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Max ist ein Kind, das auf magische Weise durch einen seltsamen Fremden in eine Ameise verwandelt wird. Er wird daraufhin in die geheimnisvolle Welt der Insekten aufgenommen und lernt nach und nach jeden Aspekt ihrer komplizierten, aber glücklichen Existenz kennen. Der Ameisenhaufen erscheint ihm als eine geordnete, zivilisierte Gesellschaft, in der jede Ameise ihre eigene Rolle hat. Obwohl es sich bei “Max Butziwackel” dem Grunde nach um ein pädagogisches Werk handelt, gelingt es dem Text, das Schicksal und die Erlebnisse des Protagonisten mit den lehrreichen Vorstellungen, die er den jungen Lesern vermitteln will (ein Verständnis für die Werte der friedlichen Koexistenz und der Zusammenarbeit), in einem einzigen angenehmen erzählerischen Abenteuer zu vereinen, und er erreicht sein Ziel auf die bestmögliche Weise. Heraus kommt ein phantastisches Werk, das nicht nur Kindern, sondern auch großen Leuten das Eintauchen in eine gänzlich andere Welt eröffnet. Das Werk ist reichhaltig mit schönen Illustrationen ausgestattet.
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Seitenzahl: 275
ROMAN
Übersetzt
von
Luise von Koch
Mit Illustrationen
von
Karl Elleder
MAX BUTZIWACKEL DER AMEISENKAISER wurde im italienischen Original (Ciondolino) zuerst veröffentlicht von Bemporad, Florenz 1895.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
2023
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96130-598-8
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Max Butziwackel der Ameisenkaiser
Impressum
1. Drei Geschwister in der Sommerfrische.
2. Max wird ein Ameisenei.
3. Wer sein Leben als Ameise beginnt, erfährt Süßes und Bitteres.
4. Eine Ameisenmutter.
5. Max war Ei, Larve und Puppe. Nun ist er weder männlich noch weiblich.
6. Eine Riesenschlange.
7. Ist ein Kind klüger als eine Ameise?
8. Die Überführung der Schlange.
9. Max, der Soldat.
10. Im Kuhstall der Ameisen.
11. Eine Ameise, der das Latein Leibweh macht.
12. Butziwackel wird erkannt.
13. Das weiße Fähnlein.
14. Ein feindlicher Angriff.
15. Max wird General auf dem Schlachtfeld.
16. Ein Gasangriff auf General Butziwackel.
17. Kaiser Butziwackel I.
18. Der Überfall.
19. Viele Köpfe rollen in den Sand, weil einer den seinen zu hoch getragen.
20. Das Kriegsgericht.
21. Ein hochvornehmer Mordgeselle.
22. Letztes Lebewohl.
23. Kaiser Butziwackel findet eine Freundin, die aus einer Eichengalle herausspaziert.
24. Auf dem Weg zur Mutter.
25. Die geheimnisvolle Barke.
26. Wie man eine Seefahrt auf einem Dampfschiff beginnen und sie zu Pferde beenden kann.
27. Bei den Hummeln.
28. Zwei Insekten finden ihr Haus wieder.
29. Wie schwer es ist, in das eigene Haus zu kommen, wenn man keinen Hausschlüssel hat.
30. Kaiser Butziwackel wird mit einem Floh verwechselt.
31. Ohne Lateinprofessor wäre es auch diesmal besser gegangen!
32. Die Geheimnisse einer Rosenknospe.
33. Kaiser Butziwackel wird mit Steinen beworfen.
34. Adjutant Großzang verdient sich den Titel eines Grafen aller Hautflügler.
35. Im Bienenreich.
36. Ein Kaiser spricht mit einer Königin.
37. Das Geheimnis der Muskatellertraube.
38. Die Stadt in Aufruhr.
39. Max verläßt das Bienenreich.
40. Eine Fahrt erster Klasse.
41. Dritter Klasse, Abteil für Raucher.
42. Großzang findet beinahe den Hungertod.
43. Kaiser Butziwackel auf St. Helena.
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Zu guter Letzt
Eigentlich, liebe Kinder, sollte ich meine Geschichte mit der Beschreibung eines Landhauses beginnen, das an einem glühendheißen Sommermittag, so gegen 2 Uhr, mitsamt dem ganzen Lande ringsum schläfrig dalag.
So flüsterstill und schweigsam war es um diese Zeit, daß nicht einmal die rücksichtslosesten Schreier unter den Insekten, die kleinen Grillen, es wagten, die tiefe Ruhe zu stören.
Übrigens weiß ich längst, wie unbeliebt Beschreibungen bei euch sind. Wo immer ihr solche in Büchern antrefft, überspringt ihr sie in einem Hops, nicht wahr? Zudem ist es sowieso nicht schwer, sich mitten in einem schönen Garten ein weißes Haus mit grünen Läden vorzustellen, umrankt von üppigem Weinlaub; denn zwei kräftige Weinstöcke waren an jeder Ecke des Hauses gepflanzt und umkränzten prächtig alle Fenster mit hellem Grün. Muskatellersorte war es, und wer diese kennt, weiß sie zu schätzen! In dichten Massen glänzten die Blätter; was aber leider fehlte, das waren die süßen Trauben. Nur hier und dort schimmerte es goldig zwischen dem Laube, auffallenderweise aber nur immer hübsch entfernt vom Fenster. Es kommt nämlich beglaubigtermaßen höchst selten vor, daß Muskatellertrauben in erreichbarer Fensternähe zu finden sind; wenn Knaben in einem solchen Hause wohnen, fast niemals.
