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Autobiografische Geschichten des großen Zen-Meisters. Thich Nhat Hanh ist neben dem Dalai Lama der bekannteste Vertreter des Buddhismus im Westen. Erstmals erzählt er in "Mein Leben ist meine Lehre" viele bisher nicht bekannte biografische Erinnerungen und verbindet sie mit der Weisheit des Buddhismus. Seine Kindheit in Vietnam wird lebendig und sein ganz früher Wunsch, so gelassen zu werden wie der Buddha auf dem Cover einer Zeitschrift. Als junger Mönch erlebt er den Krieg in Vietnam, woraus die von ihm gegründete Bewegung des Engagierten Buddhismus entsteht. Im Laufe seines engagierten Lebens begegnet er vielen großen Persönlichkeiten wie beispielsweise Martin Luther King jr., der ihn für den Friedensnobelpreis vorschlug. Auch seine Zeit im Exil in Frankreich, der Aufbau seines Klosters "Plum Village", sein unermüdliches Lehren von Achtsamkeit und Meditation und das Ende seines Lebens werden thematisiert: Er möchte nicht, dass für ihn eine Gedenk-Stupa gebaut wird: "Darin werdet ihr mich nicht finden." Wie kein zweiter verkörpert der große Zen-Meister Achtsamkeit und Meditation bei allem, was er tut. Beeindruckend ist, wie er sich in ausweglos erscheinenden Situationen in die Stille zurückzieht, um mit der darin gewonnen Weisheit konstruktive Lösungen zu finden. Sein Wirken als großer Lehrer zeigt, was ein Einzelner in dieser Welt bewirken kann.
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Seitenzahl: 204
Thich Nhat Hanh
Autobiographische Geschichten und Weisheiten eines Mönchs
Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Richard
Knaur eBooks
Widmung
In der Welt zu Hause
Das Leben in Vietnam
Mein Plätzchen essen
Zeit zu leben
Die Freude, Toiletten zu haben
Das Blatt
Den Buddha zeichnen
Ein Kaleidoskop
Der Einsiedler und der Brunnen
Geschenke meines Lehrers
Die Robe meines Meisters
Bananenblätter
Die Kirschblüte
Die Tür schließen
Ria-Blätter
Das Geschirr abwaschen
Durian
Die Stimme der steigenden Flut
Krieg und Exil
Der letzte Sack Reis
Ein französischer Soldat
Frische Kräuter
Nicht aufgeben
Der Sinn des Erkennens
Am Flugplatz
Hitze
Auf dem Meer auf festem Boden
Der Kokosnuss-Mönch
Achtsamkeit in der Kampfzone
Die Petition
Der Bodhisattva Martin Luther King junior
Gefangen und dennoch frei
Ich bin aus dem Zentrum
Das ist nicht China
Alfred Hassler
Nenne mich bei meinen wahren Namen
Die Wunden des Krieges heilen
Die Praxis ist ein Boot
Erste Blüten und Früchte
Der Bambushain
Das Erblühen von Plum Village
Die Einsiedelei im heftigen Wind
Genieße deinen Schlafsack
Der Peugeot
Herr Mounet und die Zedern
Regenschirmkiefern und Pflaumenbäume
Das Buchbinden
Apfelsaft und Tannenzapfen
Das Glück des Schreibens
Lotostee
Bruder und Schwester
Die Linde
Das Umarmen lernen
Nägel kaufen
Die Mandarinenmeditation
Das Laubharken
Atmen und mit der Sense mähen
Der Mathematiklehrer
Eine Palme in meinem Garten
Ich bin verliebt
Ein alter Baum treibt neue Blüten
Versteckspielen
In der Welt zu Hause
Einander grüßen
Die Glocke
Die Seele des alten Europas
Ein Marktplatztraum
Die Fußspuren des Buddha
Zwei Minuten Frieden
Tropfen des Mitgefühls
Die Times of India
Eine entspannte Busfahrt
Olivenbäume
Frei gehen
Ich bin angekommen
Ein Klassenzimmertraum
Salat
Unsere beiden Hände
Schau deine Hand an
Gib mir etwas Tabak!
