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Eine junge Krankenschwester wird Opfer eines brutalen Gewaltverbrechers. Die Obduktion ergibt, dass sie nicht an ihren Verletzungen starb, sondern an einer rätselhaften Lungenkrankheit. Als kurze Zeit später der mit dem Fall betraute Gerichtsmediziner tot zusammenbricht und die Behörden seinen Körper unter Verschluss halten, wird Kommissar Max Talheim misstrauisch. Sind die Todesfälle der Beginn einer geheimnisvollen Epidemie? Ins Visier der Ermittler gerät ein Berliner Pharmakonzern, für dessen Geschäfte sich auch der BND interessiert ...
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Lienhard Wawrzyn
Kriminalroman
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ebook im be.bra verlag, 2014
© der Originalausgabe:berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbHBerlin-Brandenburg, 2009KulturBrauerei Haus 2Schönhauser Allee 37, 10435 [email protected]: Gabriele Dietz, BerlinUmschlag: Ansichtssache, BerlinISBN 978-3-8393-6137-5 (epub)ISBN 978-3-89809-513-6 (print)
www.bebraverlag.de
»Ihr liebt das Leben; wir lieben den Tod!«
Osama Bin Laden
»Der Wind ist nur demjenigen günstig, der weiß, wohin er segeln will.«
Michel de Montaigne
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Bianka brachte ihren Freund zur Tür. Sie war müde. Unglaublich, wie müde man wird, wenn man einen ganzen Abend mit einem Mann verbringt, den man nicht mehr liebt. Dabei hatte Thomas sich wirklich Mühe gegeben in letzter Zeit. Er hatte sich sogar hingesetzt zum Pinkeln.
»Soll ich nicht doch bleiben?«
Sie lächelte und schüttelte ihre dunklen Locken.
»Wirklich nicht?«
Sie war einen halben Kopf größer als er und blickte jetzt zu ihm hinunter. Aber das störte sie nicht; sie trug sogar hohe Absätze. Seine blauen Augen blitzten. Auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen. Süß sah er aus, wenn er so lächelte. Sie spürte seine Begierde. Einen Augenblick zögerte sie.
Er merkte es, trat auf sie zu, sah ihr in die Augen und sagte: »Ich liebe dich sehr, sehr«.
Sie schüttelte den Kopf. Ja, dachte sie, aber leider bist du auch sehr, sehr verheiratet.
Sie schwieg.
Sie wollte ihr Leben endlich in den Griff kriegen. Sie träumte von romantischer Liebe. Aber in Thomas’ Alltag hatte sie nicht einmal den Status eines Zweitwagens. Sie schloss die Augen und dachte: Nein, ich will ihn nie wiedersehen.
Sie blieb stehen, bis seine Schritte verklungen waren. Dann schloss sie die Augen und lauschte: Das Gartentor quietschte und fiel hinter ihm ins Schloss. Endlich allein!
Sie ging zurück ins Haus, trug die Schale mit den Crackern und die Weingläser in die Küche und stellte sie ins Spülbecken. Gegen ihre Gewohnheit hatte sie den Geschirrspüler noch nicht ausgeräumt. Schon der Gedanke, dass Thomas sie besuchen würde, hatte sie gelähmt. Überhaupt fühlte sie sich matt heute, so matt, dass sie ihren Dienst vorzeitig beendet hatte. Es war heiß, seit Wochen lag Berlin unter einer Hitzeglocke. Vielleicht war es diese Hitze, die ihr so zu schaffen machte.
Auf dem Küchentisch lagen immer noch Brief und Karte aus Antalya. Als Bianka sie endlich lesen wollte, strich Bogumil ihr um die Beine, der Kater ihrer Eltern. Zielstrebig stolzierte er zum Kühlschrank und peitschte herrisch seinen Schwanz gegen die Tür. Sie lächelte. Wenn Thomas das sehen könnte! Er hasste Katzen, sodass Bianka ihm neulich prophezeit hatte, zur Strafe würde er in seinem nächsten Leben als Maus zur Welt kommen.
Sie goss Bogumil Milch in seinen Napf; füllte sich Joghurt in ein Glas, gab Leitungswasser und eine Prise Salz hinzu und schlug die Mischung mit dem kleinen elektrischen Schneebesen schaumig: Ayran. Dazu ein Knäckebrot mit Margarine. Sie wollte auf ihre Linie achten. Falls ihr der Richtige irgendwann über den Weg laufen sollte, wäre Dr. Schlank sicher nicht der schlechteste Ehestifter.
Einen Augenblick war ihr, als hätte draußen das Gartentor gequietscht. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Prompt fiel ihr das Knäckebrot runter, natürlich auf die bestrichene Seite. Sie pustete den Staub weg.
Während sie aß und trank und Bogumil auf ihren Schoß sprang, las sie den Brief aus der Türkei, wo ihre Eltern am Strand in der mediterranen Sonne brieten, während Bianka unterdessen in Lichtenrade den Kater versorgte und das Haus hütete, eine herausgeputzte Vorstadtvilla in der Rangsdorfer Straße.
