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Als politische Autorin verfasste Luxemburg zahlreiche zeitkritische Aufsätze und ökonomische Analysen. Ihre theoretische und praktische Arbeit für den Sozialismus, die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, gegen Militarismus und Krieg wirkte weit über ihre Zeit und die Grenzen Deutschlands hinaus. Dieser Band bietet folgende Reden: Über den politischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie Über das Verhältnis des trade-unionistischen zum politischen Kampf. Über die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft Persönliche Bemerkung zur "Freiheit der Kritik in der Partei" Über die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Militarismus Über die Agitation der Partei gegen den Chinakrieg Über die Notwendigkeit einer verstärkten Protestbewegung gegen den Chinakrieg Über die Stellung der Sozialdemokratie zur Schutzzollpolitik Über den Völkerfrieden, den Militarismus und die stehenden Heere Über die Öffentlichkeit der Sitzungen des Parteitages Protest Über die sozialistische Taktik Über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften Über die erste russische Revolution und die deutsche Arbeiterbewegung Zur Frage des politischen Massenstreiks Zum Verhältnis von Partei und Gewerkschaften u.a.
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Seitenzahl: 543
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Meine Reden
Rosa Luxemburg
Inhalt:
Rosa Luxemburg – Biografie und Bibliografie
Über den politischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie
Über das Verhältnis des trade-unionistischen zum politischen Kampf.
Über die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft
Persönliche Bemerkung zur "Freiheit der Kritik in der Partei"
Über die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Militarismus
Über die Agitation der Partei gegen den Chinakrieg
Über die Notwendigkeit einer verstärkten Protestbewegung gegen den Chinakrieg
Über die Stellung der Sozialdemokratie zur Schutzzollpolitik
Über den Völkerfrieden, den Militarismus und die stehenden Heere
Über die Öffentlichkeit der Sitzungen des Parteitages
Protest
Über die sozialistische Taktik
Über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften
Über die erste russische Revolution und die deutsche Arbeiterbewegung
Zur Frage des politischen Massenstreiks
Zum Verhältnis von Partei und Gewerkschaften
Über die Revolution in Rußland von 1905 bis 1907
Verteidigungsrede vor dem Gericht in Weimar
Die Lehren der letzten Reichstagswahl
Über Ignaz Auer
Zur internationalen Bedeutung der ersten russischen Revolution
Über die Rolle der Bourgeoisie in der Revolution 1905/1906 in Rußland
Abschließende Worte
Zur Arbeit des Internationalen Sozialistischen Büros
Zum Resolutionsentwurf A. Bebels über die imperialistische Politik
Zur Frage der sozialdemokratischen Parteischule
Über den Ersten Mai als Kampftag der Arbeiterklasse
Zur Frage der Budgetbewilligung
Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren
Zur Budgetabstimmung
Zur Frage des politischen Massenstreiks
Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften
Klassenkampf und Tagespolitik
Unser Kampf um die Macht
Zur Marokkoresolution des Parteivorstandes
Gegen die Passivität des Parteivorstandes in der Marokkokrise
Verteidigung gegen persönliche Angriffe
Dem Weltkrieg entgegen
Die politische Lage und die Sozialdemokratie
Unser Wahlsieg und seine Lehren
Über das Stichwahlabkommen
Die weltpolitische Lage
Der politische Massenstreik
Die Dämpfung ist eine Politik, wie sie nicht sein soll.
Über die Taktik der Sozialdemokratie
Zur Steuerfrage
Verteidigungsrede vor der Frankfurter Strafkammer
Zum Frankfurter Prozeß
Gegen Militarismus und imperialistischen Krieg
Über Militarismus und Arbeiterklasse
Imperialismus
Zum politischen Massenstreik
Gegen die Vertagung des Prozesses vor dem Berliner Landgericht
Die Stellung zur Internationale und zur zweiten Zimmerwalder Konferenz
Korreferat zur Politik der USPD
Schlußbemerkungen zur Politik der USPD
Zur Beteiligung der KPD an den Wahlen zur Nationalversammlung
Zu einer wirtschaftlich-politischen Einheitsorganisation der Arbeiterbewegung
Unser Programm und die politische Situation
Meine Reden, Rosa Luxemburg
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849631000
www.jazzybee-verlag.de
Deutsche Politikerin, geboren am 5. März 1871 in Zamosc in Polen, verstorben am 15. Januar 1919 in Berlin. Tochter des Holzhändlers Eliasz Luxemburg und dessen Frau Line (geb. Löwenstein). Ab 1880 Besuch des Gymnasiums in Warschau, mit 18 Jahren flieht sie in die Schweiz um einer Verhaftung wegen illegaler politischer Tätigkeiten zu entgehen. In Zürich studiert sie u.a. Staatswissenschaft und Geschichte. 1893 gründet sie in Paris die sozialdemokratischen Zeitschrift "Sache der Arbeiter", ein Jahr später beginnt sie mit ersten Aktivitäten der sozialdemokratischen Arbeiterpartei des Königreichs Polen in Warschau. 1897 promoviert sie in Zürich. Von 1898 bis 1903 ist sie mit dem Deutschen Gustav Lübeck verheiratet, erhält so die deutsche Staatsbürgerschaft und kann sich in der deutschen Arbeiterbewegung engagieren. Sie zieht nach Berlin und schließt sich dort der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an. Es folgen Veröffentlichungen, in denen sie immer wieder zu wirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen referiert. 1904 wird sie wegen Majestätsbeleidigung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ab 1907 lehrt sie an der Parteischule der SPD in Berlin. In den folgenden Jahren wird sie mehrfach wegen verschiedener Aktivitäten zu Gefängnisstrafen und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt, u.a. auch wegen Hoch- und Landesverrat. Am 9. November 1918 wird sie in Breslau aus der Haft entlassen und arbeitet für die "Rote Fahne", der Zeitschrift des Spartakusbunds, in Berlin. Am 15. Januar wird sie zusammen mit Karl Liebknecht von Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützendivision verschleppt, im Hotel Eden verhört und gefoltert und schließlich ermordet. Ihre Leiche findet man erst am 31. Mai im Landwehrkanal.