Bst! Bst! Seht dorthin an die Haustüre!
Ganz langsam öffnet sie sich, und heraus schleichen, eines hinter dem andern, drei Kinder. Bedächtig steigen sie die Steinstufen herab. Zwei Buben sind's und ein Mädchen. Mit schleppenden Schritten gehen sie dahin, und aus den Augen stiehlt sich trübselige Unlust bis zum Nasenspitzchen hin.
»Wie ist das möglich?« werdet ihr fragen, »im Sommer, zu dreien auf dem Lande, und trübselig, nicht froh und lustig sein?«
Ich kann es erklären.
Seht, jedes hält in der Hand ein Buch, aber kein Märchenbuch, keine Reiseabenteuer, sondern Schulbücher sind's. Vom Hause hört man rufen:
»Fleißig sein, Kinder! Onkel Walter kommt bald heim und überhört euch! O weh, wenn ihr dann nichts könnt, ist es zu Ende mit der versprochenen Kahnpartie!«
So schleichen die Dreie bekümmert ihres Weges. Ihre Bücher halten sie vor sich her, als ob es brennende Kerzen wären. Mit ihren traurig gesenkten Nasenspitzen erwecken sie den Eindruck, als ob sie zu einem Begräbnis gingen.
Sobald sie an einem schattigen Plätzchen im dichten Fliederbusch angelangt sind, setzen sie sich auf die Steinbank, jedes ein wenig abgerückt vom andern. Vorsichtig öffnen sie die Bücher, so vorsichtig, als ob am Ende gar zwischen den Blättern ein Kobold säße, der ihnen an den Kopf springen könnte.
Das Buch des Kleinsten scheint das gefährlichste zu sein, darinnen sitzt sicher der wildeste, kleine Kobold, denn er kann sich kaum überwinden, sein Buch aufzuschlagen.
Das köstlich kühle Plätzchen war den Kindern besonders empfohlen worden. Papa, Mama und Onkel Walter behaupteten, man könne dort auch an heißen Tagen vortrefflich lernen.
Aber, du liebe Zeit! Schon nach wenigen Minuten sank dem Kleinsten die Hand, die das Buch hielt. Er trieb seine Bäckchen zu kleinen rosigen Äpfelchen auf und versuchte ein quietschendes Jahrmarkttrompetchen nachzuahmen, indem er blasend die eingezogene Luft ausstieß. Da seine Kunst aber keinen Eindruck auf die Geschwister machte, bemerkte er tief aufseufzend:
»Ach, es geht wirklich nicht!«
Die beiden andern schienen zu schlafen oder emsig in ihr Studium vertieft zu sein, daher stieß er jetzt ungeduldig das Schwesterlein mit seinen Ellenbogen an und fragte unwillig:
»Spürst denn du nicht, wie heiß es ist?«
Zürnend hob die Kleine den Kopf.
»Schweig, Max! Ich muß meinen ganzen Verstand zusammennehmen, denn meine Rechnungen sind sehr schwer.«
»Ei, kann denn einer noch Verstand haben in solcher Hitze?«
Nun mischte sich auch der Älteste in die Rede. Er gab sich ein sehr gewichtiges Aussehen, konnte aber seinen eigenen Unwillen kaum verbergen, als er sprach:
»Die Wärme spielt hier gar keine Rolle. Im Gegenteil: die Mutter sagt, hier sei es hübsch kühl und Kühlung schärfe den Verstand.«
Der Kleinste dachte etwas darüber nach, dann sagte er mit größter Ehrlichkeit:
»Jawohl! Aber wenn man keine Lust zum Lernen hat, dann hilft auch die beste Kühlung nichts.«
Max hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. All den drei Kindern fehlte der Wille zum Lernen, und es wäre sehr schwer herauszubringen gewesen, welches von ihnen das faulste war.