Früher, so hatte jedenfalls die Witwe des alten Klempners ihr erzählt, die um die Ecke wohnte und manchmal mit ihrem Hund hier vorbeikam, früher war das Haus ein Gemüseladen gewesen mit Einliegerwohnung. Von dem Laden war längst nichts mehr zu sehen. Nicht einmal der riesige Kirschbaum, der damals hier gestanden haben sollte, war geblieben. Eine niedrige Ligusterhecke, ein räudiger Rasen und etwas gebleichter Kies, das war alles, was den Garten ihrer Eltern zierte. Trostlos, aber pflegeleicht.
Bianka genoss die nächtliche Stille hier. Sie hauste in einer Einzimmerwohnung am Bundesplatz, wo rund um die Uhr der Verkehr rauschte und die Weingläser in der Vitrine klirren ließ. Besonders wenn sie Nachtdienst gehabt hatte und erst morgens ins Bett kam, war sie, wenn sie nachmittags aufwachte, wie gerädert von all den Lkws, die durch ihre Träume gedonnert waren.
Sie betrachtete den Brief. Sie mochte die runden, gefälligen Buchstaben ihrer Mutter, mit denen sie das Wetter lobte und sich über die türkischen Händler beschwerte, die sie, sobald sie allein unterwegs war, augenzwinkernd zum Tee einluden. Zwei-, dreimal hatte einer dieser Kerle aus Daumen und Zeigefinger einen Ring gebildet und darin den Zeigefinger seiner anderen Hand auf- und abgleiten lassen. Ihre Mutter schrieb, dass der Mann das vermutlich für eine verzeihliche Sünde hielt gegenüber einer Frau, die weder ihr Haar noch ihre Schultern bedeckte.
Draußen knirschte etwas. Einmal, zweimal. Dann herrschte Stille. War das der Kies am Haus? Sie stand auf. Beleidigt sprang Bogumil von ihrem Schoß.
Sie überlegte, seit wann sie sich so elend fühlte.
Vergangene Woche war sie spät vom Nachtdienst gekommen; die Übergabe an die Kollegen hatte sich hinausgezögert, weil ein Herzinfarkt eingeliefert worden war. Sie war müde gewesen, hundemüde; es war morgens kurz nach sechs. Die Luft war schwül, die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht. Es war Juni. Aber nicht einmal die Vögel sangen mehr. Ein stummer Frühling.
Vor der Notaufnahme hatte dieses Taxi gestanden. Sie sehnte sich nach dem klimatisierten Innenraum, nach kühler, trockener Luft. Manchmal konnte man mit den Fahrern einen Pauschalpreis ausmachen, sie stellten dann die Uhr nicht an und man fuhr fast zum halben Preis.
Sie hatte dem Mann ihr Fahrtziel genannt: das Haus ihrer Eltern in der Rangsdorfer Straße. Der Fahrer hatte sie eindringlich gemustert, dann hatte er gesagt: »Wissen Sie was, junge Frau, es ist meine letzte Tour, nicht weit von da wohnt meine Freundin. Ich fahre Sie umsonst.« Was für ein Glück nach einer harten Nacht.
Merkwürdig, der Fahrgastraum war durch eine Plexiglasscheibe vom Fahrer getrennt gewesen. Offenbar gab es eine Art Gegensprechanlage. »Was hat das zu bedeuten?«, hatte sie gefragt. Der Fahrer hatte gelacht. »Ein neues Modell. Bald sehen alle Taxis so aus.«
Irgendwie war dieses Taxi anders. Der Fußboden war glatt, als wäre er aus Acryl gegossen. Die Polster waren mit Plastik überzogen, die Sitze hart. Sie hatte sich wie in einem Labor gefühlt. Aber der Wagen war neu und angenehm klimatisiert.
In der Rangsdorfer Straße angekommen, hatte sie sich bedanken wollen, aber kaum war sie ausgestiegen, war das Auto schon losgefahren, um nach wenigen Metern stehen zu bleiben. Sie hatte das Gefühl gehabt, der Fahrer beobachtete, wie sie das Haus betrat.
Sie war sofort zu Bett gegangen, aber seit diesem Morgen fühlte sie sich nicht nur müde, sondern auch unendlich matt. So matt, dass sie heute ihre Schicht vorzeitig abgebrochen hatte.
Sie ging in den Flur, schaltete das Außenlicht ein und blickte durch das kleine Fenster der Haustür in den Garten. Sie ärgerte sich: Es gab Tage wie diesen, da war sie ängstlich wie ein kleines Mädchen. Im Schlafzimmer ihrer Eltern zog sie die Vorhänge zu. Nachdem sie sich abgeschminkt, ausgezogen und ihre Wäsche achtlos im Zimmer verstreut hatte, roch sie an ihren Achselhöhlen: Sie war verschwitzt, fühlte sich aber zu müde zum Duschen.
Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel des Schlafzimmerschrankes: Ja, sie sah gut aus. Sie hatte allerdings dreißig Jahre gebraucht, um es zu merken.
Für gewöhnlich ging sie nackt zu Bett, heute aber wählte sie fröstelnd aus dem Stapel im Kleiderschrank einen glänzenden roten Seidenpyjama ihrer Mutter, obwohl es immer noch so warm war. Sie stellte sich ein Glas Leitungswasser bereit und schlief sofort ein. An der Schwelle zum Traum hörte sie, wie irgendwo ein Hund anschlug und heiser in die Nacht bellte; vermutlich der Hund der Klempnerwitwe.
