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Friedel zieht nach dem Abitur von West-Berlin nach Köln, um zu studieren und das richtige Leben kennenzulernen. Träume, Sehnsucht, Musik, Reisen nach Wales und Südamerika, Karneval und Alltag, Käfer und Kastenente, Leben in der Studentenbude und in der Wohngemeinschaft. Friedel will die Welt und sich selbst besser verstehen und sucht nach Wahrheit, Wärme und einem Gegenüber auf dem Stuhl in seinem Zimmer ... Mein Kopf, der ist ein Zimmer in dem zwei Stühle stehn. Auf einem davon sitze ich und auf dem andern ist niemand zu sehn. (aus P.T. Schulz: Rapunzel)
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Seitenzahl: 315
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Erdmann Kühn ist in Berlin geboren und aufgewachsen und hat in Köln Kunst und Musik studiert. Er lebt im Rheinland, arbeitet als Lehrer und in der Lehrerfortbildung. Er ist Musiker, Chorleiter, singt, komponiert, arrangiert und schreibt.
„Mein Kopf, der ist ein Zimmer“ ist nach „Der Junge auf der Schaukel“ und „Abschied von Berlin“ der letzte Teil der Friedel-Trilogie. Daneben sind von Erdmann Kühn erschienen: "Am Tag, als er sein Spiegelbild grüßte - Ein Lehrer verschwindet", „Jascheks Reise“, ein Reisekrimi als Roadmovie, sowie: „Himmel und Erde – Vaters Tagebücher 1926 – 1946“. Mehr über den Autor bei www.erdmannkuehn.jimdo.com
Mein Kopf, der ist ein Zimmer,
in dem zwei Stühle steh‘n.
Auf einem davon sitze ich
und auf dem ander‘n
ist niemand zu seh‘n.
P. T. Schulz: Rapunzel
Wir sind benebelte und tolle Kreaturen,
Fremde für unser wahres Selbst, für einander …
Wahrnehmung, Vorstellung, Phantasie,
Spinnerei, Träume, Erinnerungen
sind einfach verschiedene Modalitäten von Erfahrung,
keine „innerlicher“ oder „äußerlicher“ als andere.
Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung
Ich werde wach und öffne ganz vorsichtig die Augen. Dämmerlicht. Alles wirkt verschwommen und unwirklich. Mein großer Zeh guckt unter der Bettdecke hervor. Ich ziehe ihn ein und schaue mich langsam in meinem Zimmer um. Die groben, schwarz gestrichenen Holzdielen wie ein Abgrund, bodenlos. In der Mitte des Zimmers schwebt darauf das Bücherregal, fast grell die sorgsam aufeinander geschichteten weißen Steine vom Bau, dazwischen schimmert geheimnisvoll das rötliche Holz der Kiefernbretter. Durch die großen, hohen Fenster fällt ein diffuses Licht in den Raum, wie Nebel, beleuchtet dies und das. Die sorglos über den alten Holzstuhl geworfenen Kleidungsstücke, ein Strumpf ist auf den Boden gerutscht. Auf dem Schreibtisch türmen sich Bücher, Hefte, Papiere, einige zerknüllt, Gläser, eine leere Flasche Rotwein von gestern Abend. Die alte Schreibmaschine in der Mitte ragt aus dem Chaos heraus, ein frisches Blatt ist eingespannt.
Das Licht irritiert mich. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Licht. Ich gehe mit den Augen noch einmal das ganze Zimmer ab. Die Schnur der einsam baumelnden Deckenlampe aus blauem Metall müsste mal wieder von dicken Staubflusen befreit werden. Der Flokati vor dem Bücherregal liegt zottelig weich und kuschelig ausgestreckt wie ein großes Schaf. Vereinzelte Chipskrümel auf dem schwarzen Holzboden. Ein Teller mit Gabel thront elegant auf einem wackeligen Bücherstapel. Irgendetwas Undefinierbares liegt darauf. Was habe ich gestern gegessen? Ich kann es vom Bett aus nicht erkennen. Die Gitarre, lässig an das Bücherregal gelehnt, wartet auf mich. Ganz in der hintersten Ecke steht mein Cello, der Bogen hängt daneben an der Wand.
Was stimmt da hinten nicht? Hinter dem Regal, was ist da? Ich kann es nicht erkennen und richte mich im Bett auf. Da sitzt jemand im Halbdunkel auf meinem alten Ledersessel! Ich schaue genau hin. Es ist Oma. Sie sitzt dort und schaut in den Raum hinein, aber sie sieht mich nicht. Sie sieht durch mich hindurch. In diesem Moment wird mir klar, das kann nicht sein. Oma ist Anfang des Jahres gestorben. Sie kann dort nicht sitzen! Ich träume noch immer!
Im Frühjahr 1976 fährt Friedel die Orte an, die für ein Studium infrage kommen. Hamburg hat ihm gut gefallen, die große Stadt, offener und großzügiger als West-Berlin, die Nähe zum Wasser, der Hafen und der Wind vom Meer. Der salzige Geruch von Freiheit und Abenteuer. Aber Hamburg klappt nicht, die Prüfung an der Musikhochschule hat er zwar bestanden, aber für das Lehramtsstudium ist sein Notenschnitt von 2,5 nicht gut genug. Und Lehrer will er ja werden, Sonderschullehrer.
Also bleiben noch Dortmund und Köln, dort, wo Sonderschullehrer ausgebildet werden. Zuerst ist er nach Dortmund gefahren. Die neu gebaute Betonfestung am Stadtrand hat ihn anfangs abgeschreckt, aber dann hat er schnell eine sehr nette Studentin kennengelernt, die ihn ein wenig herumführt und im schönsten Ruhrpott-Dialekt erzählt, das sei alles nicht so schlimm hier und man gewöhne sich schnell daran und sehe dann gar nicht mehr, wie hässlich das aussähe. Wichtig wäre doch, dass die Leute nett wären – und das wären sie hier auf jeden Fall! Dabei schaut sie ihn mit einem derart entwaffnenden Lächeln an, dass Friedel ihr sofort zustimmen muss. Ja, es bestätigt seinen Eindruck. Die Leute sind vielleicht etwas rau, aber offen, herzlich und hilfsbereit. Dortmund ist schon mal eine Option.
