5,99 €
"Ich muss dieses Jahr einfach heiraten. Sonst sterbe ich!" Lady Sarah brennt darauf, endlich standesgemäß unter die Haube zu kommen. Stattdessen muss sie die glanzvolle Hochzeit ihrer Cousine über sich ergehen lassen - und ihr Tischherr ist ausgerechnet Lord Hugh, der einst durch ein Duell fast ihre Familie zerstört hätte. Aber nicht nur deshalb verabscheut die überschwängliche junge Dame den verschlossenen, mathematisch hochbegabten Adeligen. Kein Wunder: Sie ganz Gefühl, er ganz Verstand, das kann ja nur Streit geben, oder? Doch plötzlich fliegen Funken völlig anderer Art, und Sarah muss sich eingestehen, dass ihre Rechnung nicht aufgeht …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 425
IMPRESSUM
Mein wildes, ungezähmtes Herz erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2013 by Julie Cotler Pottinger Originaltitel: „The Sum Of All Kisses“ erschienen bei: Avon Books, New York Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 284 - 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Petra Lingsminat
Umschlagsmotive: ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images
Veröffentlicht im ePub Format in 02/2021.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751505161
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY
Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de
Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.
Der hier ist für mich. Und für Paul. Aber hauptsächlich für mich.
London
Ziemlich spät abends
Frühling 1821
Pikett ist etwas für Leute mit gutem Gedächtnis“, warf der Earl of Chatteris in die Runde.
Lord Hugh Prentice hatte ihn nicht gehört, er stand zu weit weg, auf der anderen Seite des Tischs am Fenster. Vor allem aber war er ziemlich betrunken. Doch selbst wenn Hugh Chatteris’ Bemerkung mitbekommen hätte – und dabei nicht betrunken gewesen wäre –, hätte er sich gedacht: Deswegen spiele ich ja Pikett.
Laut ausgesprochen hätte er es nicht. Hugh gehörte nicht zu denen, die redeten, nur um etwas zu sagen. Aber er hätte es gedacht. Und seine Miene hätte sich dabei verändert. Um einen Mundwinkel hätte es gezuckt, er hätte die rechte Augenbraue gehoben – viel hätte man ihm nicht angesehen, doch ein aufmerksamer Beobachter hätte den Eindruck gewonnen, dass er ein wenig selbstzufrieden sei.
Allerdings waren aufmerksame Beobachter in der Londoner Gesellschaft äußerst rar gesät.
Bis auf Hugh.
Hugh Prentice bemerkte alles. Und er erinnerte sich an alles. Wenn er gewollt hätte, hätte er Romeo und Julia auswendig rezitieren können, Wort für Wort. Hamlet ebenfalls. Julius Cäsar nicht, aber nur, weil er sich nie die Zeit genommen hatte, es zu lesen.
So außergewöhnlich war seine Gabe, dass Hugh während seiner ersten beiden Monate in Eton sechs Mal wegen Betrugs bestraft worden war. Bald war ihm klar geworden, dass sein Leben sehr viel einfacher wurde, wenn er die eine oder andere Prüfungsfrage absichtlich falsch beantwortete. Nicht, dass es ihm viel ausgemacht hätte, des Betrugs bezichtigt zu werden – er wusste ja, dass es nicht stimmte, und was die anderen dachten, war ihm ziemlich egal –, aber es war so lästig, vor seine Lehrer gezerrt zu werden und sein Wissen vor ihnen auszubreiten, bis sie sich endlich von seiner Unschuld überzeugt hatten.
Wirklich nützlich war ihm sein Gedächtnis beim Kartenspielen. Als jüngerer Sohn des Marquess of Ramsgate wusste Hugh, dass sein Erbe genau Nullkommanichts betragen würde. Von jüngeren Söhnen erwartete man, dass sie zur Armee gingen, Geistlicher wurden oder sich eine reiche Frau suchten. Da Hugh für diese Laufbahnen nicht das richtige Temperament hatte, würde er sich seinen Lebensunterhalt auf andere Weise verdienen müssen. Und das Glücksspiel war eine sichere Sache, wenn man sich an jede einzelne Karte erinnerte, die im Lauf des Abends ausgespielt wurde – und in welcher Reihenfolge.
Allerdings wurde es allmählich schwierig, Gentlemen zu finden, die sich auf ein Spiel mit ihm einlassen wollten – Hughs bemerkenswerte Kartenkünste waren inzwischen legendär. Doch wenn sie genügend getrunken hatten, wagten junge Männer es immer wieder. Jeder wollte derjenige sein, der Hugh Prentice beim Kartenspiel besiegte.
Das Problem war, dass Hugh an diesem Abend ebenfalls „genügend“ getrunken hatte. Das kam nicht oft vor; er hatte sich nie wohlgefühlt bei dem Kontrollverlust, der aus einer Weinflasche kam. Aber er war mit Freunden unterwegs gewesen, und sie waren in einer etwas verruchten Taverne gelandet, wo die Gläser groß waren, die Gäste laut und die Frauen ungewöhnlich drall.
Als sie dann in ihrem Club angekommen waren und die Karten gezückt hatten, war Daniel Smythe-Smith, der vor Kurzem den Titel des Earl of Winstead geerbt hatte, ziemlich betrunken. In lebhaften Worten beschrieb er das Schankmädchen, mit dem er früher am Abend in der Taverne in einem Nebenzimmer verschwunden war, Charles Dunwoody schwor, er würde zurückgehen und auf Daniels Leistung noch einen draufsetzen, und selbst Marcus Holroyd – der junge Earl of Chatteris, der immer ein weniger ernsthafter war als die anderen – lachte so heftig, dass er beinahe vom Stuhl fiel.
Hugh hatte sein Schankmädchen besser gefallen als Daniels – es war nicht so drall gewesen und ein wenig geschmeidiger –, doch er grinste nur, als die anderen Einzelheiten erfahren wollten. Natürlich erinnerte er sich an jeden Zoll ihres Körpers, doch ein Gentleman genoss und schwieg.
„Diesmal schlage ich dich, Prentice!“, prahlte Daniel. Er stützte sich auf den Tisch und lächelte so strahlend, dass es die anderen schier blendete. Er war schon immer der Charmeur der Truppe gewesen.
„Du lieber Himmel, Daniel“, stöhnte Marcus, „nicht schon wieder.“
„Nein, nein, heute klappt’s.“ Daniel wedelte mit dem Zeigefinger herum. „Diesmal klappt es.“
„Er bringt es fertig!“, rief Charles Dunwoody aus. „Das weiß ich genau!“
Niemand machte sich die Mühe, darauf zu antworten. Auch in nüchternem Zustand schien Charles Dunwoody eine Menge Dinge zu wissen, die nicht stimmten.
„Nein, nein, es klappt“, beharrte Daniel, „weil du …“, er schwenkte den Finger in Hughs Richtung, „… eine Menge getrunken hast.“
„Nicht so viel wie du“, erklärte Marcus, doch er bekam Schluckauf, als er das sagte.
„Ich habe mitgezählt“, meinte Daniel triumphierend. „Er hat mehr getrunken.“
„Ich hatte am meisten“, rief Dunwoody voller Stolz.
„Dann spielst am besten du“, sagte Daniel.
Die Karten wurden ausgegeben, Wein wurde serviert, und alle amüsierten sich prächtig, bis …
Daniel gewann.
Hugh blinzelte und starrte auf die Karten auf dem Tisch.
„Ich habe gewonnen“, stellte Daniel ehrfürchtig fest. „Schaut euch das mal an!“
Hugh ging die Karten in Gedanken durch, ignorierte dabei den Umstand, dass manche Karten vor seinem inneren Auge ungewöhnlich verschwommen waren.
„Ich habe gewonnen“, wiederholte Daniel, diesmal an Marcus gewandt, seinen langjährigen besten Freund.
„Nein“, sagte Hugh, hauptsächlich zu sich selbst. Es war unmöglich. Einfach unmöglich. Er verlor nie beim Kartenspielen. Wenn er nachts einzuschlafen versuchte, zählte er die Karten auf, die er am fraglichen Tag ausgespielt hatte. Oder der fraglichen Woche.