Gleich ein Uhr. Endlich hatte die Schlampe das Licht ausgemacht. Mein Gott, was mussten die Weiber rumtrödeln, ehe sie ins Bett fanden!
Der Mann, ein sportlicher Typ Ende dreißig, lehnte an der Seitenwand neben dem Schlafzimmerfenster und lauschte. Am liebsten hätte er gleich losgelegt mit dem, was er vorhatte, aber er würde sich Zeit lassen. Die Tusse würde eine halbe Stunde brauchen, um in die Tiefschlafphase zu gelangen. So lange wollte er warten mit dem Einsteigen. Sicher war sicher.
In Gedanken ging er alles noch einmal durch. Er tastete nach der robusten MAG-lite-Stablampe und dem Schraubenzieher in seiner Jacke: bester Stahl, damit das Küchenfenster aufzuhebeln würde ein Klacks sein. Es sei denn, es hätte pilzförmige Bolzen.
Er trug Jeans und eine glatte Lederjacke, die keine Faserspuren hinterlassen würde. Dazu Kunststoffhüllen über seinen Sneakers, in die er Einlegesohlen geschoben hatte, damit sich das Profil seiner Sohlen nicht durchdrückte. Er hatte kurz durchs Küchenfenster geleuchtet. Einmal hatte er beim Öffnen eines Küchenfensters eine Kaffeemaschine umgestoßen. Die gläserne Kaffeekanne war in tausend Stücke zersprungen. Nach dem Lärm hatte er die Sache sausen lassen. Drei Nächte Vorbereitung für die Katz. Trotzdem war er stolz: Er musste beweglich sein, bereit, eine Aktion abzublasen. Das war sein Erfolgsgeheimnis.
Heute war alles bestens: Die Arbeitsfläche innen vorm Fenster war frei. Nur der dämliche Kies am Haus hatte geknirscht. Und gleich hatte die Schlampe die Scheinwerfer eingeschaltet. Es knirschte an der Seitenwand, und sie schaltete vorne das Licht ein. Was für eine dumme Pute!
Lautlos ging er über den Rasen zum Küchenfenster und erstarrte. Was war da in der Ligusterhecke? Jemand kauerte dort und beobachtete ihn; ein Augenpaar funkelte ihn an. Verdammt, jemand war ihm auf die Schliche gekommen!
Langsam schob er die Hand in die Tasche zu seinem Butterflymesser, zog es heraus und ließ es, ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden, geschlossen durch die Finger wirbeln: So war das Messer völlig lautlos. Aber harmlos war es nicht. Er wusste: Dieses tanzende Messer, das sich schneller bewegte, als das Auge folgen konnte, versetzte jeden in Angst und Schrecken, zwang ihn, sich auszumalen, was die Klinge in seinem Körper anrichten würde. Er ließ seinen stummen Zeugen im Gebüsch keine Sekunde aus den Augen.
Da, jetzt! Plötzlich setzten die beiden Punkte, die in der Hecke glommen, sich in Bewegung. Lautlos ließ er das Messer in die Tasche zurückgleiten und musste lächeln. Falscher Alarm! Ein Fuchs, der vermutlich genauso erschrocken war wie er, suchte erhobenen Schwanzes das Weite. Gute Nacht, Meister Reinecke, alles Gute und fette Beute! Beide waren sie Gesetzlose, beide waren sie hungrig auf ihre Weise.
Er war wieder allein. Doch hinter der Glasscheibe lag eine Frau im Bett. Er stellte sich vor, dass sie auf ihn wartete, und trat ans Küchenfenster. Er hatte sich gegen die Terrassentür und für dieses Fenster entschieden, weil es am weitesten vom Schlafzimmer entfernt lag. Als er in die Gummihandschuhe schlüpfte und die Skimaske übers Gesicht zog, bemächtigte sich seiner wieder diese seltsame Erregung. Ja, so musste sich ein Formel-1-Fahrer fühlen: fasziniert vom Risiko, hochkonzentriert und kühl entschlossen, keinen Fehler zu machen. Und doch zu allem bereit. Ein Glücksgefühl, nach dem er längst süchtig war.
Er setzte den Schraubenzieher am Plastikrahmen an, genau auf der Höhe des Verriegelungsbolzens. Ein kurzer Ruck, und der Stift sprang aus seiner Halterung, als hätte er nur darauf gewartet; zweiter Bolzen, zweiter Ruck, und das Fenster flüsterte ihm zu: Tritt ein, mein Freund. Alles, was du hier findest, gehört dir. Sogar die Frau im Bett.
Er drückte das Fenster auf, krallte sich am Rahmen fest, schwang sich aufs Sims und sprang in die Küche. Etwas fauchte, eine Glasschale kippte, ein schwarzer Schatten flitzte aus der Küche und fegte um die Ecke Richtung Schlafzimmer. Dreckvieh! Wenn du mir Ärger machst, zieh ich dir das Fell über die Ohren. Er lauschte. Hatte jemand etwas gehört?
Stille.
Er lehnte das Fenster wieder an und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Er presste sich an die Wand, drückte sie leise ganz auf und spähte um die Ecke. Im Halbdunkel erkannte er, verstreut auf dem Teppich, ihre Wäsche. Lautlos trat er in den Raum.