Dann jedoch kommt er nach Köln und die Stadt nimmt ihn sofort in ihren Besitz. Der Dom, der breite Fluss mit seinen Brücken und den ausgedehnten Uferpromenaden. Es hat fast etwas von Nachhausekommen. Er fühlt sich von Anfang an wohl in Köln und es ist ihm völlig klar, er wird hier studieren und nicht in Dortmund. Die Kölner sind anders als die Leute im Pott, aber ebenso freundlich und hilfsbereit. Selbst als er von der ZVS, der Zentralstelle für die Studienplatzvergabe, eine Absage für das Sonderschulstudium in Köln bekommt – auch hier ist sein Notendurchschnitt zu schlecht – beschließt er nach Rücksprache mit der Studienberatung, erst einmal das „normale“ Lehramtsstudium an der PH, der Pädagogischen Hochschule, in Köln zu beginnen. „Später kannst du immer noch rüber wechseln“, raten sie ihm, „nach dem ersten oder zweiten Semester klappt das meistens!“
Schon am ersten Tag findet er ein kleines möbliertes Zimmer in Lindenthal, fünf Fußminuten von der PH entfernt. Es ist der erste Zettel, den er an der Pinnwand vom Studentenwerk entdeckt. Ein Anruf, eine ältere Dame erklärt ihm am Telefon, er solle in die „Charlesstraße“ in Lindenthal kommen. Er fragt noch einmal nach. Ja, in die Charlesstraße. Was ihn irritiert, ist, dass die Frau nicht Scharls sagt, mit einem „s“ am Ende, sondern Scharl ohne „s“. Was ihn noch mehr irritiert, als er auf dem Stadtplan sucht: In Köln gibt es gar keine Charlesstraße! Er fragt den Mann vom Studentenwerk.
„Wie, et jibt keine Scharrlstroß in Kölle? Sischerlisch jib et die, leeve Jung, und zwar in Lindenthal!“
Zum Glück kommt Friedel auf die rettende Idee, sich die Scharrlstraße buchstabieren zu lassen, S C H A L L – jetzt endlich weiß er, wo er hin muss: In die Schallstraße!
Das Zimmer ist wirklich nur ein winziges Kämmerchen, sieben Quadratmeter, mit schrägen Wänden direkt unterm Dach. „Klein, aber mein!“ denkt sich Friedel. Alles, was er braucht, ist drin: Ein kleiner Schreibtisch mit Blick auf die Lindenthaler Dächer, ein Regal für Bücher, ein altes Liegesofa, auf dem zur Not auch zwei Leute eng aneinander gekuschelt schlafen können, eine geräumige Kommode, in der sowohl die Cellonoten, Ordner, Blöcke, Kleinkram, als auch überlebenswichtige Vorräte passen: zwei verschiedene Marmeladen, eine gelb, eine rot, Nudeln, Ketchup, Apfelmus. Die winzige Küche für die vier Dach-Studenten ist im Flur direkt gegenüber, hier gibt es einen Kühlschrank, eine Doppelkochplatte und eine kleine Spüle. Noch kleiner ist das Gemeinschaftsklo. Eine Dusche gibt es nicht, Waschen muss man sich am kleinen Handwaschbecken im Klo mit kaltem Wasser.
Dafür kostet das Zimmer auch nur 60 Mark im Monat. Da Friedel noch nicht weiß, ob er BaföG bekommen wird und wie viel, ist das schon mal eine gute Einsparmöglichkeit, um mit möglichst wenig Geld über die Runden zu kommen. Zwei Leute können gleichzeitig zu Besuch kommen und sich nebeneinander auf die Bettliege setzen, Friedel auf den Schreibtischstuhl, dann ist das Zimmer voll. Wenn Friedel Cello übt, muss er die Tür abschließen, denn sonst würde ein Besucher den Notenständer umreißen.
Im Zimmer nebenan wohnt Ali, ein hagerer Iraner mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Im Bücherregal seines immer ordentlich aufgeräumten Zimmers stehen mehrere dicke Marx-Engels-Bände. Er lädt Friedel öfter zum Tee ein, den er in einer kleinen Metallkanne aufgießt, die er jeden Tag nach Gebrauch mit Scheuermittel so lange behandelt, bis sie wieder rundum blitzt. Ali ist immer für ein Gespräch zu haben, aber wenn er von sich selbst oder von Persien erzählt, bekommt er diese tiefen Schatten um die Augen. Er ist geflohen, um in Deutschland zu studieren, darf aber nicht studieren, da er die nötigen Papiere nicht vorweisen kann. So verbringt er seine Tage mit Spaziergängen, Gesprächen und der Lektüre des Kapitals auf Deutsch. Er kann gar nicht fassen, dass Friedel noch nichts von Karl Marx gelesen hat, wo er doch Deutscher ist und ihm das Lesen auf Deutsch viel flüssiger von der Hand geht als einem armen persischen Studenten. Das sei doch das Wichtigste: Gerechtigkeit und Arbeit für alle.
Friedel bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn er mit Ali erzählt, weil es ihm selbst ja eigentlich gut geht, im Vergleich zu Ali sogar blendend, und er einfach studieren kann, was er will. Er lädt Ali öfter mal zu einem Kölsch in der Eckkneipe ein, aber auf mehr als ein Kölsch lässt sich Ali nie ein. Die Unterhaltungen mit ihm werden schnell tiefgründig und schwermütig, er findet die Leichtigkeit und den sorglos-amüsanten Plauderton der Kölner befremdlich. Friedel dagegen hat sich schnell daran gewöhnt und mag gerade das an den Kölnern: Man kann einfach so ein bisschen vor sich hin schwätzen und braucht nicht immer tiefsinnige Themen. Man darf sich sogar in eine Unterhaltung spontan mit einmischen, wenn man Lust hat, und wird dabei sofort geduzt und in den Kreis mit aufgenommen – so etwas kennt er aus Berlin nicht.