Kaum hatte der Kleine die Wahrheit offen ausgesprochen, schlossen sie mit einem Klaps ihre Bücher und warfen sie geräuschvoll auf die Steinbank. Dabei bekamen die unschuldigen Bücher noch nachgerufen:
»Zum Kuckuck mit der Geschichte des Mittelalters!«
»Lebt wohl, ihr greulichen Rechnungen!«
»Gute Nacht, du lateinische Grammatik, du!«
Moritz, der größte, erhob sich jetzt, pflanzte sich mit gespreizten Beinen vor dem Brüderchen auf und begann zu überlegen:
»Unser ganzes Elend kommt daher, weil ihr eure Prüfung nicht bestanden habt.«
»Bitte«, verbesserte Therese, die Schwester, »du willst wohl sagen, weil wir sie nicht bestanden haben.«
Da lachte Max vorwitzig: »Daß wir neulich bei der Prüfung nicht gut weggekommen sind, wäre nicht so schlimm, aber daß wir noch einmal hinein müssen und lernen, lernen, lernen sollen, – puh – das ist schauderhaft!«
Moritz, der sich vorgenommen hatte, mit der Zeit – wenn er so gemütlich weiterlernte wie bis jetzt, allerdings mit reichlich viel Zeit – ein berühmter Rechtsanwalt zu werden, fand den Augenblick passend, eine seiner vielen Probereden zu halten, und begann sogleich im Rednerton:
»Wie ihr wißt, kann ich die Einrichtung der Prüfungen durchaus nicht loben.«
Max fiel ihm lachend ins Wort:
»Und in der Prüfung hat man dich nicht gelobt.«
»Wie kannst du dir erlauben, eine Rede zu unterbrechen, du Wicht, du Naseweis! – Wenn du nicht gleich still bist, du kleiner Unnütz, nenne ich dich Butziwackel.«
Butziwackel! Schauderhaft. – Wie war ihm dieses Wort verhaßt! – Was konnte er dafür, daß seine gute Mutter ihrem kleinsten Sohne in äußerster Sparsamkeit für den Landaufenthalt immer die alten, abgetragenen, fadenscheinigen Höschen ihres Moritz zumutete. Dem Wildfang Max wollten diese Höschen nie lange halten. So oft auch die Mutter den Sitzboden stopfte und flickte, es kam doch immer wieder einmal ein verdächtig weißes Zipfelchen zum Vorschein, das vorwitzig, einem Fähnlein gleich, hinter dem Kleinen herbammelte.
Für andere Leute mochte das Fähnlein ja recht putzig und lustig aussehen, für Max aber war es nur ärgerlich und entfachte seinen Zorn, um so mehr, als es ihm den kindischen Scherznamen Butziwackel eingetragen hatte.
Kaum hatte auch jetzt wieder sein älterer Bruder das verdrießliche Wort ausgesprochen, so griff Max nach dem Boden seines Höschens. Wahrlich! auch heute hing schon wieder frech ein Fähnlein heraus. Rasch stopfte er es ins Verborgene und ging grollend weg von seinen Geschwistern.
Mit Tränen in den Augen und zornrotem Gesichte lief unser kleiner Max durch den Garten und kam zu einer Felsgrotte, aus der ein Brünnlein plätschernd hervorsprang. Dort setzte er sich auf einen bemoosten Stein, stützte den Kopf auf beide Arme und starrte vor sich auf den Boden. Siehe, da lief eine Ameisenschar in langer Prozession geschäftig ihre Straße hin und her. Max schaute ihnen eine Zeitlang zu und dachte: »Wie schön haben's doch die Ameisen! Sie gehen den ganzen Tag spazieren, freuen sich des Lebens, müssen nicht lernen und kennen keine Prüfungen. Wenn ich doch nur auch eine Ameise wäre!«
Er mußte seine Gedanken laut ausgesprochen haben; denn plötzlich hörte er neben sich eine Stimme:
»Willst du, kleiner Faulpelz, wirklich eine Ameise werden?«
Erschrocken wandte Max sich um und gewahrte einen sonderbaren Alten langsam auf sich zutreten. Wie sah der Mann so merkwürdig aus! Woher war er nur gekommen? Auf seiner roten, spitzen Nase saß eine Riesenbrille, um den Hals schlang sich eine dicke, schwarze Binde, und ein grüner altmodischer Rock schleifte hinter seinen Fersen her. Dieser Mann beschaute lächelnd den verblüfften Kleinen mit Augen, die aus buschigen, fuchsroten Brauen hinter der funkelnden Brille wie Laternen leuchteten.
Es war alles so unheimlich, und der tapfere Max hatte Mühe, seine Furcht zu verbergen. Er hätte nicht gewagt, den Alten zu befragen, wer er sei und wie er in Vaters Garten hereinkäme. Eine Weile betrachtete der Fremde unsern Butziwackel, der schüchtern und gar nicht keck wie sonst, aber neugierig wie immer auch seinerseits den Unbekannten musterte. Der holte jetzt kopfschüttelnd aus einer tiefen Rocktasche eine großmächtige Dose hervor, öffnete sie sachte, stopfte sich eine ausgiebige Prise in die Abgründe seiner großen Nase, nieste dreimal und brummte dann mit näselnder Stimme die sonderbaren Worte:
»Ameis!Mit Fleiß!So sei's!«
Leise vor sich hinlachend, schlürfte er dann in seinen grasgrünen Pantoffeln und dem langen Schlepprock den Kiesweg entlang, der zum Gartentürchen gegen den Wald zu führte.