„Ich bin mir nicht sicher, wie ich das hingekriegt habe“, erklärte Daniel. „Es war der König, aber dann die Sieben, und ich …“
„Es war das Ass“, fuhr Hugh ihn an. Er konnte sich diesen Blödsinn keinen Augenblick länger anhören.
„Hmmm.“ Daniel blinzelte. „Vielleicht.“
„Gott“, rief Hugh aus, „bring ihn doch jemand zum Schweigen!“ Er brauchte Ruhe. Er musste sich konzentrieren, sich an die Karten erinnern. Wenn ihm dies gelang, würde alles in Ordnung kommen. Es war wie damals, als er spätabends mit Freddie nach Hause kam und ihr Vater sie schon erwartete mit …
Nein, nein, nein. Das hier war etwas anderes. Hier ging es um Karten. Um Pikett. Er verlor nie. Das war die eine Sache, die einzige Sache, auf die er sich verlassen konnte.
Dunwoody kratzte sich am Kopf, sah auf die Karten und zählte laut. „Ich glaube, er …“
„Winstead, du verdammter Betrüger!“, schrie Hugh. Die Worte waren ihm unwillkürlich entschlüpft. Er wusste gar nicht, wo sie herkamen, was ihn dazu veranlasst hatte, sie herauszuschreien, aber nachdem sie nun ausgesprochen waren, dehnten sie sich aus in der Luft, knisterten heftig über dem Tisch.
Hugh begann zu beben.
„Nein“, sagte Daniel. Nur Nein, mit zitternder Hand und verwirrter Miene. Verblüfft, als …
Doch daran wollte Hugh nicht denken. Er konnte nicht daran denken, und so sprang er auf, warf dabei den Tisch um, klammerte sich an der einen Tatsache fest, die für ihn unumstößlich war, und zwar, dass er niemals beim Kartenspiel verlor.
„Ich habe nicht betrogen“, meinte Daniel und blinzelte heftig. Er blickte zu Marcus. „Ich betrüge doch nicht.“
Aber es musste so sein. Hugh ließ noch einmal die Karten Revue passieren, ignorierte den Umstand, dass der Pikbube tatsächlich eine Pike schwang und die Zehn jagte, die Wein aus einem Glas trank, das dem Glas, das vor ihm in Scherben auf dem Boden lag, ziemlich ähnlich sah …
Hugh begann zu schreien. Er hatte keine Ahnung, was er sagte, nur dass Daniel ihn betrogen hatte, dass die Herzkönigin ins Straucheln geraten war und 42 mal 306 immer 12852 ergab. Nicht dass er gewusst hätte, was das mit allem zu tun haben sollte, aber nun war überall Wein auf dem Boden, die Karten wirbelten durcheinander, und Daniel stand da, schüttelte den Kopf und sagte: „Was hat er bloß?“
„Dieses Ass kann er unmöglich gehabt haben“, zischte Hugh. Das Ass war nach dem Buben gefallen, und der war auf die Zehn gefolgt …
„Aber ich hatte es“, sagte Daniel mit einem Achselzucken. Und einem Rülpsen.
„Das konntest du aber nicht“, schoss Hugh zurück und versuchte schwankend das Gleichgewicht zu halten. „Ich kenne doch meine Karten.“
Daniel blickte auf die Karten. Hugh ebenfalls, auf die Pikdame, von deren Hals Madeira tropfte, als wäre es Blut.
„Bemerkenswert“, murmelte Daniel. Er sah Hugh an. „Ich habe gewonnen. Kannst du das glauben?“
Machte er sich über ihn lustig? Machte sich Daniel Smythe-Smith, der ach-so-ehrenwerte Earl of Winstead, über ihn lustig?
„Ich will Satisfaktion“, knurrte Hugh.
Daniel hob überrascht den Kopf. „Was?“
„Nenne deine Sekundanten.“
„Willst du mich zu einem Duell fordern?“ An Marcus gewandt, erklärte Daniel fassungslos: „Ich glaube, er fordert mich zum Duell.“
„Daniel, halt die Klappe.“ Marcus stöhnte – Marcus, der plötzlich sehr viel nüchterner wirkte als die anderen.
Doch Daniel winkte ab und sagte: „Hugh, sei doch kein Trottel.“
Hugh dachte nicht lange nach. Er stürzte sich auf Daniel. Der wich zur Seite, aber nicht schnell genug, und beide Männer gingen zu Boden. Ein Tischbein bohrte sich in Hughs Hüfte, doch er spürte es kaum. Er schlug auf Daniel ein – einmal, zweimal, dreimal, viermal –, bis ihn zwei Paar Hände wegzogen, ihn auf die Füße stellten und kaum zurückhalten konnten, als er spie: „Du bist ein verdammter Betrüger!“
Denn das wusste er. Und Winstead hatte sich über ihn lustig gemacht.
„Und du bist ein Idiot“, erwiderte Daniel und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
„Ich fordere Satisfaktion.“
„Vergiss es“, zischte Daniel. „Jetzt verlange ich Satisfaktion.“
„Auf dem kleinen Rasen?“, fragte Hugh, wobei er sich auf die versteckte Wiese im Hyde Park bezog, wo Gentlemen ihre Differenzen austrugen.
„Im Morgengrauen.“
Gedämpftes Schweigen trat ein, während alle darauf warteten, dass einer von beiden Männern zur Vernunft kam.
Was nicht geschah. Natürlich nicht.
Hugh lächelte. Zwar hatte er keine Ahnung, was es da für ihn zu lächeln gab, aber er tat es dennoch. Und als er Daniel Smythe-Smith ansah, erblickte er das Gesicht eines Fremden.
„Einverstanden.“
„Du brauchst das nicht zu tun“, sagte Charles Dunwoody und untersuchte mit grimmiger Miene Hughs Pistole.
„Ich meine, ich glaube dir, dass er betrogen hat. Muss er doch, denn, na ja, er hat gegen dich gespielt, und du gewinnst doch immer. Weiß zwar nicht, wie du das anstellst, aber du tust es.“
Hugh bewegte kaum den Kopf, doch sein Blick wanderte zu Dunwoodys Gesicht. Wollte Dunwoody damit etwa andeuten, dass er betrog?
„Ich glaube, es hat mit Mathe zu tun“, fuhr Dunwoody fort, ohne Hughs spöttische Miene zu bemerken. „Darin warst du doch schon immer so wahnsinnig gut …“
Nett. Wie nett, als wahnsinnig bezeichnet zu werden.
„… und ich weiß genau, dass du in Mathe nie geschummelt hast. Wir haben dich auf der Schule deswegen doch weiß Gott genug aufgezogen.“ Dunwoody sah auf und runzelte die Stirn. „Wie machst du das bloß?“
Hugh sah ihn ausdruckslos an. „Das fragst du mich jetzt?“
„Oh. Nein. Nein, natürlich nicht.“ Dunwoody räusperte sich und trat einen Schritt zurück. Marcus Holroyd kam auf sie zu, vermutlich um das Duell doch noch in letzter Minute zu verhindern. Hugh beobachtete Marcus, der sich ihnen über die feuchte Wiese näherte. Mit dem linken Bein schritt er ein wenig weiter aus als mit dem rechten, aber nicht viel. Vermutlich würde er noch fünfzehn Schritte brauchen, bis er bei ihnen war, sechzehn, wenn er ihnen zu nahe kam.
Aber das hier war Marcus. Er würde nach fünfzehn Schritten stehen bleiben.
Marcus und Dunwoody tauschten die Waffen, um sie zu inspizieren. Hurst stand neben dem Wundarzt, der voller nützlicher Informationen steckte.
„Genau hier“, erklärte der Wundarzt und fasste sich an den Oberschenkel. „Das habe ich schon öfter gesehen. Oberschenkelschlagader. Da blutet man wie ein Schwein.“
Hugh schwieg. Er hatte nicht die Absicht, Daniel zu treffen. In den letzten Stunden hatte er Gelegenheit gehabt, sich zu beruhigen; er war zwar immer noch wütend, sah aber keinen Grund, ihn umzubringen.