Die Kehrseite der Kölner Leichtigkeit bekommt er auch schnell mit: Wenn man mit jemandem am Abend zuvor Kölsch getrunken und über Gott und die Welt gesprochen hat, kann es trotzdem ein paar Tage später passieren, dass der andere einen anscheinend nicht wiedererkennt oder nicht weiter beachtet. Nicht aus Bosheit oder Vergesslichkeit, es ist eher eine Art Oberflächlichkeit. Friedel ist sich anfangs manchmal unsicher, mit wem er jetzt befreundet ist oder einfach nur oberflächlich bekannt. Das „Drink doch ene met!“ des Kölners bedeutet nicht viel mehr als eine freundliche Einladung zum Mittrinken und Miterzählen. Man sollte sie auf jeden Fall annehmen und genießen, sich aber nicht zu viel davon versprechen.
Wenn man das einmal kapiert hat, lebt es sich als Zugereister sehr angenehm und einfach in Köln. Dazu kommt, dass man als Student in Köln auf eine Menge anderer „Immis“, Immigranten, trifft, die alle von der Kölner Gastfreundlichkeit und Aufgeschlossenheit profitieren. Friedel lernt eine stattliche Anzahl Sieger-, Sauer- und Münsterländer kennen, Eifeler und Voreifeler, Bergische und Oberbergische, Ruhrpöttler, Menschen vom Niederrhein und aus Ostwestfalen. Alle bringen ihre eigene Klang- und Sprachfärbung mit und ihre regionalen Eigenheiten. Friedel staunt immer wieder, wie vielschichtig und verschieden dieses große Nordrhein-Westfalen ist. Und trotzdem übernehmen sie alle, egal aus welcher Ecke sie kommen, ganz schnell die Begeisterung für Köln, Kölsch und Karneval.
Auch Friedel fühlt sich schon bald als preußischer Rheinländer oder rheinischer Preuße – je nachdem. Wenn er Berliner Besuch hat oder mit Berlin telefoniert, stellt er automatisch auf den Berliner Slang um. Das Herz pocht vernehmlich lauter, sobald er irgendwo jemanden richtig berlinern hört. Wenn er in Berlin zu Besuch ist, sagen ihm die Leute in den ersten Tagen: „Du hast ja schon diesen rheinischen Singsang drauf!“ Und wenn er dann wieder zurückkommt nach Köln, sagen ihm die Kölner: „Jetzt berlinerst du aber wieder richtig!“ Wenn er in Köln „Zuhause“ sagt, meint er Berlin, wenn er das in Berlin sagt, meint er Köln.
Sein blaugelb gestrichener VW-Käfer hat auf jeden Fall noch das Berliner Nummernschild, das hat viele Vorteile. Dazu kommt, dass er den ersten Wohnsitz unbedingt in West-Berlin behalten muss, damit nicht irgendjemand beim Bund auf die Idee kommt, ihn zur Bundeswehr zu schicken. Berliner „dürfen“ ja nicht zum Bund – und das findet Friedel überhaupt nicht schlimm. Er will lieber studieren als strammstehen und marschieren. Und schießen schon gar nicht.
Die Kölner Pädagogische Hochschule liegt idyllisch am Ende eines langgestreckten kleinen Parks mit Wasserlauf, wo die Lindenthaler Bürger ihre Frauen und Hunde ausführen, Kinder spielen und in den Mainächten die Luft schwer nach Flieder duftet. Zwischen den Hochschulgebäuden liegt eine große, schöne Wiese, und, je schöner und wärmer das Wetter wird, desto mehr füllt sich diese Wiese mit Studenten, die sich dort in der Sonne ausstrecken, singen, diskutieren. Bei schönem Sommerwetter sind manchmal mehr Studenten auf der Wiese als in den Seminaren. Die Verlockung ist groß und die Sanktionen sind gering, wenn man etwas später ins Seminar geht. Oder gar nicht.
Mit Erstaunen hat Friedel registriert, dass man an der Hochschule fast immer eine Viertelstunde später anfängt – das ist genau die Zeit, die ihm in der Schule so oft gefehlt hat. Manchmal wird diese Viertelstunde aber noch zusätzlich ausgedehnt – wenn man gerade in einer wichtigen Diskussion ist oder die Sonne draußen auf der Wiese einfach zu schön scheint. In den großen Vorlesungen im Hörsaal fällt es auch nicht weiter auf, wenn man sich verspätet. In den kleinen Musikseminaren schon, deshalb ist Friedel dort meistens pünktlich. Hier kennt man schnell alle Studenten mit Namen und es bildet sich ein kleiner Club von Musikstudenten, die sich auch außerhalb der Seminare zum Musikmachen und Diskutieren verabreden. Ein Teil von ihnen arbeitet mit Friedel in der Fachschaft Musik.
Schnell hat Friedel für sich herausgefunden, wo die Seminare und Vorlesungen stattfinden, die er interessant findet. Bei den anderen Pflichtvorlesungen genügt es, sie in sein Studienbuch zu schreiben und ab und zu mal vorbeizuschauen, ob noch alle da sind. Es gibt den emeritierten Professor Kumetat, der ab und zu noch Veranstaltungen macht, die Friedel immer besucht, auch bei schönem Wetter. Professor Kumetat zeigt als engagierter Reformpädagoge mit kleinen Filmen aus der Petersen-Schule, wie Unterricht auch sein kann – und genau so will Friedel später unterrichten: Der Lehrer leitet an, die Schüler erkunden und erforschen, der Lehrer moderiert und ermuntert zu selbständigem und eigenverantwortlichem Lernen und nimmt sich selbst zurück.