Die Frau lag gekrümmt wie ein Baby und schlief wie tot. Das sollte sich gleich ändern, so wahr ihm Gott helfen würde. Jetzt stand er vor ihrem Bett, zog seine Stablampe hervor und betrachtete sie. Er kannte Frauen, die sahen scharf aus, aber sobald nachts der Stuck runter war von ihrem Gesicht, kamen Runzeln zum Vorschein, Schweinsaugen und fadendünne Lippen. Die hier sah klasse aus. Noch mehr machte ihn an: Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Es war, als wüsste sie, was ihr bevorstand.
Er riss ihr die Bettdecke weg.
Im Traum spürte Bianka einen gleißenden Lichtstrahl auf ihrem Gesicht. Eine Stimme sagte: »Aufwachen, Schätzchen, du hast Besuch!« Sie wollte weglaufen; es ging nicht, ihre Glieder waren stocksteif, ihr Kopf dröhnte. Was für ein Albtraum!
»Aufstehen, Liebling, wir machen einen kleinen Spaziergang. Los, los!«
Mein Gott, das war kein Traum. Das war ein Einbrecher. Er stand vor ihrem Bett und richtete einen Scheinwerfer auf ihr Gesicht. Sie war jetzt hellwach, aber sie rührte sich nicht. Dann nahm sie alle Kraft zusammen und trat mit beiden Beinen in die Richtung, aus der das Licht kam. Der Lichtstrahl sprang zurück, begleitet von einem höhnischen Lachen. Die Stehlampe fiel um. Glas splitterte und knirschte unter seinen Schuhen. Der Kerl unterdrückte einen Fluch.
»Üben, Mädchen, üben. Und jetzt steh auf. Hoch, hoch, hoch!«
Zusammengekrümmt lag sie da. Sie sah ihn nicht. Aber sie spürte seine Blicke über ihren Körper gleiten. In ihrem Kopf arbeitete es.
»Na, wird’s bald?«
Der Kerl knipste das Deckenlicht an und steckte, ohne den Blick von ihr zu lassen, seine Stablampe weg. Sie drehte nur den Kopf, sah ihn an. Durch die Sehschlitze seiner Skimaske funkelten seine blauen Augen. Sie erstarrte; plötzlich hielt er ein Butterflymesser in der Hand. Während es rasend schnell durch seine Finger wirbelte, klapperte es metallisch, als würde es nur darauf warten, in ihr Fleisch einzudringen.
»Du legst dich jetzt auf den Bauch. Und zwar sofort.«
Sie rührte sich nicht.
Bogumil schoss unterm Bett hervor und flitzte aus dem Zimmer. Als er an dem Kerl vorbeikam, versetzte der ihm blitzschnell einen Tritt. Der Kater flog in hohem Bogen schreiend in den Flur.
»Ich sag es nicht noch mal.«
Die Stimme klang jetzt wirklich böse. Was hatte er vor? Wollte er sie …? Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie legte sich auf den Bauch.
Lieber Gott, hilf mir, mach, dass dieser Mann mir nichts tut. Bitte, lieber Gott, steh mir bei. Mach, dass dieser Albtraum vorübergeht. Bitte, bitte. Sei mir gnädig.
Sie war nicht sehr religiös. Aber jetzt betete sie. Wenn Gott sie erhörte, wäre das eine Wende in ihrem Leben.
Der Maskenmann trat an ihr Bett. »Und jetzt: Hände auf den Rücken.«
Als sie sich nicht rührte, schob er sein Messer in ihre Pyjamahose. Ratsch, schnitt er den Gummi entzwei und zerfetzte den Stoff. Sie war wie gelähmt.
»Was ist? Hände auf den Rücken. Oder muss ich dir erst die Sehnen durchschneiden?«
Sie wusste, Gebete sind Anträge an Gott. Entweder sie werden angenommen oder abgeschmettert. Ihr Gesuch hatte Gott abgelehnt. Wahrscheinlich hatte er es nicht einmal selber bearbeitet. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie legte die Hände auf den Rücken, fühlte, wie er ihre Handgelenke packte. Harte, glatte Fesseln schnitten in ihr Fleisch.
»Das tut weh! Das ist zu eng.«
Er zog sie an den Haaren hoch. »Komm jetzt, Schätzchen. Steh auf!«
»Wenn Sie Geld wollen, da drüben steht meine Handtasche.« Sie klammerte sich an diese Hoffnung. Aber sie hörte das triumphale Zittern in seiner Stimme, das nichts Gutes verhieß.
Er nahm ihre Handtasche, drehte sie um, zog die Scheine aus der Geldbörse und stopfte sie in seine Jacke. Auf dem Fußboden lag jetzt auch ihr Handy. Nur zwei Meter entfernt.
»So, und jetzt hoch!«
»Mehr ist hier nicht. Mehr Geld, meine ich.«
»Hoch, habe ich gesagt.«
»Aber meine Hose!« Sie stand auf. Ihre Hose rutschte runter.
»Die brauchst du nicht. Oder erwartest du noch Besuch?«
Der Dreckskerl schien die Situation zu genießen. Sie überlegte, was er vorhatte und wie sie ihm beikommen könnte. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, würde ihre einzige Chance ein herzhafter Tritt in seine Hoden sein.
