Mayfaran und die verlorenen Drachen - Ute Augstein - E-Book

Mayfaran und die verlorenen Drachen E-Book

Ute Augstein

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Beschreibung

Wumms und Aua! Wie jetzt, Drachen?!? Ihrem Lehrer ist wohl ein Buch auf den Kopf gefallen, denkt Mayfaran - oder warum sonst behauptet er, ein verschollener Drachenforscher zu sein? Doch schon bald lässt May ihr Zuhause hinter sich, um nach den sagenumwitterten Geschöpfen zu suchen. Zu dumm nur, dass sich diese vor den Menschen verstecken und finstere Gestalten May und ihren Freunden nachjagen. Ein von der Künstlerin Tanja Ulrich farbenprächtig illustrierter Lesespaß ab 9 Jahren.

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Für Eli und Sky – auf dass ihr

euch immer von der Büchermagie

verzaubern lassen könnt.

Und für meine Eltern, die mich das Träumen lehrten.

Inhaltsverzeichnis

Ein König hat kalte Füße

Unerfreuliche Nachrichten

Neue Gefahren, alte Bündnisse

Ein Bibliothekar auf Abwegen

Ramarona in Nöten

Lauschende Ohren

Wo ist Foliantes?

Eine unglückselige Teegesellschaft

Das Scheit des Erinnerns

Eine traurige Liebe

Ein Freund der Drachen

Ein Plan wird geschmiedet

Aufbruch ins Abenteuer

Eine Prinzessin auf Abwegen

Überraschender Gast

Ein König in Nöten

Verfolgt

Ein neuer Gefährte

Eine frostige Begrüßung

Willkommen bei den Feuerwinds

Wärmende Rast

Aufbruch ins Ungewisse

Rast in der Nässe

Eine heimliche Liebe

Ein verhängnisvolles Lager

Streit am See

Böse Pläne

Ein Licht in der Dunkelheit

Ein Hoffnungsschimmer

Überraschende Begegnung

Ein Haus voller Geheimnisse

Drachenblut

Eine schwierige Entscheidung

Taler für die Wachen

Ein Weg aus alten Zeiten

Ankunft

Tore

Überraschende Entdeckung

Im Drachenhospital

Brief an eine Freundin

Epilog

Ein König hat kalte Füße

Um Karpanhöh wehte ein eisiger Wind, und an einem kühlen Herbsttag saß König Mark, Herrscher des Karpanlandes, schlecht gelaunt in seinem Thronsaal.

Er hielt gerade keine Audienz und hatte es sich in einem hohen Lehnsessel bequem gemacht, sofern sich bei dieser Kälte überhaupt so etwas wie Gemütlichkeit einstellen wollte. Auf dem Thron stapelten sich unzählige Schriftrollen, die ihm sein unermüdlicher Sekretär früh am Morgen gebracht hatte.

Stirnrunzelnd wackelte Mark mit den Zehen, die so kalt waren, dass sie kribbelten. Gerade, als er die Stiefel ausziehen und die geplagten Füße an das sachte Glimmen im Kamin halten wollte, klopfte es an der Tür.

»Was ist?«, fragte Mark mürrisch und schob den rechten Fuß in den Stiefel zurück. Er hatte nicht nur kalte Füße, sondern auch schlechte Laune, weil er unentwegt beunruhigende Nachrichten lesen musste.

Die Bunten Länder, die sich so nannten, weil die Gebäude in ihren Städten und Dörfern von einem Berg aus betrachtet so bunt wie ein fröhlicher Flickenteppich aussahen, waren in der jüngsten Vergangenheit immer wieder von den Wilden Grauen angegriffen worden.

Smeex steckte den Kopf durch den Türspalt und spähte in den Saal hinein. »Eure Majestät?«

»Was ist?«, wiederholte Mark sich und warf dem Sekretär einen missgelaunten Blick zu.

Unbeirrt von dem wenig freundlichen Empfang trat Smeex ein und legte unauffällig einen Stapel neuer Dokumente auf den Tisch.

»Ich bringe die Anliegen für den heutigen Tag, Majestät«, sagte er und verbeugte sich. »Diese Menschen bitten um eine Audienz bei Euch.«

Freudlos lachte Mark. »Muss ich mich eigentlich immer wiederholen? Der Ernst der Lage lässt mir keine Zeit, mich mit den Anliegen von Schustern, Bäckern und Bauern zu beschäftigen!« Gereizt griff er nach weiteren Papierrollen.

Ungerührt zuckte Smeex mit den Schultern. »Eure Majestät, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet: Jene Schuster, Bäcker und Bauern zahlen Eure Steuern. Ihr solltet ihren Anliegen Gehör schenken. Übrigens ist es hier viel zu kalt.« Prüfend betrachtete er das winzige Flämmchen, das in der Feuerstelle vor sich hin glomm. »Soll ich den Kammerdiener anweisen, mehr Holz nachzulegen?«

»Auf gar keinen Fall«, entgegnete Mark erwartungsgemäß. »Wir leben in unsicheren Zeiten und müssen sparen. Das verlange ich von meinen Untertanen, und davon nehme ich mich und meine Töchter nicht aus.«

»Eure Beschlüsse sind stets weise und vorausschauend«, gab der Sekretär gewohnheitsmäßig zurück. »Doch vielleicht könntet Ihr Euren Pflichten ja auch in einem kleineren Raum nachgehen. Die Kälte des Fußbodens ist Eurer Gesundheit gewiss nicht zuträglich.«

»Papperlapapp!«, brummte Mark und fragte sich zum wiederholten Male, warum er seinem Sekretär eigentlich immer widersprach – gleichgültig, wie einleuchtend dessen Vorschläge waren. Trotzdem hielt er seit jeher viel von Smeex. Der König des Karpanlandes wusste nämlich sehr wohl, dass Ja-Sager zu allem Ja sagten – auch zu einem schlechten Vorschlag. Darüber hinaus empfand er eine Art kindisches Vergnügen, ausnahmsweise einmal nur dagegen sein zu dürfen, weil er sonst immer so vernünftig sein musste.