Ein weiterer Professor, dessen Veranstaltungen Friedel besucht, ist Professor Bauer, der die Kunst beherrscht, Soziologie so verständlich darzustellen und zu erklären, dass man sie verstehen kann. Das ist eine seltene Gabe, die leider mit seiner Pensionierung auszusterben scheint. Friedel mag seine nüchterne und unaufgeregte Art, er wirkt authentisch. Der Soziologie-Guru dagegen, zu dem alle laufen, ist auch nett und hat Strahlkraft, aber seine Sprache, besonders die in seinen Skripten, ist für Friedel völlig unverständlich. Friedel bekommt immer mehr den Eindruck, dass es nicht ihm alleine so geht, sondern die riesige Schar seiner Anhänger ihn für Texte feiert, die sie nicht oder nur teilweise verstanden hat.
Der dritte, dessen Seminare Friedel eifrig besucht, ist der Pädagogik-Professor Grünfeld. Seine Vorlesungen sind immer spannend, weil er so viele kleine rhetorische Ausflüge in Bereiche macht, die normalerweise mit Pädagogik wenig zu tun haben. Es wird nie langweilig bei ihm und die Studenten kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier lernt Friedel, dass man das kapitalistische System ruhig so nennen darf, auch wenn das Wort in der Bundesrepublik gerade ziemlich verpönt ist außerhalb der sogenannten „K-Gruppen“, Marxisten, Leninisten, Maoisten, Trotzkisten und wie sie alle heißen. „Wir leben im Kapitalismus und wir müssen wissen, nach welchen Regeln er funktioniert, wenn wir ihn verstehen, verändern oder abschaffen wollen!“ sagt Professor Grünfeld. Immer wieder zitiert er den Schamanen Don Juan aus Castanedas Büchern und lehrt seine Studenten, dass die Wirklichkeit, wie wir sie erleben, nur eine Konstruktion des menschlichen Gehirns ist.
Friedel besorgt sich daraufhin die Castaneda-Bücher und verschlingt sie. Etwas unheimlich sind sie, phantastische Erfahrungen in der mexikanischen Wüste, in denen Raum und Zeit gedehnt, geschrumpft oder aufgehoben werden und man nie genau weiß, ob man sich im Traum- oder Wachzustand befindet. Das hat auch Auswirkungen auf Friedels Art zu träumen. Manchmal bekommt er die Möglichkeit, einen Traum von „außen“ zu steuern und zu beeinflussen. Manchmal allerdings stellt er mit Erschrecken fest, dass er zuweilen nicht mehr richtig weiß, ob er noch träumt oder schon wach ist. Auf jeden Fall führt die Beschäftigung mit Castaneda dazu, dass sich Friedel intensiv mit seinen Träumen beschäftigt und dadurch auch mit sich selbst und seiner Vergangenheit.
Zu Grünfelds Thema „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ passen nahtlos die neu erschienenen psychologischen Schriften von Watzlawick und Laing, die die eigene Erfahrung und die Erfahrung der anderen zum Thema haben. Die Studenten aus Grünfelds Seminaren lesen sich in einen Rausch, so viele Anregungen und Tipps bekommen sie. Friedel lernt viele Studenten aus der Abteilung für Heilpädagogik kennen, an der die Sonderschullehrer ausgebildet werden. Für sie sind Watzlawick und Laing auch darum so interessant, weil sie eine neue Diskussionsebene eröffnen in der Frage der Integration und des Umgangs mit den sogenannten „behinderten“ Schülern. „Wer ist gestört, der Einzelne oder die Wirklichkeit?“ fragen und diskutieren sie.
Friedel muss sich zu Beginn seines Studiums entscheiden, welches zweite Fach er wählt. Musik ist völlig klar, aber was soll dazu kommen? Deutsch ist in der Schule immer sein Lieblingsfach gewesen und er liest und schreibt leidenschaftlich gerne. Aber der Fachbereich Deutsch ist sehr groß und die Auswahl der Vorlesungen im Verzeichnis spricht ihn nicht besonders an. Was soll er in der Sekundarstufe I mit Mittelhochdeutsch und Linguistik? So entscheidet er sich aus dem Bauch heraus für Kunst. Er zeichnet gerne und kann dort und in der Malerei, beim Töpfern und anderswo sicherlich noch einige schöne Dinge lernen. Die Fächerkombination Musik und Kunst ist erst seit diesem Semester möglich und wird im Semester darauf direkt wieder abgeschafft. Friedel genießt die vielen praktischen Erfahrungen, die seine beiden Fächer bieten.
Der Fachbereich Kunst ist sehr viel größer als Musik, hier kennt er am Ende des ersten Semesters noch nicht annähernd so viele Studenten wie in Musik. Eigentlich nur die, mit denen er praktisch gearbeitet hat: Mit einigen hat er im Keller zusammen Fotos entwickelt, es ist manchmal spannend zu raten, welches Gesicht wohl zu der Stimme gehört, mit der man sich schon eine halbe Stunde in der Dunkelkammer unterhalten hat. Friedel hat auf dem Dachboden seines Elternhauses in Berlin-Heiligensee eine alte Ziehharmonika-Kamera gefunden, eine Agfa Billy aus den Dreißigerjahren, die noch voll funktionsfähig ist. Er besorgt sich Ilford-Rollfilme in 6 mal 9 und macht Landschafts- und Städtefotos in Schwarz-Weiß, die er dann selbst entwickelt und abzieht. Friedel hat den Eindruck, die nostalgische Aura der alten Kamera geht geheimnisvollerweise auch auf seine Aufnahmen über.
