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In der Trauer reicht der Erfahrungshorizont von bitterer Kälte und Dunkelheit bis hin zum Aufbrechen zarter Knospen im ersten milden Frühlingslicht. So gesehen erfasst der April wie kein anderer Monat die Gefühlswelt Trauernder. Diese Erfahrung nimmt der Seelsorger und Trauerbegleiter Hubert Böke auf und webt sie wie einen roten Faden in seine Geschichten ein. Seine weisheitlich-poetischen Geschichten erzählen von bitterer Kälte und winterlicher Dunkelheit auf dem Weg der Trauer, aber auch vom neuen Erwachen der Lebenskraft - vorsichtig wie die ersten Frühlingsboten und doch nicht zu kleinzukriegen. Sie machen Mut, sich auf die Trauer einzulassen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Denn wenn der Frühling leise wieder an die Tür klopft, dann ist es Zeit, Vertrauen zu fassen und es noch einmal zu wagen mit dem Leben.
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Seitenzahl: 93
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Hubert Böke
Mein Herz ist wie April
Geschichten vom Trauern und vom Leben
Patmos Verlag
Vorwort
Im tiefsten Winter der Trauer
Raunen I
Winterengel
Gretel und Hänsel
Jules Stern
Wenn die Tage wieder länger werden
Raunen II
Morgenwind
Lillith und die Sternenstraße
Die Blume und die Raupe
Leise klopft das Leben an
Raunen III
Tochter des Regenbogens
Mein Herz ist wie April
Flieg, Vogel, flieg
Für
Lene Thurøe Knudsen,
meine erste Leserin und Muse,
die meinen Geschichten Flügel verleiht,
Sven Ingmar Knudsen,
meinen Sohn, der mit mir die Liebe
zum Schreiben und Geschichtenerzählen teilt.
Mit herzlichem Dank
für das engagierte Lektorat von Andrea Langenbacher,
der dieses Buch viel zu verdanken hat.
In 365 Tagen umkreist unsere Erde die Sonne.
Wenn uns Erdbewohnern etwas „im Blut liegt“, dann sind es die großen Rhythmen unseres Planeten: Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Nichts liegt deshalb näher, als auch unser Leben im großen Rhythmus der Jahreszeiten zu begreifen: Jedes Menschenleben hat seinen Frühling, seinen Sommer, seinen Herbst und Winter. Und wenn wir schmerzlich Abschied nehmen müssen von unseren Liebsten, dann folgt auch unser Weg durch die Trauer dem Rhythmus, der allem Leben zu eigen ist.
Und doch setzen Abschied und Trauer eine ganz eigene Zeitrechnung in Gang: „Im Hohen Sommer starb mein Liebster. Seither ist in meinem Herzen tiefster Winter.“ So sagt es eine Frau in ihrer Trauer. – Es ist, als würde die Zeit mit einem Schlag auf Null gesetzt. „Tiefster Winter“ ist das Bild, mit dem die Trauernde ihre Gefühlswelt umschreibt. Mag draußen auch Hochsommer sein, in ihrem Innersten ist eine Zeit schlimmer Kälte angebrochen. Und es ist nicht die Art von Kühle, nach der sich mancher in schwülheißen Hochsommertagen sehnt. Es ist ein bitterkalter Winter, der alles zum Erfrieren, der alles zum Erstarren bringt. Ein Winter, der – ist er erst hereingebrochen – kaum vorstellbar jemals wieder enden wird.
Trauer um einen Liebsten brennt in unserer Seele wie eiskalter Schnee. Sie wirft uns aus vertrauten Bahnen, katapultiert uns in eine Welt des Schmerzes, der Leere und tief empfundenen Ausweglosigkeit.
Und dennoch – wenn auf etwas in unserer Welt Verlass ist, dann ist es dieses: Jeder Nacht folgt ein neuer Tag, jedem Winter folgt ein neuer Frühling. In den schlimmsten meiner Nächte verzweifle ich daran, weil die Nacht nicht enden will. Zur Mittwinternacht haben unsere Vorfahren gezweifelt: „Wird die Sonne noch einmal die eisigen Winterstürme vertreiben, wird das Licht die Dunkelheit besiegen?“
Durch Zehntausende von Jahren haben Menschen den tiefen Schmerz des Abschiedes durchlitten. Frühe Begräbnisse und liebevolle Grabbeigaben zeugen von der Trauer der ersten Menschen. Durch die unendlich vielen Jahre aber ist auch das zur Gewissheit geworden: Die Rhythmen der Natur, die Gezeiten des Lebens sind stark und mächtig.
Winter bleibt es nicht für immer. Irgendwann wird es Frühling werden.