Wichtige Werke:
Die industrielle Entwickelung Polens,1898Sozialreform oder Revolution?, 1899Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, 1906Die Akkumulation des Kapitals, 1913Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse, 1914Die Krise der Sozialdemokratie, 1916Die russische Revolution, 1922Briefe an Karl und Luise Kautsky, 1923Die Reden von Heine und anderen haben bewiesen, daß sich in unserer Partei ein äußerst wichtiger Punkt verdunkelt hat, nämlich das Verständnis von der Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe. Da wird gesagt: Das vom Endziel ist eine hübsche Stelle in unserem Programm, die gewiß nicht vergessen werden darf, aber in keiner unmittelbaren Beziehung zu unserem praktischen Kampfe steht. Vielleicht findet sich eine Anzahl Genossen, die so denkt: eine Spekulation über das Endziel sei eigentlich eine Doktorfrage. Ich behaupte demgegenüber, daß für uns als revolutionäre, als proletarische Partei keine praktischere Frage existiert als die vom Endziel. Denn bedenken Sie: Worin besteht eigentlich der sozialistische Charakter unserer ganzen Bewegung? Der eigentliche praktische Kampf zerfällt in drei Punkte: den gewerkschaftlichen Kampf, den Kampf um die Sozialreform und den Kampf um die Demokratisierung des kapitalistischen Staates. Sind diese drei Formen unseres Kampfes eigentlicher Sozialismus? Durchaus nicht. Zunächst die gewerkschaftliche Bewegung! Schauen Sie nach England, dort ist sie nicht nur nicht sozialistisch, sondern zum Teil ein Hindernis für den Sozialismus. Die Sozialreform wird vom Kathedersozialismus, den Nationalsozialen und ähnlichen Leuten ebenfalls betont. Demokratisierung ist aber etwas spezifisch Bürgerliches. Die Demokratie hatte die Bourgeoisie schon vor uns auf ihre Fahne geschrieben. Was macht uns dann in unserem alltäglichen Kampfe zur sozialistischen Partei? Es ist nur die Beziehung dieser drei Formen des praktischen Kampfes zum Endziel. Nur das Endziel ist es, welches den Geist und den Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht. Und zwar müssen wir unter Endziel nicht verstehen, wie Heine gesagt hat, diese oder jene Vorstellung vom Zukunftsstaat, sondern das, was einer Zukunftsgesellschaft vorangehen muß, nämlich die Eroberung der politischen Macht. (Zuruf: "Dann sind wir ja einig!") Diese Auffassung unserer Aufgabe steht im engsten Zusammenhang mit unserer Auffassung von der kapitalistischen Gesellschaft, dem festen Boden unserer Anschauung, daß die kapitalistische Gesellschaft sich in unlösbare Widersprüche verwickelt, die im Schlußresultat eine Explosion notwendig machen, einen Zusammenbruch, bei dem wir den Syndikus spielen werden, der die verkrachte Gesellschaft liquidieren wird. Aber wenn wir auf dem Standpunkt stehen, daß wir die Interessen des Proletariats zur vollen Geltung bringen können, dann wären solche Äußerungen unmöglich, wie sie in der letzten Zeit gefallen sind von Heine, daß wir auch Konzessionen auf dem Gebiete des Militarismus machen können; dann die Äußerung von Konrad Schmidt im Zentralorgan von der sozialistischen Majorität im bürgerlichen Parlament und namentlich Äußerungen wie von Bernstein, daß, wenn wir einmal ans Ruder kommen, wir auch dann nicht imstande sind, den Kapitalismus zu entbehren. Als ich das las, sagte ich mir: Welches Glück, daß 1871 die sozialistischen Arbeiter Frankreichs nicht so weise waren, denn dann hätten sie gesagt: Kinder, legen wir uns ins Bett, unsere Stunde hat noch nicht geschlagen, die Produktion ist nicht konzentriert genug, damit wir uns am Ruder erhalten können. Aber dann hätten wir statt des großartigen Schauspiels, des heroischen Kampfes, ein anderes Schauspiel erlebt, dann wären die Arbeiter nicht Heroen gewesen, sondern einfach alte Weiber. Ich glaube, daß die Erörterung darüber, ob wir, wenn wir zur Macht kommen, imstande sind, die Produktion zu einer gesellschaftlichen zu gestalten, ob sie schon dazu reif ist, daß das eine Doktorfrage ist. Für uns darf nie ein Zweifel sein, daß wir nach der Eroberung der politischen Macht streben müssen. Eine sozialistische Partei muß sich immer der Lage gewachsen zeigen, sie darf nie vor ihren eigenen Aufgaben zurückschrecken. Dann müssen unsere Ansichten über das, was unser Endziel ist, vollständig geklärt sein, wir werden es verwirklichen, trotz Sturm und Wind und Wetter. (Beifall.)