Die Welle und das Wasser
Der Googleplex
Ist der Buddha im Auto?
Auf ländlichen Pfaden gehen
Ein Schritt
Zugehörigkeit
Grimmiger und sanfter Bodhisattva
Der Astronaut
Das Herbstblatt
Nach Hause finden
Das Leben ist unsere wahre Heimat
Hier bin ich nicht
Anhang
Über Thich Nhat Hanh
Bücher zum Weiterlesen
Praxiszentren
Gelehrt wird nicht nur mit Worten.
Gelehrt wird durch die Art, wie man sein Leben lebt.
Mein Leben ist meine Lehre.
Mein Leben ist meine Botschaft.
Thich Nhat Hanh
Während des Vietnamkrieges reiste ich 1968 nach Frankreich, um die vietnamesisch-buddhistische Friedensdelegation bei den Pariser Friedensgesprächen zu repräsentieren. Unsere Mission war es, uns im Namen des vietnamesischen Volkes, dessen Stimme bislang ungehört geblieben war, gegen den Krieg auszusprechen. Ich war auf dem Rückflug aus Japan, wo ich einen öffentlichen Vortrag gehalten hatte, und machte einen Zwischenstopp in New York, um meinen Freund Alfred Hassler zu treffen. Er arbeitete für die Fellowship of Reconciliation, eine Organisation, die sich aktiv für das Ende des Vietnamkrieges und für soziale Gerechtigkeit einsetzte. Doch ich hatte kein Transitvisum, und als ich in Seattle landete, wurde ich beiseitegenommen und in einen Raum gebracht. Man schloss mich darin ein, und mir wurde nicht erlaubt, jemanden zu sehen oder mit jemandem zu sprechen. Die Wände waren voller Plakate mit Fotos gesuchter Verbrecher. Die Beamten nahmen meinen Pass und erlaubten mir nicht, jemanden zu informieren. Erst Stunden später kamen sie zurück und brachten mich zu meinem Flieger.
Zwei Jahre zuvor, 1966, war ich zu einer Konferenz in Washington D.C., als ein Reporter der Baltimore Sun mich informierte, dass die Regierungen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Japans durch eine Depesche aus Vietnam gedrängt wurden, meinen Pass nicht länger anzuerkennen, da ich Dinge äußern würde, die den Bemühungen Saigons im Krieg gegen die Kommunisten entgegenliefen. Die Regierungen gaben dem Ansinnen nach, und mein Pass war ungültig. Einige meiner Washingtoner Freunde rieten mir, mich zu verstecken, doch in den USA zu bleiben hätte bedeutet, Deportation und Gefängnis zu riskieren.
So versteckte ich mich nicht, sondern ersuchte stattdessen in Frankreich um Asyl. Die französische Regierung gewährte es mir, und ich konnte ein Apatride-Reisedokument bekommen. Apatride bedeutet, dass man zu keinem Land gehört, sondern staatenlos ist. Mit diesem Dokument konnte ich in jedes europäische Land reisen, das die Genfer Konvention unterzeichnet hatte. Doch für Reisen nach Kanada und in die USA brauchte ich immer noch ein Visum, was als Staatenloser schwer zu bekommen war. Ursprünglich hatte ich Vietnam nur für drei Monate verlassen wollen, um an der Cornell University eine Reihe von Vorträgen zu halten und um in den USA und in Europa an verschiedenen Orten zum Frieden aufzurufen. Danach wollte ich wieder nach Hause zurück. Meine Familie, all meine Freunde, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – mein ganzes Leben – waren in Vietnam. Doch es endete damit, dass ich nun seit mehr als vierzig Jahren im Exil lebe.