Er hielt Bianka am Unterarm fest und half ihr, aus der Hose zu steigen. Das Haus hatte Thermopenscheiben. Solange die Fenster geschlossen waren, würde niemand sie hören.
»Ich kriege keine Luft. Können wir nicht das Fenster aufmachen?« In diesem Augenblick merkte sie, dass ihr das Atmen tatsächlich schwerfiel. Er lachte höhnisch und ließ sein Butterflymesser durch die Finger fliegen. Dieses meckernde Lachen. Jetzt keine Angst zeigen, dachte sie, darauf wartete der nur. »Ich habe Asthma«, log sie.
»Schätzchen, du bist nackt da unten. Du willst doch nicht, dass dich jemand so sieht … Komm jetzt, sag mir, wo das Geld ist.«
Sie kannte Asthmakranke. Sie röchelte. Es klang wirklich bedrohlich.
»Hör auf damit!«
Sie sah ihn hilflos von der Seite an.
Er packte sie fester. »Hör auf damit, oder muss ich erst einen Luftröhrenschnitt machen?«
War er Mediziner? Feuerwehrmann? Sanitäter? Irgendwo hatte sie diese Augen schon mal gesehen. Es war ein Blau, das man nicht vergisst. Merkwürdig wässrig. Er ratschte mit der Klinge kurz in ihren Po. Aber Bianka hatte das Gefühl, dass er Blut vermeiden wollte.
»Sie Dreckhaufen!«, schrie sie und blieb stehen, spürte aber keinen Schmerz. Das war das Adrenalin. Sie kannte das von ihren Unfallpatienten. Er antwortete nicht und schob sie weiter. Was wollte das Schwein von ihr? Er hatte das Geld aus ihrer Börse achtlos weggesteckt, ohne es anzusehen. Wirklich interessiert am Geld schien er nicht zu sein. Also: Was wollte er wirklich?
Sie waren jetzt im Flur. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, knipste Licht an, warf einen Blick hinein, dann die Tür zum Bad und schließlich zu ihrem ehemaligen Kinderzimmer, das jetzt voller Damenschuhe stand, rote, silberne, giftgrüne: Es waren Hunderte, die ihre Mutter über eBay verkaufte. Die kleinste Größe war 43, die Kunden waren Schwule, Transvestiten, Menschen, die ein Doppelleben führten. Ihre Mutter behauptete, sogar ein hoher Berliner Politiker hätte schon bei ihr bestellt.
Er führte sie zurück ins Schlafzimmer und stieß sie aufs Bett. Nein, er hatte kein Interesse am Geld. Er hatte vermutlich nur sehen wollen, ob jemand im Haus war, der ihn stören könnte. Er war vorsichtig, er war erfahren: Er machte das öfter. Die Art, wie er sie führte, immer einen Schritt hinter ihr, ließ ihr keine Chance für einen Angriff. Sie war Krankenschwester, sie war Stress gewohnt. Wenn er sie vergewaltigte, würde sie es über sich ergehen lassen. Den Gefallen, sich aufzubäumen und zu schreien und so seine Lust anzuheizen und ihr Unterwürfigkeit aufzuzwingen, würde sie ihm nicht tun. Und sie würde sich nicht noch selber fertigmachen. Sie brauchte ihre Energie, um sich jedes Detail einzuprägen. Sie würde ihn ertragen, wie die blutjunge, zwangsverheiratete Muslima, die heute ihre Patientin gewesen war, ihren Ehemann ertragen musste, der ihr zwei Rippen gebrochen und einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte.
Irgendwie gut, dass er Gummihandschuhe trug, so blieben seine Berührungen auf ein Mindestmaß beschränkt. Sie war so matt heute. Plötzlich kam ihr das zugute. Bianka schloss die Augen und verwandelte sich in ein Stück lebloses Fleisch. Aber sollte er eine einzige falsche Bewegung machen, dann würde sie die Gelegenheit nutzen und ihm den Penis abbeißen.
Als alles vorbei war, führte er sie zum Bad. Im Flur blieb sie stehen und hoffte, dass sein Sperma auf den Teppich tropfte. Er stieß ihr seine Faust in die Nieren. Sie ging wie im Traum.
Sie musste unter die Dusche steigen. Dort nahm er ihr endlich die Fesseln ab. Schon hielt er wieder sein Messer in den Händen. Er drehte das Wasser auf. »Los, wasch dich!«
»Au! Das Wasser ist zu heiß.«
»Wirklich? Prima, dann isch esch genau richtig.«
Isch esch. Sein Akzent war der gleiche wie der von Jogi Löw, und der kam aus Baden. Einen winzigen Augenblick stand der Kerl in Reichweite für einen herzhaften Tritt. Als wenn er ihre Gedanken lesen könnte, machte er einen Schritt rückwärts, lehnte sich an die Badezimmertür und ließ das Messer klackernd durch die Finger seiner linken Hand gleiten.
»Können Sie nicht mit dieser albernen Spielerei aufhören?«
»Schnauze. Den Strahl richtig zwischen die Beine. Und nimm ordentlich Seife und da dösch Sagrotan. Das Sagrotan.«
Er hatte die ganze Zeit Hochdeutsch gesprochen. Jetzt merkte er seinen Fehler, sagte aber nichts. Sie legte die Seife weg.
