, während sie mit dem andern rotbraunen Arm den Schweiß von der Stirn zu wischen suchte und der ihr folgenden Putzmacherin schmälend zurief, der Hut sei nicht geraten, die Blumen stellten nichts Rechtes vor, sie wolle ebenso schöne und große, wie andere Frauenzimmer, und weiße Bänder statt der braunen. Sie wüßte nicht, warum sie nicht ebensogut weiße Bänder tragen dürfte, wie diese und jene, und wenn sie auch keine Rätin sei, so werde sie dereinst vielleicht eines oder zwei solcher Stücke zu Schwiegertöchtern bekommen!
Die Modistin, welche ihr den Hut inzwischen abgenommen, versetzte bescheiden schnippisch, es sei gut, daß die Bänder nicht schon weiß gewesen, sonst würden sie von den nassen Händen der Frau bereits verdorben sein, und es frage sich, ob diese befleckten braunen sauber herzustellen seien. Sie wollte sehen, was die Meisterin dazu sage. Hiermit legte sie den Hut wieder in die Schachtel, in der sie ihn hergetragen, und begab sich verdrießlich hinweg, indessen die Waschfrau ihr nachrief, sie solle nur machen, daß sie den Hut bis nächsten Sonntag erhalte, denn sie wolle damit zur Kirche gehen. Dann sah sie endlich nach ihren Buben Julian und Isidor, welche zu schreien nicht aufhörten, obgleich der fremde Knabe sich an seinen Standort zurückgezogen hatte.
»Was ist denn mit euch? Wer tut euch was?« rief sie, worauf jene schrien: »Der dort will uns hauen!«
Nun aber mischte sich der stets aufmerksame Wandersmann in den Handel und belehrte die Frau, die beiden Jungen hätten den andern zuerst mit Wasser begossen und ihn ausgelacht, weil er nur eine Mutter und keine Mama besitze.
»Das ist nicht schön von euch!« sagte die Frau mit milder Zurechtweisung zu ihren Sprößlingen; »er ist nicht schuld, wenn er arme oder ungebildete Eltern hat, und ihr könnt Gott danken, daß es euch besser geht!«
Der mit der Reisetasche konnte sich nicht enthalten, zu fragen, ob es denn hierzulande ein Zeichen von Armut oder Verwahrlosung sei, wenn unter dem Volke die Eltern noch Vater und Mutter genannt werden, und er tat diese Frage mit anständiger Wißbegier, ohne Spott, gewärtig, schon wieder etwas Neues, vielleicht Günstiges und Rühmliches zu erfahren. Die Frau aber sah ihn groß an, besann sich ein wenig, bis sie zu erkennen glaubte, daß es sich um einen unvorgesehenen unbefugten Angriff handle, und erwiderte alsdann mit geschärfter Betonung: »Wir sind hier nicht Volk, wir sind Leute, die alle das gleiche Recht haben, emporzukommen! Und alle sind gleich vornehm! Und für meine Kinder bin ich die Mama, damit sie sich nicht vor dem Herrenvolk zu schämen brauchen und einst aufrechten Hauptes durch die Welt gehen dürfen! Jede rechte Mutter hat die Pflicht, dafür zu sorgen, weil es Zeit ist!«
»Was machst du denn für einen Lärm, Frau?« sagte der hinzugekommene Mann derselben; er setzte einen großen Korb voll gelber Rübchen neben den Brunnen nieder, indem er beifügte: »Da ist Gemüse zu waschen! Ich will gleich das Beet umgraben und wieder ansäen; die Buben können das Zeug abspülen! Damit sie das Wasser im Trog nicht verunreinigen, gib ihnen einen Zuber, Frau, und achte doch darauf, daß dem Vieh das Trinkwasser nicht immer getrübt wird von den Kindern!«
Hierdurch schien die wackere Frau, in Gegenwart des Fremden, noch gereizter zu werden. Die Knaben seien jetzt ordentlich angezogen und sollen sich nicht schon wieder versauen! Sie wolle die Rübchen nachher schon abspülen, wozu noch alle Zeit sei, denn sie würden erst am nächsten Morgen geholt.
Und die Zwillinge riefen ihrerseits: »Vater, die Mama sagt, wir dürfen uns nicht versauen! Was sollen wir nun tun? Können wir laufen, wo wir wollen?«
Ohne die Antwort abzuwarten, sprangen sie mit den anderen Kindern davon; der Fremde aber, statt ihrem Beispiel zu folgen, blieb immer noch stehen, in Nachdenken verloren über die neue Tatsache, daß der Mann der Mama doch ein einfacher Vater sei vor seinen Kindern, dabei auch freilich nicht soviel zu gelten schien, wie jene.
In diesen Gedanken unterbrach ihn der Landwirt oder Gemüsegärtner und fragte: »Und was ist's mit dem Herrn hier, was wünscht er?«
»Er wird wohl nichts zu wünschen haben!« rief die Frau dazwischen; »er hat uns bloß Volk genannt und sich verwundert, wieso die Buben mir Mama rufen sollen!«
»Das war nicht so gemeint!« sagte der Fremde lächelnd, »ich habe mich ja im Gegenteil über die Verfeinerung der Sitte hierzulande gefreut, über die zunehmende Gleichheit der Bürger; gewahre nun aber doch, daß das Familienhaupt noch Vater genannt wird und nicht Papa! Wie darf ich mir nun das wieder erklären?«
Die Frau blickte ärgerlich auf ihren Mann, der ihr in diesem Punkte genugsam Verdruß gemacht haben mochte, und verhielt sich im übrigen still. Der Mann seinerseits betrachtete den Fremdling nun ebenfalls mit prüfendem Blicke, wie vorhin die Frau, und als er dessen offenes und gutmütiges Gesicht wahrnahm, ließ er sich zu einer vertraulichen Rede herbei: »Seht, guter Freund! Das ist eine Sache, wovon manches zu berichten wäre! Die Gleichheit ist allerdings vorhanden und alle streben wir aufwärts. Am einigsten sind die Weiber dahinter her; eine nach der andern nimmt jenen Titel an, wogegen wir Mannsleute bei unserer Hantierung dergleichen Zierat nicht brauchen können. Wir würden uns selbst auslachen, wenigstens einstweilen noch, und dann, was die Hauptsache ist, so würde man uns die Steuern hinaufschrauben, wenn wir den Papatitel annähmen. So hat der Herr Pfarrer in der Schulpflege zu verstehen gegeben, wo die Sache zur Sprache kam, weil ein Schulmeister einen Teil der Schüler mit Papa und Mama traktierte, wenn er von ihren Eltern zu sprechen hatte. Es waren dies natürlich solche Kinder, die schöne Geschenke brachten. Bei den Frauen, sagte der Pfarrer, habe das nicht soviel zu bedeuten, weil ihre Eitelkeit bekannt sei; wenn aber die Mannsbilder sich Papa rufen ließen, so urkundeten sie hiermit, daß sie sich zu den Wohlhabenden und Fürnehmen rechnen, und da sie ohnehin zu wenig versteuern, so würde man sie bald höher einzuschätzen wissen. Es wurde dann auch sofort allen sechs Lehrern strengstens befohlen, in der Schule von Gleichheits wegen das Wort Papa zu vermeiden und bei reich und arm nur Vater zu sagen!«
Die Frau war schon bei Anfang dieser Rede zornig in ihre Küche zurückgelaufen; der Landmann ging auch hastig seiner Wege, indem er sich besann, daß er noch genug zu tun und schon zu lang geschwatzt habe, und der Fremde stand allein auf dem stillen Platze. Erst jetzt las er an dem alten Hause die Inschrift »Gemüsegärtnerei und Milchwirtschaft von Peter Weidelich«. Also Weidelich heißen diese Leute, sprach er vor sich hin, ohne selbst darauf zu achten. Er rieb sich sacht ein wenig die Stirne, wie einer, der nicht recht weiß, wo er sich im Augenblick befindet, bis er sich besann, daß er ja noch höchstens zehn Minuten zu gehen brauche, um die Seinigen zu sehen. Doch wie er sich wandte und den Fuß ansetzte, fiel ihm eine Hand auf die Schulter und eine Stimme fragte: »Ist das nicht der Martin Salander?«
Er war es wirklich; denn er kehrte sich wie der Blitz um da er auf dem heimischen Boden zum ersten Male seinen Namen hörte und nun auch das erste bekannte Gesicht erblickte.