Wann immer ich ein Visum für die USA beantragte, wurde es automatisch abgelehnt. Die Regierung wollte mich nicht im Land haben, weil sie befürchtete, ich würde ihre Kriegsanstrengungen schwächen. Mir wurde weder erlaubt, in die USA einzureisen, noch nach Großbritannien. Ich musste an Menschen wie die Senatoren George McGovern und Robert Kennedy schreiben und sie bitten, mir Einladungsbriefe zu schicken. Ihre Antworten klangen ungefähr so: »Lieber Thich Nhat Hanh. Ich möchte gern mehr über die Kriegssituation in Vietnam wissen. Bitte kommen Sie und informieren Sie mich. Wenn Sie Probleme haben, ein Visum zu bekommen, rufen Sie mich unter dieser Nummer an …« Nur mit solchen Briefen erhielt ich ein Visum. Sonst war es unmöglich.
Ich muss zugeben, dass die ersten beiden Jahre im Exil sehr schwierig für mich waren. Auch wenn ich ein 45-jähriger Mönch mit vielen Schülerinnen und Schülern war, hatte ich mein wahres Zuhause noch nicht gefunden. Ich konnte sehr gute Vorträge über die buddhistische Praxis halten, doch ich war noch nicht wirklich angekommen. Intellektuell gesehen wusste ich viel über den Buddhismus, ich war viele Jahre lang im Buddhistischen Institut ausgebildet worden und hatte seit meinem sechzehnten Lebensjahr praktiziert, und doch hatte ich noch nicht mein wahres Zuhause gefunden.
Auf meinen Vortragsreisen in den USA wollte ich die Menschen über die wirkliche Situation in Vietnam informieren, von der sie im Radio nichts hörten und in den Zeitungen nichts lasen. Auf einer solchen Tour schlief ich meist nur ein oder zwei Nächte in jeder Stadt, die ich besuchte. Es gab Zeiten, in denen ich nachts aufwachte und nicht wusste, wo ich war. Das war sehr hart. Ich musste ein- und ausatmen und mich erst wieder daran erinnern, in welcher Stadt und in welchem Land ich mich befand.
Während dieser Zeit hatte ich einen wiederkehrenden Traum, in dem ich mich in meinem Wurzeltempel in Zentralvietnam befand. Ich stieg einen grünen Berg voller wunderschöner Bäume hinauf, und auf halbem Weg zur Spitze wachte ich auf, und mir wurde schlagartig klar, dass ich im Exil war. Der Traum kam immer und immer wieder. In der Zwischenzeit war ich sehr aktiv und lernte, mit Kindern aus vielen Ländern zu spielen: mit deutschen, französischen, amerikanischen und englischen Kindern. Ich schloss Freundschaft mit anglikanischen Priestern, katholischen Priestern, protestantischen Pfarrerinnen, mit Rabbis, Imamen und anderen. Meine Praxis war die Achtsamkeitspraxis. Ich versuchte im Hier und Jetzt zu leben und die Wunder des Lebens tagtäglich zu berühren. Dank dieser Praxis habe ich überlebt. Die Bäume in Europa waren so unterschiedlich zu denen in Vietnam. Die Früchte, die Blumen, die Menschen, sie alle waren vollkommen anders. Doch die Praxis brachte mich zu meinem wahren Zuhause im Hier und Jetzt zurück. Schließlich hörte ich auf zu leiden, und der Traum kehrte nie mehr zurück.
Menschen mögen denken, dass ich gelitten habe, weil ich nicht nach Hause in Vietnam zurückkehren durfte. Doch das ist nicht der Fall. Als mir schließlich nach fast vierzig Jahren Exil eine Rückkehr erlaubt wurde, habe ich mich gefreut, den Mönchen, Nonnen und Laien dort die Lehren und die Praxis der Achtsamkeit und des Engagierten Buddhismus anbieten zu können, und es war mir eine Freude, Zeit für Gespräche mit Künstlern, Schriftstellerinnen und Gelehrten zu haben. Als ich dann aber mein Geburtsland wieder verlassen musste, habe ich nicht gelitten.