Vollmar hat es mir zum bitteren Vorwurf gemacht, daß ich als junger Rekrut in der Bewegung die alten Veteranen belehren will. Das ist nicht der Fall. Es wäre überflüssig, weil ich der festen Überzeugung bin, daß die Veteranen auf demselben Boden stehen wie ich. Es kommt hier überhaupt nicht darauf an, irgend jemand zu belehren, sondern eine bestimmte Taktik zum klaren und unzweideutigen Ausdruck zu bringen. Daß ich mir meine Epauletten in der deutschen Bewegung erst holen muß, weiß ich; ich will es aber auf dem linken Flügel tun, wo man mit dem Feinde kämpfen, und nicht auf dem rechten, wo man mit dem Feinde kompromisseln will. (Widerspruch.) Wenn aber Vollmar gegen meine sachlichen Ausführungen das Argument ins Feld führt: Du Gelbschnabel, ich könnte ja dein Großvater sein, so ist das für mich ein Beweis, daß er mit seinen logischen Gründen auf dem letzten Loche pfeift. (Lachen.) Tatsächlich hat er im Laufe seiner Ausführungen eine Reihe Äußerungen getan, die im Munde eines Veteranen zum mindesten befremdend sind. Seinem niederschmetternden Ausspruch von Marx über den Arbeiterschutz halte ich den anderen Marxschen Ausspruch entgegen, daß die Einführung des Arbeiterschutzes in England geradezu die Rettung der bürgerlichen Gesellschaft selbst bedeutete. Vollmar sagte ferner, es sei falsch, die gewerkschaftliche Bewegung nicht als sozialistische zu behandeln, und verwies auf die Trade-Unions. Ja hat denn Vollmar gar nichts von dem Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Trade-Unionismus gehört? Weiß er nicht, daß die alten Trade-Unionisten ganz auf dem verstockten bürgerlichen Standpunkt stehen? Weiß er nicht, daß kein anderer als Engels es war, der die Hoffnung ausgesprochen hat, jetzt werde in England die sozialistische Bewegung vorwärtsschreiten, weil England auf dem Weltmarkt die Präponderanz verloren hat und im Zusammenhang damit die Trade-Unions-Bewegung neue Bahnen betreten müsse? Den Blanquismus hat Vollmar als Schreckgespenst vorgeführt. Kennt er nicht den Unterschied zwischen Blanquismus und Sozialdemokratie? Weiß er nicht, daß bei den Blanquisten eine Handvoll von Emissären im Namen der Arbeiterklasse, bei der Sozialdemokratie die Arbeiterklasse selbst die politische Macht erobern soll? Das ist ein Unterschied, den man nicht vergessen darf, wenn man ein Veteran der sozialdemokratischen Bewegung ist. Drittens hat er mir die Unterschiebung gemacht, daß ich für Gewaltmittel schwärme. Ich habe weder in meinen Ausführungen noch in meinen Artikeln gegen Bernstein in der "Leipziger Volkszeitung" den geringsten Anlaß dazu gegeben. Ich stehe gerade auf dem entgegengesetzten Standpunkte, und ich sage, das einzige Gewaltmittel, das uns zum Siege führen wird, ist die sozialistische Aufklärung der Arbeiterklasse im alltäglichen Kampfe. Meinen Ausführungen konnte man kein größeres Kompliment machen als durch die Behauptung, daß sie etwas ganz Selbstverständliches seien. Gewiß muß das für einen Sozialdemokraten etwas Selbstverständliches sein, aber nicht für alle hier auf dem Parteitag ist es etwas Selbstverständliches ("Oh!"), z.B. für Genossen Heine mit seiner Kompensationspolitik. Wie verträgt sich diese mit der Eroberung der politischen Macht? Worin kann die Kompensationspolitik bestehen? Wir verlangen Stärkung der Volksrechte, demokratische Freiheiten, der kapitalistische Staat verlangt Stärkung seiner Machtmittel und Kanonen. Gesetzt den günstigsten Fall, daß das Tauschgeschäft von beiden Seiten ehrlich geschlossen und gehalten wird, so steht das, was wir erhalten, nur auf dem Papier. Schon Börne sagte: Ich rate niemandem, auf eine deutsche Konstitution eine Hypothek zu nehmen, denn alle deutschen Verfassungen gehören zu den Mobilien. Konstitutionelle Freiheiten, wenn sie bleibenden Wert haben sollen, müssen durch Kampf, nicht durch Vertrag gewonnen werden. Was aber der kapitalistische Staat von uns eintauschen würde, das hat eine feste, brutale Existenz. Die Kanonen, die Soldaten, die wir bewilligen, verschieben die objektiven materiellen Machtverhältnisse zu unseren Ungunsten. Es war aber kein anderer als Lassalle, der sagte: "Die wahre Konstitution eines Landes besteht nicht in der geschriebenen Verfassung, sondern in seinen tatsächlichen Machtverhältnissen." Das Ergebnis der Kompensationspolitik ist also immer, daß wir die Verhältnisse zu unseren Gunsten bloß auf dem Papier, zugunsten der Gegner aber in der objektiven Wirklichkeit verschieben, daß wir unsere Position im Grunde genommen schwächen, diejenige des Gegners aber stärken. Ich frage, ob man von einem Menschen, der das vorschlägt, behaupten kann, daß er in ernster Weise die Eroberung der politischen Macht erstrebt. Ich glaube, die Entrüstung, mit der Genosse Fendrich die Selbstverständlichkeit dieser Bestrebung betonte, war bloß irrtümlich an mich adressiert, sie richtete sich im Grunde gegen Heine; sie war nur der Ausdruck des schroffen Gegensatzes, in den sich Heine zu dem proletarischen Gewissen unserer Partei gesetzt hat, als er von einer Konzessionspolitik gegenüber dem kapitalistischen Staat zu sprechen wagte. Dann die Äußerung von Konrad Schmidt, daß die Anarchie der kapitalistischen Herrschaft durch gewerkschaftliche Kämpfe und derartiges beseitigt werden könne. Wenn etwas zu dem Programmsatze von der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht Anlaß gegeben hat, so war es die Überzeugung, daß auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft für die Beseitigung der kapitalistischen Anarchie kein Kräutlein gewachsen. Jeden Tag wächst die Anarchie, die furchtbaren Leiden der Arbeiterklasse, die Unsicherheit der Existenz, die Ausbeutung, der Abstand zwischen arm und reich. Kann man von einem, der die Lösung durch kapitalistische Mittel herbeiführen will, behaupten, daß er die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse für notwendig hält? Also auch hier richtet sich die Entrüstung Fendrichs und Vollmars nicht gegen mich, sondern gegen Konrad Schmidt. Und dann die bewußte Äußerung in der "Neuen Zeit": "Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles!" Auch wer das sagt, steht nicht auf dem Standpunkt der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht. Sie sehen, daß manche Parteigenossen nicht auf dem Standpunkt des Endziels unserer Bewegung stehen, und darum ist es nötig, das zum klaren unzweideutigen Ausdruck zu bringen; und wenn es je notwendig war, so gerade jetzt. Die Schläge der Reaktion sausen hageldicht auf uns herab. Auf die neueste Rede des Kaisers muß die Antwort in der Debatte gegeben werden. Klipp und klar müssen wir sagen, wie der alte Cato: Im übrigen bin ich der Meinung, daß dieser Staat zerstört werden muß. Die Eroberung der politischen Macht bleibt das Endziel, und das Endziel bleibt die Seele des Kampfes. Die Arbeiterklasse darf sich nicht auf den dekadenten Standpunkt des Philosophen stellen: "Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles"; nein, umgekehrt: Die Bewegung als solche ohne Beziehung auf das Endziel, die Bewegung als Selbstzweck ist mir nichts, das Endziel ist uns alles. (Beifall.)