Mit seinem roten Schnupftuch winkte er noch spöttisch Max zu, der ihm verwirrt nachschaute. Er bemerkte noch, wie der sonderbare Mann belustigt und kichernd seinen Kopf schüttelte und sodann geheimnisvoll hinter den Büschen am Wege verschwand. Starr vor Staunen und Verwirrung hatte Max die sonderlichen und unerklärlichen Worte vernommen. Wenn er sie leise nachsprach, so wurde ihm so furchtsam, so bang zumute, daß er am liebsten hätte fortlaufen mögen zu Therese und Moritz, die ihn vielleicht schon suchten. Allein, merkwürdig! Er konnte nicht vom Stein aufstehen, es war, wie wenn er festgeleimt wäre. Er wollte den Geschwistern rufen, die er von ferne auf dem Gartenwege sah, aber seine Stimme versagte. Er wollte ihnen zuwinken, aber er fühlte sich so bleiern müde; seine Augenlider waren schwer, sie fielen zu, und es wurde dunkel um ihn. Nein, wie sonderbar ward ihm doch zumute! Wurde er nicht klein und immer kleiner? War er nicht jetzt ganz weich und ein rundes Ding geworden? Er wollte die Arme heben, mit den Beinen zappeln, er hätte schreien mögen, weinen, fortlaufen, Widerstand leisten gegen die geheimnisvolle Kraft, die ihn zusehends veränderte und die, wenn sie noch länger über ihn Gewalt hatte, ihn zu einem spurlosen Nichts zusammenschrumpfen ließ. Er war wie eingeschnürt von allen Seiten, und deutlich spürte er, daß er die Form eines winzigen Eies annehme.
In diesem unglücklichen Augenblick dachte er noch an das weiße Wackelfähnlein. Er machte den verzweifelten Versuch, dieses beschämende Fetzchen zu verstecken, umsonst, umsonst!
Schon war Max am Ende seiner Verwandlung angelangt; er fühlte, wie seine Sinne sich verwirrten und umnebelten. Zwei schwarze Schatten tauchten noch vor seinen Blicken auf. Das waren vielleicht zwei Totengräber, die ihn holten! Gewiß, er täuschte sich nicht; sie hoben ihn sachte empor, und nun machte er den letzten angestrengten Versuch zu schreien:
»Um Gottes willen, ich bin Max, helft mir doch das Zipfelchen verstecken!«
Die vergebliche Mühe brachte ihn aber nur um die letzten Kräfte. Willenlos überließ er sich jetzt dem Schicksal und verlor das Bewußtsein.
Wie lange blieb Max in Ohnmacht? Er konnte es nicht ermessen; aber wahrscheinlich währte der Zustand im Vergleich zu den großen Veränderungen, die mit ihm vorgingen, nicht lange.
Als er zu sich kam, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Hatte ihn jemand für einen Garnwickel gehalten und Fäden über ihn gewunden? Er spürte es doch, er saß oder lag inmitten eines Fadenknäuels, aus dem herauszuschlüpfen er sich tapfer abmühte. Niemals hätte er das Kunststück fertiggebracht, wäre ihm nicht glücklicherweise jemand zu Hilfe gekommen, der sorgsam die Wirrnis der Fäden weitete und ihm Luft machte. Endlich konnte er den Kopf herausstrecken, gottlob folgten die befreiten Arme, und
»Nur Mut«, hörte er jetzt eine Stimme ihm zureden.
Mit einem letzten, gewaltigen Ruck gelang es ihm schließlich, den ganzen Körper frei zu bekommen, und zugleich fühlte er, wie man ihn zärtlich liebkoste und wunderlich beleckte.
»Na«, meinte er überrascht, »was soll das?«
»Ich wasche dich sauber, Kindchen.«
»Wie, mit der Zunge? Bin ich ein Kätzchen geworden? Darf ich bitten: wo bin ich, wer sind Sie, und was ist mit mir geschehen?«
Das hilfreiche Wesen antwortete:
»Still, Kleines! Wie bist du doch so neugierig! Jetzt, wo du eben erst aus deinem Gespinst geschlüpft bist, kannst du noch nichts verstehen. Gedulde dich, bald wird dir alles klar werden, du kleiner Naseweis.«
Naseweis hatte sie gesagt. Er war also schon erkannt und hütete sich, jetzt noch mehr wissen zu wollen. Aber bei der gütigen Ruhe, mit der er von allen Seiten gestriegelt wurde, erwachte sein Denken; seine Gedanken ordneten sich, und er wollte sich selbst Rechenschaft geben von seinem neuen Zustande. Gottlob, die letzten Wundererlebnisse hatten seinem Gedächtnis nicht weiter geschadet. Zunächst aber gab es leider, leider keinen Zweifel. Er befand sich in der ägyptischen Finsternis, von der er in der Schule einst gehört hatte, oder was ganz entsetzlich wäre, er war blind! Wie konnte er aber dann wissen, wo er sich jetzt aufhielt? Jawohl, Blinde haben ja solch feines Gefühl für den Raum, in dem sie sich befinden. Und er, er war in einem unterirdischen Zimmer, er wußte es, ohne herumzutasten. Ringsum beobachtete er mit feinstem Sinn ein emsiges Arbeiten von vielen geschäftigen Wesen, ohne solche zu sehen. Hatte er einen neuen Sinn bekommen? Er beantwortete sich jetzt von selbst die vorhin gestellten Fragen. Er war eine Ameise; das Wesen, das vor ihm stand, war auch eine Ameise, und sie beide befanden sich in einem Ameisenhaus. Soviel begriff er einstweilen, so wunderbar es auch war. Verworrene Bilder aus der letzten Vergangenheit tauchten in seinem Gedächtnis auf wie ein halbvergessener Traum. War nicht ein merkwürdiger, alter Herr dagewesen mit einem langen, grünen Rock und rotem Schnupftuch, mit Brille und Tabaksdose, der unversehens in dem Augenblick auf ihn zugetreten war, als er sich gewünscht hatte, eine Ameise zu sein, ohne Prüfungsnot und Bücherqual? Moritz, Therese? Wo werden sie sein? Zu Hause bei Vater und Mutter?