Der Ausdruck »Ich bin angekommen, ich bin zu Hause« verkörpert meine Praxis. Er ist eins der großen Dharma-Siegel von Plum Village. Darin drückt sich mein Verständnis der buddhistischen Lehren aus, es ist die Essenz meiner Praxis. Seitdem ich mein wahres Zuhause gefunden habe, leide ich nicht mehr. Die Vergangenheit ist kein Gefängnis mehr für mich. Ebenso wenig ist es die Zukunft. Ich bin fähig, im Hier und Jetzt zu leben und mein wahres Zuhause zu berühren. Mit jedem Atemzug und jedem Schritt vermag ich nach Hause zu kommen. Ich muss kein Busticket kaufen, muss durch keine Sicherheitskontrolle. Innerhalb weniger Sekunden kann ich zu Hause ankommen.
Wenn wir mit dem gegenwärtigen Moment in tiefer Weise in Verbindung sind, können wir die Vergangenheit und auch die Zukunft berühren. Wenn wir mit dem gegenwärtigen Moment umzugehen wissen, können wir die Vergangenheit heilen. Ich hatte die Gelegenheit, mein wahres Zuhause zu finden, gerade weil ich kein Land mein Eigen nennen konnte. Das ist wichtig. Eben weil ich zu keinem speziellen Land gehörte, musste ich eine Anstrengung unternehmen, um mein wahres Zuhause zu finden. Das Gefühl, dass wir nicht akzeptiert werden, dass wir nirgends dazugehören und keine nationale Identität haben, kann den nötigen Durchbruch bewirken, unser wahres Zuhause zu finden.
Als ich vier Jahre alt war, hat meine Mutter mir jedes Mal vom Markt ein Plätzchen mitgebracht. Ich ging in den Vordergarten und nahm mir viel Zeit, es zu essen. Manchmal brauchte ich für ein Plätzchen eine halbe oder dreiviertel Stunde. Ich nahm einen kleinen Bissen und schaute zum Himmel auf. Dann berührte ich mit meinen Füßen den Hund und nahm wieder einen kleinen Bissen. Ich genoss es einfach, dort zu sein, mit dem Himmel, der Erde, dem Bambus, der Katze, dem Hund, den Blumen. Ich konnte so viel Zeit mit dem Plätzchenessen verbringen, weil ich mich um wenig sorgen musste. Ich dachte nicht an die Zukunft, ich bedauerte nichts Vergangenes. Ich war ganz und gar im gegenwärtigen Moment mit meinem Plätzchen, dem Hund, dem Bambus, der Katze und allem anderen.
Es ist möglich, unser Essen so langsam und freudvoll zu essen, wie ich es in meiner Kindheit mit den Plätzchen tat. Vielleicht meinst du ja, das Plätzchen deiner Kindheit verloren zu haben, doch ich bin sicher, dass es noch da ist. Alles ist immer noch da, und wenn du es wirklich willst, wirst du es finden können. Achtsames Essen ist eine sehr wichtige Meditationspraxis. Wir können auf eine Weise essen, die das Plätzchen unserer Kindheit wieder lebendig werden lässt. Der gegenwärtige Moment ist voller Freude und Glück. Wenn du aufmerksam bist, wirst du es sehen.
Das Leben im Vietnam meiner Kindheit und Jugend unterscheidet sich sehr vom gegenwärtigen Leben dort. Eine Geburtstagsfeier, eine Dichterlesung oder eine Gedenkfeier für ein verstorbenes Familienmitglied dauerte den ganzen Tag, nicht nur ein paar Stunden. Man konnte jederzeit kommen und gehen. Man brauchte kein Auto oder Fahrrad – man ging einfach. Lebte man weit entfernt, brach man am Vortag auf und schlief unterwegs bei Freunden. Man wurde willkommen geheißen und bekam zu essen, egal wann man ankam. Waren die Ersten angekommen, wurden sie zu Tisch gebeten, und ihnen wurde aufgetan. Kam man als Fünfter, wartete man, bis drei weitere ankamen, so dass man zusammen mit ihnen essen konnte.