Trauer ist ein langer Weg. Für viele ist der „Winter“ endlos lang. Die Tage sind grau und kalt und schlimmer noch sind die einsamen Nächte. Und auch wenn der „Frühling“ seine ersten Boten schickt, vergeht die Trauer nicht. Auch nicht im „Sommer“ und nicht im „Herbst“. Aber Trauer verändert sich. Über die Zeit wird die Trauer anders. Der Schmerz ist nicht mehr alles. Der Alltag wird wieder erträglicher. Manchen Kälteeinbruch wird es noch geben, denn der vergehende Winter kämpft mit dem kommenden Frühling. Es bleibt wechselhaft: Mein Herz ist wie April.
Aber auch April wird es in der Trauer nicht für immer bleiben. So wie die Erde auf ihrem Weg um die Sonne nicht stehenbleibt und die Welt draußen ihren Atem nicht anhält, so bleiben auch wir Menschen nicht in unserer Trauer stehen, sondern finden – irgendwann, nach bitteren, schmerzlichen Wegen – zurück ins Leben.
Dieses Buch lädt Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein, sich auf Ihrem Weg durch die „Jahreszeiten der Trauer“ von Erzählungen, Märchen und Geschichten begleiten zu lassen. In den Geschichten, die ich erzähle, spiegelt sich meine jahrzehntelange Erfahrung in der Begleitung von trauernden Menschen wider. Sie gehen mit in den „tiefsten Winter“, geben der Not und den Fragen des „Mittwinters der Trauer“ eine Sprache. Und lassen dann doch die Erfahrung und das Vertrauen spürbar werden, dass Schmerz und tiefste Not nicht das letzte Wort haben werden.
Geschichten sind gute Begleiter. Sie erzählen nicht in der Sprache des Verstandes, sondern mit den Bildern des Herzens. Und wenn Sie die eine oder andere Geschichte dieses Buches wirklich im Herzen anspricht, dann mag daraus auch eine kleine Kraft erwachsen, ein Quantum Mut, Ihren Weg durch den Winter der Trauer weiterzugehen; der Mut auch, nicht zurückzuschrecken wenn die ersten Boten des kommenden Frühlings sich zeigen.
Gute Geschichten haben eine seltsame Kraft. Sie wachsen in unseren Herzen weiter, wenn wir sie mitten hinein in unser eigenes Leben erzählen.
Vielleicht wird Sie das eine oder andere „zu Tränen rühren“. Das ist so in der eigenen Trauer. Sehr freuen aber würde es mich, wenn Ihnen meine Geschichten immer wieder auch einmal ein Lächeln schenken und ein Gefühl dafür, dass auch Ihr „Winter“ nicht ewig anhalten wird.
Der geliebte Mensch, von dem Sie haben schmerzlich Abschied nehmen müssen, wird der erste sein, der es Ihnen von ganzem Herzen gönnt.
Ihr
Hubert Böke
Wenn die Trauer um einen geliebten Menschen über uns hereinbricht, dann wird es in uns und um uns bitter, bitter kalt. Dann bricht die Zeit des tiefsten Winters an. Alles gerät unter eine undurchdringliche Eisschicht. Das Leben in uns gefriert, als wären wir selbst mitgestorben. Ich verstehe mich selbst, ich verstehe die Welt um mich herum nicht mehr. Auch die Wege zu anderen Menschen sind zugeschneit und für alle schwer begehbar.
„Seit dem Tod ihres Mannes hatte kein Sonnenstrahl mehr ihr Herz erreicht. Tief in ihr lauerte ein dumpfer Schmerz und lähmte alles Leben. Ihre Seele war ein See gefrorener Tränen, unter dem Eis aber brodelte eine große Leere“, so heißt es in der Erzählung Raunen. Sie wird in diesem Buch in drei Teilen erzählt. Jeder Abschnitt erzählt die Geschichte weiter und leitet in das nächste Kapitel ein.
Irgendwann, nach dieser Schockstarre der ersten Trauer, bricht die Eisdecke. All die Gefühle, die unter dem Eis wie weggesperrt waren, kommen herauf vom Grund der wunden Seele. All die Verzweiflung, all die Einsamkeit, all das Nicht-Begreifen, die Angst, der Zorn auf Gott und die Welt und wohl auch auf den, der uns (nicht freiwillig) verlassen hat.
„Es gibt Zeiten“, so erzählt die Geschichte vom Winterengel, „da frieren nicht nur die Menschen, da frieren auch die Engel.“
Es gibt Zeiten, da geraten wir mitten hinein in einen finsteren, kalten Wald wie Gretel und Hänsel und wissen nicht: Werden wir jemals wieder herausfinden? Wird die „Hexe“ siegen, das, was alle Lebenskraft frisst? Oder wird die Sonne des Lebens für uns noch einmal scheinen und neuer Lebensmut der Verzweiflung trotzen?