»Und du bist der Möni Wighart, wahrhaftig!« rief er. Beide schüttelten sich die Hände, einander aufmerksam, aber nicht unerfreut betrachtend als gute alte Freunde, von denen keiner dem andern etwas zu danken oder je etwas von ihm gewollt hatte. Das ist immer eine gute Begegnung an der Schwelle jeglicher Heimat.
Der genannte Möni oder Salomon schien um zehn Jahre älter als Herr Martin Salander, sah aber noch so frisch und sauber mit seinem Schnurr- und Backenbärtchen aus, wie ehemals, und trug denselben Rohrstock mit vergoldetem Hundekopf, wie vor zwanzig Jahren. Mit allen ordentlichen Leuten stand er auf Du und Du, obgleich keiner deutlich wußte, seit wann. Trotzdem hatte er nie einen Feind; denn er war für jeden, der ihn traf, ein Ruhepunkt und eine Pause in den Sorgen und Gedanken, die ihn bewegten, oder auch, wenn der Betreffende just zerstreut dahintrieb, ein kommlicher Anhalt zur Sammlung.
»Martin Salander! Wer hätte das gedacht! Und seit wann bist du wieder im Land? Oder kommst du erst?« fragte er abermals.
»Soeben komm ich vom Bahnhof!« war die Antwort.
»Was du sagst! Ich komme doch auch daher, trinke alle Tage meinen Kaffee dort und sehe, wer abgeht und ankommt, und habe dich nicht bemerkt! Der Tausend noch einmal! So so, da ist der Martin Salander wieder! Nicht wahr, du kommst geradeswegs aus Amerika?«
»Aus Brasilien, das heißt ich habe mich sechs Wochen in Liverpool aufgehalten in etwas Geschäften. Nun aber ist's Zeit, daß ich meine Frau aufsuche, habe seit einem halben Jahre keine Nachricht von ihr und meinen drei Kindern, sie müssen mich längst erwarten. Hoffentlich steht es gut mit ihnen!«
»Ja wo sind sie denn? Hier oben auf der Höhe?« Diese Frage tat der alte Freund nur mit halber Sicherheit seiner Stimme, und der andere schien auch etwas betreten, indem er erwiderte: »Ei freilich, sie hat ja seit Jahren eine kleine Sommerwirtschaft und Fremdenpension auf der Kreuzhalde gepachtet, es kann nicht sehr weit von hier sein!«
Bei sich selbst dachte er: Nun weiß der nichts davon oder tut wenigstens so; ein Zeichen, daß er nicht ein einziges Mal dort war, der ewige Spaziergänger und Schoppenstecher! Es muß also nicht glänzend gehen, und jedenfalls hat die arme Marie keinen vorzüglichen Wein zu verzapfen.
Die kleine Verlegenheit überspringend ergriff Wighart die Hand, welche Salander zum Abschiede bot, und hielt sie fest.
»Ich würde gleich mitkommen; das geht aber natürlich jetzt nicht gut an bei eurem ersten Wiedersehen, da kann man keine Störer und Gaffer brauchen! Allein zehn Schritt von hier, um die Ecke, hat der alte Friedensrichter Hauser im ›roten Mann‹ einen Letztjährigen, der trinkt sich wie Himmelsluft. Ich nehme bei schönem Wetter täglich ein Schöppchen davon. Nun tu' ich es nicht anders, Meister Martin, du mußt zum Willkomm eine Flasche mit mir leeren! In einem halben Stündchen, in zwanzig Minuten ist es getan und der Nachmittag ist noch lang! Komm! Mach keine Umstände! Ich will durchaus das erste Glas mit dir trinken und verspreche, dich nicht lange aufzuhalten!«
Martin Salander, dessen Hand der gute alte Freund nicht fahren ließ, sträubte sich ernstlich, vom Verlangen nach Frau und Kindern beseelt, denen er so nahe war; als ein so Weitgereister jedoch, der oft größere Umwege und Aufenthalte vergeblich gemacht und den sieben Jahren seiner Abwesenheit leicht eine Viertelstunde hinzufügen durfte, um der unverhofften Begegnung eine Ehre anzutun, gab er endlich nach. Er wußte zwar, daß es den geselligen Herrn vornehmlich gelüstete, in aller Eile etwas Näheres von seinen Schicksalen zu erfahren und nebst der Ankunft abends als der erste in der Stadt erzählen zu können; aber auch er selbst empfand jetzt plötzlich ein Bedürfnis, über die Dinge in der Heimat von dem stets unterrichteten Manne Vorläufiges zu vernehmen. So wandte er sich denn, statt den Weg in die Kreuzhalde fortzusetzen, mit dem Möni Wighart in anderer Richtung hinweg und folgte diesem nach dem »roten Mann«, einem Bauerngute, wo ein alt angesessener reicher Landwirt nebenher sein reingehaltenes Eigengewächs ausschenkte.
Der Platz um den Brunnen war nun gänzlich still und leer; nur in einer Ecke stand noch der Knabe, der auf die Mutter wartete und das jüngste Kind Salanders war, der eben hinweggegangen.
Die beiden Männer hatten in der Tat nicht weit zu gehen, bis sie das hinter Obstbäumen verborgene Haus fanden. Die Wohn- und Gaststube des Wirtes war leer, als sie eintraten; eine Frauensperson, irgendwo beschäftigt, kam auf Wigharts Klopfen herbei.
»Wo haben wir den Herrn Friedensrichter?« fragte er, zugleich eine Flasche Wein bestellend.
»Sie sind alle in den Reben,« gab die Magd zur Antwort, während sie eine weiße Flasche aus dem Schranke nahm, sie ins Wasser des blanken Kupferkessels tauchte, auf welchem ein halbmondförmiger geschuppter Fisch getrieben war, zu beiden Seiten die Namenszüge eines Vorfahren und darunter eine Jahrzahl aus dem achtzehnten Jahrhundert. Jene ging, den Wein frisch im Keller zu holen, indes die Gäste sich an den breiten Nußbaumtisch setzten.
Martin Salander schaute sich um, holte tief Atem und sagte: »Wie ruhig und still ist es hier! Seit sieben Jahren bin ich nicht hinter einem Tisch wie dieser gesessen!«
Durch die Fenster sah man nur Grünes, Apfelbäume, Wiesen und statt der blauen Luft, soweit der Blick zwischen den Stämmen und Ästen den Weg fand, im Hintergrunde den ansteigenden Weinberg, dessen Erde soeben sorgfältig gelockert wurde. Nur hie und da sah man von den gebückten Werkleuten einen Kopf aus dem Laube emportauchen, und man glaubte die sonnige Ferne selbst zu erblicken, in die er hinausschaute.
»Sieben Jahre, bei Gott! Ist es schon so lang, daß du fort bist,« sagte Wighart.
»Und drei Monate!«
Die Magd brachte den Wein und ein paar Schnitte gutes Roggenbrot, und als die Gäste nichts weiter verlangten, ging sie wieder an ihre Arbeit. Wighart schenkte beide Gläser voll.