Das Wort »Muße« wird im Chinesischen mit einem Zeichen geschrieben, das Tür oder Fenster bedeutet. Innerhalb der Tür oder des Fensters ist das Zeichen für Mond. Das bedeutet, nur wenn du wirklich in Muße bist, hast du Zeit, den Mond zu sehen und zu genießen. Heute leben die meisten von uns nicht in diesem Luxus. Wir verfügen über mehr Geld und größeren materiellen Komfort als die Menschen früher, doch wir sind nicht wirklich glücklicher, denn wir haben keine Zeit mehr, unser Miteinander zu genießen.
Es gibt einen Weg, unser tägliches Leben so zu verändern, dass unser normales Leben zu einem spirituellen Leben wird. Selbst ganz einfache Dinge wie achtsames Teetrinken können eine tiefe spirituelle Erfahrung sein, die unser Leben bereichert. Warum verbringen Menschen zwei Stunden damit, eine Tasse Tee zu trinken? Von einem geschäftlichen Standpunkt aus gesehen, ist das eine Zeitverschwendung. Zeit ist Geld. Doch Geld ist nichts im Vergleich zum Leben. In den zwei Stunden, in denen wir Tee trinken, bekommen wir kein Geld, aber unser Leben.
Einige Menschen mögen sich fragen: »Wie kann es mich glücklich machen, die Toilette zu putzen?« Doch tatsächlich können wir uns glücklich schätzen, eine Toilette zu haben. Als ich in Vietnam Novize war, hatten wir überhaupt keine. Ich lebte in einem Tempel mit über hundert anderen Mönchen, aber ohne eine einzige Toilette, doch wir überlebten. Der Tempel war von Büschen und Hügeln umgeben, so dass wir einfach dorthin gingen. Es gab auf dem Hügel kein Toilettenpapier – man musste trockene Bananenblätter mitnehmen oder darauf hoffen, irgendwelche toten Blätter zu finden, die man nutzen konnte. Auch in meiner Kindheit zu Hause, bevor ich Mönch wurde, hatten wir keine Toilette. Nur wenige reiche Leute hatten eine. Alle anderen mussten in die Reisfelder oder die Berge gehen. In dieser Zeit lebten fünfundzwanzig Millionen Menschen in Vietnam und die meisten ohne Toilette. Eine Toilette zu haben, die wir putzen können, kann also ausreichen, um uns glücklich zu machen. Wir können wirklich glücklich sein, wenn wir erkennen, dass wir bereits über mehr Bedingungen als genug für unser Glück verfügen.
Als Kind sah ich einmal auf dem Boden eines großen Tongefäßes in unserem Vordergarten, in dem wir Regenwasser sammelten, ein wunderschönes Blatt. Es war ganz bunt. Ich wollte es herausholen und damit spielen, doch meine Arme waren zu kurz, um den Boden zu erreichen. So nahm ich einen Stock, um es hochzuholen. Das war sehr schwierig, weil ich ungeduldig wurde. Ich versuchte es zwanzig, dreißig Mal, doch das Blatt kam nicht an die Wasseroberfläche. So gab ich es auf und warf den Stock weg.
Als ich einige Minuten später zurückkam, war ich überrascht zu sehen, dass das Blatt auf der Oberfläche des Wassers trieb, und ich nahm es heraus. Während meiner Abwesenheit hatte sich das Wasser weiter gedreht und das Blatt an die Oberfläche getrieben. So arbeitet unser Unterbewusstsein. Wenn wir ein Problem lösen müssen oder eine Situation besser verstehen wollen, müssen wir diese Aufgabe den tieferen Ebenen unseres Bewusstseins anvertrauen. Mit unserem Verstand darum zu ringen wird nicht helfen.