„Wenn Sie Ihrem Gegner nur tüchtig Schmerzen bereiten wollen“, sprach der Wundarzt weiter, „können Sie mit Hand oder Fuß nichts falsch machen. Die Knochen brechen leicht, und es ist ziemlich schmerzhaft. Außerdem stirbt man davon nicht, es trifft nichts Wichtiges.“
Hugh war sehr gut darin, andere nicht zu beachten, aber das konnte selbst er nicht unwidersprochen hinnehmen. „Die Hand ist nicht wichtig?“
Der Wundarzt fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und zuckte mit den Achseln. „Es ist nicht das Herz.“
Da musste Hugh ihm zustimmen, was ihn ärgerte. Es ging ihm gegen den Strich, wenn lästige Leute recht behielten. Wenn dieser Wundarzt auch nur einen Funken Verstand hätte, würde er jetzt den Mund halten.
„Zielen Sie bloß nicht auf den Kopf“, riet der Arzt schaudernd. „Das will keiner, und dabei rede ich nicht bloß von dem armen Teufel, den es getroffen hat. Überall nichts als Hirnmasse, das Gesicht zerschossen. Eine anständige Beerdigung steht dann auch außer Frage.“
„Hast du den Arzt ausgesucht?“, fragte Marcus.
Hugh nickte in Dunwoodys Richtung. „Er hat ihn aufgetrieben.“
„Ich bin Barbier“, sagte der Wundarzt defensiv.
Marcus schüttelte den Kopf und ging zu Daniel zurück.
„Gentlemen, wenn Sie dann so weit sind!“
Hugh war sich nicht sicher, wer den Befehl gegeben hatte. Vermutlich jemand, der von dem Duell erfahren hatte und nun auch mitmischen wollte, um sich hinterher damit rühmen zu können, er habe es „mit eigenen Augen gesehen“ – eine der begehrtesten Sätze in London.
„Zielen!“
Hugh hob den Arm und zielte. Auf einen Punkt drei Zoll rechts neben Daniels Schulter.
„Eins!“
Lieber Himmel, er hatte vergessen, dass hier gezählt wurde.
„Zwei!“
Seine Brust zog sich zusammen. Das Zählen. Das Geschrei. Der einzige Moment, in dem die Zahlen seine Feinde waren. Die Stimme seines Vaters, heiser vor Triumph, und Hugh, der nicht hören wollte …
„Drei!“
Hugh zuckte zusammen.
Und drückte ab.
„Auuuuuuuuuaaaaaaaaa!“
Überrascht blickte Hugh zu Daniel hinüber.
„Verdammt und zugenäht, du hast mich angeschossen!“, schrie Daniel. Er presste die Hand auf die Schulter, sein zerknittertes weißes Hemd hatte sich schon dunkelrot verfärbt.
„Was?“, sagte Hugh wie zu sich selbst. „Nein.“ Er hatte doch daneben gezielt. Nicht weit, aber er war doch ein guter, ein hervorragender Schütze.
„Oh Gott!“, brummte der Wundarzt und rannte zur anderen Seite des Felds.
„Du hast ihn angeschossen!“, keuchte Dunwoody. „Warum hast du das gemacht?“
Hugh fehlten die Worte. Daniel war verletzt, vielleicht sogar tödlich, und er war schuld. Er hatte ihn angeschossen. Niemand hatte ihn dazu gezwungen. Und selbst jetzt, als Daniel den blutigen Arm hob, fühlte er sich wie gelähmt, konnte nicht fassen, dass das alles wirklich geschah …
Hugh schrie, als sein Bein in Stücke gerissen wurde.
Warum hatte er geglaubt, er würde den Schuss hören, bevor er ihn spürte? Er wusste, wie es funktionierte. Wenn Sir Isaac Newton recht hatte, pflanzte sich Schall mit einer Geschwindigkeit von 979 Fuß in der Sekunde fort. Hugh stand etwa zwanzig Yards von Daniel entfernt, was bedeutete, dass die Kugel etwa …
Er dachte nach. Und dachte nach.
Er konnte die Antwort nicht berechnen.
„Hugh! Hugh!“, hörte er Dunwoody aufgeregt schreien. „Hugh, geht es dir gut?“
Hugh blickte auf in Charles Dunwoodys Gesicht, das er kaum erkennen konnte. Wenn er aufsah, musste er auf dem Boden liegen. Er blinzelte, versuchte seine Welt wieder in den richtigen Fokus zu bekommen. War er immer noch betrunken? Am Abend vorher hatte er unglaubliche Mengen Alkohol getrunken, sowohl vor als auch nach dem Streit mit Daniel.
Nein, er war nicht betrunken. Zumindest nicht sehr. Er war angeschossen worden. Glaubte er wenigstens. Es fühlte sich an, als hätte er eine Kugel abbekommen, doch inzwischen tat es gar nicht mehr so weh. Allerdings würde es erklären, warum er auf dem Boden lag.
Er schluckte, versuchte zu atmen. Warum fiel es ihm so schwer, zu atmen? Er war doch ins Bein geschossen worden, oder? Falls er überhaupt angeschossen worden war. Da war er sich nämlich immer noch nicht ganz sicher.
„Oh, lieber Gott“, meldete sich eine neue Stimme. Marcus Holroyd, schwer atmend. Sein Gesicht war kalkweiß.
„Drücken Sie auf die Wunde!“, brüllte der Wundarzt. „Und passen Sie auf den Knochen auf.“
Hugh versuchte, etwas zu sagen.
„Eine Aderpresse“, sagte jemand. „Sollten wir eine Aderpresse anlegen?“
„Meine Tasche!“, rief der Wundarzt.
Hugh versuchte noch einmal, etwas zu sagen.
„Spar deine Kräfte“, sagte Marcus und nahm seine Hand.
„Aber schlaf nicht ein!“, fügte Dunwoody besorgt hinzu. „Halt die Augen offen.“
„Der Oberschenkel“, krächzte Hugh.
„Was?“
„Sagt dem Wundarzt …“ Hugh hielt inne, schöpfte keuchend Atem. „Der Oberschenkel. Blutet wie ein Schwein.“
„Wovon spricht er?“, erkundigte sich Marcus.
„Ich … ich …“ Dunwoody versuchte, etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm ständig in der Kehle stecken.
„Was?“, fragte Marcus.
Hugh schaute zu Dunwoody. Er sah ganz krank aus.
„Ich glaube, er will einen Scherz machen“, sagte Dunwoody.
„Mein Gott“, fluchte Marcus harsch und wandte sich mit einem Ausdruck an Hugh, den dieser schwierig zu interpretieren fand. „Du dämlicher, widerborstiger … Ein Scherz. Du willst einen Scherz machen.“
„Nicht weinen“, meinte Hugh, da es so aussah, als würde Marcus gleich in Tränen ausbrechen.
„Fester“, sagte jemand, und Hugh spürte, wie jemand an seinem Bein zerrte, dann fest zudrückte, und schließlich hörte er Marcus: „Am besten, Sie treten einen Schritt zurüüüüüü…“
Und das war es dann.
Als Hugh die Augen aufschlug, war es dunkel. Und er lag im Bett. War ein ganzer Tag vergangen? Oder mehr? Das Duell hatte im Morgengrauen stattgefunden. Der Himmel war noch rosa gewesen.
„Hugh?“
Freddie? Was hatte der hier zu suchen? Er konnte sich nicht erinnern, wann sein Bruder das Haus ihres Vaters zum letzten Mal betreten hatte. Hugh wollte seinen Namen sagen, wollte ihm sagen, wie froh er war, ihn zu sehen, doch seine Kehle war wie ausgedörrt.
„Du brauchst nicht zu sprechen“, meinte Freddie. Er beugte sich vor, bis sein vertrautes blondes Haar im Kerzenlicht aufleuchtete. Sie sahen sich immer ziemlich ähnlich, ähnlicher als die meisten Brüder. Freddie war ein wenig kleiner, ein wenig schmaler und ein wenig blonder, aber sie hatten dieselben grünen Augen, dasselbe eckige Gesicht. Und dasselbe Lächeln.
Wenn sie denn lächelten.
„Ich gebe dir etwas Wasser“, sagte Freddie. Vorsichtig führte er einen Löffel an Hughs Lippen und tröpfelte ihm ein wenig Flüssigkeit in den Mund.
„Mehr“, krächzte Hugh. Es war nichts übrig geblieben zum Schlucken, jeder Tropfen war von seiner ausgetrockneten Zunge aufgesogen worden.
Freddie gab ihm noch ein paar Löffel Wasser und sagte dann: „Warten wir ein Weilchen, zu viel auf einmal ist nicht gut.“
Hugh nickte. Er wusste nicht, warum, aber er nickte.