»Also sei willkommen!« begrüßte er, mit ihm anstoßend, wiederum den Heimkehrenden, der noch nicht ganz zu Hause war und vor der Zeit die Ruhe kostete; »auf deine Gesundheit! Aber gut siehst du ja schon aus, wirklich wie die Gesundheit selber! Also laß uns annehmen, es sei dir gutgegangen und alles wohlgelungen!«
»Auf jede Art ist es mir gegangen; doch habe ich mich gewehrt und getummelt und wenig geschlafen, das kann ich dir sagen, und endlich mich von dem Schlag erholt, der mich damals so schmählich getroffen hat. Es dauerte freilich länger, als ich meinte, daß es gehen würde!«
»Wenn ich nicht irre, so bist du durch eine Bürgschaft ins Unglück gekommen? Ich war zu jener Zeit auf Reisen, und als ich wiederkam, hieß es, du seiest fort.«
»Freilich, die Geschichte mit dem Louis Wohlwend!«
»Richtig! Jeder nahm teil an deinem Mißgeschick, aber allgemein wurde auch gefragt, wie du dein Vermögen durch eine so unbedachte Handlung aufs Spiel setzen konntest?«
»Ich habe nichts aufs Spiel gesetzt, ich wollte nichts gewinnen, sondern einfach ein Gebot der Freundespflicht erfüllen, das heißt – ich glaubte eben nicht, daß es zum Zahlen käme, war vielmehr der Meinung, soviel mir noch vorschwebt, die Suppe würde wohl nicht so heiß gegessen werden, wie sie gekocht sei, und jeder wahre Freundesdienst sei mit einem Wagnis verbunden, sonst wäre es keiner. Wir waren im Lehrerseminar schon gute Freunde. Er lernte schwer und hielt sich deshalb an mich, dem es leichter ging; vor den anderen schien es eher, als ob ich von ihm lernte, Gott weiß, wie es zuging! Es machte mir jedoch Spaß, denn er war sehr drollig, zutraulich und gescheit, und wo zwei beieinander standen, trat er hinzu, selbst unter den Lehrern und Professoren. Mit diesen wußte er sich sehr ergötzlich zu benehmen, wenn die Jahresprüfungen dawaren. Er forschte nicht etwa, worüber sie ihn besonders fragen würden, sondern wußte ihnen geradezu beizubringen, was er wollte, das sie ihn fragen sollten, worauf er sich die bezüglichen Gegenstände extra von mir eintrichtern ließ oder wie ich es nennen soll. Es war, wie wenn er eine Gabe hätte, die Gedanken der Menschen mit wenig Wörtchen zu reihen, hin und hergehen zu lassen und aufzulösen, und doch war er nicht imstande, selbst eine dauernde Gedankenordnung festzuhalten. Aber alles war, wie gesagt, spaßhaft, und jeder ließ ihn gewähren. Er erhielt auch richtig die Verweserei einer ländlichen Elementarschule, wo es herrlich und in Freuden ging; als er aber Realklassen übernahm, das heißt den Unterricht der größeren Kinder, begann er bald von Ort zu Ort zu rutschen und gab in kurzer Zeit das Schulmeistern auf. Ich hatte mich indessen noch zum Sekundarlehrer ausgebildet und ordentlich Fleiß darauf verwendet; auch verwaltete ich die Schule, an die ich gewählt wurde, nicht allein mit der üblichen Begeisterung, sondern auch mit einigem Pflichtgefühl und bemühte mich redlich, die Schüler so durchgehend als möglich emporzuarbeiten. Ich freute mich schon der späteren Tage, wo ich manchem Landmann zu begegnen hoffte, der es mir danken würde, wenn er eine richtige Berechnung anstellen, ein Stück Feld ausmessen, seine Zeitung besser verstehen und etwa ein französisches Buch lesen könnte, alles ohne die Hand vom Pfluge zu lassen! Allerdings hab' ich es nicht erlebt; denn die Buben schwanden einem vorweg aus den Augen und verkrochen sich in alle möglichen Schreibstuben. Keinen sah ich je wieder auf dem Feld und an der Sonne!«
Salander hielt inne und besann sich; dann tat er einen leichten Seufzer und redete weiter: »Aber hab ich es denn besser gemacht? Bin ich nicht selbst vom Pfluge weggelaufen?«
»Du meinst, als du den Lehrerberuf aufgabst?« sagte Wighart, da der andere ein Weilchen wieder verstummte; »wie bist du denn dazu gekommen?«
»Vater und Mutter starben mir in der Heimat in derselben Woche an einem bösartigen Fieber. Im Stall war ihnen ein krankes Kälbchen zugrunde gegangen, das haben sie oberhalb des Hauses in der Wiese vergraben, unfern unserer guten Brunnenquelle, und sich so das Wasser in aller Unschuld vergiftet. Knecht und Magd entrannen dem Tode mit Not. Die Ursache ward erst später entdeckt. Mir aber wandelten sich Schreck und Trauer bald in eine große Unruhe, als ich mich im Besitze des elterlichen Vermögens sah, das nach dem Verkaufe des Hofes für einen Schulmeister artig genug ausfiel. Ich heiratete meine Frau, die mir schon länger in die Augen gestochen, und auch sie besaß bare Mittel. Da wurde es mir plötzlich zu eng in der friedlichen Schulstube, in der entlegenen Landschaft; ich zog hierher, in die Stadt dort hinter den Bäumen, wollte mitten im Verkehr stehen, unter Erwachsenen, auf Freiheit und Fortschritt ausschauen, ein Geschäftsmann, ein Muster von Brotherrn sein, ja sogar noch den Militärdienst nachholen und Offizier werden, um meinen Mann zu stellen. Denn ich glaubte alles schuldig zu sein, weil ich etwas Vermögen besaß, das im Grunde doch kein Reichtum zu nennen war.
Zunächst beteiligte ich mich an einer bescheidenen Gewebefabrik, die von einem kundigen Manne geleitet wurde; daneben übernahm ich einen herrenlosen Handel mit Strohwaren; nun, das ist dir ja bekannt, es ging gar nicht übel. Ich hielt mich fleißig und aufmerksam an die Sache, ohne der Welt den Rücken zu kehren. Da war denn auch der Louis Wohlwend; der betrieb ein Kommissionsgeschäft, wie du auch weißt, nebst einigen Agenturen und war immer noch der gleiche zutuliche und vertrauliche Gesell und Hans in allen Gassen, von dem jeder den Eindruck empfing, daß es ihm gut gehe und er wohl wisse, was er wolle. Auch zu mir hielt er sich fleißig, so oft er Zeit fand, und bald stand ich im Rufe seines Spezialfreundes und wehrte mich nicht dagegen, obschon mir im stillen manches auffällig war, was ihm anhaftete. In einem Gesangverein, in den er mich einführte, bemerkte ich, daß er immer falsch sang; ich dachte aber, er könne nichts dafür, und nachher beim Glase Wein war er umso kurzweiliger und beliebter, und er behauptete sich, trotzdem der Übelstand offenkundig, im zweiten Tenor. Das ärgerte mich zuletzt ernstlich; er tat aber, als ob er keine Ahnung hätte, und am Ende sagte ich mir, das sei eigentlich auch ein Idealismus, wenn ein armer Teufel, der kein Gehör habe, durchaus singen wolle.
Als ich eines Abends in der Weihnachtswoche an meinem Rechnungsabschluß saß mit dem Vorsatze, bis nach Mitternacht zu arbeiten, kam er, mich in seinen Verein abzuholen, wo Christbaum und Hauptvergnügen sei. Ich wollte nicht mitgehen; er gab nicht nach, und da meine Frau mich ebenfalls zu gehen bat, mir die Erholung gönnend, tat ich es. Dies war der Unglückstag.