Parteigenossen, es hieße Wasser ins Meer tragen, wollte ich nach dem vortrefflichen Vortrage des Genossen Bebel mich noch über die theoretische Seite der Frage verbreiten. Bebel hat diese Fragen so gründlich behandelt und so viel neues Tatsachenmaterial gegen Bernstein angeführt, daß es sich erübrigt, darüber mehr zu sagen. Einige Bemerkungen Davids, die zum Teil gegen mich gerichtet waren, veranlassen mich aber doch zur Antwort. Mit seinen Ausführungen, die die Landwirtschaft betrafen, werde ich mich nicht befassen. Die Frage des Düngers spielte darin eine so große Rolle, daß ich unwillkürlich an jene Rede eines pommerschen Ökonomierates im landwirtschaftlichen Verein dachte, die da lautete: "Ich glaube, Sie werden mir alle zustimmen, wenn ich meine Ausführungen mit den Worten schließe: Mist ist die Seele der Landwirtschaft!" (Große Heiterkeit und "Oho!".)
Die schwächste Seite in der theoretischen Auffassung Bernsteins und seiner Anhänger ist ihre Theorie von der sogenannten wirtschaftlichen Macht, die sich die Arbeiterklasse erst im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung erwerben muß, bevor sie eine politische Revolution glücklich durchführen könne. Von seiten Davids und anderer Anhänger Bernsteins ist uns öfter Phrase und Vorliebe für die Schablone vorgeworfen worden. Gerade in der Frage der Eroberung der ökonomischen Macht ist auf jener Seite die Schablone und die Phrase, wie ich nachweisen werde.
Marx hat bekanntlich bewiesen, daß jeder politischen Klassenbewegung bestimmte wirtschaftliche Verhältnisse zugrunde gelegen haben. Marx hat dargelegt, daß alle bisherigen geschichtlichen Klassen, bevor sie zur politischen Macht gelangten, sich zur ökonomischen Macht aufgeschwungen haben. Diese Schablone wenden nun die David, Woltmann und Bernstein in sklavischer Weise auf die heutigen Verhältnisse an. Das beweist, daß sie weder das Wesen der früheren Kämpfe noch das Wesen der heutigen Kämpfe verstehen.
Was heißt das: Die früheren Klassen, namentlich der dritte Stand, haben sich vor der politischen Emanzipation die wirtschaftliche Macht erobert? Nichts anderes als die historische Tatsache, daß alle bisherigen Klassenkämpfe auf die wirtschaftliche Tatsache zurückzuführen waren, daß eine neu aufstrebende Klasse zugleich eine neue Form des Eigentums geschaffen hatte, auf der sie schließlich ihre Klassenherrschaft begründete. Der Kampf des Handwerkers gegen den städtischen Adel im ersten Teil des Mittelalters beruhte darauf, daß er gegenüber dem im Grund und Boden bestehenden Eigentum des Adels eine neue Form des Eigentums geschaffen hatte, das auf der Arbeit beruhte. Das war eine neue wirtschaftliche Schöpfung, die schließlich die politischen Fesseln sprengte und die Überreste des bedeutungslos gewordenen feudalen Eigentums nach seinem Urbild umbildete. Dasselbe wiederholte sich am Ende des Mittelalters, als der Mittelstand seinen Kampf gegen den Feudalismus führte, als das neue, kapitalistische Eigentum geschaffen wurde, das auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruhte und schließlich den dritten Stand auch politisch zur Herrschaft brachte.
Nun frage ich: Kann man diese Schablone auf unsere Verhältnisse übertragen? Nein. Gerade die, die von der wirtschaftlichen Macht des Proletariats faseln, übersehen die große Verschiedenheit zwischen unserem und allen früheren Klassenkämpfen. Die Behauptung, das Proletariat führt im Gegensatz zu den früheren Klassenkämpfen seinen Klassenkampf nicht, um eine Klassenherrschaft zu begründen, sondern alle Klassenherrschaft abzuschaffen, ist keine Phrase. Das hat seinen Untergrund darin, daß es keine neue Form des Eigentums schafft, sondern nur das von der kapitalistischen Wirtschaft geschaffene kapitalistische Eigentum ausbildet, indem dieses in den Besitz der Gesellschaft übergeführt wird. Es ist also eine Illusion, zu glauben, das Proletariat könne schon innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die wirtschaftliche Macht sich verschaffen; es kann nur die politische Macht sich verschaffen und dann das kapitalistische Eigentum aufheben. Bernstein beschuldigte Marx und Engels, das politische Schema der Großen Französischen Revolution auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Er und die anderen Anhänger der "wirtschaftlichen Macht" übertragen aber das ökonomische Schema der Großen Französischen Revolution auf den proletarischen Kampf.
David hat eine ganze Theorie der Aushöhlung des kapitalistischen Eigentums dargelegt. Ich weiß nicht, ob seine Auffassung des sozialistischen Kampfes tatsächlich zu einer Aushöhlung führt; ich zweifle stark daran. Aber es ist zweifellos, daß eine solche Auffassung eine Aushöhlung unserer Köpfe voraussetzt. (Heiterkeit, Unruhe.)
Ganz vom Standpunkt dieser wirtschaftlichen Macht betrachten David und die Anhänger Bernsteins unsere Stellung zu den Gewerkschaften und Genossenschaften. Man wirft uns vor, daß wir sie als ein notwendiges Übel betrachten. Nun, ich bin überzeugt, daß unter uns, auch unter den sogenannten Politikern, wie sich diejenigen ausdrücken, die künstlich eine Scheidung in Politiker und Gewerkschaftler herbeiführen wollen, sich nicht ein einziger Genosse findet, der sich nicht darüber klar wäre, daß auf dem Gebiete der Gewerkschaften in Deutschland das meiste erst zu geschehen hat und daß wir alle unsere Kräfte in den Dienst dieser Aufgabe stellen müssen. Jeder von uns ist sich klar darüber, daß, wenn man uns den gewerkschaftlichen Kampf nehmen oder er sich nicht weiterentwickeln würde, auch der politische darunter aufs schwerste leiden müßte; denn die erste Voraussetzung ist die Erziehung der breiten Masse zum Klassenkampf, und der gewerkschaftliche Kampf ist das vorzüglichste Mittel dazu. Aber in gewisser Beziehung haben diejenigen, die uns einer halben Freundschaft zu den Gewerkschaften beschuldigen, vielleicht recht, namentlich wenn sie darunter die Förderung von Illusionen in bezug auf die Gewerkschaften verstehen. Ja, wenn sie die Sache so darstellen wollen, als wären die Gewerkschaften nicht nur ein Mittel, die Arbeiter in den Klassenkampf zu ziehen, sie aufzuklären und ihre heutige Lage zu bessern, wenn sie es so verstehen, daß die Gewerkschaften auch unmittelbar dazu dienen, das kapitalistische Eigentum in sozialistisches zu verwandeln, es auszuhöhlen, dann dürfen wir nicht nur, sondern wir müssen einer solchen Auffassung unsere Unterstützung versagen. ("Sehr richtig!") Es gibt keinen größeren Feind der Arbeiterklasse in ihrem Kampf als ihre eigenen Illusionen. Im Grunde genommen sind die, die eine solche Auffassung vertreten, gar nicht Freunde der Gewerkschaften, denn sie arbeiten notwendig auf eine spätere Enttäuschung hin.