Vor dem Schlafengehen könntest du dir sagen: Morgen will ich um 4 Uhr 30 aufwachen. Am nächsten Morgen wirst du um 4 Uhr 30 aufwachen. Unser Unterbewusstsein, das im Buddhismus »Speicherbewusstsein« genannt wird, weiß, wie man zuhört. Es arbeitet mit dem denkenden Teil unseres Geistes, den wir in unserem täglichen Leben häufig benutzen, zusammen. Beim Meditieren nutzen wir nicht nur unser Geistbewusstsein, wir müssen auch auf unser Speicherbewusstsein zurückgreifen und ihm vertrauen. Pflanzen wir den Samen einer Frage oder eines Problems in unser Bewusstsein, müssen wir das in dem Vertrauen tun, dass schließlich eine Einsicht an die Oberfläche aufsteigen wird. Tiefes Atmen, tiefes Schauen und die Erlaubnis an uns selbst, einfach zu sein, wird unserem Speicherbewusstsein helfen, die besten Einsichten hervorzubringen.
Als kleiner Junge von sieben oder acht Jahren sah ich einmal einen gezeichneten Buddha auf der Titelseite einer buddhistischen Zeitschrift. Der Buddha saß sehr friedvoll im Gras, was mich beeindruckte. Ich dachte, der Künstler selbst müsse sehr viel Frieden und Ruhe in sich tragen, um ein so besonderes Bild zu zeichnen. Allein es zu betrachten machte mich glücklich, auch deshalb, weil so viele Leute in meiner Umgebung damals nicht sehr ruhig und glücklich waren.
Als ich dieses friedvolle Bild betrachtete, kam mir die Idee in den Sinn, dass ich so jemand wie dieser Buddha werden wollte, jemand, der so still und ruhig sitzen konnte. Ich glaube, in diesem Moment wollte ich zum ersten Mal Mönch werden, auch wenn ich es so nicht hätte ausdrücken können.
Der Buddha ist kein Gott, er war ein menschliches Wesen wie wir alle. Wie viele von uns hatte er als Teenager sehr gelitten. Er sah das Leiden in seinem Königreich, und er sah, wie sein Vater, König Suddhodana, versuchte, das Leiden in seiner Umgebung zu lindern, doch auch er schien hilflos zu sein. Dem jungen Siddhartha erschien Politik letztlich wirkungslos. Auch wenn er als Prinz geboren wurde, konnte all der materielle Komfort ihn nicht glücklich machen, ihm keinen Frieden oder ein wahres Zuhause schenken. Er verließ den Palast, in dem er aufgewachsen war, um einen Ausweg aus dem Leiden sowie sein wahres Zuhause zu finden.
Ich glaube, dass viele junge Menschen heutzutage dasselbe fühlen wie der junge Siddhartha. Wir suchen nach etwas Gutem, Wahrem und Schönem, dem wir folgen können. Doch wenn wir uns umschauen, finden wir nicht das, was wir suchen, und sind desillusioniert. Dieses Gefühl hatte ich schon als Kind. Darum war ich so glücklich, als ich die Abbildung des Buddha sah. Ich wollte einfach sein wie er.
Ich lernte, dass ich wie ein Buddha sein könnte, wenn ich gut praktizierte. Jeder, der friedvoll, liebevoll und verständnisvoll ist, kann ein Buddha genannt werden. Es gab viele Buddhas in der Vergangenheit, es gibt Buddhas im gegenwärtigen Moment, und es werden auch in der Zukunft viele Buddhas sein. Buddha ist nicht der Name einer speziellen Person, Buddha ist einfach ein Name, um einen Menschen mit einem großen Maß an Frieden, Verstehen und Mitgefühl zu bezeichnen. Jeder von uns ist befähigt, diesen Namen zu tragen.