„Hast du Schmerzen?“
Die hatte Hugh, aber er hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie nicht so stark gewesen waren, bevor Freddie sich danach erkundigt hatte.
„Es ist noch dran, weißt du“, erklärte Freddie und deutete auf die untere Hälfte des Betts. „Dein Bein.“
Natürlich war es noch dran. Es tat höllisch weh. Wo sollte es denn sonst sein?
„Manchmal spürt man die Schmerzen noch, nachdem man das Bein längst verloren hat“, fuhr Freddie fort. „Phantomschmerz nennt man das. Ich habe mal etwas darüber gelesen, ich weiß nicht mehr, wann. Ist schon eine Weile her.“
Dann stimmte es wohl. Freddies Gedächtnis war beinahe ebenso gut wie Hughs, und er hatte sich schon immer vor allem für die Naturwissenschaften interessiert. Als sie Kinder waren, hatte Freddie praktisch draußen gewohnt, hatte im Schlamm gegraben und alles Mögliche an Getier gesammelt. Hugh hatte ihn ein paarmal begleitet, sich aber höllisch gelangweilt.
Hugh hatte rasch erfasst, dass das Interesse an Käfern nicht proportional zur Anzahl von Käfersichtungen steigt. Für Frösche galt dasselbe.
„Vater ist unten“, meinte Freddie.
Hugh schloss die Augen. Näher kam er an ein Nicken nicht heran.
„Ich sollte ihn wohl holen.“ Es klang nicht sehr überzeugt.
„Nein.“
Eine Weile verging, und dann sagte Freddie: „Hier, trink noch ein bisschen. Du hast eine Menge Blut verloren. Vermutlich fühlst du dich deswegen so schwach.“
Hugh nahm noch ein paar Löffel. Das Schlucken tat weh.
„Du hast dir auch das Bein gebrochen. Den Oberschenkelknochen. Der Arzt hat den Bruch gerichtet, aber er sagte, der Knochen sei gesplittert.“ Freddie räusperte sich. „Du wirst hier wohl eine ganze Weile festsitzen. Der Oberschenkelknochen ist der größte Knochen im Körper. Die Heilung wird ein paar Monate dauern.“
Freddie log. Hugh hörte es ihm an. Was bedeutete, dass es wohl länger dauern würde als ein paar Monate. Vielleicht würde es überhaupt nicht mehr verheilen. Vielleicht war er ein Krüppel.
Das wäre ein Spaß.
„Welchen Tag haben wir?“, fragte Hugh heiser.
„Du warst drei Tage bewusstlos“, antwortete Freddie, der die Frage korrekt interpretiert hatte.
„Drei Tage“, wiederholte Hugh. Lieber Himmel.
„Ich bin gestern gekommen. Corville hat mich verständigt.“
Hugh nickte. Typisch, dass ihr Butler derjenige gewesen war, der Freddie hatte wissen lassen, dass sein Bruder beinahe gestorben wäre. „Was ist mit Daniel?“, erkundigte sich Hugh.
„Lord Winstead?“ Freddie schluckte. „Der ist gegangen.“
Hugh riss die Augen auf.
„Nein, nein, nicht von uns gegangen“, wehrte Freddie rasch ab. „Seine Schulter war verletzt, aber das wird verheilen. Er hat England verlassen, das ist alles. Vater wollte ihn verhaften lassen, aber du warst ja noch nicht tot …“
Noch nicht. Wie komisch.
„… und dann, nun ja, ich weiß nicht, was Vater zu ihm gesagt hat. Daniel hat dich am Tag nach dem Duell besucht. Ich war nicht da, aber Corville hat mir erzählt, dass Winstead sich entschuldigen wollte. Vater wollte nichts davon hören … na ja, du kennst Vater ja.“ Freddie schluckte und räusperte sich wieder. „Ich glaube, Lord Winstead ist nach Frankreich gegangen.“
„Er sollte zurückkommen“, meinte Hugh. Daniel konnte nichts dafür. Er hatte ihn schließlich nicht zum Duell gefordert.
„Ja, also, das kannst du ja mit Vater bereden“, erwiderte Freddie unbehaglich. „Er spricht davon, ihn zu verfolgen.“
„In Frankreich?“
„Ich habe nicht versucht, ihn zur Vernunft zu bringen.“
„Nein, natürlich nicht.“ Wer wollte auch einen Verrückten zur Vernunft bringen?
„Sie dachten, du würdest möglicherweise sterben“, erklärte Freddie.
„Verstehe.“ Und das war das Schlimme. Hugh verstand es tatsächlich.
Der Marquess of Ramsgate konnte sich seinen Erben nicht aussuchen; das Erstgeburtsrecht zwang ihn, Freddie den Titel zu überlassen, das Land, das Vermögen, alles, was gesetzlich festgelegt war. Wenn Lord Ramsgate es sich hätte aussuchen können, hätte er Hugh gewählt, das wussten sie alle.
Freddie war siebenundzwanzig und nicht verheiratet. Hugh ließ die Hoffnung nicht fahren, dass er es eines Tages doch noch tun würde, aber er wusste, dass keine Frau der Welt seinen Bruder würde fesseln können. Er akzeptierte es. Er verstand es nicht, aber er akzeptierte es. Er wünschte sich nur, dass Freddie klar würde, dass er trotzdem heiraten und seine Pflicht erfüllen könnte und so den verdammten Druck von Hugh nehmen würde. Es gab doch bestimmt jede Menge Frauen, die entzückt wären, wenn sich ihr Gatte aus ihrem Bett verabschiedete, sobald die Kinderzimmer voll genug waren.
Hughs Vater jedoch sagte Freddie immer wieder, er brauche sich nicht die Mühe zu machen, eine Frau zu suchen. Der Titel mochte ein paar Jahre auf Freddie übergehen, aber so weit Lord Ramsgate plante, würde er am Ende Hugh oder seinen Kindern gehören.
Nicht, dass er je den Eindruck erweckt hätte, Hugh sonderlich gern zu haben.
Lord Ramsgate war nicht der einzige Adelige, der keinen Anlass sah, seine Kinder gleich zu behandeln. Hugh wäre für Ramsgate besser, und so war Hugh eben besser, Punktum.
Denn sie alle wussten, dass der Marquess of Ramsgate Hugh und Freddie in genau dieser Reihenfolge liebte.
Freddie wahrscheinlich gar nicht.
„Möchtest du etwas Laudanum?“, fragte Freddie jetzt. „Der Arzt sagte, wir könnten dir etwas geben, falls du aufwachst.“
Falls. Sogar noch weniger komisch als noch nicht.
Hugh nickte und ließ sich von seinem Bruder in eine sitzende Position aufhelfen. „Gott, das ist ja ekelhaft“, sagte er und reichte Freddie den Becher zurück, nachdem er den Inhalt geschluckt hatte.
Freddie roch am Bodensatz. „Alkohol“, stellte er fest. „Das Opium ist darin gelöst.“
„Genau das, was ich brauche“, brummte Hugh. „Noch mehr Alkohol.“
„Wie bitte?“
Hugh schüttelte nur den Kopf.
„Ich bin froh, dass du wach bist“, sagte Freddie. Hugh sah, dass er sich nach dem Ausschenken des Laudanums nicht wieder hingesetzt hatte. „Ich bitte Corville, es Vater zu erzählen. Ich würde das nicht so gern tun, weißt du, wenn ich nicht muss …“
„Natürlich“, entgegnete Hugh. Die Welt war schöner, wenn Freddie ihrem Vater aus dem Weg ging. Die Welt war auch schöner, wenn Hugh ihm aus dem Weg ging, aber irgendwer musste ja hin und wieder mit dem alten Mistkerl reden, und die Brüder wussten beide, dass er das übernehmen musste. Dass Freddie ihr Elternhaus in St. James’s betreten hatte, legte vor allem beredtes Zeugnis für seine Liebe zu Hugh ab.
„Ich komme morgen wieder“, verkündete Freddie und blieb noch einmal an der Tür stehen.
„Das brauchst du nicht“, meinte Hugh.
Freddie schluckte und wandte den Blick ab. „Vielleicht dann übermorgen.“
Oder überübermorgen. Hugh würde ihm keine Vorwürfe machen, wenn er überhaupt nicht wiederkäme.