Noch falscher ist die Auffassung jener Richtung in bezug auf die Genossenschaften. Ich will hier nur einige Bemerkungen äußern. Es ist Mode geworden, die Genossenschaften auf eine Linie mit den Gewerkschaften, ja mit dem politischen Kampf zu stellen. Nein, die Genossenschaften stehen auf einem ganz anderen Blatt. Wenn wir auch gänzlich von ihrer positiven Bedeutung, ihrer Tragweite für die Arbeiterklasse absehen, eins steht fest: Die Genossenschaften sind kein Klassenkampf. ("Sehr richtig!")
Zweitens: Diejenigen, die sich einbilden, die Genossenschaften seien heute schon ein Keim der sozialistischen Ordnung, sie vergessen noch einen wichtigen Faktor in den heutigen Verhältnissen, die Reservearmee. Selbst wenn wir voraussetzen, daß die Genossenschaften allmählich alle kapitalistischen Unternehmen verdrängen und sich an ihre Stelle setzen, so können wir unmöglich die phantastische Annahme haben, daß bei Beibehaltung der heutigen Marktverhältnisse ohne einen allgemeinen Plan die Produktionsverhältnisse der Nachfrage auf dem Markte angepaßt werden könnten; die Frage der Reservearmee würde nach wie vor offenbleiben. Und noch eins. Ich weiß nicht, welche Genossenschaften man sich als Ideal vorstellte, als abstraktes Schema. Ich weiß nur, daß die englischen Genossenschaften, die bis jetzt als Muster der genossenschaftlichen Bewegung aufmarschieren, in ihrem produktiven Teil durchaus nicht das sozialistische Ideal darstellen. (Zuruf: "Unser Muster sind die belgischen!") Auf dem Trade-Unions-Kongreß beantragte eine Schneidergewerkschaft, das parlamentarische Komitee der Gewerkschaften möchte sich ins Einvernehmen mit den Korporationen setzen, um die Genossenschaften zur Beobachtung der vom parlamentarischen Komitee aufgestellten Lohn- und Arbeitsbedingungen anzuhalten; also die kapitalistische Ausbeutung ist durchaus nicht beseitigt.
Im Zusammenhang mit dieser wirtschaftlichen Auffassung steht die Theorie der Bernsteinschen Richtung über die allgemeine Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft. Es erübrigt sich tatsächlich nach der Rede Davids jede ausführliche Widerlegung dieses Gedankens. Denn er hat ja unter anderem auch die Tarifgemeinschaft als eine teilweise Sozialisierung des Kapitalismus angeführt. Jene Genossen stellen sich offenbar die Sache so dar: Die ganze praktische Politik bleibt so wie bis jetzt, nur vielleicht unter größerer Berücksichtigung der Genossenschaften, und dann macht man es sich sehr bequem: Man klebt darauf die Etikette Sozialismus und dieser ist fertig! Man vergißt nur, daß, wie Engels gesagt hat, wenn man auch die Kleiderbürste unter die Säugetiere klassifiziert, sie noch lange keine Milchdrüsen bekommt. (Heiterkeit. Zuruf: "Das ist aber sehr wahr!")
Noch eine Bemerkung über die sogenannte Zusammenbruchstheorie. Natürlich, wenn wir alles, was wir heute schon machen, Sozialismus nennen, wäre es ja völlig überflüssig, noch einen Zusammenbruch herbeizuführen. Aber die Genossen, die eine so verrückte Auffassung ( Fendrich ruft: "Würde!" – Glocke des Präsidenten.) – verzeihen Sie, ich habe es nicht beleidigend gemeint, "verkehrte" wollte ich sagen. Die Genossen, die eine so verkehrte Auffassung vom Sozialismus haben, fassen die Evolutionstheorie nur so auf, daß sie eine kleine Korrektur an der dialektischen Geschichtsauffassung vornehmen und die Geschichte ist wieder sehr glatt und hübsch gelöst. Aus der Evolutionstheorie, wie sie Marx und Engels auffassen, scheiden sie den Begriff der Zusammenbrüche, der sozialen Katastrophen, und bekommen auf diese Weise einen sehr angenehmen Begriff von der Evolution, wie sie ein Herr Brentano auffaßt. Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, so sehen wir, daß alle bisherigen Klassenkämpfe nur in der Weise verlaufen sind, daß die aufstrebende Klasse im Schoße der alten Gesellschaft durch kleine Fortschritte, gesetzliche Reformen, allmählich immer mehr erstarkte und wuchs, bis sie sich stark genug fühlte, die alten Fesseln abzustreifen, durch eine soziale und politische Katastrophe. Dazu waren sie genötigt, trotzdem sie bereits im Schoße der alten herrschenden Klasse bis zur höchsten Potenz ihre wirtschaftliche Macht entwickeln konnten. Das wird aber zehnmal mehr für uns zur Notwendigkeit. Die Genossen, die glauben, in Ruhe, ohne Kataklysmus, die Gesellschaft in den Sozialismus hinüberleiten zu können, stehen durchaus nicht auf historischem Boden. Wir brauchen durchaus nicht in der Revolution Heugabeln und Blutvergießen zu verstehen. Eine Revolution kann auch in kulturellen Formen verlaufen, und wenn je eine dazu Aussicht hatte, so ist es gerade die proletarische; denn wir sind die letzten, die zu Gewaltmitteln greifen, die eine brutale Revolution herbeiwünschen könnten. Aber solche Dinge hängen nicht von uns ab, sondern von unseren Gegnern ("Sehr richtig!"), und die Frage der Form, in der wir zur Herrschaft gelangen, müssen wir vollkommen ausscheiden; das sind Fragen der Umstände, über die wir heute nicht prophezeien können. Es kommt uns nur auf das Wesen der Sache an, und das besteht darin, daß wir eine gänzliche Umbildung der herrschenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung erstreben, die nur durch Ergreifung der Staatsgewalt und niemals auf dem Wege der sozialen Reform im Schoße der heutigen Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Diejenigen, die sich dieser Hoffnung hingeben, stellen sich auf den Standpunkt, auf den sich nur Ignoranten in bezug auf die Vergangenheit und Optimisten in bezug auf die Zukunft stellen können.