Unterwegs kaufte ich zum Überflusse auch noch eine Gabe für den Christbaum, ein artiges Bildungsbuch in Goldschnitt, und erhielt bei der Verlosung dafür einen westfälischen Schinken. Als das Essen, das folgte, vorüber und die Rennbahn für die komischen Sänger, die Deklamanten und Travestanten eröffnet war, bestieg auch Louis Wohlwend das Podium, den Vortrag der Schillerschen Ballade ›Die Bürgschaft‹ ankündigend und sogleich beginnend. Er wußte das Gedicht zu meiner Verwunderung auswendig und trug es mit einer gewissen Erregung oder Überzeugung, mit halb zitternder Stimme vor, aber mit durchgehend so verflucht falscher Betonung, daß die Wirkung mehr verdrießlich als lächerlich war. Unbewußt sprach er in jenem Tone ungebildeter Leute, welche klagend oder keifend ein Schriftstück vorlesen, dabei auf den Tisch klopfen und aus Leidenschaft die Rede verzerren, die Worte auseinanderdehnen und wie aus Wut die Nebensilben beschreien, da ihnen die Hauptsilben nicht ausreichen. Gleich den Schluß der erstem Strophe gab er mit steigenden Noten so:
Die Stadt vom Tyrannen befreien: Das sollst du am Kreuze bereuen!
Dann schloß er die zweite Strophe:
Ich lasse den Freund dir als Bürgen, Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.
Ganz heillos klang es, wie er fortfuhr:
Da lächelt der König mit arger List,
und dazu wirklich ein Lächeln und eine arge Gesinnung auf seinem Gesichte zu mischen suchte. Das Ende des Gedichtes klang dagegen gemütlich aus:
Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der dritte.
Es sind jetzt sieben Jahre her und die Dummheiten mir dennoch so genau im Gedächtnis, als wären sie gestern Abend geschehen.
Ich war etwas verstimmt, als Wohlwend, von seinem erhöhten Aufenthalte heruntergestiegen, sich wieder neben mich setzte, und da es bereits auf Mitternacht ging, erhob ich mich, um Hut und Mantel zu suchen, und begab mich hinweg. Kaum war ich aber auf der Straße, so holte er mich ein, lief neben mir her, räusperte sich, als wolle er ein neues Stück rezitieren. Ihn unterbrechend, fragte ich, was er für eine Freude daran finde, ein Gedicht, überhaupt eine Rede, so schlecht herzusagen, so aufgeregt und zugleich so grundfalsch zu deklamieren?
Ja, antwortete er mit immer noch nachzitternder Stimme, aufgeregt sei er und schön werde er allerdings nicht deklamiert haben, weil er selbst derjenige sei, der den Bürgen suche, und auf einem kritischen Wendepunkt schwebe.
Mit ganz veränderter, ganz vernünftiger Stimme gab er unverweilt seine Angelegenheit kund. Er hatte eine folgenreiche Unternehmung gewagt, welche bedeutenden Kapitaleinsatz verlangte, während sein Bankkredit durch das laufende Geschäft schon vollständig in Anspruch genommen war und ferner genommen wurde. Auf keiner Seite durfte er rückwärts gehen ohne Schaden an Gut und Ehre; das Vorschreiten aber konnte beides nur mehren; kurz, es handelte sich um Öffnung eines neuen Kredits gegen Bürgschaft, die mit drei Unterschriften zu leisten war. In fünfzehn Minuten hatte ich als solidarischer Bürge und Selbstzahler die erste Unterschrift auf ein in Wohlwends Hause bereitliegendes Dokument gesetzt und ging gleich darauf schlafen. Die zwei anderen Unterzeichner habe ich nie gesehen; es waren ein paar stille ordentliche Männer und Nichtzahler, welche sich vor der Katastrophe ruhesam verzogen, nicht ohne ihrerseits selbst verschiedene Bürgen oder deren Gläubiger geschädigt zu haben, insofern solche wirklich etwa bezahlten.
»Gut also, vor Ablauf eines Jahres erklärte Louis Wohlwend sich zahlungsunfähig, und was gleich mit Beginn der Konkursverhandlungen voll und unweigerlich gedeckt werden mußte, war der Betrag meiner Bürgschaftsleistung. Sie fraß auf, was ich und mein Weib besaßen, und zugleich liquidierte sich mein eigenes Geschäft ebenso rasch und reinlich, dank der guten Ordnung, die darin herrschte, und ich konnte gehen, wo ich wollte! Ich war für einmal fertig! Jetzt wäre es Zeit gewesen, in die Schulstube zurückzukehren; aber ach, es lag mir ferne! Wohlwend aber lebte noch Jahr und Tag in und von dem Konkurse, der im Sande verlaufen sein soll, ich weiß nicht auf welche Weise.«
»Aber, wie mochtest du dein Frauenvermögen so preisgeben?« unterbrach ihn Wighart, »die Frau konnte es ja nach Gesetz und Recht an sich ziehen!«
»Die Frau wollte nicht,« sagte Salander, »wegen der Zukunft der Kinder, denn ich wäre bankrott geworden. Wir waren jung und glaubten an unsere Zukunft, die wir nicht verderben mochten!«
»Aber warum nahmst du die Familie nicht mit oder holtest sie nachträglich, als es dir gut ging?«
»Weil ich im Vaterlande leben und sterben will, ich bin kein Auswanderer! Und dann hätte ich mich nicht drehen und tummeln können, wie ich tun mußte; hatte auch zweimal das Fieber und bezahlte sonst genug Lehrgeld, fing wiederholt von vorn an. Als ich hinüberging, nahm ich einige Kisten Strohhüte mit, die man mir anvertraute; etwas leichtere Seiden- und Baumwollsachen bekam ich auch mit, und so machte sich notdürftig ein Anfang, mit dem ich bescheiden am Ufer hinsteuerte, bis ein junger Mensch, den ich zu mir genommen, mich bestahl und durchging, während ich wehrlos im Fieber lag. Notgedrungen trat ich in den Dienst eines größeren Hauses und bereiste die brasilianischen Provinzen mit Kauf und Verkauf. Ich lernte dadurch den dortigen Binnenhandel, den ich in der Folge auf eigene Rechnung betrieb, natürlich nach Verhältnis meiner Mittel. Nun, ich bin jetzt durch und habe den Schaden ersetzt, mehr wollte ich nicht, und kann die Arbeit hier bei den Meinigen und in meinem Lande wieder aufnehmen. Hier habe ich Mosen und die Propheten!«
Er schlug auf seine trefflich gearbeitete Reisetasche, rief jedoch, sich endlich besinnend: »Sieh einmal, das ist eine schöne Heimreise! Sechs Wochen in Liverpool, und hier, fünf Minuten von der Frau, bleib' ich noch hangen! Trink die Flasche allein fertig, Freund, du wirst wohl noch sitzenbleiben! Der grüne Schattenwinkel hier ist wirklich zu gelungen!« Der alte Freund hingegen, auf die Tasche deutend, hielt ihn auf.
»Du hast gewiß«, sagte Wighart, »gute Papiere bei dir? Solltest du etwa das eine oder andere schöne Inhaberstück abgeben wollen, so bitte ich, mir die Gelegenheit zu gönnen; du weißt, man hat in diesen papiernen Zeitläuften immer etwas zu besorgen oder besserzustellen!«
»Nichts derartiges ist da!« versetzte Salander; »in der letzten Zeit ließ ich alles Erworbene bei der Atlantischen Uferbank in Rio de Janeiro zusammenlaufen, einem kräftig sich entwickelnden jungen Institut, und trage nun den Wert meiner nicht ganz drei Dutzend Contos de Reis in einer Anweisung bei mir, bar zehn Tage nach Sicht!«
Abermals schlug er vergnügt auf die Tasche.