Im Zeichenkurs dagegen ist Licht genug vorhanden, hier entdeckt Friedel noch einmal seine Vorliebe für weiche Bleistifte und Kohle. Einige Kommilitonen sind schon weit fortgeschritten in der Kunst, in wenigen Strichen das Wesentliche aufs Papier zu bringen. In der Schulklasse ist Friedel immer der „Meister“ gewesen, hier ist er nur ein kleiner Lehrling, der staunend und bewundernd schaut, wie andere an die Sache herangehen. Der Dozent ist nicht zimperlich mit seinen Kommentaren: „Das ist gar nichts, Sie müssen richtig hinschauen!“ Also wird das Blatt zerknüllt und ein neues angefangen. Wichtig sind seine Tipps, nicht alles auf einmal können zu wollen: „Kümmern Sie sich jetzt einfach mal um die Ohren, lassen Sie alles andere weg!“
Am Ende des Kurses hat Friedel so viel dazugelernt, dass er sich in den Kurs zwei – Aktzeichnen – traut. Er ist sehr gespannt, wie das ablaufen wird. Eine blonde Studentin aus einem höheren Semester kommt in einer Art Bademantel herein und wird vom Dozenten auf einem Tisch so positioniert, dass jeder der etwa 20 Studierenden ausreichende Sicht hat. Die Jalousien sind heruntergelassen, in der kalten Beleuchtung der Neonröhren im Seminarraum wirkt der nackte Körper seltsam fahl, bleich und fast krank. Friedel denkt immer, sie müsse doch schrecklich frieren in diesem kalten Licht, angestarrt von 20 Augenpaaren. Der Ratschlag aus dem ersten Kurs: „Sie müssen richtig hinschauen!“ fällt ihm hier sehr schwer. Er will nicht aufdringlich wirken und zeichnet mehr die Idealformen als die Bauchfalten und andere realistische Details. Er hat Sorge, sein Blick und seine Zeichnung könnten vielleicht verletzend sein. Er will nicht seinen Augen trauen, die ihm sagen, dass das Mädchen ihm im Bademantel besser gefallen hat als ohne.
Hat er Angst vor nackten Frauen? Manchmal scheint es ihm fast so. Er will nicht zu nah heran, will nicht alles so genau sehen und wissen. Als Jugendlicher in Berlin hat er einmal einen „Playboy“ in die Hände bekommen, in dem die leicht verschwommenen Aufnahmen junger Mädchen in der warmen Abendsonne Frankreichs zu sehen waren, daran konnte er sich nicht satt sehen. Aber dieser Körper hier im künstlichen Neonlicht des Seminarraums erinnert ihn mehr an Leichen auf dem Seziertisch im Krimi als an seine Vorstellungen und Wünsche von weiblichen Körpern. Sie rufen eher Beklemmungen und Mitgefühl als Lust in ihm hervor.
Ich weiß nicht, was ich will.
Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin.
Ich habe Angst vor der leeren Zeit, wo ich dasitze und nicht weiß, was ich tun soll. Arbeit habe ich genügend. Auch Dinge, die ich gerne mache: Cello spielen, Lesen, Platten hören. Aber jetzt gerade will ich all das nicht. Oft sind meine Tage vollgepropft, durchgeplant bis in den Abend hinein, damit ich die leere Zeit umgehe. Ich habe Angst, dies einzugestehen. Ich habe jetzt, wo ich das schreibe, Sorge, jemand könnte es lesen und meine Unsicherheit bemerken.
Den täglichen Kram erledige ich mit Routine. Im Schulpraktikum an der Gesamtschule habe ich gelernt, sicher aufzutreten, nur so komme ich durch. Ich fühle mich auch gut dabei und glaube, dass ich das besser kann als früher. Aber es ist etwas zwiespältig. Ich darf keine Show abziehen und sicherer, fröhlicher, ausgeglichener auftreten, als ich wirklich bin. Das rächt sich. Der Kontakt zu den anderen wird schwierig, ich werde falsch eingeschätzt und verstanden. Ich bin nicht, was ihr wollt, was ihr denkt, dass ich bin! Ich bin ich!
Eben kamen zwei Mädchen hier hoch und klopften an meine Zimmertür in der Schallstraße. Sie wollten zu Ahmed, der war nicht da, nun wollten sie ihm was aufschreiben. Ich schrieb gerade diesen Text hier, hatte Sorge, dass sie vielleicht sehen könnten, was ich da schreibe. Die beiden machten einen netten Eindruck, doch ich sagte nicht: „Kommt rein, setzt euch, hier ist ein Keks, erzählt mal was von Ahmed!“ Ich weiß noch nicht einmal, wer Ahmed ist! Nein, ich ließ sie mit Zettel und Stift in der Türfüllung stehen, schob nervös das Tagebuchblatt zur Seite, drehte mich um, machte die etwas aufdringliche Musik im Radio aus, suchte einen neuen Sender, fühlte mich unsicher, tapsig und ungeschickt, wollte nicht so erscheinen, suchte meinen Kuli unter den Blättern, ach ja, ich hatte ihn ja gerade verborgt!
Mir war alles peinlich, ich glaubte, ein jämmerliches Schauspiel abzugeben, also stand ich auf und tat so, als ob ich hinter der Tür im Regal irgendetwas suchte. Außerdem hielt ich ja die ganze Zeit diese verflixte Reißzwecke in der Hand, die ich ihnen gleich geben wollte, damit sie den Zettel an Ahmeds Tür anheften konnten. Schließlich waren sie fertig mit Schreiben, na endlich, die peinliche Situation ist überstanden, nun noch ein kurzer Blick, die Zwecke wird feierlich überreicht, im Gegenzug erhalte ich Block und Kuli zurück, ein Lächeln, Tschöö, Tür zu.
Jedes Wochenende fährt Friedel mit seinem Käfer von Köln nach Düsseldorf-Kaiserswerth zu Eva, oder sie kommt ihn am Wochenende in Köln besuchen. Eva kennt er von der Oberschule in Berlin, sie ist ein Jahr älter als er. Sie waren dort schon aktiv, haben gemeinsam eine Jugendgruppe mit Körperbehinderten und Jugendgottesdienste organisiert und sind sich dabei immer näher gekommen. In Evas Familie wurde Friedel sofort mit offenen Armen aufgenommen und schon als zukünftiger Schwiegersohn gehandelt, was ihn immer wieder in Panik versetzte. In der Beziehung zu Eva war Friedel von Anfang an der Bremser, der sich zurückzog, der seine Ruhe haben wollte, der Angst hatte, vereinnahmt zu werden. Er hatte Angst vor zu viel Nähe, vor Verpflichtungen, Angst, sich selber zu verlieren. Eva gab immer wieder ein Stück nach, diskutierte geduldig stundenlang mit ihm, versuchte beharrlich, seine Blockaden zu durchbrechen. Es gab auch immer wieder glückliche Phasen der Beziehung, meistens auf Reisen, weit weg von Pflichten und Familienbanden. Aber insgeheim träumte Friedel davon, mit dem Studium weit weg von Berlin ein ganz neues Leben anzufangen – ohne Eva.