Jetzt eine andere, mehr praktische Frage. Bebel hat sechs Stunden in glänzender Weise gegen Bernstein polemisiert. Ich frage: Wäre das geschehen, wenn wir voraussetzen könnten, daß Bernstein der einzige in unseren Reihen ist, der diese Theorien vertritt, wenn die Meinungsverschiedenheiten nicht aus dem Bereich der abstrakten Theorien herausgekommen wären? Wir sind eine praktische, politische Kampfpartei, und wäre nichts weiter vorgekommen als eine theoretische Abweichung von der übrigen Parteiauffassung bei einem Manne, mag er noch so verdient und bedeutend sein, eine solche Bebelsche Rede wäre nicht gehalten worden. Aber wir haben in unserer Partei eine Anzahl Genossen, die auf demselben Standpunkt stehen, und die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich nicht nur auf die Theorie, auf Abstraktion, sondern auch auf die Praxis. Es ist eine allbekannte Tatsache, daß wir seit etwa einem Jahrzehnt in unseren Reihen eine ziemlich starke Strömung haben, die im Geiste der Bernsteinschen Auffassung dahin strebt, unsere jetzige Praxis bereits als Sozialismus hinzustellen und so – natürlich unbewußt! – den Sozialismus, den wir erstreben, den einzigen Sozialismus, der keine Phrase und Einbildung ist, zur revolutionären Phrase zu machen. Bebel hat mit Recht wegwerfend gesagt, daß die Auffassungen Bernsteins so verschwommen, deutungsvoll sind, daß man sie nicht in einen festen Rahmen fassen kann, ohne daß er sagen kann, ihr habt mich mißverstanden. Früher schrieb Bernstein nicht so. Diese Unklarheit, diese Widersprüche hängen nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Richtung, mit dem Inhalt seiner Ausführungen zusammen. Wenn Sie die Parteigeschichte seit zehn Jahren verfolgen, namentlich die Parteitagsprotokolle studieren, so sehen Sie, daß die Bernsteinsche Richtung allmählich erstarkt ist, aber noch durchaus nicht zur Reife gelangt ist; ich hoffe, daß sie es nie wird. In ihrem jetzigen Stadium kann sie gar nicht über ihr eigenes Wesen klar sein, gar nicht die richtige Sprache für ihre Tendenz finden. So ist die Bernsteinsche Unklarheit zu erklären. Wie diese Bernsteinsche Richtung dazu führt, daß unser Sozialismus ein Mumpitz wird, dafür nehmen Sie ein kleines Beispiel aus den allerletzten Tagen. In einer Versammlung in München, die Stellung zu dem heutigen Parteitag nehmen sollte, hat ein Redner, indem er auf den Fall Schippel einging, folgendes gesagt: Schippel sprach über die Miliz, während unser Programm über die Volkswehr spricht – eine Unterscheidung, für die mir jeder Sinn fehlt; doch das ist nebensächlich. Dann sagt er: Zugunsten Schippels läßt sich das sagen, daß der eigentliche Sinn dieses Passus unseres Programms nur besagt, daß wir für die Gegenwart auf eine Verkürzung der Dienstzeit hinarbeiten müssen! Ich will der Milizdebatte der nächsten Tage nicht vorgreifen, sondern führe das nur an zur Charakteristik der Methode. Unser Minimalprogramm hat einen ganz bestimmten Sinn. Da wir wissen, daß der Sozialismus sich ohne weiteres, wie aus der Pistole geschossen, nicht durchführen läßt, sondern nur dadurch, daß wir in einem hartnäckigen Klassenkampfe auf wirtschaftlichem und politischem Boden von der bestehenden Ordnung kleine Reformen erreichen, um uns wirtschaftlich und politisch immer besserzustellen und die Macht zu erhalten, endlich der heutigen Gesellschaft das Genick zu brechen, sind unsere Minimalforderungen nur auf die Gegenwart zugeschnitten. Wir akzeptieren alles, was man uns gibt, aber fordern müssen wir das ganze politische Programm. ("Sehr richtig!") Der Genosse in München aber hat an Stelle des Punktes 3, welcher ausdrücklich die Forderung der Miliz enthält, die Forderung der Verkürzung der Dienstzeit als die praktische Forderung der Partei hingestellt. Wenn wir auf diese Weise einen geringen Teil aus unserem Minimalprogramm zu unserem eigentlichen, wirklichen Minimalprogramm machen, dann wird das, was wir jetzt als Minimalprogramm betrachten, zum Endziel, und unser wirkliches Endziel scheidet gänzlich aus dem Bereich der Wirklichkeit und wird tatsächlich zur "revolutionären Phrase". (Lebhafter Beifall.)
Vollmar hat mich der Ketzerrichterei bezichtigt auf Grund eines Antrages im dritten Berliner Wahlkreis, durch den ich die Freiheit der Kritik hätte unterdrücken wollen. Es ist nicht den Tatsachen entsprechend, wenn er von einem Antrag spricht, den ich gestellt haben soll. Es handelte sich um eine Heinesche Resolution, die vom Parteitag die Freiheit einer unbeschränkten Kritik forderte. Dazu bemerkte ich folgendes: Wenn Sie unter der Freiheit der Kritik nichts weiter verstehen wollen, als was jeder Mensch darunter versteht, so ist der Antrag nicht nur etwas ganz Überflüssiges, sondern direkt eine Ohrfeige für den Parteitag und die Partei. Ich sagte, keine einzige Partei gibt es, die die Freiheit der Kritik in so ausgiebigem Maße gewährt wie die unserige. Wenn Sie aber darunter verstehen sollten, daß die Partei im Namen der Freiheit der Kritik kein Recht haben sollte, zu gewissen Meinungen und Kritiken der letzten Zeit Stellung zu nehmen und durch Majoritätsbeschluß zu erklären: wir stehen nicht auf diesem Standpunkte, so muß ich dagegen protestieren, denn wir sind nicht ein Diskutierklub, sondern eine politische Kampfpartei, die bestimmte Grundanschauungen haben muß. (Lachen.)