»Donnerwetter, ein saftiger Wechsel!« meinte Wighart.
»Seit zwei Monaten oder länger avisiert, wie ich denke!« der andere.
»Bei welchem Hause? Gewiß beim ›großen Kasten‹? Oder der ›alten Kommode‹? Oder bei der ›neuen Kommode‹? Das sind nämlich die neuesten Scherznamen unserer Banken.«
»Xaverius Schadenmüller & Komp. heißt's; wart, ich hab's im Carnet!«
Er zog das Büchlein aus der Seitentasche seines Rockes.
»Ja, Schadenmüller, Xaverius & Komp.«
Wighart sah ihn mit weitaufgesperrten Augen an, bis er das Wort fand.
»Schadenmüller, sagst du? Weißt du, wer das ist?«
»Jedenfalls eine rührige Firma, wenn auch vor sieben Jahren noch unbekannt!«
»Unglücksmann! Es ist Louis Wohlwend und kein anderer!
Martin Salander erhob sich langsam hinter dem Tische, ganz fahl und blaß geworden, setzte sich aber gleich wieder und sagte: »Es scheint, daß jeder Mensch einen Ölgötzen hat, der allerorts wieder dasteht und ihm entgegenglotzt. Denkst du am wenigsten dran, so ist er da. Das ist mir jetzt eine angenehme Lage! Wer sagt indessen, daß er nicht zahlen werde? Er wird sich erholt und emporgeschafft haben; wie, kann mir gleich sein! Meine Atlantische Uferbank ist doch auch nicht von Stroh und weiß, was sie tut. Am Ende will das Schicksal, daß ich wieder zu meinem früheren Vermögen gelange, wenn der Bursche so zu Kräften gekommen ist!«
»Unglücksmann noch einmal! Der, welcher Schadenmüller heißt, ist schon vor zwei Jahren fort, sein Nachfolger, Wohlwends Gesellschafter, vor sechs Monaten, und vom jetzigen alleinigen Vertreter der Firma, Wohlwend, heißt es seit gestern, er habe wieder einmal eingestellt, die Proteste regnen nur so und das Kontor sei geschlossen!«
Salander sprang auf und mitten in die Stube, wo er unentschlossen sich umschaute, seine Reisetasche rückend. Er ermannte sich bald ein wenig und seufzte: »Die arme Frau! Ich hatte ihr verlorenes Weibergut so vergnüglich ausgeschieden in meinem Buche und um die Zinsen vermehrt, um es sofort nach der Heimkehr sicherzustellen! Nun hat's der Wohlwend zum zweitenmal! Ein Kerl, der so falsch singt und noch schlechter deklamiert!«
Der gute Mann wischte sich ein paar bittere Tränen von den Augen. Wighart, von Teilnahme und Entrüstung ungewöhnlich bewegt, stand bei ihm und redete ihm zu, keine Zeit zu verlieren.
»Vor allem«, sagte er, »mußt du stehenden Fußes in die Stadt hinunter, Wohlwends Kontor aufsuchen und dich überzeugen, wie's dort steht. Es ist in der Winkelriedsgasse.«
»Wo ist denn die? So eine gab es früher nicht.«
»Es ist eine vornehme, stille Seitenstraße im Westend; keine Verkaufsläden, nur blanke Metallplatten an den Haustüren und daneben, da wirst du Schadenmüller & Komp. gleich finden. Ich würde mit dir gehen; allein es wird vielleicht besser sein, wenn ich unterdessen deine Frau von deiner Ankunft benachrichtige und auf irgendeine zweckmäßige Weise vorbereite.«
Salander ergriff ihn beim Arm. »Nein!« rief er, »gehe nicht hin! Ich muß es selbst über mich nehmen. Seit ich in Europa bin, habe ich der Frau nicht geschrieben, weil ich sie immer überraschen wollte und nicht dachte, so lange in England hingehalten zu werden, wo ich noch einiges zu ordnen und Zukünftiges einzuleiten hatte. Nun kann ich es nicht über mich bringen, die arme Frau einer fremden Mitteilung auszusetzen. Es wird besser sein, wenn sie mich zuerst nur einmal wiedergesehen hat.«
»Wie du willst! Dann komm ich aber mit dir und führe dich zum Notar, wenn es nötig ist, wie ich glaube; denn das nächste wird sein, für den Protest zu sorgen. Am Ende hast du den Regreß auf deine Ozeanische Uferbank, oder wie sie heißt. Die Notariatskanzlei befindet sich nämlich auch nicht mehr, wo sie vor sieben Jahren gewesen. Es nimmt mich nur wunder, woher sie in Rio so bedeutend mit Wohlwend in Verkehr stehen!«
Während der Zeit hatte der Knabe im sogenannten Zeisig noch eine Weile auf die Mutter gewartet und war dann wiederholt ihr eine Strecke entgegengegangen, aber immer wieder auf seinen Standpunkt zurückgekehrt, aus Furcht, sie zu verfehlen; denn der kürzeste Weg von der Kreuzhalde nach der Stadt führte eigentlich nicht hier durch, weshalb die kleine Familie von den Leuten im Zeisig auch nicht gekannt war.
Frau Salander hatte zum ersten Male diesen Weg genommen, weil am anderen Wege der Bäcker wohnte, welchem sie zum ersten Male die aufgelaufene Monatsrechnung nicht berichtigen konnte und das eine der Töchterchen, welches sie nach Brot geschickt, unverrichteter Dinge heimkam. Das hatte sie, nachdem sie in stündlicher Erwartung des Gatten sich schon lange kärglich beholfen und gespart, wie ein Schimpf getroffen, und die harte Not war plötzlich gleich einem einsilbigen Gerichtsboten eingekehrt.
So unversehens war der schweigende Gast da, daß sie den Kindern am heutigen Tage nichts als etwas leere Milch zu verteilen imstande gewesen, am frühen Morgen; sie selbst hatte noch nichts genossen. Und heute gewärtigte sie dazu die beinah einzige Familie, welche bei schönem Wetter zuweilen noch gegen Abend kam, um den Kaffee im Freien zu trinken. Andere Gäste hatte sie seit Wochen nicht gesehen und sie besaß deshalb auch kein bares Geld mehr. Anstatt dieser Tatsache lange nachzusinnen, brauchte sie ihre Gedanken, mit den Kindern durch den Tag zu kommen, weil die andere Tatsache, die Ankunft des Mannes, auch bevorstehen mußte.
Sie lief daher nicht, von ihrem beweglichen Besitztum zu verkaufen oder verpfänden, sondern ging zum bekannten Kleinbäcker in die Stadt, von welchem sie sonst die Semmeln und dergleichen Gebäck bezogen hatte, und dem sie nichts schuldete. Ohne viel Worte zu verlieren, erhielt sie den gewünschten Vorrat von Brötchen und Hörnchen, ebenso beim Krämer ein Tütchen gerösteten Kaffee und den dazu erforderlichen Zucker, bei einem andern ein Stück guten Schinken und ein halbes Pfund frische Butter, und überall war sie wohlangesehen, weil sie eine stille, zurückgezogene Frau war, die sonst nie borgte. Nur der Bäcker in der Nähe hatte nicht mehr getraut, weil er am Wege wohnte und sah, daß fast niemand mehr hinaufging, und klüglich das Ende bedachte.
Trotz des willigen Entgegenkommens der Leute in der Stadt nahm sie aber nicht ein Lot mehr von den Sachen, als das augenblickliche Bedürfnis erheischte, obgleich es in einem hingegangen wäre, wenn sie sich auf einige Tage versehen hätte. In diesem unscheinbaren Zuge mochten drei Dinge sich vereinigen: ihre redliche Bescheidenheit, die Gewohnheit des Vertrauens auf die nächste Sonne und wahrscheinlich nicht am wenigsten ein feiner, wenn auch unbewußter Sinn, den nächsten Zweck zu schonen.