Dieser Gedanke bewegte Max schmerzlich, allein er beruhigte sich nach und nach. Es war nun einmal nichts zu ändern. Weil er nicht lernen wollte, hatte er sich das gewünscht, was er jetzt war. Onkel Walter sagte stets: »Ein Mann muß die Folgen seines Handelns auf sich nehmen.« In der Schule hatte er ein Sprichwort gelernt: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Mit vernünftiger Überlegung schloß er seine Betrachtung:
»Ich bin jetzt eine Ameise, und es geht mir nicht schlecht. Aber Max bin ich doch auch noch. Wenn es nicht so wäre, kämen mir diese Fragen und Gedanken gar nicht in den Sinn. Folglich bin ich jedenfalls etwas viel Besseres als diese Insekten um mich, und ich werde immer tun können, was mir gefällt und was ich will.«
Die pflegliche Ameise, die noch vor ihm verweilte und ihn auf den noch schwachen Füßen gehalten hatte, befragte jetzt Max:
»Liebes Püppchen, du wirst wohl Hunger haben?«
»Nicht wenig«, erwiderte Max erfreut, der längst schon Appetit verspürte.
»Da, nimm«, sprach die Ameise und streifte ihm eine vorzügliche Süßspeise in den Mund. Mit gespitzten Lippen kostend und leckend wollte Max wissen:
»Ach, was ist das Gutes?«
»Blattlaushonig, junges Ameislein. Schmeckt er?«
»Ausgezeichnet! Ich habe nie Besseres gegessen.«
Erwartungsvoll öffnete er noch einmal den Mund, um ein zweites Honigschlückchen zu bekommen. Dabei machte er eine neue Beobachtung.
Wie war doch nur sein Mund geworden? Sonderbar, ganz anders als sein Menschenmund! Er besaß zwei große, starke Unterkiefer, die man Mandibeln nennt. Ihre inneren Ränder waren gezackt wie eine Säge, und sie schlossen sich zusammen wie eine Zange. Doch dienten sie nicht zum Essen. Er spürte die Speise zuerst auf dem unteren Teil des Oberkiefers, der über den Unterkieferzangen lag und eine Art Lippe bildete. Auf dieser fühlte er, wie wir es mit der Zunge machen, den süßen Geschmack des Honigs, den er so behaglich einschlürfte.
Durch die feine Speise gekräftigt, fragte er sehr bescheiden, um nicht wieder Naseweis genannt zu werden, seine liebevolle Pflegemutter:
»Verzeihen Sie meine Neugierde! – Was für gute Sachen werde ich mit meinen großen, starken Kieferzangen kauen, da ich sie zum Honigessen nicht gebrauchte?«
»Gute Sachen? liebes Kind, gar keine; denn zum Kauen dienen deine kräftigen Zangen durchaus nicht.«
»Wie, was? Nicht? Ja, wofür sind sie dann da?« fragte Max enttäuscht.
»Wir gebrauchen sie als Waffe zu unserer Verteidigung und hauptsächlich zum Arbeiten.«
»– – – Zum Ar– – – Arbei – ten?«
Vor Schreck fiel Max platt auf den Rücken und wäre liegen geblieben, wenn ihm nicht seine Pflegemama wieder auf die Beine geholfen hätte.
»Ja, zum Arbeiten«, wiederholte deutlich die Ameise, »du wirst es gewiß recht bald lernen und üben.«
Max sperrte seinen sonderbaren Mund mit den eingesägten Kieferzangen vor schmerzlicher Überraschung weit auf, während die Pflegerin ihn von neuem fleißig beleckte. Über diese Art von Reinlichkeitspflege wurde er wieder lustig. Er schüttelte und drehte sich vor Lachen und rief:
»Hören Sie doch auf, das kitzelt ja unbändig.«
Da mußte die Ameise selber lachen und erklärte ihm:
»Ich glätte jetzt deine Fühler, sie sind der empfindlichste Teil deines Körpers.«
»Fühler? Hm, hm, Fühler habe ich?«
»Fühler nennen wir die feinen Stengelchen, die du oben auf deinem Kopfe trägst; greife nur mit deinen Beinchen danach, dann kannst du sie deutlich betasten«; zugleich half sie ihm diese Bewegung ausführen.
Er fuhr sich mit den Vorderbeinchen, die wahrhaftig so geschickt wie Arme und Hände waren, über den Kopf, befühlte und betastete sich und behauptete: »Solche Dinger nennt man Hörner!«
Wie gerne hätte er sich in einem Spiegel besehen, aber wo wäre ein solcher zu finden gewesen?