Freddie hatte den Butler anscheinend angewiesen, ihren Vater nicht gleich darüber zu verständigen, dass Hugh aufgewacht war, denn es dauerte fast einen ganzen Tag, ehe Lord Ramsgate ins Zimmer gestürmt kam.
„Du bist aufgewacht“, bellte er.
Erstaunlich, wie sehr das nach einem Vorwurf klang.
„Du verdammter blöder Idiot“, zischte Ramsgate. „Du hast dich beinahe umbringen lassen. Und wozu? Wozu?“
„Freut mich auch, dich zu sehen, Vater“, erwiderte Hugh. Er saß im Bett, das geschiente Bein wie ein Baumstamm vor sich. Er war sich ziemlich sicher, dass er besser klang, als er sich fühlte, aber beim Marquess of Ramsgate durfte man nie Schwäche zeigen.
Das hatte er schon sehr früh gelernt.
Sein Vater warf ihm einen angewiderten Blick zu, ging ansonsten aber nicht auf den Spott ein. „Du hättest sterben können.“
„Habe ich auch gehört.“
„Findest du das etwa komisch?“, fuhr ihn der Marquess an.
„Eigentlich nicht“, meinte Hugh.
„Du weißt, was passiert wäre, wenn du gestorben wärst.“
Hugh lächelte ausdruckslos. „Ich habe natürlich darüber nachgedacht, aber weiß überhaupt irgendwer, was uns nach dem Tod erwartet?“
Gott, es macht Spaß, mit anzusehen, wie sich das Gesicht seines Vaters verzerrte und rot anlief. Solange er nicht anfing zu spucken.
„Nimmst du überhaupt irgendetwas ernst?“, fragte der Marquess.
„Vieles, aber das hier nicht.“
Lord Ramsgate atmete scharf ein. Vor Zorn bebte er am ganzen Leib. „Wir wissen beide, dass dein Bruder niemals heiraten wird.“
„Ach, darum geht es also?“, sagte Hugh mit gespielter Überraschung.
„Ich werde nicht dulden, dass meine Familie Ramsgate verliert!“
Hugh ließ auf diesen Ausbruch eine wohldosierte Pause folgen und sagte dann: „Ach komm, so schlimm ist Vetter Robert nun auch nicht. Sie haben ihn sogar wieder nach Oxford gelassen. Nun ja, beim ersten Mal.“
„So ist das also?“, zischte der Marquess. „Du versuchst dich umbringen zu lassen, nur um mich zu ärgern?“
„Wenn ich dich ärgern wollte, könnte ich das wohl mit weniger Aufwand hinbekommen. Und mit einem weitaus angenehmeren Ende für mich selbst.“
„Wenn du mich loswerden willst, weißt du genau, was du zu tun hast“, sagte Lord Ramsgate.
„Dich umbringen?“
„Du verdammter …“
„Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, hätte ich wirklich …“
„Heirate einfach irgendein blödes Weib und schenk mir einen Erben!“, brüllte sein Vater.
„Alles in allem“, sagte Hugh umwerfend gleichmütig, „wäre es mir lieber, wenn meine Frau nicht blöd wäre.“
Sein Vater ballte vor Zorn die Hände zu Fäusten. Es dauerte eine ganze Minute, ehe er sich in der Lage sah, etwas zu erwidern. „Ich muss wissen, dass Ramsgate in der Familie bleibt.“
„Ich habe nie gesagt, dass ich nicht heiraten würde“, erklärte Hugh. Er hatte keine Ahnung, warum er sich verpflichtet fühlte, überhaupt so viel zu sagen. „Aber ich werde mich dabei nicht an deine Pläne halten. Außerdem bin ich ja nicht dein Erbe.“
„Frederick …“
„Könnte immer noch heiraten“, unterbrach Hugh ihn, jede Silbe hart und abgehackt.
Doch sein Vater schnaubte nur und wandte sich zum Gehen.
„Oh, Vater“, rief Hugh ihm nach. „Würdest du Lord Winsteads Familie eine Nachricht schicken, dass er nach England zurückkehren kann?“
„Natürlich nicht. Soll er doch in der Hölle verrotten. Oder in Frankreich.“ Der Marquess lachte grimmig. „Wenn du mich fragst, besteht da ohnehin kein großer Unterschied.“
„Es gibt keinen Grund, warum er nicht zurückkehren sollte“, sagte Hugh geduldiger, als er selbst es für möglich gehalten hätte. „Wie uns beiden schon aufgefallen ist, hat er mich nicht umgebracht.“
„Er hat dich angeschossen.“
„Ich ihn auch, und zwar als Erster.“
„In die Schulter.“
Hugh biss die Zähne zusammen. Auseinandersetzungen mit seinem Vater waren schon immer anstrengend gewesen, und bei ihm war längst die nächste Dosis Laudanum fällig. „Es war meine Schuld“, stieß er hervor.
„Mir doch egal“, erklärte der Marquess. „Er konnte den Schauplatz auf eigenen Füßen verlassen. Du bist ein Krüppel, der jetzt vielleicht nicht mal mehr Kinder zeugen kann.“
Hughs Augen wurden vor Schreck riesengroß. Er war ins Bein geschossen worden. Ins Bein.
„Daran hast du nicht gedacht, was?“, höhnte sein Vater. „Die Kugel hat die Schlagader getroffen. Ein Wunder, dass du nicht verblutet bist. Der Arzt meint, dass dein Bein es überstehen wird, aber nur Gott weiß, wie es mit dem Rest aussieht.“ Er riss die Tür auf und giftete noch im Hinausgehen: „Winstead hat mein Leben ruiniert. Da kann ich ihm das seine ebenfalls ruinieren.“
Das volle Ausmaß von Hughs Verletzungen würde sich erst in ein paar Monaten herausstellen. Sein Oberschenkelbein verheilte. Irgendwie.
Der Muskel wuchs wieder zusammen. Was davon noch übrig war.
Glücklicherweise deuteten alle Anzeichen darauf hin, dass er immer noch in der Lage sein würde, ein Kind zu zeugen.
Nicht, dass er das gewollt hätte. Beziehungsweise nicht, dass er Gelegenheit dazu bekommen hätte.
Doch als sein Vater sich erkundigte … oder eigentlich ihm die Decke weggerissen hatte, im Beisein eines deutschen Arztes, dem Hugh lieber nicht in einer dunklen Gasse begegnen würde …
Hatte Hugh die Decke bis ans Kinn gezogen, tödlich verlegen getan und seinen Vater in dem Glauben gelassen, er sei irreparabel beschädigt.
Und die ganze Zeit, die ganze qualvolle Zeit der Genesung saß Hugh im Haus seines Vaters fest, ans Bett gefesselt und gezwungen, die Dienste einer Pflegerin über sich ergehen zu lassen, deren Auftreten an Attila den Hunnenkönig erinnerte.
Sie sah auch so aus. Oder zumindest hatte sie die Art Gesicht, die Hugh sich gut an Attila vorstellen konnte. Der Vergleich war jedenfalls nicht sehr schmeichelhaft.
Für Attila.
Doch Attila die Pflegerin, so grob und barsch sie sich auch verhielt, war immer noch besser als Hughs Vater, der jeden Tag um vier Uhr nachmittags mit einem Glas Brandy (das allerdings für ihn selbst war, nicht für Hugh) und den neuesten Informationen über seine Jagd auf Daniel Smythe-Smith zu ihm kam.
Und jeden Nachmittag um eine Minute nach vier bat Hugh seinen Vater, damit aufzuhören.
Einfach aufzuhören.
Aber das tat er natürlich nicht. Lord Ramsgate schwor, Daniel so lange zu jagen, bis einer von ihnen tot war.
Irgendwann ging es Hugh wieder so gut, dass er Ramsgate House verlassen konnte. Er hatte nicht viel Geld – nur seine Gewinne aus der Zeit, als er noch dem Glücksspiel frönte –, aber es reichte, um einen Kammerdiener anzuheuern und eine kleine Wohnung im Albany zu nehmen, Londons erster Adresse für Gentlemen von erstklassiger Geburt und zweitklassigem Vermögen.
Er hatte wieder laufen gelernt. Für weitere Entfernungen benötigte er einen Stock, doch quer durch den Ballsaal schaffte er es allein.