So kam denn Frau Marie Salander, einfach und sauber gekleidet, ohne Blumen auf dem Hut und eher schmal als breit, den Korb am Arme, endlich den Weg über den Zeisig heran gegangen.
»Gelt, du hast lange warten müssen, Arnold!« rief sie dem Knaben entgegen, der sehnlich aus dem Scheunenwinkel hervor sprang, wo er schließlich sich auf ein Mäuerchen gesetzt hatte. »Ich habe die Eßwaren erhalten, wenn ich sie auch nicht bezahlen konnte. Nun wollen wir schnell heimgehen, damit wir bereit sind, wenn wirklich Leute kommen! Gott sei Dank muß ich heute noch nicht sagen, es sei nichts mehr im Hause!«
»Aber wenn sie alles aufessen,« sagte der Knabe, »müssen wir dann weiter hungern?«
»Ei, sie essen ja nie alles, sie nehmen höchstens die Hälfte zu sich, und mit dem übrigen müssen mir uns bis morgen begnügen, wo ich ja dann etwas Geld habe! Kommen sie aber nicht, so trinken wir lustig den Kaffee und essen, soviel mir mögen, und morgen ist auch ein Tag!«
Bald erreichten sie die höhergelegene Kreuzhalde, wo sich die Aussicht auf die Stadt und die weite Landschaft öffnete, in der sie lag oder liegt. Sogleich kamen die beiden Schwestern Arnolds herbei, Setti und Netti, der Mutter den Korb abzunehmen; sie waren zehn und neun Jahre alt, von derselben feinen Blässe wie der Bruder, nämlich der Blässe gesunder Kinder, welche von einem unwilligen Kummer befallen sind, der ihnen unerklärlich ist. Doch glänzten die Augen der Mädchen ungeduldiger und gieriger als die des Knaben, der gelassener Art zu sein schien.
Frau Salander ging den Kindern voran ins Haus, und sie folgten höchst neugierig. Ohne Verzug entledigte sie sich des Hutes und legte eine reine weiße Schürze um, worauf sie den Korb auspackte, das Brotgebäck auf einem größeren Teller aufbaute, die Butter auf einen kleineren legte, den Schinken schnitt und eine Schüssel damit bekleidete, daß sie sich als reichlich gefüllt darstellte. Dies alles, ohne daß sie einen einzigen Bissen nach dem Munde zu führen sich vergaß, um den armen Kindern, welche die Ellenbogen rings auf den Tisch gestützt zuschauten, nicht ein böses Beispiel zu geben.
»Frisch, Kinder!« sagte sie mit einem leidlich muntern Lächeln, »nehmt euch zusammen, habt Geduld! Alles nimmt ein gutes Ende, wenn der Vater kommt! Jetzt müssen wir noch ein Weilchen zusehen, wie andere essen; wir wollen doch für den Spaß probieren, ob wir trotzdem etwas tun können! Habt ihr die Ferienaufgaben wirklich fertig, nichts mehr zu rechnen, zu schreiben oder auswendig zu lernen? Nehmt einmal eure Bücher vor! Ich glaube fast, die Sprüche und Liederverse bleiben euch gerade wegen dieses merkwürdigen Hungertages besser im Gedächtnis als sonst.«
Die Mädchen wollen vom Lernen nichts hören; Setti nannte das Hohlgefühl ihres Leibes altklug einen Magenkrampf; Netti fürchtete Kopfweh zu bekommen, und beide wollten lieber häkeln, wenn sie durften, da jedes für den Vater einen Geldbeutel angefangen hatte. Nur Arnold faßte ein tapferes Vertrauen zu der Schwindelei der guten Mutter und erklärte, die Gelegenheit zu benutzen und sein schweres Lied für die nächste Kirchenlehrstunde in Angriff zu nehmen; es enthalte vier Verse von je zehn Zeilen, von denen jede sich so lang strecke, daß sie keinen Platz habe und das Ende umgebogen sei, wie die Schlinge für die Krammetsvögel. Die Mutter billigte alles und eilte in die Küche, den Milchvorrat bereitzustellen, den sie am Morgen streng abgeteilt und für alle Fälle weggeschlossen hatte. Dann holte sie aus dem Schranke den Honigtopf hervor, der infolge der schlechten Begangenschaft leider nur zu viel der Süßigkeit enthielt. Sie füllte daraus eine hübsche Kristallschale, und zugleich fiel ihr bei, daß ein Löffel des dicken kräftigen Saftes den Kindern ihr junges Leiden für eine kurze Zeit wohltätig verhüllen dürfte. Gedacht, getan, ging sie mit dem Topfe von einem Kinde zum andern, hieß es den Mund aufmachen und strich den Honig hinein.
Ermüdet ließ sie sich endlich auf einen Stuhl nieder und überblickte mit einem Seufzer die sonderbare Anstalt, mit der sie das dunkelwaltende Schicksal bestreiten oder wenigstens aufhalten wollte. Nicht nur in Feindesheeren, Erdbeben und Gewitterstürmen und allgemeinen Notausbrüchen fährt ja dasselbe einher; auch in den unscheinbarsten Vorgängen im stillen Leben eines Haushalts tritt es jählings zerstörend, ehrenrührig hervor. Wenn die heutige Vorsorge scheitert oder am Ende doch eine Beschämung herbeiführt, kann sie alsdann die Vorspiegelungen wiederholen, daß sie eine wohlversehene Wirtin sei? Schon vor so vielen Wochen muß das Schiff, das ihren Mann und sein Gut trägt, abgefahren sein; wenn es nun untergegangen ist? Mit diesem bloßen Gedanken vergaß sie sich selbst und ihr Geschick, einzig und allein das dunkle Bild des langentbehrten Gatten suchend. So in sich selbst versunken wie aus dem Grund eines Meeres, schrak sie auf, als draußen Stimmen hörbar wurden und die Gartenglocke erscholl, auch die Kinder schon an die Fenster liefen und verkündeten, daß die Professorsfamilie da sei.
Auf dem Hof- oder ehemaligen Gartenland der Wirtschaft war von einem nun verschwundenen Hain großer Bäume eine einzige Platane stehengeblieben, welche mit ihren ausgebreiteten Ästen einen letzten Tisch überschattete. Eine Familie, bestehend aus einem weißhaarigen Herrn und seiner Matrone nebst zwei ältlichen Töchtern, hatte bereits am Tische Platz genommen. Die Kinder am Fenster aber riefen: »O weh, es ist noch einer dabei, ein langer Fremder, der gewiß den Schinken aufißt!«
Und wirklich war so ein langer Überzähliger noch herangestiegen, bis Frau Salander unten anlangte und die Herrschaft begrüßte.
»Wie geht es Ihnen, Frau Salander?« empfing sie der alte Herr, »Sie sehen, wir bleiben Ihnen treu, solang noch ein Baum dasteht! Bringen Sie uns den üblichen Kaffee samt Butter wie Elfenbein und dem flüssigen Bernstein! Dies für die Damen!«
»Papa meint mit dem Bernstein den schönen Honig, den Sie uns das letztemal vorsetzten!« belehrte die Frau Professor die Wirtin, welche diese Erklärung ebenso oft gehört hatte als das Gleichnis, allein dermalen aus Zerstreutheit zu lächeln vergaß.