Und dann, als er seinen Entschluss gefasst hat, nach Köln zu gehen, bekommt sie den Studienplatz für Sozialpädagogik an der Fachhochschule in Kaiserswerth, im Norden Düsseldorfs! Erstaunlicherweise tut diese neue Wochenendbeziehung ihrem Zusammensein erst einmal gut. Jeder kann an seinem Standort sein eigenes Leben leben, neue Freunde finden, sich auf eigenen Füßen bewähren. Am Wochenende gibt es viel zu erzählen und es wird selten langweilig. Eva wohnt in einem schönen Zimmer zur Untermiete bei einer älteren Dame, einer echten Düsseldorferin. Das Zusammensein mit Friedel ist dort nicht immer problemfrei. Friedel vermeidet es nach Möglichkeit, nachts noch in die Küche oder auf das Klo zu gehen, weil es ihm unangenehm ist, dort vielleicht der resoluten alten Dame zu begegnen. Lieber ist es ihm, wenn Eva am Wochenende in seine kleine Studentenbude in der Schallstraße kommt, obwohl die mit zwei Leuten schon aus allen Nähten platzt.
Wenn er „dran“ ist mit Fahren, prügelt er seinen Käfer über die Neusser Autobahn, bei 120 Sachen hebt der Wagen beinahe ab, zumindest ähnelt die Geräuschentwicklung stark einem Düsentriebwerk. Friedel stellt immer wieder neue Zeitrekorde auf, in denen er in Kaiserswerth ein- oder ausfliegt. Das hat leider Folgen, die er nicht bedacht hat: Er bleibt mit Motorschaden auf der Autobahn hängen und muss vom ADAC abgeschleppt werden, dem er bei dieser Gelegenheit beitritt. Eigentlich ist das völlig außerhalb seines Denkspektrums, als langhaariger Hippie mit Zickenbärtchen und John-Lennon-Brille einem so spießigen Altmännerverein wie dem ADAC beizutreten, aber der lustige ADAC-Mann mit dem imposanten kölschen Schnäuzer sagt ihm: „Jung, pass up, wenn de erstmal die Rechnung für's Awschleppen siehst, däd et dir ewisch leid, dat de nit ungerschriewe häs!“
Auch hier weiß Eva Rat. Sie schleppt Friedels Käfer mit ihrem Käfer ab nach Berlin zu ihrem älteren Bruder, der sich der Sache annehmen will. Der kauft dort einen alten Käfermotor vom Schrottplatz und baut ihn dann in einer Wochenendaktion ein. Friedel ist happy, fühlt sich aber jetzt in Abhängigkeit und Schuld von Evas Familie. Besonders peinlich ist ihm, dass er ein halbes Jahr später schon wieder mit Motorschaden liegen bleibt. Eva warnt: „Erzähl meinem Bruder bloß nichts davon, der ärgert sich schwarz, dass er die ganze Arbeit umsonst gemacht hat!“ Erst in einem Gespräch mit dem technisch versierten Freund seiner kleinen Schwester Bine begreift Friedel, dass man einen Käfer mit seinem luftgekühlten Motor nicht ständig mit Vollgas über die Autobahn jagen darf. Aber da ist es schon zu spät. Hätte ihm das doch jemand mal früher gesagt!
Bines Freund besorgt ihm in Berlin eine graue Kastenente, das ist das Auto, auf das Friedel schon lange scharf gewesen ist. Friedel streicht die Ente erst einmal mit einem großen Pinsel dunkelblau an und genießt ein ganz neues Fahrgefühl. Bei jeder Kurve geht sie in die Knie und das Seitenfenster öffnet sich und schwingt hin und her. Auf diese Weise kommt immer frische Luft ins Auto, was im Sommer praktisch, im Winter und bei Starkregen oder Schnee lästig ist. Auf der Autobahn muss er sich jetzt in Geduld üben, aber diese Lektion hat er ja inzwischen gelernt. Im Windschatten von Lastwagen kann er mit 100 mithalten, aber zum Überholen reicht es meistens nicht. Im Gegenteil. Oft überholen ihn die Brummis, weil die Ente ihnen zu langsam fährt, das ist nicht immer ein gutes Gefühl.
Das Schönste an der Kastenente ist der Platz, den sie hinter dem Fahrersitz bietet. Friedel baut die Rückbank aus, fährt zum Schaumstoffhändler Di Napoli in der Kölner Südstadt, lässt sich dort eine passende Matratze zuschneiden, noch eine bunte Decke dazu und ruckzuck ist aus seiner Ente ein Campingwagen geworden. Jetzt kann er bei Fahrten und Ausflügen nach Holland, Berlin, Paris die Reise jederzeit unterbrechen und sich hinten gemütlich langlegen. Wenn er sich streckt, kommt er mit den Fußspitzen an die doppelte Hecktür. Auch bei Fahrten mit Eva ist genug Platz für ein Mittagsschläfchen oder eine Übernachtung im Wagen. Damit bricht für Friedel ein völlig neues Zeitalter des Reisens an.