Die Rede Schippels, besonders im ersten Teil, war eine Verteidigung des Militarismus, wie sie ein Kriegsminister ganz gut einer Militärvorlage beilegen könnte. (Heiterkeit.) Mir wurde hier mehrfach vorgeworfen, ich wäre in einer so unerwartet milden Weise aufgetreten, ich hätte mit einer so herzgewinnenden Milde gesprochen. Das kommt daher, weil ich allgemeinen theoretischen Debatten in bezug auf den Opportunismus nicht allzuviel praktische Bedeutung beimesse. Wichtig ist für mich die Bekämpfung der konkreten Erscheinungen des Opportunismus, und als solche betrachte ich vor allem die Stellung Schippels zum Militarismus. Für mich und auch für die Partei heißt es: Hic Rhodus, hic salta! Hier soll Schippel Rede und Antwort stehen.
Genosse Geyer hat gesagt, wenn wir auf unsere bisherige prinzipielle Gegnerschaft gegen den Militarismus verzichten, so würde das unsern Kampf sehr in die Länge ziehen. Nein, ich glaube, wenn wir auf den Kampf gegen den Militarismus in der bisherigen Form verzichten, dann können wir überhaupt einpacken, dann hören wir überhaupt auf, eine sozialdemokratische Partei zu sein. ("Sehr wahr!") Der Militarismus ist der konkreteste und wichtigste Ausdruck des kapitalistischen Klassenstaates, und wenn wir den Militarismus nicht bekämpfen, dann ist unser Kampf gegen den kapitalistischen Staat nichts als eine leere Phrase. (Beifall.) Ich will hier nicht auf den Ton der Schippelschen Artikel und auch nicht auf das Pseudonym eingehen. Ich glaube, er ist dafür schon genügend durch den maliziösen Druckfehlerteufel getroffen, denn, wie Sie bereits bemerkt haben werden, heißt es in dem Antrag Mergner, der seinen Ausschluß verlangt, Schippel habe sich gegen die Erziehung zur allgemeinen W ahrhaftigkeit schwer vergangen. (Heiterkeit.) Es soll natürlich "W ehrhaftigkeit" heißen. Ich will auch nicht auf die technische Seite der Milizfrage eingehen. Schippel sagt, Kautsky verstehe in diesen Dingen nicht einmal das Abc. Als ich das hörte, erschrak ich furchtbar, denn wie muß es um eine Partei bestellt sein, deren theoretischer Vertreter von einer der wichtigsten praktischen und theoretischen Fragen nicht einmal das Abc versteht! (›Sehr gut!‹) Wenn eine so hohe Bildung nötig ist, um die Milizforderung zu begreifen, daß nicht einmal ein Kautsky sich dazu emporschwingen kann, wie soll dann die Masse der Proletarier dies Postulat verteidigen! Ich betrachte eben die ganzen breiten Erörterungen Schippels über die technischen Fragen als ein Ablenkungsmittel, um unsere Aufmerksamkeit von der wichtigsten, der politischen Seite abzuwenden. Wir brauchen uns auf technische Einzelheiten schon deshalb nicht einzulassen, weil uns keine konkrete Vorlage zur Einführung der Miliz beschäftigt. Wenn wir eine solche Vorlage haben, würden wir eine Neuner-Kommission wählen, die darüber zu beraten hätte. (Heiterkeit.) Heute gilt es für uns, das Postulat in seiner allgemeinen Form aufzustellen und besonders auf seine politische Seite Nachdruck zu legen. Mit dem Argument, daß der Verteidigungskrieg sich notwendig in einen Angriffskrieg verwandelt und wir dazu stehendes Heer brauchen, hat sich Schippel wieder auf den Boden der üblichen Argumentation der deutschen Regierung gestellt, die den Angriff bloß als eine Form der Verteidigung hinstellt. Es würde Schippel schwerfallen, zu beweisen, daß das Milizsystem zur wirklichen Verteidigung in allen Formen nicht noch besser zu brauchen ist als die stehenden Heere.
Schippel hat in seinen Artikeln ausdrücklich hervorgehoben, daß der Militarismus eine wirtschaftliche Entlastung für uns sei, und heute hat er nachzuweisen gesucht, daß die Miliz jedenfalls keine wirtschaftliche Entlastung wäre. Die Zahlennachweise Schippels erscheinen mehr als zweifelhaft, aber selbst wenn die Miliz uns ebensoviel kosten würde wie der Militarismus, so könnten wir doch ruhig mit den beiden Händen für die Miliz stimmen, denn dann geben wir wenigstens unser Geld aus, um dafür ein Mittel der Verteidigung nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern auch gegen die inländischen Unterdrücker zu haben, dem Militarismus bringen wir aber die Geldopfer zu dem Zwecke, damit man uns erwürgt und unterdrückt. (›Sehr gut!‹)
Schippel ist ja nicht der einzige; ich verweise nur auf die Auersche Äußerung in Hamburg, auf Heine und auf Vollmars letzte Rede in München. Ich begreife nicht, wie jemand, der den Militarismus technisch für unentbehrlich und wirtschaftlich für eine Entlastung hält, so unlogisch ist, gegen die Militärausgaben zu stimmen. Da bleibt doch nur übrig, daß jene Genossen entweder früher oder später die Militärforderungen bewilligen, oder aber, daß sie ihren Standpunkt verlassen und sich auf den Boden unserer Milizforderung stellen. Jetzt allerdings lehnen sie die Militärforderungen noch ab, aber wenn ihre Auffassungen mehr an Boden gewonnen haben, dann werden sie schließlich auch für die Militärvorlagen stimmen. (Unruhe, Widerspruch und Zustimmung.)
Einige Genossen haben gefragt, ja wo ist der Opportunismus, von dem ihr gesprochen habt? Nun, Genossen, in den Äußerungen Schippels, Heines, Vollmars über den Militarismus haben Sie die beste Antwort. Dort ist der Opportunismus in der krassesten Form zum Ausdruck gekommen. Dagegen müssen wir vorgehen. Bitte, nehmen Sie meinen Antrag an, der die Schippelsche Auffassung zurückweist, und antworten Sie dadurch Schippel mit denselben Worten, die er uns zugerufen hat:
Fort mit dem Brei – Ich brauch' ihn nicht Aus Bappe schmied' ich kein Schwert!