Nicht, dass er Bälle besucht hätte.
Er gewöhnte sich daran, mit den Schmerzen zu leben, der dauerhaften Pein eines schlecht zusammengewachsenen Knochens, dem beständigen Pochen eines gezerrten Muskels.
Und er zwang sich, seinen Vater zu besuchen, um ihn zur Vernunft zu bringen, um ihm zu sagen, er solle die Jagd auf Daniel Smythe-Smith aufgeben. Doch es gelang ihm nicht, ihn zu überzeugen. Sein Vater krallte sich an seinem Zorn fest. Seinen Enkelsohn würde er nun niemals bekommen, und schuld daran war der Earl of Winstead.
Es interessierte ihn nicht, als Hugh meinte, Freddie sei gesund und könne sie durchaus überraschen und doch noch heiraten. Viele Männer, die eigentlich lieber Junggesellen geblieben wären, heirateten irgendwann. Der Marquess spuckte nur. Er spuckte tatsächlich auf den Boden und sagte, dass Freddie niemals in der Lage sei, einen Sohn zu zeugen, selbst wenn er sich eine Frau nehme. Und wenn es ihm wie durch ein Wunder doch gelinge, sei das Kind ihres Namens bestimmt nicht würdig.
Nein, das alles war Winsteads Schuld. Hugh hätte für den Ramsgate-Erben sorgen sollen, und jetzt das. Er war ein nutzloser Krüppel. Der vermutlich auch keinen Sohn zuwege bringen würde.
Lord Ramsgate würde Daniel Smythe-Smith, dem einst so flotten und beliebten Earl of Winstead, niemals vergeben. Niemals.
Und Hugh, dessen eine feste Größe im Leben seine Fähigkeit war, ein Problem von allen Seiten zu betrachten und die logischste Lösung zu finden, hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, zu heiraten, aber obwohl bei ihm allem Anschein nach alles noch funktionierte, bestand doch die Möglichkeit, dass die Kugel dauerhaften Schaden angerichtet hatte. Außerdem, dachte er und blickte auf sein kaputtes Bein, welche Frau würde ihn denn noch wollen?
Und eines Tages fiel ihm etwas ein – ein flüchtiger Augenblick aus dem Gespräch, das er direkt nach dem Duell mit Freddie geführt hatte.
Freddie hatte gesagt, dass er gar nicht versucht hätte, den Marquess zur Vernunft zu bringen, und Hugh hatte erwidert: „Nein, natürlich nicht“, und dann hatte er sich gedacht: Wer wollte auch einen Verrückten zur Vernunft bringen?
Und nun wusste er die Antwort.
Nur ein anderer Verrückter.
Fensmore bei Chatteris
Cambridgeshire
Herbst 1824
Lady Sarah Pleinsworth, Veteranin dreier erfolgloser Saisons in London, sah sich im Salon ihrer zukünftigen Cousine um und verkündete: „Hochzeiten sind eine richtige Landplage.“
Bei ihr waren ihre jüngeren Schwestern Harriet, Elizabeth und Frances, sechzehn, vierzehn und elf Jahre alt und daher nicht in dem Alter, in dem man sich um die eigenen Heiratsaussichten sorgte. Dennoch hätte man erwarten können, dass sie ein wenig Mitleid zeigten.
Hätte man, wenn man die Pleinsworth-Mädchen nicht kannte.
„Du bist mal wieder höchst melodramatisch“, erwiderte Harriet und warf Sarah nur einen flüchtigen Blick zu, ehe sie ihre Feder in das Tintenfass eintauchte und sich wieder ihren Schreibarbeiten widmete.
Sarah drehte sich langsam zu ihr um. „Du schreibst ein Stück über Heinrich VIII. und ein Einhorn und findest mich melodramatisch?“
„Ich schreibe eine Satire“, erklärte Harriet.
„Was heißt Satire?“, mischte sich Frances ein. „Ist das dasselbe wie ein Satyr?“
Elizabeths Augen weiteten sich in unheiligem Entzücken. „Ja!“, rief sie aus.
„Elizabeth!“, schalt Harriet.
Frances betrachtete Elizabeth mit schmalen Augen. „Es ist nicht dasselbe, oder?“
„Sollte es aber“, entgegnete Elizabeth, „nachdem du sie dazu gebracht hast, ein verdammtes Einhorn in ihr Stück zu schreiben.“
„Elizabeth!“ Eigentlich störte Sarah sich nicht daran, dass ihre Schwester geflucht hatte, aber als Älteste wusste sie, dass sie daran Anstoß nehmen sollte. Oder zumindest so tun, als ob.
„Ich habe nicht geflucht“, protestierte Elizabeth. „Das war nur ein frommer Wunsch.“
Darauf trat verwirrtes Schweigen ein.
„Wenn das Einhorn verdammt wird“, fügte Elizabeth hinzu, „könnte das Stück wenigstens ein bisschen interessant werden.“
Frances’ schnappte nach Luft. „Oh, Harriet! Du hast doch nicht vor, das Einhorn zu verdammen, oder?“
Harriet bedeckte das Geschriebene mit der Hand. „Na, höchstens ein bisschen.“
Frances Luftschnappen verschärfte sich zu einem entsetzten Aufkeuchen. „Harriet!“
„Können Hochzeiten eine Landplage sein?“, fragte Harriet laut und fuhr fort, an Sarah gewandt: „Und wenn, würden zwei schon ausreichen?“
„Aber ja“, meinte Sarah düster, „wenn sie im Abstand von nur einer Woche stattfinden, wenn man zusätzlich mit einer der Bräute und einem der Bräutigame verwandt ist und vor allem, wenn man gezwungen ist, Brautjungfer bei einer Hochzeit zu sein, die …“
„Du musst aber nur bei einer Brautjungfer sein“, mischte sich Elizabeth ein.
„Einmal reicht“, brummte Sarah. Niemand sollte gezwungen werden, mit einem Blumenstrauß vor den Altar zu treten – außer man war die Braut, war bereits einmal Braut gewesen oder zu jung, um die Braut zu sein. Alles andere war grausam.
„Ich finde es göttlich, dass Honoria dich gebeten hat, ihre Brautjunger zu sein“, erklärte Frances begeistert. „Das ist so romantisch. Vielleicht könntest du eine solche Szene in deinem Stück unterbringen.“
„Gute Idee“, erwiderte Harriet. „Ich könnte eine neue Figur einführen. Sie könnte genau wie Sarah aussehen.“
Sarah machte sich nicht einmal die Mühe, Harriet anzusehen. „Bitte nicht.“
„Nein, das wird ein Riesenspaß“, beharrte Harriet. „Ein spezieller kleiner Leckerbissen nur für uns drei.“
„Wir sind zu viert“, korrigierte Elizabeth sie.
„Ach so, ja. Tut mir leid, jetzt habe ich glatt Sarah vergessen.“
Das schien Sarah keiner Antwort wert zu sein, doch sie verzog verächtlich die Lippen.
„Was ich sagen will“, sprach Harriet weiter, „wir werden uns immer daran erinnern, wie wir hier gesessen und es uns ausgedacht haben.“
„Du könntest sie ja wie mich aussehen lassen“, schlug Frances hoffnungsvoll vor.
„Nein, nein“, winkte Harriet ab. „Dazu ist es jetzt zu spät. Ich habe schon feste Vorstellungen im Kopf. Die neue Figur muss aussehen wie Sarah. Mal schauen …“ Sie begann wie wild zu kritzeln. „Dichtes, dunkles Haar, leicht gewellt.“
„Dunkle, unergründliche Augen“, warf Frances atemlos ein. „Unergründlich müssen sie sein.“
„Mit einer Spur Irrsinn“, sagte Elizabeth.
Sarah wirbelte zu ihr herum.
„Ich trage nur meinen Teil bei“, wandte Elizabeth ein. „Und gerade jetzt ist diese Spur Irrsinn deutlich zu sehen.“
„Darauf kannst du Gift nehmen!“, erwiderte Sarah.
„Nicht zu groß, nicht zu klein“, murmelte Harriet, die immer noch schrieb.