Gerade, als Smeex etwas entgegnen wollte, klopfte wieder jemand an die Tür.

»Was bitte schön ist denn so schwer daran zu verstehen, wenn ich sage, dass ich nicht gestört werden möchte?«, ließ Mark lautstark vernehmen und fügte ein gereiztes Jaaaa? hinzu.

Eine wunderschöne junge Frau trat ein und lächelte liebreizend. »Lieber Papa König«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme. »Ich suche Mayfaran. Hast du sie vielleicht gesehen?« Trotz ihrer Schönheit umspielte ein wenig damenhaftes Lächeln ihre Lippen. Sofort entspannte sich König Mark.

»Ramarona, mein Schatz, dein armer Papa ist mit Regieren beschäftigt und hat keine Zeit, dir beim Suchen zu helfen. Bist du nicht schon aus dem Alter heraus, um mit deiner Schwester Verstecken zu spielen?«

Geflissentlich ignorierte die junge Frau Smeex, der ihr bewundernd nachsah, als sie an ihm vorbeiging. »Du musst wissen, lieber Papa König«, sagte sie schmeichelnd, »meine liebste Schwester – möge sie sich den Fuß auf ihrer Flucht vor mir verrenken – hat etwas entwendet, das mir gehört. Zur Strafe werde ich ihr die Haare abschneiden, eine Puppe daraus basteln und lauter kleine Nadeln hineinst…«

»Ramarona!«, unterbrach Mark sie streng – doch wenn man ganz genau hinsah, konnte man ein amüsiertes Glitzern in seinen Augen sehen. »So spricht wahrlich keine junge Dame aus königlichem Geschlecht! Was lernt ihr bloß in dieser feinen Schule, auf die ich dich schicke, damit eine echte Prinzessin aus dir wird?«

Ramarona, die sehr wohl wusste, dass ihr sein Wohlwollen sicher war, lächelte noch liebreizender als zuvor. Artig machte sie einen Knicks, bevor sie ihrem Vater einen Kuss auf die Wange gab.

Bei dieser Gelegenheit entwendete er ihr geschickt die Schere, mit der sie die Haare ihrer Schwester zu kürzen beabsichtigte.

»Du weißt doch, dass ich nur scherze!«, entgegnete sie kichernd, bevor sie sich umdrehte und suchend im Thronsaal umsah. »Wenn ich sie in die Finger bekomme, dann werde ich sie in eine Wanne warmes Wasser stecken lassen – das ist wahrscheinlich die schlimmste aller Strafen für sie. Vermutlich hat sie wieder den ganzen Tag mit den anderen Kindern draußen im Dreck gespielt.«

»Liebste Tochter, jetzt tust du deiner Schwester aber unrecht. Sie ist schließlich dreizehn Jahre alt und spielt wohl kaum im Dreck, wie du es nennst«, widersprach ihr Vater. »Außerdem warst du in ihrem Alter nicht viel besser.«

Seufzend drohte die junge Frau ihm mit dem Finger. »Bester Papa, setz doch bitte nicht solche Gerüchte über mich in die Welt. In einigen Jahren möchte ich heiraten – doch welcher Prinz würde sich noch für mich erwärmen, wenn er mich für einen ungehobelten Wildfang halten muss?«

König Mark grinste recht unköniglich. Es war nicht zu übersehen, wie viel Freude es ihm bereitete, seine älteste Tochter in den Ferien um sich zu haben. Seit einem Jahr besuchte sie eine Universitas für junge Damen aus gutem Hause. Mark wollte ihr auf diese Weise die Erziehung angedeihen lassen, die – wie er meinte – nach dem Tod der Königin zu kurz gekommen war.

Ramarona hatte sich prächtig in der Universitas eingelebt und war zu einer jungen Dame geworden, die sich wie eine Prinzessin zu benehmen verstand – wenn es sein musste. Mark und ihr bereitete es nach wie vor diebisches Vergnügen, Ohrenzeugen mit ihren Gesprächen zu verwirren.

Smeex allerdings störte sich nicht an dem ungebührlichen Verhalten der Prinzessin. Wahrscheinlich war er viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Schönheit zu bewundern: ihr zu einem kunstvollen Zopf zusammengebundenes blondes Haar, die anmutig geschwungenen Brauen und die himmelblauen Augen. Wie erstarrt war der Sekretär stehengeblieben, um der jungen Frau, die sich zum Gehen wandte, mit offenem Mund nachzusehen.

»Smeex, was ist mit dir? Los, mach dich endlich nützlich und spitz die Feder. Es gilt, noch einige Briefe zu schreiben.« Ungehalten schnippte der König mit den Fingern, und Smeex schreckte aus seinem Traumzustand hoch.

Bestrebt, Prinzessin Ramarona zuvorzukommen und ihr die Tür aufzuhalten, eilte er voraus. Kaum hatte seine Hand jedoch den Knauf der Klinke berührt, als ohne jede Vorwarnung der Türflügel aufgestoßen und der völlig überraschte Sekretär an die Wand geschmettert wurde.

In den Saal trat ein riesenhafter Mann mit langem schwarzen Haar und einer hässlichen Narbe auf der Wange. Mit herrischem Blick sah er sich um.