Als Kind spielte ich gern mit einem Kaleidoskop, das ich aus einer Röhre und einigen kleinen Glasstücken hergestellt hatte. Wenn ich die Röhre drehte, kamen wundervolle Muster und Farben zum Vorschein. Jedes Mal wenn ich eine kleine Handbewegung machte, verschwand ein Bild, und ein neues zeigte sich. Ich weinte nicht, wenn das erste verschwand, denn ich wusste, dass nichts verloren war, stets folgte ein anderer schöner Anblick.
Wenn wir in ein Kaleidoskop schauen, sehen wir ein schönes symmetrisches Bild, und wenn wir das Kaleidoskop drehen, verschwindet das Bild. Können wir das als Geburt und Tod beschreiben? Oder ist das Bild lediglich eine Manifestation? Auf diese Manifestation folgt eine ähnlich schöne Manifestation – nichts geht verloren. Ich habe Menschen gesehen, die sehr friedvoll gestorben sind, mit einem Lächeln, denn sie haben verstanden, dass Geburt und Tod nur Wellen auf der Oberfläche des Meeres sind und nicht das Meer selbst, so wie die schönen Bilder im Kaleidoskop.
Es gibt keine Geburt und keinen Tod. Es gibt nur eine Fortführung, ein Fortwähren.
Ich wuchs in der Thanh-Hoa-Provinz in Nordvietnam heran. Eines Tages sagte uns unser Lehrer, dass wir einen Ausflug auf einen nahe gelegenen Berg namens Na Son machen würden. Er erzählte uns, dass oben auf dem Berg ein Einsiedler leben würde – ein Mönch, der alleine lebte und Tag und Nacht still saß, um so ruhig und friedvoll wie der Buddha zu werden. Ich hatte noch nie zuvor einen Einsiedler gesehen und war sehr aufgeregt.
Am Tag vor dem Ausflug bereiteten wir für unser Picknick etwas zum Essen vor. Wir kochten Reis, machten daraus Bällchen, die wir in Bananenblätter einwickelten. Wie mischten Sesamsamen, Erdnüsse und Salz, um unsere Reisbällchen darin einzutunken. Wir kochten Wasser, um es mitzunehmen. Früh am nächsten Morgen brachen wir dann zu unserer langen Wanderung auf, um den Fuß des Bergs zu erreichen. Von dort stiegen meine Freunde und ich, so schnell wir konnten, auf. Wir wussten noch nicht, wie man Gehmeditation praktiziert. Den ganzen Weg bergauf legten wir im Eiltempo zurück.
Oben angekommen, waren wir sehr müde. Auf dem Weg hatten wir all unser Wasser ausgetrunken. Ich sah mich nach dem Einsiedler um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Ich sah nur seine Hütte aus Bambus und Stroh. Innen entdeckte ich ein schmales Feldbett und einen Altar aus Bambus, aber keinen Einsiedler. Vielleicht hatte er uns den Berg hochkommen gehört und versteckte sich irgendwo in sicherer Entfernung vom Lärm und von den vielen Kindern.
Es war Zeit für unser Mittagessen, doch ich hatte keinen Hunger. Ich war zu enttäuscht, den Einsiedler nicht getroffen zu haben. Ich verließ meine Freunde und kletterte weiter den Berg hinauf in der Hoffnung, ihn zu finden. Als ich tiefer in den Wald gelangte, hörte ich auf einmal das Geräusch von tropfendem Wasser. Es war ein so schönes Geräusch. Ich kletterte weiter in Richtung dieses Geräuschs und traf schon bald auf einen natürlichen Brunnen, ein kleines Becken, das von großen Steinen aus vielen Farben umgeben war. Das Wasser war so klar, dass ich bis auf den Boden sehen konnte. Ich war sehr durstig, und so kniete ich mich hin, schöpfte etwas Wasser in meine Hände und trank es. Das Wasser schmeckte wunderbar. Noch nie hatte ich etwas vergleichbar Köstliches getrunken. Ich fühlte mich vollkommen zufrieden, wollte oder brauchte überhaupt nichts – selbst der Wunsch, dem Einsiedler zu begegnen, war weg. Es war fast, als hätte ich ihn schon getroffen. Ich stellte mir vor, dass der Einsiedler sich vielleicht in den Brunnen verwandelt hatte.