»Habe ich gesagt, dass du fertig bist?«
Sie zuckte die Achseln und wusch sich weiter. Müdigkeit und Hass mischten sich. Der Hass überwog. Plötzlich hörte sie sich sagen: »Ist Ihre Frau so langweilig im Bett, dass Sie so ein Doppelleben führen müssen?«
Das war eine Dummheit gewesen: Im Nu war er bei ihr und ohrfeigte sie. Sie trat nach ihm. Aber statt seine Hoden traf sie nur seinen Oberschenkel. Bestimmt war er verheiratet. Sie spürte den Schmerz auf ihrer Wange, der Schmerz sagte ihr, sie hatte ins Schwarze getroffen. Er war ein Typ wie dieser Dr. Jekyll aus Österreich, der seine eigene Tochter im Keller eingesperrt und geschwängert hatte, erfüllt von Wohlgefühl und Hass, ein Kerl, der ihr übel nahm, dass sie eine Frau war. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie würde ihn auch zwischen einem Dutzend Skimasken wiedererkennen.
Er hatte sich schnell wieder im Griff.
»Hier ist eine Nagelfeile, mach dir die Fingernägel sauber.«
»Warum? Wollen Sie vielleicht mit mir ausgehen?« Sie hatte Angst, aber sie war auch wütend, dass er sie erniedrigt hatte. Sie reinigte sich die Nägel. Die Feile stammte aus China, ein Billigprodukt. Sie prägte sich die Form ein.
»Schnauze.« Ihre Selbstsicherheit verdarb ihm die Laune. Fast war ihr, als würde sie sehen, wie unter seiner Skimaske die Mundwinkel nach unten rutschten.
Als sie fertig war, legte sie die Nagelfeile weg. Jedes Indiz würde helfen. Warum kastrierte man diese Typen nicht einfach?
Aber er hielt die Hand auf. »Gib her, Schätzchen.«
»Nennen Sie Ihre Frau auch Schätzchen?«
»Meine Frau?« Seine Stimme klang schrill und heiser. Wahrscheinlich war er tatsächlich verheiratet; sie hatte ihn kalt erwischt. Aber bei jeder ihrer Provokationen zitterte sie innerlich am ganzen Körper. Er lachte. Es war das heisere Lachen von jemandem, der auf frischer Tat ertappt worden war.
Der machte das nicht zum ersten Mal. Sie war sich sicher: Er war ein Sammler. Jede Vergewaltigung war eine neue Trophäe für ihn. Was für ein erbärmliches Stück Dreck. Aber warum hatte man von ihm noch nichts in den Zeitungen gelesen? Warum wurde nicht längst bei XY nach ihm gefahndet? Irgendwo hatte sie diese Augen schon gesehen. Ja, na klar, in der Notaufnahme. Ja, sie hatte ihn in der Notaufnahme gesehen. Aber noch verband sich mit den Augen kein Gesicht. Einen Augenblick lang dachte sie daran, ihm die Nagelfeile in die Augen zu stoßen. Warum bloß brachte sie es nicht fertig? Warum?
»Gib her!«
Sie tat, was er sagte. Er nahm ihr die Feile ab und ließ sie in derselben Tasche verschwinden, aus der er sie genommen hatte.
»Zeig her!«
Ihm jetzt die Finger in die Augen stoßen … Er nahm ihre linke, dann ihre andere Hand und überprüfte das Ergebnis und hielt dabei in seiner rechten das Messer, bereit, es ihr in den Körper zu rammen oder ihr damit die Kehle durchzuschneiden. Durch seine Skimaske hindurch roch sie wieder seinen schlechten, fauligen Atem. Er schien ein Magengeschwür zu haben.
»Wenn du zur Polizei gehst, erfahre ich es. Und dann komme ich wieder. Hast du gehört?«
Seine wässrigen blauen Augen waren starr auf sie gerichtet.
»Ja.« Trostlosigkeit macht sich in ihr breit. Sie fühlte sich vernichtet. Er hatte etwas Wertvolles in ihr zerstört, etwas, wovon sie gar nicht gewusst hatte, dass sie es besessen hatte.
Einen Augenblick schwieg er. Er schien zu überlegen. »Ich sehe mich jetzt noch ein wenig im Haus um. Du singst inzwischen ›Der Mond ist aufgegangen‹.«
»Was?« Sie bekam eine Gänsehaut.
»Wieso was?«
»Kenne ich nicht«, log sie.
»Schön. Aber ›Hänschen klein‹ kennst du.«
Sie nickte wie betäubt. Er machte eine auffordernde Geste. Alles drehte sich. Warum musste sie ausgerechnet jetzt mit den Tränen kämpfen?
Sie fing an zu singen: »Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein.«
»Lauter! So: Hänschen klein … «
Sie sang weiter. Ihre Stimme war heiser. Das gefiel ihm. Er weidete sich daran.
»… Stock und Hut, steht ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr, da besinnt, sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.«
»Und wenn du fertig bist, fängst du von vorne an! Du hörst erst auf, wenn ich wiederkomme und es dir sage! Verstanden? Keine Sekunde vorher!«
Sie nickte. Ob er Kinder hatte wie dieser Mann aus Österreich?