»Nenne sie, wie du willst«, sagte freundlich die Ameise, »aber Hörner sind es sicher nicht, denn sie sind aus zartestem Stoff beschaffen, was man von Hörnern nicht behaupten kann. Wehe uns, hätten wir keine Fühler! Durch ihren Gebrauch finden wir unsere oft schwierigen Wege, vermeiden Hindernisse und geben uns gegenseitig damit Zeichen.«
»Herrje, das ist viel auf einmal!«
»Aber lange nicht alles. In den äußersten Enden der Fühler sitzt unser Geruchsinn.«
»An der Spitze der Fühlhörner ist also die Nase?«
Die Ameise lächelte über seine ungewohnte Art zu fragen und fügte der Belehrung hinzu, daß in den Fühlern nicht nur der Geruch, sondern auch das Gehör seinen Sitz habe.
Nun, die Vorstellung, so lange Ohren zu haben, war etwas demütigend, und Max wollte schon ein bißchen beleidigt tun. Aber davon merkte die Sprecherin nichts und belehrte weiter:
»Ohne Fühler könnten wir im Finstern uns nie zurechtfinden.«
Max wurde es nach diesen Worten verständlich, wie er trotz der Dunkelheit verschiedenes ganz gut wahrnehmen konnte. Das geschah eben durch den wunderbar feinen und vielfältigen Sinn in den Fühlern. Beruhigt war er aber trotzdem nicht, und er äußerte tief besorgt:
»Wie traurig ist es trotzdem, keine Augen zu besitzen!«
Jetzt mußte die Ameise herzlich lachen. Dabei streichelte sie den Kleinen und liebkoste ihn.
Max, der immer ein wohlerzogener Junge gewesen war, erinnerte sich endlich, daß er für alle erwiesene Liebesmühe noch mit keinem Sterbenswörtchen gedankt habe. So begann er etwas verlegen:
»Liebe Frau Ameise, wie heißen Sie eigentlich?«
»Man nennt mich in meiner Familie Fuska. Gelehrte Leute aus meinem Stamme wissen, daß der Name lateinisch ist und soviel bedeutet wie ›die Dunkle‹.«
»Verzeihen Sie, Frau Fuska, ich dachte noch nicht daran ›Danke schön‹ zu sagen für Ihre große Güte, mit der Sie mich aus dem abscheulichen Garnwickel befreit, und für die vielen Belehrungen, die Sie mir erteilt haben.«
»Kind, was fällt dir ein, ich habe nur meine Pflicht erfüllt.«
»– Pflicht? – Wieso?« –
»Ja, ich tat, was du den Ameisen, die nach dir geboren werden, auch tun wirst.«
»Nun, das verstehe ich nicht; ich sollte auch …?«
»Wie könntest du jetzt schon etwas von bürgerlichen Pflichten verstehen! – Wenn du später dem Unterricht beiwohnst, wirst du das Nötige schon darüber erfahren.«
Bei dem Worte Unterricht machte Max mit seinen sämtlichen sechs Beinen einen Sprung nach rückwärts und wäre vor Schrecken fast ohnmächtig geworden.
Was! er war ausgerechnet eine Ameise geworden, um dem Lernen zu entgehen, und nun hörte er hier vom Unterricht reden? Das war ein unerhörter Reinfall! Zitternd vor Schrecken stammelte Max:
»Ich habe nicht gut verstanden. Was sagten Sie, liebe Frau Fuska?«
»Morgen ist die erste Unterrichtsstunde für die Neugeborenen. Man lernt dort alles, was eine rechte Ameise wissen und kennen muß, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.«
Versteinert stand der gute Max:
»Wissen« … »Kennen« hatte sie gesagt. Also lernen! – Auch bei den Ameisen!
Hatte sie das gemeint? Vor Entrüstung bebend stieß er die Frage hervor:
»Gibt es bei den Ameisen vielleicht auch eine Sprachlehre, eine lateinische Grammatik?«
Diese Frage verstand und beachtete Fuska gar nicht, sie wendete sich vielmehr an vorübereilende Genossinnen, um mit ihnen Zeichen auszutauschen.
Max aber war es, als ob ihm ein Brocken im Halse steckte und ihn würgte; er war den Tränen nahe.
Da er aber ein verständiger Bursche war, sah er ein, wie unnütz das Weinen sei, besonders wenn man doch keine Augen hat. Er kletterte tief betrübt und niedergeschlagen auf das leere Fadenknäulchen, aus dem er vor kurzem mühsam und neugierig herausgekrochen war, setzte sich rittlings darauf und trommelte unmutig mit seinen Vorderbeinchen an die hohlen Wände, daß es widerhallte.
Schon wendete sich die Pflegerin Max wieder zu und sagte freundlich:
»Komme mit mir!«
Folgsam stieg Max von seiner großen Trommel herunter und bemerkte, wie gut er auf seinen Hinterbeinchen aufrecht stehen und gehen konnte. Wahrscheinlich waren ihm außer seinem Gedächtnis und seinem Verstande noch mehr menschliche Eigenschaften verblieben, und das konnte immerhin ein starker Trost für ihn sein in mancher Bitternis.
So folgte er mit neuem Mute Fuska. Warum stieß er nur plötzlich einen jubelnden Freudenschrei aus? Was war geschehen? O Jubel! Er war nicht blind! Nein, er konnte sehen, großer Gott, wie gut konnte er sehen!