»Wo ist der König?«, fragte der Neuankömmling mit tiefer Stimme, die wie ein unheilvolles Donnergrollen klang.

»Ich spreche nur mit ihm und niemandem sonst!«

Unerfreuliche Nachrichten

»Blablabla!«, knurrte Foliantes und nahm Mayfaran unwirsch das dicke, in Leder gebundene Buch aus den Händen. »Alles, was du von dir gibst, junge Dame, ist nichts weiter als hohles Geschwätz! Habe ich dich etwa nicht gelehrt, wie man Worte weise gebraucht?«

Ob der harschen Worte ihres Lehrmeisters, der gleichzeitig auch der Bibliothekar ihres Vaters war, erbleichte Mayfaran. Sparsam, wie er war, hielt es König Mark für unnötig, mehr als einen Gelehrten für seine Dienste zu bezahlen. Vielmehr vertraute er darauf, dass das umfangreiche Wissen des Bibliothekars vollends genügte, um Ramarona und Mayfaran auf die Universitas vorzubereiten.

»Ich … ich …«, stotterte sie verlegen und sah mit großen Augen zu ihrem Lehrer auf, der sie streng musterte.

»Ich höre, Mayfaran«, sagte er, und kein Lächeln deutete sich auf seinem sonst so freundlichen Gesicht an. Es war auch kein gutes Zeichen, dass er sie mit ihrem vollen Namen anstatt mit May ansprach, wie es eigentlich alle taten. Gedankenverloren zog May an einer Strähne ihrer rotbraunen Locken, die unter der Mütze hervorlugten. »Und?«, bohrte Foliantes unerbittlich nach.

»Es tut mir leid, dass ich das Buch genommen habe, ohne dich zuvor zu fragen«, murmelte sie. »Aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Du sagst doch immer, wir sollen neue Dinge entdecken und …«

»Moment mal, junge Dame«, unterbrach sie der Bibliothekar, und in seinen grauen Augen blitzte es verdächtig. »Ich habe nicht davon gesprochen, dass ihr Häuser anzünden sollt. Zweifellos eine neue Erfahrung, aber keineswegs eine, die den König erfreut.«

»Es war ja kein Haus, nur eine Hütte«, warf May verzagt ein. »Und eigentlich wollte ich nur den Strohballen … also … ich wollte sehen, ob stimmt, was in dem Buch steht.«

Foliantes seufzte. »Und warum hast du mich nicht gefragt? Wir führen unsere Versuche doch immer gemeinsam durch.«

»Naja, ich wusste nicht, ob ich dich dazu überreden kann. Sonst trocknen wir immer nur Blätter und Blumen, bestimmen Pflanzen und Tiere und so was. In dem Buch steht, dass die Konstruktion Sonnenstrahlen bündelt, sodass sie ein Feuer entfachen können. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das Stroh so trocken ist und der Wind das Feuer auf die Vorratshütte überspringen lässt.«

»Was für ein Glück, dass Hannus der Schmied in der Nähe war und dir beim Löschen geholfen hat. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn dein Vater nicht dahinterkommt.« Kopfschüttelnd blätterte Foliantes in dem Buch, bis er die Seiten gefunden hatte, die May als Anleitung für den Brennapparat gedient hatten.

»Hätte nicht gedacht, dass du dich für so etwas interessierst. Mal abgesehen davon, grenzt es schon an ein Wunder, dass du bei diesem Regenwetter überhaupt etwas zum Brennen gebracht hast! Deiner Schwester sind solche Sachen immer gleichgültig gewesen. Sie hat es mehr mit den Sprachen.«

Bei der Erwähnung ihrer Schwester verstärkte sich Mays schlechtes Gewissen.

»Wie hast du das Ding überhaupt gebaut? Woher hattest du die Linse?« Foliantes betrachtete sie voller Argwohn. »Hast du etwa noch etwas aus der Bibliothek entwendet?«

»Nein, habe ich nicht«, versicherte Mayfaran hastig. »Zumindest nicht dir. Ramarona hatte in ihrem Zimmer auf dem Regal eine Flasche mit einem dicken Boden – die habe ich genommen.«

»Hatte eine Flasche? Was ist mit ihr passiert? Hast du sie denn zerbrochen?«

»Nein, ich habe den Korken entfernt und die Flüssigkeit umgeschüttet.«

»Hast du sie inzwischen zurückgestellt? Vermutlich verwahrt Ramarona darin ein Duftwasser auf.«

»Ja, so etwas war es wohl. Es hat ziemlich in der Nase gekitzelt. Natürlich habe ich die Flasche zurückgebracht.«

Das schien Foliantes sichtlich zu erleichtern. »Dann hat deine Schwester also nichts bemerkt? Hast du das Wasser zurückgeschüttet?«

»Nun, ich wollte es zumindest. Leider war es nicht mehr da …«, gestand sie zerknirscht.

»Wo hast du die Flüssigkeit denn während des Experiments aufbewahrt?«, erkundigte sich Foliantes misstrauisch.

»In einer Holzschüssel?«

»Ist das jetzt eine Frage oder eine Feststellung?«

»Eine Feststellung.«

Seufzend schüttelte Foliantes den Kopf. »Lass mich raten: Du vermutest, dass die Holzschüssel undicht war?«

»Ja, woher weißt du das?«, fragte May aufgeregt. »Es war nämlich nichts mehr drin.«

»Weil es verdunstet ist, du weißt schon, wie Wasser in einem Topf, das man zum Kochen bringt. Lässt man es lange genug auf dem Feuer, ist der Topf irgendwann leer.«

»Ja, aber es war doch gar nicht so warm, ich verstehe das nicht.«

»Wir sprechen bald im Unterricht darüber. Das lag am Alkohol. Der Duft ist in Alkohol gebunden, und der verdunstet schneller als Wasser. Die undichte Schüssel hat wohl ihr Übriges dazu beigetragen.«

»Warum haben wir über solche Dinge bisher noch nicht gesprochen?« May fasste wieder Mut, als sie merkte, dass Foliantes nicht wirklich böse auf sie war.