»Sodann, was uns Männer betrifft,« fuhr der Herr Professor fort, »so trinken wir allenfalls zusammen eine Flasche jenes süß abgekelterten roten Fünfundsechzigers, der durch dies Verfahren zwar kein Goethe, wohl aber ein Schiller geworden ist und angenehm prickelt, sobald er das Theatrum der menschlichen Zunge betreten hat, um seine Spiele aufzuführen. Dazu nehmen wir der Beschäftigung halber einige Schnitten geräucherter Rindszunge, wenn Sie davon noch so zarte besitzen wie neulich.«
»Zunge ist leider nicht mehr da,« sagte die Frau leicht errötend, »dafür könnte ich mit Schinken aufwarten.«
»Auch gut, bringen Sie uns Schinken!«
Sie eilte ins Haus, Kaffee und Milch zum Kochen aufzusetzen, und übertrug die Aufsicht den Mädchen, während sie mit weißem Zeug und Geschirr den Tisch so sauber deckte, als wäre das Haus im besten Flor. Bald standen auch die Speisen einladend dazwischen, nur noch der Wein fehlte. Im Keller bewahrte Frau Salander noch die letzten zwei Flaschen des erwähnten Weines, sonst war überhaupt kein Getränke mehr vorhanden als ein halbes Dutzend Flaschen abgezogenen Bieres, von welchem sie nicht wußte, ob es noch trinkbar sei. Den Wein hingegen hatte sie für den Mann beiseite gelegt, auf den sie harrte. Mit einem Seufzer nahm sie eine der Flaschen und trug sie auf, ersorgend, daß nicht nur die zweite, sondern auch eine dritte verlangt werden könnte und so eine neue Gefahr erwuchs der Offenbarwerdung ihres Unvermögens. Dann trug sie den dampfenden Kaffee hinaus und versäumte nicht, eine Flasche kühlen Wassers vom Brunnen zu holen.
Schon aber führte die Sorge sie ins Haus zurück, um die Kinder, welche aus der Türe kamen, dort festzuhalten und in die Stube zu bannen; denn sie befürchtete, die Ärmsten würden sich mit gierigen Blicken um die Gäste herumstellen und den gesprächigen Herren, sowie der kritischen Neugier der Frauen ihren Hunger verraten. Doch konnte sie nicht hindern, daß die Kinder Kopf an Kopf durch das Fenster schauten und keinen Blick von dem Tische der sich rüstig erfrischenden Leute verwandten. Sie sahen, wie die Frauen ihre Butterbrötchen schnitten und bestrichen, zu Munde führten und im eifrigen Gespräche das gleiche Geschäft immer von neuem vornahmen. Mit mehr Wohlgefallen bemerkten sie, daß der alte Herr seinen Teller bald zurückschob, um seine Zigarrentasche auszukramen; aber mit Schrecken sahen sie, wie der lange Unbekannte mit dem breiten Maule und dem Bocksbarte in den Speisen herumwütete und eine förmliche Fabrik von Schinkenbrötchen betrieb, die er auf seinem Teller im Kreise nebeneinander legte und dann eines nach dem andern ganz in den Mund steckte. Kinder schauderten, und auch der Mutter wurde es nicht wohler, als durch die Schuld des Unheimlichen die Weinflasche früh leerstand und der Professor nach der zweiten rief.
Ein neues Unheil tat sich in einer Kinderschar auf, die lärmend, mit abgerissenen Zweigen und Ruten, über den offenen Hofraum gezogen kam und alsbald vor dem Tische der kleinen Gesellschaft gaffend anhielt. An der Spitze der Truppe standen die Zwillinge Isidor und Julian, die Hände auf dem Rücken und ihre beschürzten runden Bäuchlein vorstreckend; sie beschauten sehr aufmerksam den Tisch, und die Blicke saßen auch auf den Schinkenbrötchen und fuhren mit ihnen in den Rachen des Breitmäuligen hinunter, bis dieser mit dem Geschäfte zu Ende war. Der Professor stach mit der Gabel von dem Vorrat in der Schüssel ein Scheibchen heraus und hielt es dem Zwilling Isidor vor die Nase mit den Worten: »Mund auf, Augen zu!« Dieser gehorchte unverweilt und erschnappte den Bissen samt dem Brothäppchen, das jener ihm dazu in den Mund steckte. Das gleiche geschah mit dem kleinen Julian und so abwechselnd mit beiden, die immer zuvorderst standen, bis der letzte Rest des Schinkens verschwunden war. Mit den übrigen Kleinen machten es die zwei Fräulein ebenso, indem sie ihnen Butterbrötchen in den Mund steckten und sich über die drolligen Gesichter freuten, die sie dazu machten. Binnen kurzem waren alle Teller rein und nichts Eßbares mehr auf dem Tische zu erblicken.
Frau Salander stand hinter ihren Kindern am Fenster und sah, wie auch hier der Welt Lauf erging und die einen verschlangen, was den anderen bestimmt war. Es dunkelte ihr vor den Augen, was indessen auch davon herrührte, daß eine Regenwolke unvermerkt heranzog und einzelne Tropfen bereits gegen die Scheiben schlugen. Und im Laube der Platane rauschte ein unwirscher Luftzug. Die Gesellschaft erhob sich sehr eilig. Der alte Herr pochte mit dem Stock auf den Tisch und verlangte von der herbeieilenden Frau schleunige Rechnung. Ehe sie antworten konnte, rief er: »Nun hab' ich auch noch die Börse vergessen oder gar verloren!« Vergeblich in allen Taschen suchend, nahm er den langen Gastfreund in Anspruch: »Herr Doktor! Helfen Sie uns aus der Not! Sind Sie vielleicht mit Spießen bewehrt?«
Der war aber schon so vielfach, kreuz und quer, in einen gelblichen Plaid eingewickelt, daß er mit großer Mühe suchte, zu seinem Geldtäschchen zu gelangen. Es dauerte dem Alten zu lange.
»Lassen Sie,« rief er, »wir müssen springen, wenn wir noch den nächsten Droschkenplatz erreichen wollen! Ich bezahle das nächste Mal, liebe Frau, Sie kennen uns ja!«
»Bitte, Herr Professor, das macht ja gar nichts, kommen die Herrschaften nur gut nach Hause!« sagte Frau Marie Salander mit guter Haltung, jedoch die Leute, die sich nicht mehr umschauten, mit etwas unsicheren Schritten bis zum Ausgange des Grundstückes begleitend.
Zurückkehrend sah sie noch, wie die Zwillinge die Zuckerbüchse vollends ausräumten und mit ihrem Gefolge gleichfalls davonstoben. Der Honig war auch ausgelöffelt.
Ihre eigenen Kinder hatte sie vorhin eingeschlossen und den Schlüssel eingesteckt; so stellte sie jetzt ohne deren Hilfe das sämtliche Geräte auf das große Kaffeebrett, legte das Tischtuch ordnungsgemäß zusammen, nahm es unter den Arm, trug das Brett mit einigem Klirren ins Haus und ging dann zu den Kindern hinein, die an einem Häuflein standen.
Als sie sahen, daß die Mutter mit Kummer auf einen Sessel sank, unterdrückten sie den Ausdruck ihrer kindlichen Ansprüche auf die Vorsorge und den Schutz der Mutter, die sich heute zum ersten Male als unzuverlässig erwiesen. Ihr leises Weinen wurde durch das Rauschen eines tüchtigen Regenschauers übertönt, der jetzt herniederfiel und die Luft verdunkelte, und so blieb es eine gute Weile still in dem dämmernden Gemach. Frau Marie benutzte den Augenblick, ihre Lebensgeister zu versammeln. Sie beschloß, bis zuletzt auszuhalten und mit den Kindern für diesmal lieber ungegessen schlafenzugehen, als den Ruf des heimkehrenden Mannes durch weiteres Verraten ihres zerrütteten Zustandes zu gefährden.