In den weiten Saal, in den Fuska ihn eintreten ließ, drang von oben durch eine winzige Öffnung ein Lichtstrahl herein. Befand er sich vielleicht im Wohnzimmer oder gar im Speisesaal des Ameisenhauses? Aber wie eigenartig neu war sein Schauen! Er hatte einen viel übersichtlicheren Blick bekommen für alles, was ihn umgab. Ohne Kopf und Augen zu wenden, übersah er, was über ihm, vor ihm, hinter ihm und seitwärts geschah. Der Saal glich einer Grotte, die von Säulen gestützt wurde. Wände, Boden, alles war sauber geglättet und regelmäßig angeordnet. Rechts und links waren Ameisen emsig beschäftigt, und einige schauten ihn wohlwollend und freundlich an, lächelten auch wohl über seine staunende Miene. Alles dies konnte er sozusagen mit einem einzigen Blick beobachten.
»Worüber bist du froh erregt?« fragte ihn Fuska.
»O wie glücklich bin ich«, rief Max freudestrahlend, »ich habe ja die besten Augen der Welt! Aber wie geht es wohl zu, daß ich so verschiedenes zu gleicher Zeit sehen kann? Ich bewege weder Kopf noch Augen und trotzdem –«
»Das kannst du ja auch gar nicht«, fiel Fuska belehrend ein. »Weißt du, liebes Ameislein, weil wir unsere Augen nicht bewegen können, hat uns die Natur anders geholfen. Unsere Augen sind so gebaut, daß wir durch ihre Form und Stellung ein weites Gesichtsfeld haben. Ja, ja, alle Geschöpfe sind von der großen Mutter Natur so ausgestattet, daß zu ihrem Leben und Wirken alles bereit ist, was sie zu ihrem Dasein brauchen. Wir Ameisen haben zwei zusammengesetzte Augen.«
»Zusammengesetzte Augen! – Kann man sie auch auseinandernehmen?«
Fuska erklärte mit unerschöpflicher Geduld:
»Die Oberfläche der beiden Augen, die links und rechts an unserem Kopfe liegen, ist aus kleinen sechseckigen Feldern zusammengesetzt. Jedes dieser Sechsecke zeigt nach oben eine Wölbung wie ein Brennglas, und jedes Feld ist ein vollkommenes Auge. Begreifst du nun, daß wir deshalb in jedem Augenblick nach allen Richtungen schauen können?«
Max ging voll Neugier auf seine mütterliche Lehrerin zu, schaute ihr in die Augen und rief:
»Das sieht ja aus wie ein feines Netz!«
»Ganz richtig, unser Auge, aus vielen kleinen sechseckigen Augen zusammengesetzt, heißt darum auch Netzauge; Gelehrte nennen es Facettenauge. Doch sollst du dich über die Menge der Felder in meinem Auge nicht zu sehr wundern. Wir haben nicht viele, nicht einmal hundert.«
»Wie, das heißt wenig?«
»Im Vergleiche zu andern Insekten wohl. Solche Insekten, die in der Luft leben, würden mit hundert kaum zufrieden sein. Fliegenaugen haben etwa viertausend solcher Facettenfelder.«
»Viertausend!«
»Libellen haben mehr als zwölftausend.«
Es ist kein Wunder, daß Max mit seiner Vorstellungskraft Fuskas Belehrung kaum mehr folgen konnte, als sie noch weiter erzählte:
»Ein Insekt gibt es, das heißt Dolchwespe. Die Augen dieser Dolchwespe sind genau genommen fünfundzwanzigtausend Äuglein. – Gelt, da staunst du?«
Max fand tatsächlich keine Worte, um sein Erstaunen auszudrücken. »Wenn diese Dolchwespe kurzsichtig würde«, dachte er, »dann bräuchte sie alle Brillen der Welt für sich allein.« Fuska würde seinen witzigen Gedanken doch nicht verstehen; er verschwieg ihn mit halbem Bedauern und fragte weiter:
»Wie viele Augen habe ich also?«
»Komm her, ich zähle sie. – Eins, zwei, drei … So jetzt. – Das eine von deinen beiden zusammengesetzten Augen hat sechzig Felder.«
»Da hätte ich im ganzen hundertzwanzig Augen?«
»Nein, du zählst deine einfachen Augen nicht mit.«
»Ich habe auch noch einfache zu den zusammengesetzten? Genügen die hundertzwanzig nicht?«
»Keineswegs; mit den hundertzwanzig bist du wohl imstande, mit einem Blick alles ringsum wahrzunehmen, aber die nächsten Gegenstände kannst du mit ihnen nicht klar unterscheiden. Wenn du mich ansiehst, tust du es mit den einfachen Augen.«
Man denke sich, mit welchem Forscherblick jetzt Max Fuska aufs neue betrachtete. Richtig, auf Fuskas Scheitel entdeckte er im Dreieck gestellt drei helle, sanfte Äuglein, die in Perlmutterglanz leuchteten.