So fragen in Jules Stern auch die Menschen des Hohen Nordens, wenn der lange Winter anbricht und die Mittwinternacht kommt: „Wird die Sonne noch einmal die eisigen Stürme des Winters vertreiben, wird das Licht den Sieg über die Dunkelheit davontragen?“
Die Winterzeit der Trauer ist eine Zeit voller Schmerz, voller Ungewissheit, voller unbeantworteter Fragen. Und wir sind Gebeutelte im aufkommenden Sturm der Gefühle: „Wird dieser Schmerz jemals erträglicher und das Leben … irgendwann … wieder lebbar?“
Ihr Leben war ein tiefes, dunkles Loch.
Seit ihr Mann gestorben war, hatte kein Sonnenstrahl mehr ihr Herz erreicht. Tief in ihr lauerte ein dumpfer Schmerz und lähmte alles Leben. Ihre Seele glich einem See gefrorener Tränen und unter dem Eis war eine große Leere.
Menschen, die ihr früher vertraut waren, zogen sich zurück – oder war sie selbst es, die sich in einer dunklen Seelenhöhle verkroch?
Sie fühlte sich, als wäre sie ganz allein auf der Welt.
Der einzige Ort auf dieser Erde, der ihr lieb war und des Besuchens wert, war das Grab ihres Mannes. Dort saß sie Stunde um Stunde.
Über das Grab neigte ein alter Baum seine weiten Äste und spendete Schatten in der Hitze des Sommers.
Hier träumte die Frau von den verlorenen Tagen, als sie noch ganz war und mit ihrem Mann vereint. Hier plauderte sie mit den Gestalten ihrer gemeinsamen Vergangenheit, hier spürte sie die verlorene Nähe ihres Liebsten. Die Welt außerhalb der Friedhofsmauern war nur ein böser Traum.
Doch ließ sich die Welt draußen nicht auf immer ausschließen.
Als die Blätter sich färbten und die dunklen Tage der Winterzeit ihre ersten Boten sandten, jagten Herbststürme übers Land, fegten das Laub von den Bäumen, brachen totes Holz. Wie ein Blatt im Wind, so wurde auch sie hin- und hergeworfen.
Die schützenden Mauern waren zusammengefallen. Eine Sturmflut von Gefühlen brach über sie herein. Es kam eine Zeit voller Schmerz, voller Bitterkeit. Sie begann zu begreifen, dass nichts mehr sein wird, wie es einmal war. Sie wankte zwischen ohnmächtigem Zorn und dem Gefühl tiefster Verlassenheit. Schuldgefühle marterten sie und ein bohrendes „Warum?“
Kalte Novembernebel hielten ihre Seele gefangen, die Sonne am klaren Winterhimmel war ihr Feind. Nichts mehr schmeckte ihr nach Leben. Jeden Morgen war ihr das Aufstehen ein Kampf. Die kleinsten Alltagsaufgaben waren zu groß. Bei jedem Atemzug fehlte er ihr.
Oft war da nur noch ein Wunsch, eine Sehnsucht: dass alles vorüber wäre.
Auf Seite 30 wird die Geschichte weitererzählt.
Auf einem Spaziergang um meinen Lieblingssee ist er mir zum ersten Mal begegnet. Es war Sommer, der Wald über dem See stand in voller Kraft. In einer kleinen Baumhöhle auf vielleicht zweieinhalb Metern Höhe hatte ein Engel Einzug gehalten, handgroß, in weißen Gewändern und mit silbrig leuchtenden Flügeln. Vielleicht hatte damit ein freundlicher Bürger unserer Stadt seine Botschaft hinterlassen. Seltsam, dachte ich. Was macht ein Engel hier im Wald? – Aber es hat mich gefreut! Fast ängstlich habe ich dann bei jedem weiteren Spaziergang Ausschau gehalten nach dem kleinen Waldengel, immer ein wenig in Sorge, dass weniger wohlmeinende Menschen ihn würden „mitgehen“ lassen oder ihm gar Schaden zufügen.
Wundersam genug wohnt der Engel auch heute noch, im dritten Sommer nach seinem Einzug, in der Baumhöhle. Über die Jahre jedoch hat sich der kleine Geselle verändert. Aus dem leuchtendweißen Engel ist eine eher zerzauste Gestalt geworden, ein Waldbewohner, der Hitze, Kälte, Regen, Eis, Blitz und Donner und wohl auch manchen Sturm hat überstehen müssen.
So ist es auch mir in den letzten beiden Jahren ergangen. Mein Gang um den Waldsee war in dieser Zeit oft ein großes Vergnügen, ein Aufatmen und Zur-Ruhe-Kommen. Oft genug war es aber auch ein Gang mit schweren Gedanken und Sorgen. Wenn die Bäume ein Ohr für uns hätten, sie hätten manches Hadern und manche Angst und Klage von mir zu hören bekommen. Gerade in solchen Zeiten habe ich umso mehr nach dem kleinen Engel Ausschau gehalten. Vielleicht, weil ich dachte, dass ein Engel wohl mehr vom Glück und von der Not eines Menschen versteht als die Bäume.