Der Himmel selbst schien ihr zu Hilfe zu kommen, denn es ward heller um sie her; die sinkende Sonne beherrschte wieder das Feld und hatte die Regenwolke den Berghang hinauf an den Waldrand getrieben, wo sie als eine dunkle graue Wand hängenblieb, auf welcher der breite Fuß eines Stückes Regenbogen sehr kraftvoll leuchtete, indem er auf einer frischbetauten funkelgrünen Waldwiese stand. Es war ein so starker Farbenschimmer, wie man ihn nur wenige Male im Leben sieht und dann fast immer im Gedächtnis behält. Da die Erscheinung ziemlich nah aufglühte, sah man links und rechts ein paar schlanke Birken oder Eschenbäumchen sich abheben und deren Kronen in dem bunten Glanze verfließen.
Ohne langes Überlegen benutzte die Mutter sofort das schöne Farbenspiel, die Gedanken der Kinder womöglich von ihren Kümmernissen abzulenken und zu beschäftigen, bis vielleicht die Dunkelheit heranschliche und nochmals den lieben Schlaf brächte. Für diesen Fall wollte sie zugleich die Kinder mit den Schilderungen einer herrlichen Schmauserei unterhalten und ihre Phantasie ganz damit anfüllen, weil sie schon hatte sagen hören, daß hungernde Leute, wenn sie im Schlafe von guten und leckeren Dingen träumen, die Nacht soweit ganz leidlich durchkommen; und sie hoffte sogar selbst ein bißchen mitzuschmausen.
»Seht doch, welch ein schöner Regenbogen!« rief sie und weckte damit die Kinder aus ihrem Brüten. Sie guckten auf und staunten die Pracht mit großen Augen an, die darüber trocken wurden.
»Die haben's dort jetzt besser als wir, wenn das Märchen wahr ist!« rief sie wieder.
»Wer denn? Wer denn?« die Kinder.
»Nun, die kleinen Leutchen aus dem Berge! Habt ihr noch nichts davon gehört? Die Erdmännchen und -weibchen, die so alt werden, daß sie eine kleine Unsterblichkeit auf ihren Buckelchen haben, natürlich nur im Verhältnis; denn sie sind nicht größer als ein mittlerer Finger. So um tausend Jahre herum sollen sie alt werden. Wenn sie nun merken, daß ihr Geschlecht ausstirbt in einer Gegend, so kommen die letzten hundert Leutchen in den besten Feierkleidern zusammen und halten ihren ewigen Abschiedsschmaus unter einem Regenbogen oder vielmehr im Erdgeschoß desselben, das ein wahrer Zaubersaal ist. Seht nur, ihr könnte von außen merken, wie das inwendig in allen Farben glitzern muß! Auch noch aus einem andern Grunde sollen sie einen solchen Abschied feiern; nämlich wenn das große Volk im Lande anfängt auszuarten und dumm und schlecht zu werden und die gescheiten Leutlein unten ein betrübtes Ende voraussehen, dann beschließen sie auszuwandern und dem Ende aus dem Wege zu gehen. Auch dann kommen sie in vielen Regenbogen zusammen und sind noch ein Stündchen vergnügt. Sei dem wie ihm wolle, so weiß ich nicht, welchen Anlaß wir hier vor uns haben. Es wird sich wohl um ein Aussterben handeln, und da sind es, wie gesagt, höchstens hundert Männlein und ihre Frauen, die dort sind. Den ganzen Tag haben sie in ihren Felsstuben, im Waldesdickicht und an den verborgenen Bachquellen gebacken und gebraten und gebraut und alles Gute vorausgeschickt, und nun sind sie hineinspaziert, jeder sein goldenes Schüsselchen in einem seidenen Säcklein mit einem Quästlein auf dem Rücken tragend, für uns nicht größer als ein alter Batzen, für Zwerglein aber ein gehöriger Teller. Lange Tische sind mit dem feinsten Tuche bedeckt, das über einige Dachschindeln gespannt ist. Da ziehen sie in feierlichem Zuge herum. Voran marschieren zehn geharnischte Ritter in rotgesottenen Krebsnasen als Brustpanzer und die übrigen Schalenringe als Arm- und Beinschienen umgelegt; als Helme haben sie zierlich gewundene Schneckenhäusel auf den Köpfen. Sie tragen die alten Silber- und Goldkannen und andere Kleinode des Geschlechtes. Wie die Erdleutchen nun um die Tische herumgehen, zieht jeder seine Schüssel aus dem Säcklein, legt sie an seinen Platz und setzt sich dahinter, und jeder schüttelt seinem Nachbar ernsthaft die Hand. Freilich folgt nun ein desto fröhlicheres Essen, daß die goldenen Teller, die feinen Messer und Gabeln nur so klingen. Zuerst kommt der delikateste Reisbrei mit Rosinchen, belegt mit kleinen Bratwürstchen, die aus Feldlerchen und zartem Ferkelfleische gemischt und gehackt sind. Herrlich sind diese Würstchen geröstet. Je drei oder vier Mann haben zusammen eine Bowle vor sich, nämlich einen prächtigen reifen Pfirsich, aus welchem der Kern genommen, das dadurch entstandene Loch aber mit Muskatwein gefüllt ist. Ihr könnt euch denken, wie sie mit ihren Löffelchen da hineinbohren!«
So fuhr sie mit eifriger Mühe fort, nicht nach den Geboten der Wahrscheinlichkeit, sondern nach ihrer Kenntnis der kindlichen Gelüste das Bankett der Wichtelmännchen auszumalen, bis sie nichts mehr wußte und darum den Schluß herbeiführte, zumal der Regenbogen verblichen war und der letzte Abendschein der Dämmerung wich.
»Haben sie nun genug gegessen und getrunken und von ihren jungen Tagen, mittleren Jahren und alten Erfahrungen gesprochen, so stehen sie unversehens alle miteinander auf, schütteln sich abermals, und zwar durcheinandergehend, die Hände und sprechen etwas kleinlaut: ›Wünsche wohl gespeist zu haben!‹
Plötzlich aber suchen sie das Loch, wo sie hereingekommen sind, und fangen an hinauszudrängen, sich auf die Fersen zu treten und in den Rücken zu knuffen, bis alle verschwunden sind und die Tische im Saal mit allem, was darauf steht, verlassen sind. Ein einziges lediges Weiblein, das allerjüngste von etwa zweihundert Jahren, was bei unsereinem einer Person von ungefähr zwanzig Jahren gleichkäme, ist noch dageblieben. Es hat die Pflicht, das ganze Geschirr zu reinigen, trocken zu reiben und in eine eiserne Truhe zu verschließen, die sie an der Stelle, wo der Regenbogen stand, in den Boden vergräbt. Hierbei helfen ihr die zehn Ritter, die mittlerweile draußen noch zurückgeblieben sind und ihre Pfirsichbowlen ausgeschlafen haben. Und wie Bauern, wenn sie Marksteine setzen, vorher rote Ziegelscherben als sogenannte Zeugen in die Grube legen, so werfen sie die Krebsschalen mit hinein und gehen dann auch fort, sich schlafen zu legen. Was tut aber nun das letzte Weiblein? Es nimmt das Säcklein, worein sein eigenes Goldschüsselchen gewesen, auf den Rücken, einen Stecken zur Hand und wandert seelenallein in die Ferne, um einem andern Volk dieser Art das Gedächtnis des ausgestorbenen zu überbringen. Es soll schon vorgekommen sein, daß eine solche Person sich in der Fremde noch glücklich verheiraten konnte bei einem jüngeren Geschlechte.«
Hier schwieg Frau Marie Salander, doch etwas betroffen über die Flunkerei, die sie den Kindern vorgemacht, während diese sich noch ein Weilchen still verhielten und dem Märchen nachschauten, das wie der Regenbogen verduftete. Kaum sahen sie noch das letzte Fräulein mit Stab und Schüsselchen in Gras und Ackerfurchen dahinziehen.