Nachdenklich tippte der Bibliothekar auf den dicken Ledereinband des Buches, das Mays Forscherdrang zum Verhängnis geworden war. »Über solche Sachen, wie sie hierin beschrieben sind? Warum Vögel fliegen können, der Mensch aber nicht? Wie man mit Sonnenstrahlen Feuer entzündet? Warum Fische unter Wasser nicht ersticken, Menschen aber schon? Meinst du solche Dinge?«

»Ja! Genau die meine ich!« May strahlte über das ganze Gesicht.

»Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte ihr Lehrer kopfschüttelnd. »Viele halten sie einfach nicht für wichtig genug. Ihrer Meinung nach genügt es, wenn ein paar alte Männer darüber Bescheid wissen. Und wenn ich alt sage, meine ich auch alt – hutzelige gelehrte Greise, die sich in staubigen Gewölben mit derlei Dingen die Zeit vertreiben. Sie streiten über ihre Forschung und sterben auch gelegentlich daran, doch das genügt dem König. Wie den meisten anderen übrigens auch.«

»Du meinst also, so etwas wie die Sachen in dem Buch lerne ich auf der Universitas nicht?«, fragte May traurig.

Sacht schüttelte Foliantes den Kopf.

»Wohl kaum. Aber«, fügte er hinzu, als er die Enttäuschung seiner Schülerin bemerkte, »du wirst es auch nicht vermissen, sobald du erst einmal dort bist. Dann lernst du neue Sprachen, wie man sich kleidet und benimmt in der Gegenwart fremder Gesandter, wie man einen Haushalt führt und vieles mehr.«

Entsetzt sah May ihn an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber das ist ja furchtbar!«, rief sie. »Ich habe gedacht, Rama erzählt mir diese Dinge nur, um mich zu ärgern! Dann stimmt das also alles?«

Beschwichtigend legte Foliantes eine Hand auf ihre Schulter.

»Noch ist es nicht soweit«, sagte er. »Ein Jahr lang unterrichte ich dich bis dahin, und ich verspreche dir, dir viel über diese Dinge beizubringen.«

»Danke, Foliantes«, stieß das Mädchen hervor, »doch jetzt muss ich mit meinem Vater darüber reden. Er wird sich eines Besseren besinnen und einsehen, dass er mich auf keinen Fall auf diese Universitas schicken kann! Ich gestehe ihm wohl besser auch die Sache mit dem Feuer, bevor er es von jemand anderem erfährt. Du weißt ja, wie sehr er sich aufregt, wenn er glaubt, wir würden ihm etwas verschweigen.«

Wehmütig sah der Hauslehrer seiner Schülerin nach, die bereits auf dem Weg zur Tür war, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

»Tsa«, schnalzte er bedauernd und legte das Buch der Erfindungen wieder auf seinen angestammten Platz in die oberste Regalreihe zurück. »Tsatsa. Was für eine Schande. Wird nicht leicht werden für sie.«

Auf dem Weg zum Thronsaal, in dem ihr Vater für gewöhnlich die Vormittage zu verbringen pflegte, wurde May von einem großen schwarzhaarigen Mann überholt, der sie barsch zur Seite schob und im Laufschritt vor ihr den Korridor entlangeilte.

Plötzlich blieb er stehen und drehte sich unvermittelt zu ihr um, als hätte er sie jetzt erst bemerkt.

»Hey!«, rief er und warf ihr einen zornigen Blick zu. »Geht es hier zum Saal des Königs?«

Wortlos nickte May und folgte dem Fremden, der inzwischen seinen Eilschritt wieder aufgenommen hatte. Sie war gespannt darauf zu erleben, wie dieser ruppige Kerl vom Herrscher des Karpanlandes gleich in seine Grenzen gewiesen werden würde. Bei dem Gedanken daran, was für ein erschrecktes Gesicht der fremde Gesandte machen würde, wenn er erfuhr, wen er da so grob beiseite geschubst hatte, musste sie grinsen.

Da May heute ihren unterrichtsfreien Tag hatte, trug sie Hosen und eine warme Jacke, denn sie verbrachte die meiste Zeit draußen mit ihren Freunden vom Hof und bei den Pferden.

Äußerlich war sie nicht von den Kindern auf Karpanhöh zu unterscheiden – sah man einmal von der feinen goldenen Kette ab, die sie unter einem Pullover verborgen trug, und die ein Erbstück ihrer Mutter war.

May war kleiner als ihre Schwester und längst nicht so hübsch – niemand drehte sich nach ihr um, wenn sie vorbeiging. Obwohl sie das ein wenig traurig stimmte, fand May das eigentlich gar nicht so verkehrt. Wenn man unscheinbar war, konnte man wesentlich besser bei Hof untertauchen und unangenehmen Pflichten aus dem Weg gehen.

Als sie um die Ecke des Flures bog, sah sie gerade noch, wie der rüde Eindringling eine Seite der Doppeltür zum Thronsaal aufstieß und ohne Aufforderung hineinschritt. Hastig folgte sie ihm und blieb neben dem Eingang stehen, um sich unbemerkt einen Eindruck zu verschaffen.