Eva und er machen an den gemeinsamen Wochenenden viele Ausflüge in die Umgebung von Düsseldorf und Köln. Er lernt den Niederrhein kennen bis hinauf nach Xanten, das Bergische Land mit seinen kleinen Fachwerkhäusern und den grünen Fensterläden, den Altenberger Dom, die Erft, das Hohe Venn, die Eifel und die Voreifel. Am besten gefällt ihm die sanft-hügelige bergische Landschaft, das spürt er immer wieder. Als er einmal auf einem Wochenendseminar der Kölner ESG, der Evangelischen Studentengemeinde, in einer wildromantischen alten Fachwerkmühle irgendwo hinter den sieben Bergen von Solingen übernachtet, sagt er nach dem letzten Gutenachtbier draußen vor dem Haus, während der wilde Bach im Dunkeln dahinrauscht: „In so einer Umgebung möchte ich später mal wohnen!“
Die Beziehung zu Eva, in der es vor dem Umzug nach Berlin öfter heftig gekriselt hat, stabilisiert sich durch die Wochenend-Beziehung deutlich. Jeder geht in der Woche seiner Wege und macht das, was er gerne machen will. Am Wochenende freuen sich beide auf das Zusammenkommen und auf schöne Ausflüge. Nicht immer geht es in die Landschaft, auch ihre beiden Städte Düsseldorf und Köln lernen Eva und Friedel bei der Gelegenheit intensiv kennen und schätzen.
Kurz vor Beginn des zweiten Semesters ist plötzlich ein Schreiben aus Baden-Württemberg in Friedels Briefkasten: Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie im Nachrückverfahren zum Wintersemester 1976/77 einen Studienplatz für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen erhalten haben …
Friedel erinnert sich nur noch dunkel, dass er sich dort beworben hat. Doch, sicher, Eva und er sind vor Monaten in der schönen, alten Studentenstadt Tübingen gewesen, wo es ihnen beiden gut gefallen hat. Reutlingen liegt dicht dabei. Und da es dort auch ein sonderpädagogisches Studium wie in Nordrhein-Westfalen gibt und er in Köln im Moment ja nur „Normallehrer“ studieren kann, hat er sich gedacht: Ich probiere es einfach mal. Aber er hat nicht mehr daran gedacht, dass daraus etwas werden könnte.
Jetzt hat er erst einmal eine unruhige Nacht, in der er sich auf seiner schmalen Sofaliege hin und her wälzt und immer wieder alle Vor- und Nachteile gegeneinander abwägt. Es fällt ihm sehr schwer, aus Köln wegzugehen, weil er sich schon so gut eingelebt hat. Andererseits – wenn er wirklich Sonderschullehrer werden will, dann ist das hier seine Chance. Wenn man so eine Chance bekommt, dann nutzt man sie auch!
Mit diesem Gedanken wird er morgens wach, auch nach dem Kaffee bleibt dieser Gedanke als Résumé in seinem Kopf. Also schnell zwei Groschen gesucht, runtergelaufen zur Telefonzelle, ein kurzer Anruf bei Eva, bei dem er seine Pros und Kontras noch einmal erläutert. Sie ist überhaupt nicht begeistert von der Idee, dass er so weit wegziehen will, gibt ihm aber Recht, dass dies seine Chance sei – wenn er denn Sonderschullehrer werden will.
Jetzt geht alles sehr rasch. Er kündigt sein Zimmer in der Schallstraße, lässt sich im Studentensekretariat der PH exmatrikulieren, packt all seinen Kram zusammen und fährt mit Eva, die aus Düsseldorf angereist ist, den weiten Weg nach Reutlingen. Den Rhein hinauf, vorbei an der schönen Schattenkulisse von Heidelberg und den fernen Bergen des Odenwalds links und später dem Schwarzwald rechts. Das Laub der Bäume im Schönbuch kurz vor Tübingen ist flammend rot gefärbt, Schwaben zeigt sich von seiner schönsten Seite. In Reutlingen hat Evas Familie Bekanntschaft, eine große Familie mit Kindern, dort können sie nachts unterkommen. Friedel spürt, wie er Beklemmungen bekommt, als er die Leute reden hört. Alles ist fremd und anders hier, er vermisst jetzt schon Köln.
Am nächsten Morgen schreibt er sich ein und schaut dann die Reutlinger PH an, alles wirkt viel kleiner und provinzieller als in Köln. Er schaut das Vorlesungsverzeichnis durch, auch das ist sehr übersichtlich. Wird er hier gut studieren können? Ist seine Entscheidung, zu wechseln, klug? Die Schwaben sind freundlich, aber er versteht sie zum Teil schlecht und muss immer wieder nachfragen, damit er etwas mitbekommt. Er guckt an den Aushängen nach Zimmern und bekommt von anderen Studenten den Ratschlag, es im Studentenwohnheim zu versuchen. Dort lässt er sich auf eine Warteliste setzen und geht erst einmal zur BaföG-Beratung. Er hat in Köln nicht den vollen BaföG-Satz bekommen, da sein Vater in Berlin noch als Pfarrer arbeitet, allerdings von seinem Gehalt auch eine Familie mit Frau, sechs Kindern und der Oma ernähren muss. Er will herausbekommen, ob er hier in Reutlingen auch mit etwa 400 Mark monatlich rechnen kann.
Der Mann in der BaföG-Beratung lacht auf eine unangenehme Weise und schüttelt dann den Kopf. „Tut mir leid, wenn Sie im ersten Semester gewechselt hätten, hätte es geklappt. Aber für Studenten, die erst n a c h dem ersten Semester wechseln, wird in Baden-Württemberg das BaföG komplett gestrichen!“ Friedel denkt, er hätte sich verhört und fragt nochmal nach. Nein, er hat richtig verstanden, er wird hier keinen Pfennig Unterstützung bekommen. Völlig demoralisiert schleicht er aus dem Büro und fragt zur Sicherheit noch einmal beim AStA nach. Ja, das wäre traurig aber wahr, Baden-Württemberg würde da leider einen sehr rigorosen Kurs fahren, anders als die meisten anderen Bundesländer.