»Rechnet man alles in allem«, zählte Max tief aufatmend, »so besitzen wir hundertdreiundzwanzig Augen.«
»Es ist so, ganz richtig!«
»Nun muß ich mich ein paar Minuten verschnaufen, ich kann es ja kaum glauben. Sollte man so etwas für möglich halten! Erst glaubte ich, ich sei blind, und nun entdecke ich an mir mehr als hundert Augen!«
Die Sache gab Max gehörig zu denken. Still wiederholte er für sich:
»Hundertdreiundzwanzig Augen! Hätte ich sie auch als Kind gehabt, so hätte ich mit hundertdreiundzwanzig in meine Bücher gucken müssen.«
Wie er noch schaudernd bei solch ungeheuerlichem Bilde verweilte, hörte er ein Schreien im Saal:
»Obacht! Hallo! Platz gemacht!«
Eine geflügelte Ameise kroch herein, gefolgt von einigen Gefährten. Mühselig und erschöpft bewegte sie sich vorwärts, von den Gefährten beinahe getragen und geschoben. Bei jedem ihrer Schritte hinterließ sie ein ovales Kügelchen, das vom Gefolge sorgfältig mit dem Munde aufgehoben wurde.
»Das ist ein schöner Skandal«, entfuhr es Max, der kaum hinzusehen wagte.
»Wo ist ein Skandal?« fragte Fuska verwundert.
»Hm«, meinte Max, »ich finde das, was ich sehe, gerade nicht sehr anständig.«
Fuska wies ihn unwillig zurecht und sprach:
»Ach, so reden die Leute immer, wenn sie eine Sache nicht verstehen! Diese geflügelte Ameise, von der du wer weiß was für unpassende Dinge zu sehen vermeinst, ist ein braves Ameisenweibchen, das hereingeführt wird, um uns seine Eierchen zu schenken.«
Da schämte sich Max seiner voreiligen Anschuldigung und fragte dafür um so wißbegieriger:
»Was machen die Ameisen mit den Eierchen?«
»Sie befeuchten sie mit der Zunge, damit sie wachsen und gedeihen, und dann werden sie in ihre Stube gebracht.«
»Das ist ja sehr nett. Bin ich auch so zu euch gekommen?«
»Nein, das Ei, in dem du stecktest, fanden zwei unserer Schwestern auf einem bemoosten Stein in der Nähe unseres Hauses; sie brachten es uns heim.«
»Aha«, dachte Max, »das waren die vermeintlichen Totengräber!«
Aber er hütete sich, seine Geschichte zu erzählen. Wer hätte sie ihm geglaubt!?
»Komme, damit ich dir zeige, wie wir Eier und Kinderchen pflegen«, sprach Fuska und zog Max mit sich fort, bis sie in einem Saal anlangten, der vermutlich die Kinderstube vorstellte. Wie gelbliches Korn lagen hier Eier aufgehäuft. Fuska wies darauf hin und sagte:
»Sieh hier, der erste Zustand in unserer Entwicklung.«
»Wie ist das zu meinen?«
»Insekten kommen als Eier zur Welt. Das lebendige Eichen krümmt sich nach und nach, wird durchscheinend und verwandelt sich in eine Larve.«
»Eine Larve«, rief Max, »wie spaßig! So spielen die Ameisen erst Fastnacht, bevor sie richtige Tierchen werden? Als ich mich einmal maskierte, setzte ich eine Larve vors Gesicht, um mich unkenntlich zu machen.«
Fuska verstand nicht alles, was er redete, aber sie erklärte ihm liebenswürdig:
»Gewiß, im Larvenzustand ist unsere eigentliche Lebensform zunächst vollständig vermummt. Wir liegen als hilflose Würmchen auf der Erde; aber dann, wenn wir die Verhüllung ablegen … Doch das sollst du jetzt alles selbst sehen; komm!«
Fuska führte Max zu einer Saalecke, wo in langen Reihen höchst eigenartige Geschöpfe standen. Nein, wie sie doch aussahen! Oben waren sie dünn wie ein Fädchen, schwollen nach unten langsam an wie eine dicke Träne, die aus dem Auge rollt. Im Fallen wird sie dicker, und wenn sie über ein ungewaschenes Kindergesichtlein rinnt, nimmt sie eine schmutziggraue Farbe an. Gerade solche Färbung wiesen diese Wesen auf. Wie in einer Schule waren sie in Reihen nach der Größe aufgestellt. Beim Nähertreten bemerkte Max, daß die Dinger winzig kleine Köpfchen, aber weder Augen noch Füße hatten. Fast sahen sie aus wie eine Reihe von Zipfelmützen, die mit Lumpen ausgestopft und unten zugenäht sind. Max mußte bei diesem ungewohnten Anblick unbändig lachen.
»Sehr geehrte Larven«, so redete er sie an und hob dabei seine Fühler hoch, »wieviel Hörner strecke ich?«
Einige erwachsene Ameisen sahen ihn verweisend an.
»Wie magst du dich über unsere Kleinen lustig machen?« sprach Fuska. »Hast du doch selbst vor kurzer Zeit nicht anders ausgesehen!«
»Wie?« erwiderte Max; »bin ich auch so häßlich, so lächerlich gewesen?«
»Und nur unserer Hilfe hast du es zu verdanken, daß du in diesem Zustande nicht elendiglich zugrunde gingst!«