Plötzlich wurde ich müde und legte mich auf den Boden, um mich auszuruhen und noch ein paar Minuten beim Brunnen zu verbringen. Ich schaute hoch und sah den Ast eines Baumes gegen den blauen Himmel. Sobald ich meine Augen schloss, fiel ich in einen tiefen Schlaf. Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen habe. Als ich erwachte, wusste ich zunächst nicht, wo ich war. Dann sah ich den Ast des Baumes gegen den Himmel und den wundervollen Brunnen, und ich erinnerte mich an alles.
Es war Zeit, wieder zu meinen Klassenkameraden zurückzukehren. Zögernd verabschiedete ich mich von dem Brunnen und begann mit dem Abstieg. Als ich aus dem Wald heraustrat, kam tief aus meinem Inneren ein Satz in mein Bewusstsein, der wie ein einzeiliges Gedicht war: Ich habe das köstlichste Wasser der Welt gekostet.
Bei meinen Freunden angekommen, setzte ich mich zu ihnen zum Essen. Sie waren froh, mich zu sehen, und fragten, wo ich gewesen sei, doch ich mochte nicht reden. Ich wollte meine Erfahrung, die mich so tief berührt hatte, noch eine Weile für mich behalten. Daher saß ich einfach auf dem Boden und aß still mein Mittagessen. Der Reis und der Sesam schmeckten so gut.
Viele Jahre ist es nun her, dass ich diesen Berg hinaufstieg. Doch das Bild des Brunnens und das ruhige, friedvolle Geräusch des tropfenden Wassers sind immer noch in mir lebendig. Auch du hast deinen Einsiedler vielleicht schon getroffen. Möglicherweise als ein Felsen, ein Baum, ein Stern oder als ein schöner Sonnenuntergang.
Das war meine erste spirituelle Erfahrung. Danach wurde ich ruhiger und stiller. Ich hatte nicht das Bedürfnis, das Geschehen mitzuteilen. Ich wollte es in meinem Herzen bewahren. Mein Wunsch, Mönch zu werden, wurde stärker. Als ich sechzehn war, gaben mir meine Eltern die Erlaubnis, in den Tu-Hieu-Tempel in der Nähe von Hue einzutreten und dort zunächst als Aspirant, dann als Novize zu praktizieren.
Als ich mit sechzehn Jahren Novize wurde, bekam ich von meinem Lehrer ein Geschenk. Es war ein Buch mit fünfzig Übungsgedichten, genannt »Gathas für jeden Tag«. Sie waren von einem großen Zen-Meister zusammengestellt worden. Sich mit Hilfe von Versen des täglichen Tuns bewusst zu werden ist eine über tausend Jahre zurückreichende klösterliche Zen-Tradition.
So war das erste Buch, das ich zum Lernen erhielt, ein Buch mit Gedichten. Seltsam. Wir mussten als Novizen all diese Verse auswendig lernen, um sie zu praktizieren. In meiner Tradition hat Poesie, genauso wie Musik und Kunst, viel mit Meditation zu tun. Die Verse im Buch bestanden aus vier Zeilen in klassischem Chinesisch und jede Zeile enthielt nur fünf Wörter, so umfasste jedes Gedicht insgesamt zwanzig Wörter. Ein Vers betraf das Hinsetzen: »Du setzt dich so hin, dass du damit die Energie der Achtsamkeit schaffst.« Es gab sogar einen Vers für das Anziehen des Unterhemdes oder das Anlegen der Mönchsrobe. Jede Aktivität am Tag kann in Poesie und in Achtsamkeit getan werden. Ich mag diese Praxis sehr.