»Wo ist der König?«, knurrte der Fremde. »Ich spreche nur mit ihm und mit niemandem sonst!«

Neugierig beobachtete May, wie sich ihr Vater würdevoll erhob und an Ramarona vorbeiging, die dem Neuankömmling erschreckt entgegenstarrte.

König Mark half zunächst Smeex auf die Beine, der offensichtlich hinter dem Türflügel gestanden hatte, den der Fremde so schwungvoll aufgestoßen hatte.

»Teurer Bote des manzaranischen Reiches«, entgegnete Mark beinahe heiter und klopfte dem blassen Smeex aufmunternd auf die Wangen. »Euer Herrscher ist bekannt für dramatische Auftritte. Doch möchte ich in Zukunft darum bitten, dass Ihr euch an die Gepflogenheiten meines Landes haltet. Bei uns klopft man für gewöhnlich an, bevor man einen Raum betritt. Auch schätze ich es überhaupt nicht, wenn bei all der Eile mein Personal zu Mus zerquetscht wird.«

Langsam kehrte König Mark zu seinem Thron zurück, drückte dem immer noch benommen wirkenden Smeex Papierrollen in die Hand und nahm auf dem Prunksessel Platz. »Ihr werdet sehen, auch meine Geduld ist nicht unerschöpflich, also lasst mich wissen, was Euch mit solch großer Hast vorsprechen lässt.«

Verächtlich schnaufte der dunkelhaarige Mann und begann böse zu grinsen, als er König Mark folgte und so dicht an Ramarona vorbeiging, dass er beinahe ihre Gewänder streifte. Kaum merklich neigte er den Kopf in ihre Richtung und warf dem Herrscher des Karpanlandes ein zusammengefaltetes Dokument zu, das dieser gekonnt auffing und ungelesen an Smeex weiterreichte.

»Mein Herr« sagte der Bote, »hat mir aufgetragen, in Eile zu handeln. Es gilt, keine Zeit zu verlieren, denn die Gefahr steht vor den Toren des manzaranischen Reiches und schickt sich an, alles zu überrollen, was sich ihr in den Weg stellt. Daher beruft sich mein edler Gebieter auf das uralte Bündnis zwischen Eurem und seinem Lande und verlangt das Tadschra!« Augenblicklich erbleichte Mark.

»Spricht er die Wahrheit?«, fragte er Smeex, der mit zitternden Fingern das blutrote Siegel aufbrach und hastig die Zeilen überflog, die der manzaranische König hatte überbringen lassen.

»Bezieht Thoronwald sich tatsächlich auf das Tadschra? Nun lies schon vor, was steht darin geschrieben?«

Smeex räusperte sich und begann, mit brüchiger Stimme den Inhalt des Schreibens vorzulesen:

»Grüß’ dich, Mark. Größte Gefahr für unsere Reiche. Wir hätten schon längst unsere Kräfte bündeln sollen, um gemeinsam gegen unseren Feind, die Wilden Grauen vorzugehen. Aber nein, du hältst dich wie immer zurück, wenn es darum geht, Geld auszugeben. Deswegen, und weil ich keine andere Möglichkeit sehe, die Bunten Länder vor der drohenden Gefahr zu beschützen, fordere ich ein, was in dem alten Bündnis zwischen unseren beiden Reichen von unseren Ahnen als Tadschra eingetragen wurde. Jetzt hast du keine Gelegenheit mehr, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wir müssen unseren Streit beilegen. Um sicherzugehen, dass du mir nicht in den Rücken fällst, erwarte ich die Einlösung meiner Forderung bis zur Nacht des Neuen Mondes, sonst werde ich dir und den Deinen den Krieg erklären. Kannst sie meinen Gesandten übergeben oder persönlich vorbeibringen, ist mir egal. Beste Grüße, Thoronwald … den Rest erspare ich dir, du weißt ja, wer ich bin.«

Sprachlos starrte Mark auf den Überbringer der Botschaft.

»Vater! Was ist mit dir? Was hat dieser Brief zu bedeuten?« Sorgenvoll kniete Ramarona neben dem Thron nieder und umfasste die Hand des Königs.

»Ach Kind!«, seufzte Mark, »Ach mein liebes Kind!«

Er warf Smeex einen fragenden Blick zu. »Kein Zweifel daran, dass das Siegel echt ist?«

Smeex schüttelte den Kopf. »Nein, Majestät. Er hat den Brief eigenhändig verfasst, diese Schrift kenne ich.«

Müde winkte Mark ab. »Ist gut. Ich glaube dir. Sorge dafür, dass die Gesandten Thoronwalds im Gästeflügel untergebracht werden. Ich werde ihnen meine Antwort mitteilen, sobald ich mich erholt habe.«

Der grobschlächtige Fremde verneigte sich tief vor Ramarona und folgte Smeex, der merklich unerfreut über die ihm zugeteilte Aufgabe war.

»Vater, bitte, was hat das alles zu bedeuten?« Bekümmert sah Ramarona ihm nach. »Warum hat dieser widerwärtige Mensch das eben getan?«

»Weil du seine zukünftige Königin bist, deswegen«, erwiderte Mark und schluckte schwer.

»Wie? Das verstehe ich nicht, was willst du mir damit sagen?«, fragte Ramarona zusehends beunruhigter wegen der plötzlichen Ernsthaftigkeit ihres Vaters. Mit einem Mal wirkte ihr Haar nicht mehr so perfekt frisiert wie noch vor wenigen Augenblicken.