Was jetzt? In der Cafeteria denkt er nach. Nein, ohne Unterstützung wird er das nicht schaffen. Er kann jobben gehen, Cellounterricht geben, aber nicht so viel, dass er davon sein komplettes Studium finanzieren kann. Vater schickt ihm 150 Mark im Monat, um mehr will er nicht bitten, sein älterer Bruder studiert ja auch und seine drei jüngeren Geschwister sind alle noch in der Schule. Eva kommt dazu und hört sich die Geschichte an. Sie bietet an, dass sie Friedel mit unterstützen könne, es gäbe doch noch andere Möglichkeiten, z.B. ein Stipendium zu beantragen, ihr Vater könne da vielleicht etwas in die Wege leiten …
Nein, das will Friedel alles nicht. Ihm steht Geld vom Staat zu, das will er nicht verschenken. Wenn das hier alles so schwierig ist, dann ist das eben ein Wink des Schicksals. Er soll nicht in Reutlingen Sonderpädagogik studieren, sondern zurückgehen nach Köln! Als er diesen Gedanken gefasst hat, geht es ihm wieder besser. Jetzt muss er nur noch schnell herausbekommen, ob er die Exmatrikulation und die Kündigung des Mietvertrages rückgängig machen kann. Er lässt sich an der Kasse der Cafeteria genügend Groschen geben zum Telefonieren in der Telefonzelle.
Beim Anruf im Kölner Studentensekretariat erwischt er durch Zufall genau die fröhliche Dame, bei der er sich zwei Tage zuvor exmatrikuliert hat. Sie erinnert sich sofort an seinen ausgefallenen Namen und begrüßt ihn mit: „Sie Scherzknubbel, dann kommen Sie morgen früh mal kurz vor neun zum Seiteneingang, dann bringen wir das ganz schnell wieder in Ordnung! Ich sag neulich noch zu meiner Kollegin: Ob der wohl weiß, was er tut, wenn er sich hier in Köln abmeldet?“
Auch der Anruf beim Vermieter macht Hoffnung, die Dame im Büro sagt ihm, das Zimmer wäre ihres Wissens nach noch nicht weitervermietet, er solle am nächsten Tag vorbeikommen, dann könne man das genau klären. Also heißt es jetzt wieder zurück ins Studentensekretariat zum Exmatrikulieren.
„Sie haben sich doch vorhin erst angemeldet, junger Mann!“ sagt die ältere Dame pikiert. „Sie wissen wohl auch nicht, was Sie wollen!“
Er erklärt kurz die Situation und die Frau verspricht ihm darauf sogar, dass er einen Teil des Semesterbeitrags auf sein Konto zurückgezahlt kriegen würde. Mehr kann er nicht erhoffen. Eva und Friedel packen schnell alle Sachen ins Auto, verabschieden sich von der Gastfamilie und von Reutlingen und fahren dem Abend entgegen, wieder Richtung Norden, durch das rot leuchtende Laub der Buchen über Stuttgart und Heidelberg zurück nach Köln.
Eva fährt von dort weiter nach Düsseldorf, weil sie am nächsten Morgen einen wichtigen Termin hat. Friedel stellt sich mit seiner Kastenente in die Schallstraße, fast direkt vor seine Wohnung, und krabbelt nach hinten auf die Matratze, wo er in einen traumlosen, tiefen Schlaf fällt, aus dem er erst morgens erwacht, als es hell wird. Er schaut verschlafen auf die Armbanduhr. Zehn vor neun! Jetzt aber flott!
Er strubbelt sich im Rückspiegel die langen Haare in eine Richtung, die vielleicht so etwas wie Kämmen oder Bürsten ersetzen kann, zieht sich seinen Lieblings-Wollpullover glatt, riecht kurz an ihm und stellt geruchlich keinen Unterschied zu den vergangenen Wochen fest, kontrolliert den Reißverschluss seiner Jeans und rennt los. Fahren macht keinen Sinn, vor der PH bekommt man um diese Zeit keinen Parkplatz – jedenfalls nicht auf die Schnelle. Um zwei vor neun ist er am Seiteneingang, wo die nette Frau schon lachend steht und fragt: „Na, wo kommen Sie denn jetzt her? Sie sehen ja aus, als hätten Sie die Nacht auf der Straße zugebracht!“
Er erklärt ihr, dass sie ziemlich richtig liegt mit ihrer Vermutung und dass er erst mitten in der Nacht aus Reutlingen wieder zurückgekommen wäre und dann in seinem Auto übernachtet habe. Sie ist kurz davor, ihm durchs lockige Haar zu strubbeln und meint: „Sie Armer! Aber wie kommen Sie auch bloß auf so eine verrückte Idee? Sie haben hier einen schönen Studienplatz in der schönsten Stadt von Deutschland und dann wollen Sie freiwillig in den Süden, wo die Leute alle so komisch reden? Nee nee, das sollte einfach nicht sein. Sie gehören hierher!“
So sieht Friedel das ja auch und lächelt dankbar, dass sie ihn in seinem Entschluss bestärkt. Während sie alle Unterlagen für ihn fertig macht und ihm den Überweisungsträger für die Semestergebühr zuschiebt, beobachtet er sie und stellt fest, dass sie vermutlich gar nicht viel älter ist als er. Mitte zwanzig wahrscheinlich. Was ordentliche Kleidung doch so ausmachen kann, gleich sieht man viel seriöser und reifer aus als die Studenten, die mit wilden Mähnen, runden Brillen, labbrigen Wollpullovern, Batik-Shirts, Latzhosen oder Schlabberjeans durch die Gegend laufen. Er versucht, sie sich mit Studentenlook vorzustellen und findet sie auf einmal ziemlich attraktiv. Eigentlich steht er nicht so auf mollige Frauen, aber zu ihr passt das ausgesprochen gut, sie ist nicht dick, nein, aber schon etwas zum Festhalten.
Als sie ihn wieder anspricht, wird er rot, weil ihm plötzlich klar wird, dass er sie die ganze Zeit angestarrt hat. Er stottert herum, weil er sie nicht genau verstanden hat. Sie lacht wieder ihr mitreißendes Lachen und sagt zu ihm: „Hier, jetzt ist alles wieder gut! Sehen Sie erst mal zu, dass Sie sich ordentlich ausschlafen und dann stellen Sie heute Abend eine Kerze für mich auf, ich muss nämlich morgen ins Krankenhaus!“