Mit breitem Grinsen stimmte Elizabeth in den Singsang ein. „Nicht zu dünn, nicht zu dick.“
„Oh, oh, oh, ich weiß auch etwas“, rief Frances und sprang auf dem Sofa auf und ab. „Nicht zu rosa, nicht zu grün.“
Das brachte die anderen zum Schweigen. „Wie bitte?“, fragte Sarah schließlich.
„Dir ist so schnell nichts peinlich“, erklärte Frances, „daher wirst du selten rot. Und ich habe nur einmal mitbekommen, wie du dich übergeben hast, damals, als wir alle in Brighton den verdorbenen Fisch gegessen hatten.“
„Daher das Grüne“, meinte Harriet beifällig. „Sehr gut, Frances. Das war geistreich. Die Leute werden wirklich ein wenig grün im Gesicht, wenn ihnen übel wird. Ich frage mich, warum.“
„Das ist die Galle“, meinte Elizabeth.
„Müssen wir dieses Gespräch führen?“, meldete Sarah sich wieder zu Wort.
„Du hast wirklich keinen Grund, schlechte Laune zu haben“, sagte Harriet.
„Ich habe keine schlechte Laune.“
„Gute Laune aber auch nicht.“
Sarah verzichtete darauf, zu widersprechen.
„Ich an deiner Stelle“, sagte Harriet, „wäre im siebten Himmel. Du darfst vor den Traualtar treten.“
„Ich weiß.“ Sarah ließ sich aufs Sofa fallen, offenbar hatten sie nach dem zweiten Wort die Kräfte verlassen.
Frances kam zu ihr herüber und blickte über die Sofalehne. „Willst du denn nicht vor den Traualtar treten?“ Sie wirkte ein wenig besorgt; wie ein Spatz legte sie den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite.
„Nicht unbedingt“, meinte Sarah. Zumindest nicht, wenn es sich nicht um ihre eigene Hochzeit handelte. Aber es fiel ihr schwer, mit ihren Schwestern darüber zu reden; sie waren so viel jünger als sie, und manche Dinge konnte man mit einer Elfjährigen einfach nicht besprechen.
Ihre Mutter hatte zwischen Sarah und Harriet drei Kinder verloren – zwei Fehlgeburten, und dann war Sarahs kleinerer Bruder, der einzige Junge, den Lord und Lady Pleinsworth je bekommen hatten, in der Wiege gestorben, als er gerade einmal drei Monate alt gewesen war. Ihre Eltern waren sicher enttäuscht, dass sie keinen Sohn hatten, doch sie beschwerten sich nie. Wenn sie darüber redeten, dass der Titel an Sarahs Vetter William gehen würde, murrten sie nicht. Sie schienen es einfach hinzunehmen. So war das Leben eben. Kurzfristig hatten sie darüber nachgedacht, Sarah mit William zu verheiraten, um alles „in der Familie zu belassen“, wie ihre Mutter es ausdrückte, doch William war drei Jahre jünger als Sarah. Mit achtzehn hatte er gerade erst in Oxford mit dem Studium angefangen und würde innerhalb der nächsten fünf Jahre gewiss nicht heiraten.
Und Sarah hatte nicht die Absicht, fünf Jahre abzuwarten. Keine Chance. Nicht den Hauch einer Chance. Nicht den Bruchteil eines Hauches …
„Sarah!“
Sie sah auf. Gerade noch rechtzeitig. Elizabeth zielte mit einem Buch in ihre Richtung.
„Nicht“, warnte Sarah sie.
Elizabeth runzelte enttäuscht die Stirn und senkte das Buch. „Ich habe gefragt“, wiederholte sie (anscheinend), „ob du wüsstest, ob die Gäste alle eingetroffen sind.“
„Ich glaube, ja“, entgegnete Sarah, obwohl sie in Wahrheit keine Ahnung hatte. „Was diejenigen angeht, die im Dorf untergebracht sind, so weiß ich es nicht.“ Ihre Cousine Honoria Smythe-Smith sollte am kommenden Morgen den Earl of Chatteris heiraten. Die Zeremonie sollte hier auf Fensmore stattfinden, dem Familiensitz der Chatteris’ im nördlichen Cambridgeshire. Doch nicht einmal Lord Chatteris’ großes Anwesen bot genügend Platz, um alle Gäste zu beherbergen, die aus London angereist waren; eine ganze Reihe von ihnen musste daher in den Gaststätten vor Ort absteigen.
Als Verwandte waren die Pleinsworths auf Fensmore untergekommen; sie waren beinahe eine Woche vorher angereist, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Oder, genauer gesagt, ihre Mutter half bei den Vorbereitungen. Sarah hatte die Aufgabe bekommen, ihre Schwestern zu beaufsichtigen.
Was nicht einfach war.
Normalerweise wären die Mädchen von ihrer Gouvernante betreut worden, sodass Sarah sich ganz ihren Pflichten als Honorias Brautjunger hätte widmen können, doch zufälligerweise wollte die (nun ehemalige) Gouvernante in vierzehn Tagen ebenfalls heiraten.
Und zwar Honorias Bruder.
Was bedeutete, dass Sarah (und halb London, wie es schien) sich auf den Weg machen würden sobald die Chatteris-Smythe-Smith-Feierlichkeiten abgeschlossen wären, und von Fensmore nach Whipple Hill in Berkshire reisen, um dort der Hochzeit von Daniel Smythe-Smith und Miss Anne Wynter beizuwohnen. Da Daniel ebenfalls ein Earl war, würde es eine Riesenveranstaltung sein.
Genau wie Honorias Hochzeit eine Riesenveranstaltung werden würde.
Zwei Riesenveranstaltungen. Zwei großartige Gelegenheiten für Sarah, zu tanzen und sich zu vergnügen und sich schmerzlich bewusst zu machen, dass sie nicht die Braut war.
Sie wollte einfach heiraten. War das so erbärmlich?
Nein, befand sie und richtete sich ein wenig auf (allerdings ging sie nicht so weit, sich gerade hinzusetzen). Einen Mann zu finden und seine Ehefrau zu sein war alles, worauf sie vorbereitet worden war, wenn man einmal von ihren Klavierauftritten mit dem berüchtigten Smythe-Smith-Quartett absah.
Was, wenn sie es recht überlegte, mit ein Grund war, warum sie so unbedingt heiraten wollte.
Alle Jahre wieder wurden die vier ältesten unverheirateten Smythe-Smith-Cousinen gezwungen, all ihr nicht existentes musikalisches Talent zusammenzunehmen und in einem Quartett zu spielen.
Öffentlich.
Vor echten Menschen. Die nicht taub waren.
Es war die Hölle. Ein besseres Wort fiel Sarah dazu nicht ein. Sie war sich ziemlich sicher, dass es das passende Wort noch nicht gab.
Der Lärm, der den Smythe-Smith’schen Instrumenten entwich, konnte auch nur mit Worten beschrieben werden, die noch erfunden werden mussten. Doch aus irgendeinem Grund saßen alle Smythe-Smith-Mütter (auch Sarahs Mutter, eine geborene Smythe-Smith, auch wenn sie jetzt eine Pleinsworth war) selig lächelnd in der ersten Reihe und sonnten sich in der Gewissheit, dass ihre Töchter musikalische Wunderkinder waren. Und das restliche Publikum …
Das war das Rätsel.
Warum gab es überhaupt ein „restliches Publikum“? Sarah wollte das einfach nicht in den Kopf gehen. Ein einziger Besuch reichte doch sicher aus, um einen erkennen zu lassen, dass bei den musikalischen Soireen der Marke Smythe-Smith nie etwas Gutes herauskam. Doch Sarah hatte die Gästelisten studiert: Es gab tatsächlich Leute, die jedes Jahr wiederkamen. Was die sich wohl dabei dachten? Sie mussten doch wissen, dass sie sich etwas aussetzen, was man nur als akustische Folter beschreiben konnte.
Anscheinend war doch eine Bezeichnung dafür erfunden worden.
Als Smythe-Smith-Cousine entzog man sich dem Smythe-Smith-Quartett nur durch Heirat, es war der einzige Weg. Nun ja, oder man schützte eine tödliche Krankheit vor, aber das hatte Sarah schon getan. Sie glaubte nicht, dass es ein zweites Mal funktionieren würde.
Oder man wäre als Knabe auf die Welt gekommen. Die brauchten kein Instrument zu erlernen oder ihre Würde bei einer öffentlichen Demütigung zu verlieren.