»Schon sehr bald wirst du König Thoronwald heiraten, Liebes!«, brachte ihr Vater heiser hervor und wich ihrem Blick aus. Nur gut, dass sie ohnehin gerade kniete, denn kaum hatte Mark zu Ende gesprochen, da fiel Ramarona auch schon in Ohnmacht.

Neue Gefahren, alte Bündnisse

Wenn May etwas gelernt hatte, dann eines: König Mark nie zu stören, wenn er gerade einen seiner berüchtigten Wutanfälle durchlebte.

Kurz nachdem Ramarona bewusstlos geworden und eine Dienerin verständigt worden war, die sich um sie kümmerte, begann Mark damit, alle Schlossbewohner aufzuschrecken. Überall stöberte er herum, durchwühlte alte Akten, piesackte jeden, der ihm begegnete, mit unangenehmen Fragen, richtete in der Bibliothek eine unsägliche Unordnung an, sagte alle Audienzen ab und vergaß sogar zu essen. Erst gegen Sonnenuntergang, als die Leuchter ihr behagliches Licht verbreiteten, beruhigte Mark sich ein wenig und biss mürrisch in eine Scheibe Bratenfleisch, die ihm von seiner besorgten Köchin aufgedrängt worden war.

Indessen war Smeex seinem Gebieter auf Schritt und Tritt gefolgt und führte nebenbei alle anstehenden Aufgaben aus oder beauftragte andere mit deren Ausführung.

Wie durch ein Wunder fühlte sich keiner der zurückgewiesenen Audienzsuchenden vor den Kopf gestoßen, größere diplomatische Katastrophen unterblieben, und der König konnte – wenn auch mit knapper Not – erfolgreich davon abgehalten werden, spontan in den Krieg gegen seinen Erzfeind Thoronwald zu ziehen.

»Dieser Schurke! Dieses bärtige Ungeheuer! Hat es schon ewig auf mein Reich abgesehen! Dieser …«

König Mark erging sich in derart unflätigen Beschimpfungen über den Landesnachbarn, dass Smeex inbrünstig hoffte, die Gesandten Thoronwalds wären mit Schwerhörigkeit geschlagen. Zu gerne hätte May Mäuschen gespielt, musste sich aber mit bruchstückhaften Andeutungen zufriedengeben. Nach dem Abendbrot, das sie gemeinsam mit der Köchin einnahm, ging sie in die Bibliotheksräume, in denen der Unterricht normalerweise stattfand. Sie erhoffte sich, aufschlussreichere Informationen von ihrem Lehrer zu erhalten. Und tatsächlich, vor dem Kachelofen – offenes Feuer war in der Gegenwart alter Schriften nämlich strikt verpönt – saß Foliantes mit einem kleinen Buch vor der Brust, die Augen halb geschlossen.

»Foliantes, Foliantes!«, rief May aufgeregt, und der Bibliothekar schreckte hoch.

»Was ist? Greifen sie an? Löscht ihre Feuer«, fragte er schlaftrunken.

Verständnislos sah May ihn an. »Wie? Oh, entschuldige bitte, ich wollte dich nicht wecken. Aber niemand will mir erzählen, was eigentlich los ist. Rama hat sich seit heute Morgen in ihrem Zimmer eingeschlossen und will mich nicht sehen. Vater wütet in dem Schloss herum und beschimpft seine Berater. Und überhaupt machen alle ein Gesicht, als hätten sie Zahnweh!«

»Tja, mein Kind, leider ist das hier viel schlimmer als ein weher Zahn.« Foliantes streckte sich und setzte sich aufrecht hin. »Du weißt doch bestimmt noch, was wir in Geschichte besprochen haben, oder?«

Verlegen sah May auf den Boden. »Tja, also, ich habe mir nicht alles gemerkt …«

»Nein, das hätte mich auch gewundert. Aber an die Sache mit den alten Bündnissen erinnerst du dich wahrscheinlich?

May nickte. »Ja, früher haben die Bunten Länder lange Zeit Krieg gegeneinander geführt. Frieden war nicht in Sicht, und die Völker wurden von viel Elend heimgesucht. Dann hat man das Bündnisrecht ausgearbeitet, und alles war gut.«

Foliantes seufzte. »Nun, eine ziemlich knappe Darstellung der umfänglichen historischen Ereignisse, aber im Kern trifft sie zu. Wir sprechen von einem wohlüberlegten System unzähliger Bündnisse, das seitdem die ehemals verfeindeten Länder miteinander verbindet. Es verpflichtet die Unterzeichnenden, einander im Falle einer Bedrohung beizustehen. Damit niemand auf den Gedanken kam, das Recht zu brechen, hat man die jeweils erstgeborenen Kinder der Herrschenden miteinander vermählt. Oder sie mussten, wenn das nicht ging, eine Ehe mit dem König oder der Königin des anderen Landes eingehen.«

»Das klingt kompliziert«, meinte May und zog einen Hocker an den Ofen. »Sind solche Ehen denn oft geschlossen worden?« Foliantes nickte. »Zu Beginn schon. Man wollte sichergehen, dass niemand den Frieden bricht, weswegen in der Anfangszeit zahlreiche Bündnisse auf diese Weise besiegelt wurden. Irgendwann sind die Feindschaften allmählich zum Erliegen gekommen, weswegen man sich immer seltener auf diese Verträge berufen hat. Zwar hat man sie aufbewahrt und ihren Inhalt an die nachfolgenden Generationen weitergegeben, aber für eine sehr lange Zeit sind sie nahezu in Vergessenheit geraten.«

Mit großen Augen sah May ihren Lehrer an. »Du meinst, dieser unfreundliche Bote hat heute die Nachricht überbracht, dass Thoronwald dieses Recht einfordert? Er möchte meine Schwester zur Frau, weil er keinen Sohn hat, mit dem er sie verheiraten kann?«

Sie konnte selbst kaum glauben, was sie da sagte, so ungeheuerlich klang es.