Er ging und zog die Tür hinter sich zu. Sie war allein.
Vorsichtig verriegelte sie die Tür. Hoffentlich hatte er nichts gehört. Sie sang und lauschte. War er noch da? Vermutlich hatte er seinen Wagen um die Ecke in der Blohmstraße geparkt. Natürlich würde der Kerl jetzt abhauen. Für wie blöd hielt er sie? Ich darf keine Zeit verlieren, dachte sie. Oder war er doch noch da, reizte ihn die Gefahr?
Sie sang. »Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein, Stock und Hut, steht ihm gut, ist gar wohlgemut. Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr, da besinnt, sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.« Sie wollte kein Risiko eingehen. Während sie sang, öffnete sie das Badezimmerfenster, riss den Bademantel ihrer Mutter vom Haken, warf ihn in den Garten, kletterte nackt, wie sie war, aus dem Fenster und sprang auf den Kies. Sie lauschte und fühlte sich wie eine Diebin im eigenen Haus. Ihre Knie zitterten.
Warum bin ich nur so matt, so furchtbar matt, dachte sie. Während sie über den Rasen lief, zog sie den Bademantel über. Sie bekam keine Luft. Nicht dran denken! Laufen, vorwärts! Jetzt nicht aufgeben! Das Gartentor quietschte, als sie es öffnete.
Die Rangsdorfer Straße war leer. Wahrscheinlich war er schon in der Blohmstraße. Vielleicht konnte sie seine Autonummer rauskriegen? Sie lief, aber sie fühlte sich elend, tot, wie damals nach ihrer Blinddarmoperation. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn, sein Gesicht: rotblondes Haar, Bürstenschnitt, feistes Gesicht, Dreitagebart, fliehendes Kinn. Ende dreißig, Anfang vierzig. Ein Biedermann. Er war schnell wie eine Katze.
Das da vorn war sie. Kein Zweifel, sie musste sich im Bad durch das schmale Fenster gezwängt haben. Den Hals sollte man dieser Schlampe umdrehen. Dafür, dass sie barfuß war, lief sie ganz schön schnell. Sie hatte sich umgedreht. Sie hatte sein Gesicht gesehen. Er rannte los.
Seine Schritte kamen näher.
»Hilfe!« Sie wollte schreien. Aber es kam nur ein Krächzen. Sie musste raus aus dieser Seitenstraße. Bloß raus! Schneller, schneller! Die Straße war ein endloses Laufband: Sie lief und lief und kam nicht voran. Noch nie war der Weg so weit gewesen wie in dieser Nacht. Ein Glassplitter schnitt in ihren nackten Fuß, der Bademantel öffnete sich, ihr Brustkorb schmerzte. Sie rannte weiter. Sie wollte atmen. Aber die Luft war fest wie Pudding und wollte nicht in ihre Lungen. Hinter sich hörte sie ihren Verfolger hecheln wie vorhin im Bett.
Mein Gott, warum hilft mir keiner!
Alles drehte sich. Noch vor der Ecke knickten ihre Knie weg wie Streichhölzer; es wurde dunkel.
Er vergaß seine Vorsicht. Schon war er rittlings über ihr, packte ihren Kopf mit beiden Händen und drehte ihn zu sich. Sie sah jetzt richtig scheiße aus, diese Schlampe. Und sie spielte die Ohnmächtige. Bildete sich ein, sie könnte den Hans aus ihm machen. Er spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn: Schon im Bett hatte sie ihm den Spaß verdorben, indem sie, den Kopf weggedreht, einfach dagelegen hatte, statt sich zu wehren und ein bisschen um Gnade zu winseln, wie es sich für ein braves Mädchen gehörte.
»Komm, du Miststück. Los, hoch jetzt!«
Nichts. Keine Bewegung. Was bildete die sich ein? Rechnete sie damit, dass gleich jemand um die Ecke biegen würde, ein Zeitungsbote vielleicht? Nicht mit ihm! Wenn sie dachte, er würde sich von ihr verarschen lassen, hatte sie sich geschnitten. Er zog sie an den Haaren.
»Schluss mit dem Theater!«
Sie rührte sich nicht.
Die Wut strömte von seinem Kopf in seine Faust. Ganz von selbst flog das Butterflymesser in seine Hand und ging zwischen ihren Rippen hindurch wie Butter. Wieder und wieder. Es war, als würde er in eine Fleischtorte stechen. Aus Dutzenden Öffnungen sickerte das Blut und bildete einen dampfenden, roten Teppich. Es roch wie beim Metzger.
Hinter ihm kläffte ein Hund. Langsam erhob er sich, das Messer in der Hand. Ohne sich umzudrehen, ging er Richtung Blohmstraße. Er hörte hinter sich einen Schrei, und der Hund bellte und bellte.
Die Witwe des Klempners hatte Tarzan Gassi geführt. Die ganze Zeit hatte er gebellt. Das störte die alte Dame nicht, sie war fast taub. Aber die Nachbarn ärgerten sich. Plötzlich hatte Tarzan sich losgerissen und war zu einem Bündel gerannt, das auf dem Bürgersteig lag. Die Frau sah nicht mehr gut. Aber so viel sah sie: Ein Mann in dunkler Kleidung ging langsam davon.