Das war wirklich ungerecht.
Aber zurück zur Heirat. Ihre drei Londoner Saisons waren kein kompletter Reinfall gewesen. Letzten Sommer hatten zwei Gentlemen um ihre Hand angehalten. Und obwohl ihr klar gewesen war, dass sie sich damit wohl ein weiteres Jahr am Pianoforte würde opfern müssen, hatte sie beide abgewiesen.
Sie war nicht auf verrückte Leidenschaft aus. Sie war viel zu praktisch veranlagt, um zu glauben, dass jeder die wahre Liebe finden könnte – oder dass es für jeden nur einen möglichen Partner gab. Doch eine Dame von einundzwanzig sollte keinen Dreiundsechzigjährigen heiraten müssen.
Und der andere Heiratsantrag … Sarah seufzte. Der Gentleman war ein ungewöhnlich leutseliger Mensch gewesen, doch jedes Mal, wenn er bis zwanzig zählte (was er erstaunlich oft tat), vergaß er die Zahl zwölf.
Sarah wollte nicht unbedingt ein Genie, aber war ein Ehemann, der zählen konnte, wirklich zu viel verlangt?
„Heirat“, sagte sie zu sich.
„Wie bitte?“, fragte Frances, die immer noch von der Sofalehne auf sie herunterlinste. Harriet und Elizabeth waren mit eigenen Dingen beschäftigt, was vermutlich ganz gut war, denn Sarah wollte nicht, dass jemand außer einer Elfjährigen hörte, wie sie erklärte:
„Ich muss dieses Jahr einfach heiraten. Wenn nicht, muss ich sterben, glaube ich.“
Hugh Prentice blieb an der Tür zum Salon kurz stehen, schüttelte den Kopf und ging weiter. Sarah Pleinsworth, wenn ihn sein Gehör nicht täuschte, und das tat es normalerweise nicht.
Noch ein Grund, warum er nicht zu der Hochzeit hatte kommen wollen.
Hugh war schon immer Einzelgänger gewesen, es gab nur wenige Menschen, deren Gesellschaft er suchte. Gleichzeitig gab es aber auch nicht viele Leute, denen er aus dem Weg ging.
Seinem Vater natürlich.
Überführten Mördern.
Und Lady Sarah Pleinsworth.
Selbst wenn ihre erste Begegnung keine Katastrophe gewesen wäre, wären sie niemals Freunde geworden. Sarah Pleinsworth war eines dieser melodramatischen Frauenzimmer, die zu Übertreibungen und großspurigen Ansagen neigten. Normalerweise achtete Hugh nicht auf die Sprechweise anderer Leute, doch bei Lady Sarah war es schwer zu ignorieren.
Sie benutzte viel zu viele Adverbien. Und Ausrufezeichen.
Außerdem verachtete sie ihn. Das sog er sich nicht aus den Fingern. Er hatte es sie sagen hören. Nicht, dass ihn das störte, er konnte sie auch nicht sonderlich leiden. Er wünschte sich nur, sie würde lernen, ein wenig zurückhaltender zu sein.
Wie jetzt. Sie würde sterben müssen, wenn sie dieses Jahr nicht heiratete. Ach ja.
Hugh schüttelte abermals den Kopf. Auf diese Hochzeit würde er zumindest nicht gehen müssen.
Beinahe hätte er sich auch vor der bevorstehenden drücken können. Doch Daniel Smythe-Smith hatte auf Hughs Anwesenheit bestanden. Als Hugh erklärt hatte, dass dies doch nicht einmal seine eigene Hochzeit sei, hatte Daniel sich im Sessel zurückgelehnt und gesagt, es sei schließlich die Hochzeit seiner Schwester. Wenn Daniel und Hugh die Gesellschaft davon überzeugen wollten, dass sie ihre Differenzen beigelegt hatten, solle Hugh gefälligst mit einem Lächeln im Gesicht dort auftauchen.
Es war vielleicht nicht die herzlichste Einladung, doch das war Hugh egal. Ihm war es lieber, die Leute sagten, was sie meinten, und beließen es dabei. Aber in einem hatte Daniel recht: In ihrem Fall war der äußere Anschein wichtig.
Ihr Duell vor dreieinhalb Jahren hatte einen Skandal epischen Ausmaßes verursacht. Daniel hatte das Land verlassen müssen, und Hugh hatte ein volles Jahr damit zugebracht, wieder laufen zu lernen. Das nächste Jahr widmete Hugh sich dem Bemühen, seinen Vater zu überreden, Daniel in Ruhe zu lassen, das darauffolgende dem Versuch, Daniel zu finden, nachdem es Hugh endlich gelungen war, seinen Vater dazu zu bringen, seine Spione und Auftragsmörder zurückzupfeifen und es gut sein zu lassen.
Spione und Auftragsmörder. War sein Leben tatsächlich in derartig dramatische Niederungen geraten? Konnte er die Worte Spione und Auftragsmörder tatsächlich denken und glauben, dass sie für ihn persönlich relevant seien?
Hugh stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte seinen Vater bezwungen, hatte Daniel Smythe-Smith gefunden und nach England zurückgebracht. Nun heiratete Daniel und würde glücklich sein bis ans Ende seiner Tage – alles war so, wie es sein sollte.
Nur für Hugh nicht.
Er sah auf sein Bein. Es war nur gerecht. Er hatte schließlich angefangen, dann sollte auch er derjenige sein, der dauerhaft Folgen davontrug.
Aber verdammt, heute tat es weh. Am Vortag hatte er elf Stunden in der Kutsche gesessen, und das spürte er immer noch.
Eigentlich war ihm nicht ganz klar, warum er unbedingt auf dieser Hochzeit auftauchen sollte. Sicher hätte es doch gereicht, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass sie ihren Streit beigelegt hätten, wenn er später im Monat zu Daniels Heirat erschienen wäre.
Hugh war nicht zu stolz, um zuzugeben, dass ihm die Meinung der Gesellschaft zumindest in diesem Fall wichtig war. Ihn hatte es nicht weiter gestört, als ihn die Leute als Exzentriker betrachteten, der mit Karten besser zurechtkam als mit Menschen. Es hatte ihn auch nicht gestört, als er einmal mitbekommen hatte, wie eine Matrone zur anderen sagte, dass sie ihn sehr merkwürdig finde und ihrer Tochter nicht erlauben würde, ihn als potenziellen Partner in Erwägung zu ziehen – falls ihre Tochter denn Interesse zeigen würde, was sie, wie die Matrone energisch betonte, ohnehin nie tun würde.
Das hatte Hugh nicht gestört, aber er erinnerte sich daran. Wort für Wort.
Ihn störte es mehr, wenn man ihn für einen Schuft hielt. Dass jemand denken könnte, er habe Daniel Smythe-Smith töten wollen, oder dass er sich gefreut habe, als Daniel das Land hatte verlassen müssen … Das konnte Hugh wirklich nicht ertragen. Und wenn er seinen Ruf nur wiederherstellen konnte, indem er der Gesellschaft demonstrierte, dass Daniel ihm vergeben hatte, dann würde Hugh eben zu dieser Hochzeit gehen und zu allen anderen Veranstaltungen, die Daniel für angezeigt hielt.
„Oh, Lord Hugh!“
Beim Klang der vertrauten Stimme blieb Hugh stehen. Es war die Braut persönlich, Lady Honoria Smythe-Smith, die zukünftige Lady Chatteris. In vierundzwanzig Stunden, wenn die Zeremonie pünktlich anfing, worauf Hugh sich allerdings nicht verließ. Es überraschte ihn, dass sie sich hier blicken ließ. Sollten sich Bräute nicht im Kreise ihrer Freundinnen und Verwandten aufhalten und sich wegen letzter Details aufregen?
„Lady Honoria“, sagte er und fasste seinen Stock anders, damit er sich vor ihr verneigen konnte.
„Ich bin so froh, dass Sie zur Hochzeit kommen können“, erklärte sie.
Hugh blickte ihr ein wenig länger in die hellblauen Augen, als andere Leute vielleicht für nötig befunden hätten. Er war sich ziemlich sicher, dass sie aufrichtig war.
„Danke“, entgegnete er. Und log: „Ich freue mich sehr, hier zu sein.“