»Ja, weil unseren Ländern Gefahr droht. Du kennst ja die Geschichten von den Menschen jenseits der Grenzen, die immer wieder plündernd einfallen und sich niederlassen. Im Augenblick ist Thoronwalds Reich stark davon betroffen, doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir Ähnliches zu befürchten haben. Thoronwalds Recht auf Unterstützung durch deinen Vater ist unumstößlich.«

May dachte an ihre Schwester. »Rama tut mir leid. Kein Wunder, dass sie so traurig ist und nicht mit mir sprechen will. Was ist Thoronwald denn für ein Mensch? Hast du ihn schon einmal gesehen?«

Bedauernd hob Foliantes die Hände. »Da muss ich dich enttäuschen. Ich weiß nicht, wie er aussieht, kenne nur die Geschichten über ihn. Ziemlich oft komme ich ja auch nicht fort von hier, hm? Wer schickt schon einen Bibliothekar auf die Reise in fremde Länder oder nimmt ihn gar zu wichtigen Treffen mit? Nein, nein, da werden Krieger, Händler, Abgesandte gebraucht.« Entgegen seiner Gewohnheit klang er mit einem Mal verbittert. Verwundert sah May ihn von der Seite an. »Ich wusste gar nicht, dass du gerne reisen würdest. Eigentlich dachte ich immer, dass du auf Karpanhöh glücklich bist.«

»Glücklich bin ich auch. Es ist eine große Ehre, die Töchter des Königs zu unterrichten. Es macht auch viel Freude. Aber weißt du, nicht alle aus meiner Familie sind so bodenständig und vernünftig wie ich. Einige von ihnen waren echte Abenteurer, wissbegierige Gelehrte auf der Suche nach Wissen und Reichtum. Nicht, dass es sich für sie jemals ausgezahlt hätte …«

»So?« Mays Neugierde war geweckt. Sie hätte Foliantes‘ Familiengeschichte nie für derart spannend gehalten. »Solange ich mich erinnern kann, arbeitest du für meinen Vater. Bist du vorher auch weit gereist?«

Foliantes schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe meiner Mutter am Totenbett versprechen müssen, die Universitas zu besuchen und einen ordentlichen Beruf zu ergreifen. Ein verlorener Sohn genügte ihr, zumindest den zweiten wollte sie gut versorgt wissen.«

»Du hast einen Bruder? Warum hast du nie von ihm erzählt?« May versuchte sich jemanden vorzustellen, der wie Foliantes aussah und gleichzeitig ein Abenteurer war. Es wollte ihr nicht so recht gelingen. Ihr Lehrer war groß, schlaksig und kurzsichtig. Wollte er etwas lesen, beugte er sich so dicht über das Schriftstück, dass er es fast mit der Nase berührte. Schrieb er etwas auf, dann in großer Schrift, damit er die Buchstaben lesen konnte. Seine blonden Haare waren sorgfältig nach hinten gekämmt, sein Kinnbart ordentlich gestutzt, und ständig umgab ihn der Geruch schwarzer Tinte und alten Papiers. Meist war er ein geduldiger und ruhiger Lehrer und wirkte zufrieden mit seiner Anstellung bei König Mark – beinahe so, als ob er sich niemals etwas anderes gewünscht hätte.

Foliantes räusperte sich. »Ich rede auch nicht gerne von ihm. Außerdem kenne ich ihn ja kaum. Als unsere Mutter starb, war er bereits seit Jahren verschollen. Nur gelegentlich bekamen wir über einen Händler, der zufälligerweise an unserem Dorf vorbeikam, eine kurze Nachricht von ihm. Aber nie hat er ein Sterbenswörtchen darüber verloren, wo er war oder was er tat. Kein sehr zuverlässiger Mensch, wie du sehen kannst und bestimmt kein rechter Umgang für eine Prinzessin.«

Zwar sah May das anders, schwieg jedoch, um ihren Lehrer nicht zu verärgern. Stattdessen versuchte sie es mit einer unverfänglichen Frage. »Was für ein Buch liest du da? Ist es für den Unterricht?«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Es ist nur unnützer Kram.«

»Was denn?«

»Nun, da du vorher wahrscheinlich keine Ruhe gibst,

kann ich es dir ja auch sagen: Es ist das Tagebuch meines Großvaters mütterlicherseits. Er war ein, ähm, sagen wir mal ungewöhnlicher Forscher mit einem ungewöhnlichen Forschungsgegenstand. Die Hälfte von dem, was er schreibt, ist vermutlich erlogen, aber es ist sehr kurzweilig, darin zu lesen. Kaum zu glauben, dass dieser Mann mein Großvater mütterlicherseits war!«

»Worüber hat er denn geforscht?«, begehrte May zu wissen.