Er bog um die Ecke. Scheiße, warum hatte er den Kopf verloren? Das lag daran, dass er zu temperamentvoll war, zu viel Feuer hatte! Plötzlich zählte jede Sekunde, gleich würde es hier von Polizei nur so wimmeln. Zum Glück hatte er den Wagen nicht abgeschlossen. Er stieg in seinen alten Volvo, zog die Handschuhe aus, warf sie im Wagen auf den Boden und wendete. Er legte die Norah-Jones-CD ein. Genau das Richtige jetzt.
Gott sei Dank hatte er Plastikfolie über die Sitze gelegt. Eigentlich, um keine Faserspuren in das Auto zu schleppen oder umgekehrt. Seine Kleidung war dunkel, das Blut kaum zu sehen. Als er von der Wünsdorfer Straße in die Bahnhofstraße einbog, schaltete er endlich das Licht ein, zündete sich eine Marlboro an und zog gierig. Herrlich! Er genoss das Nikotin, das sich in den Tiefen seiner Lungen breitmachte und seinen hungrigen Körper durchdrang: Sofort spürte er die Wirkung in den Beinen und im Kopf.
Auf der Höhe Fehlingstraße kam ihm eine Zivilstreife mit Blaulicht entgegen. Er drehte das Radio leiser, schaltete den kleinen Spezialempfänger ein und hörte den digitalen Polizeifunk ab. Leblose Person in der Rangsdorfer Straße. Keine Suchmeldung nach einem metallicblauen Volvo älterer Bauart. Alles war normal.
Im Rückspiegel überprüfte er sein Gesicht. Mein Gott! Er sah vielleicht aus! Ein Glück, dass er so penibel war. Vor jeder Tour überprüfte er das Auto auf Herz und Nieren. Und selbstverständlich hatte alles seinen Platz, jeder Lappen, jedes Stück Papier. Ordnung war das halbe Leben. Das hatte er längst begriffen.
Mit dem Blut auf Wangen und Stirn sah er aus wie ein Sioux auf Kriegspfad. Na ja, im Grunde war er das ja auch. Er nahm aus dem Handschuhfach ein frisches Schwammtuch, reinigte sich und wischte mit Hakle Feucht nach. Berlin war ein Dschungel, in dem nur die Starken und die Schlauen überlebten. Da half es nichts, sich auf den Bürgersteig zu werfen und sich tot zu stellen. Schwächlinge und Dummköpfe wie diese Nachtschwester würden das nie kapieren. Warum war sie nicht im Badezimmer geblieben, wo doch alles schon vorbei war? Sie hatte sein Gesicht gesehen. Und jetzt war sie tot.
Wenigstens hatte sie ihm in ihrer letzten Nacht noch eine kleine Freude gemacht, auch wenn sie so passiv gewesen war. Vielleicht hatte sie es sogar heimlich genossen? Wer wurde schon schlau aus den Frauen? Er wusste genau: Er würde keine Einzelheit vergessen. In hundert Jahren nicht. Wenn sie ihn jemals schnappen würden, könnte er diesen Film wieder und wieder ablaufen lassen. Eintritt frei! Aber nur für ihn. Jemand wie er würde nie einsam sein. Dazu war er viel zu schlau.
Immer mehr Zivilstreifenwagen kamen ihm entgegen. Unglaublich, der ganze Aufwand seinetwegen. Keine Ahnung hatten sie, diese Idioten. Ein bisschen aufgeregt war er jetzt schon, aber genau das liebte er, diesen Kick, obwohl er heute eine Spur zu weit gegangen war. Bei Mord machten sie einen Riesenaufstand. Mord, was für ein dummes Wort, dachte er. Für ihn war es eher ein Jagdunfall.
Er fühlte sich gut, er war vorsichtig. Er hatte das Gefühl, ihm konnte nichts passieren, denn er wusste, das Schicksal hatte mit ihm noch etwas vor.
Er bog in den Mehringdamm ein. In der Nähe vom U-Bahnhof Gleisdreieck hatte er unter falschem Namen einen S-Bahnbogen gemietet, der locker Platz bot für zwei Wagen. Sorgfältig unter einer Plane verdeckt, stand hier ein metallicblauer Volvo. Niemand ahnte, dass er in diesem Augenblick gerade die Doublette seines Volvos fuhr, während das Original, frei von Spuren, im S-Bahnbogen auf ihn wartete und gleich wieder in Steglitz vor seiner Tür stehen würde. Er musste nur die Nummernschilder wieder anschrauben und natürlich Schuhe und Kleider wechseln. Wenn man ein Doppelleben führte wie er, dann konnte es nicht schaden, wie ein Schachspieler immer drei, vier Züge vorauszudenken. Schon ein kleiner Fehler konnte bedeuten, dass sein fester Wohnsitz für die nächsten dreißig Jahre Berlin-Tegel lautete, Seidelstraße, mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
Das Zimmer dampfte. Wie spät war es? Ein Uhr, zwei Uhr? Max Talheim wusste es nicht. Er hatte sich ein Erkältungsbad eingelassen, trank Champagner von Aldi, hörte Musik und las einen Roman von Philip Roth. Es war Nacht, es war Sommer, und er hatte eine Grippe.
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