Unbehaglich rutschte Foliantes auf seinem Stuhl hin und her. »Sagt dir der Name Cecilius Foliantes Minnemond etwas?«

»Nicht das ich wüsste …«

»Ist auch nicht weiter schlimm. Das ist der Name meines Großvaters. Er war ein wenig umgänglicher Mensch und ganz versessen darauf, das Leben der Drachen zu erforschen.«

»Drachen?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Hat es die denn zu seiner Zeit noch gegeben?«

»Das hat er zumindest behauptet. Allerdings lässt er in seinen Aufzeichnungen nichts über ihren Aufenthaltsort verlauten. Ich vermute ja, er hat sie niemals gefunden und die Geschichten um seine Forschungsreisen kurzerhand ersonnen.«

»Hast du ihn denn nie danach gefragt?«

»Nein. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Denn auch er ist wie vom Erdboden verschluckt und hat nie wieder etwas von sich hören lassen. Aber darüber wollten wir ja gar nicht reden«, fügte Foliantes schnell hinzu, als er sah, dass May den Mund öffnete, um weitere Fragen zu stellen, »sondern unsere Geschichtskenntnisse auffrischen!«

»Ja, aber …«

»Nein. Kein aber. Der Ernst der Situation lässt uns im Augenblick leider keine Zeit für Märchen. Denk an deine arme Schwester, die in weniger als dreißig Sonnenaufgängen Thoronwald heiratet. Und an deinen bedauernswerten Vater. Was ihn erst erwartet …«

»Ja, was erwartet ihn denn? Er hält sich doch an das Bündnis, wenn er Ramarona fortgibt.«

»Du hast nicht richtig aufgepasst, als ich dir vorhin von den Abkommen erzählt habe.« Foliantes hob den Zeigefinger.

»Entweder werden die ältesten Kinder der Herrschenden miteinander verheiratet – oder sie heiraten die betreffenden Herrscher.«

»Ja, und?« Angestrengt überlegte May, was ihr bei Foliantes' Ausführungen entgangen war, während sie auf den ausgestreckten Zeigefinger starrte.

»Thoronwald hat zwar keinen Sohn, aber eine Tochter. Und bevor die Frist verstrichen ist, muss dein Vater im Gegenzug diese Tochter ehelichen.«

Ein Bibliothekar auf Abwegen

Bei Hof im Karpanland war – verständlicherweise – auch am nächsten Tag die Stimmung ziemlich niedergedrückt. Prinzessin Ramarona verweigerte jegliches Essen, ihr Vater stapfte weiterhin wutentbrannt durch die Räume des Schlosses und versammelte alle Berater um sich, die nicht rechtzeitig ihr Heil in der Flucht gesucht hatten.

May versuchte, sich auf den Unterricht bei Foliantes zu konzentrieren, doch es regnete bereits seit dem frühen Morgen, und ihre Aufmerksamkeit wich der Müdigkeit. In der vergangenen Nacht hatte sie vor lauter Aufregung über die bevorstehenden Veränderungen nicht viel Schlaf gefunden. Außerdem wirkte selbst der Bibliothekar abgelenkt. Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein, was bisher noch nie geschehen war. Häufig unterbrach er seine Rede, starrte durch die Butzenscheiben in den Regen, während er May viel schreiben und rechnen ließ.

Weder Mays Vater noch ihre Schwester wollten im Augenblick mit ihr sprechen. Dabei hätte sie doch so viele Fragen gehabt: Was für ein Mann war König Thoronwald? Würde Rama es dort gut ergehen?

Wie mochte die Tochter des fremden Königs sein? Vor allem beschäftigte sie der Gedanke an die jetzige Ehefrau Thoronwalds. Würde nicht auch sie sehr traurig sein? Niemand schien sich über die Einhaltung des alten Vertrages zu freuen oder auch nur im Entferntesten etwas Gutes darin zu sehen.

Auf ihre letzte Frage hin hatte Foliantes zumindest erklärt, dass es früher im Allgemeinen üblich gewesen sei, dass die abgesetzten Ehefrauen der Könige gemeinsam mit ihren Kindern an den anderen Hof zogen, um dort zu leben.

May stützte den Kopf auf den Händen ab und starrte traurig auf die kahlen Zweige des Apfelbaumes, dessen Äste sich müde im Wind wiegten. Unschwer ließ sich erahnen, dass noch viel Regen und Sturm ins Land ziehen würden, bevor der Frühling wieder erwachte.

Auf dem Korridor erklang die Stimme des Königs, der lautstark nach Smeex rief. Offenbar war der Sekretär jedoch nicht auffindbar, denn kurz darauf kehrte wieder Stille ein. Erleichtert seufzte May, und Foliantes entspannte sich. Wenn König Mark schlechter Laune war, kam man ihm besser nicht unter die Augen, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit?«, fragte Mayfaran schließlich. »Müssen wir uns an den Vertrag halten?«

»Selbstverständlich müssen wir das!«, gab Foliantes zurück. »Erst recht der König muss zu seinem Wort stehen. Natürlich könnte man auch die Drachen um Hilfe bitten, aber ich glaube kaum, dass sie sich darauf einlassen würden.«

»Drachen? Gibt es die denn noch?«, fragte May erstaunt. »Hast du nicht gesagt, sie wären ausgestorben?«

Irritiert sah Foliantes sie an. »So, habe ich das? Wann soll das denn gewesen sein? Wie kommst du jetzt überhaupt auf Drachen?«

Beunruhigt musterte May ihren Lehrer. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. »Foliantes, geht es dir gut?«, erkundigte sie sich besorgt. Tatsächlich wirkte der Bibliothekar mit einem Mal blasser als gewöhnlich, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Außerdem las er ständig in diesem Buch seines Großvaters, obwohl eigentlich Unterrichtszeit war. Das machte er sonst nie.

»Was? Wieso sollte es mir denn nicht gut gehen? Es ging mir nie besser …«

Nachdenklich schürzte Foliantes die Lippen. Plötzlich sprang er auf und kritzelte hastig eine neue Rechenaufgabe auf die Schiefertafel. »Hier, rechne das. Ich bin gleich wieder zurück.« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Zimmer und ließ eine völlig verdatterte Prinzessin zurück. Kopfschüttelnd machte sie sich schließlich daran, die kniffelige Aufgabe zu lösen.