Wenn ich mit wenigen Worten auf die Weltpolitik eingehe, so geschieht es nicht, um der Diskussion zu Punkt 7 vorzugreifen; ich will nur die praktische Frage streifen, ob die von unserer Partei in bezug auf den Chinakrieg entfaltete Agitation zu der Tragweite des Ereignisses in richtigem Verhältnis stand. Es ist unmöglich, darauf nicht mit Nein zu antworten. Freilich hat unsere Presse und voran der ›Vorwärts‹ sehr viel getan, um die Abenteuerpolitik der Regierung zu brandmarken. Aber das genügt nicht. Der Schwerpunkt der Agitation dürfte in diesem Falle nicht in der Presse liegen, die nur auf eine kleine Minderheit der Bevölkerung wirkt, sondern in der mündlichen Agitation, die in weite, unserer Bewegung noch fernstehende Kreise dringt; in dieser Beziehung ist aber sehr wenig geschehen. Bis jetzt haben wir es immer verstanden, auf reaktionäre Anschläge mit einer imposanten Volksbewegung zu antworten. Jetzt aber, wo Ereignisse eintreten, die an Tragweite alles von uns in den letzten zehn Jahren Erlebte übertreffen, Ereignisse, die einen Wendepunkt in der Geschichte des ganzen kapitalistischen Europas bilden, da ist keine planmäßige Agitation durch Protestversammlungen eingeleitet worden. Freilich forderte unsere Presse die Einberufung des Reichstags, eine Forderung, die für uns ganz selbstverständlich ist. Sollte aber diese Forderung unsere einzige Losung sein, so könnte man wirklich sagen, daß bei der Sozialdemokratie der große Berg der Weltpolitik ein lächerliches Mäuschen geboren hat. Denn von diesem Reichstag, der die Flottenvorlage bewilligt hat, konnte man doch voraussehen, daß er die treueste Stütze der jetzigen Weltpolitik sein wird. Wir können deshalb die Einberufung des Reichstags nur von dem Standpunkt aus betrachten, daß er die Tribüne unseres Protestes bildet. Nun fragt es sich aber, war es nicht tausendmal wichtiger, den Protest in Volksversammlungen zu tragen und sich direkt an die Massen zu wenden? Ich will dem Parteivorstand durchaus keinen Vorwurf machen, er hat triftige Gründe für alles, was er tut; ich bringe die Frage nur deshalb zur Sprache, weil sonst leicht Mißverständnisse über die Gründe entstehen könnten. So könnten z. B. Fernstehende den falschen Eindruck gewinnen, als ob wir eine vorwiegend parlamentarische Partei wären, die die größten weltgeschichtlichen Vorgänge nicht anders als durch ein paar Reden im Reichstag zu parieren weiß, oder es könnten schlecht Informierte zu der falschen Ansicht kommen, als ob unsere Partei, die doch in allen Fällen so interessante Protestbewegungen entfaltet hat, hier, wo es sich um einen blutigen Krieg des vereinigten kapitalistischen Europas gegen Asien handelt, sich so ruhig verhält, weil sie auf den offiziellen und nichtoffiziellen Chauvinismus zu viel Rücksicht nimmt, das wäre für uns natürlich fatal. Gerade weil ich weiß, daß unserem Vorstand nichts ferner liegt als eine Überschätzung der parlamentarischen Aktion oder Rücksicht auf den Chauvinismus, deshalb möchte ich, daß in Zukunft zu derartigen unbegründeten Vermutungen kein Anlaß gegeben wird. (Beifall.)
Ich habe allseitig Bestätigung gefunden für die Bemerkungen, die ich gestern zu dem Agitationsbericht Singers gemacht habe. (Fendrich ruft:›Sogar von mir!‹) Die Antwort Pfannkuchs hat mich belehrt, daß ich mich in meinem unverbesserlichen Optimismus bei dem Parteivorstand bitter getäuscht habe; denn was Pfannkuch zur Entschuldigung der Untätigkeit des Vorstandes gesagt hat, das war wirklich unter aller Kritik. Mit dem alten Ladenhüter, daß wir nicht ein Dutzend Bebels usw. haben, ist er wieder gekommen. Das ist immer die Antwort auf alle möglichen Beschwerden und Kritiken, so wie der Arzt bei Molière für alle Krankheiten nur ein Mittel kennt: Abführen und Klistier! (Heiterkeit.) Ich werde Ihnen zeigen, wie wir auch ohne die Vervielfältigung unserer agitatorischen Primadonnen Tüchtiges hätten machen können. 1. hätte man aus Anlaß des chinesischen Krieges ein Manifest herausgeben sollen, welches die weiten Kreise über die Ungeheuerlichkeit dieser Politik aufklären müßte. 2. hätten wir die mündliche Agitation einheitlich durch Direktiven seitens der Parteileitung und imposant gestalten können. Aber das ist es nicht allein. Der chinesische Krieg ist das erste Ereignis der weltpolitischen Ära, in das alle Kulturstaaten verwickelt sind, und dieser erste Vorstoß der internationalen Reaktion, der Heiligen Allianz, hätte sofort durch einen Protest der vereinigten Arbeiterparteien Europas beantwortet werden müssen. Die Initiative darin hätte gewiß die Partei nehmen müssen, deren Land im Kriege gegen China die führende Rolle hat. (Zuruf:›Paris!‹) Ich weiß, in einer Woche wird in Paris ein Protest beschlossen werden; aber es kommt doch nicht darauf an, daß die vereinigten sozialistischen Vertreter protestieren – von denen hat kein Mensch bezweifelt, daß sie geschworene Gegner des Krieges mit China sind –, sondern es kam darauf an, in allen Ländern die gleichgültigen Volksmassen aufzurütteln, und in dieser Beziehung fürchte ich sehr, daß unsere Partei nicht nur im eignen Land sich eine Unterlassung hat zuschulden kommen lassen, sondern auch in bezug auf die internationale Solidarität. Wir machen uns wirklich in weiten Kreisen der Bevölkerung lächerlich. Wir wettern jeden Tag gegen die Weltpolitik, wir donnern gegen den Militarismus in Friedenszeiten; wo es aber einmal wirklich zum Krieg kommt, unterlassen wir es, das Fazit zu ziehen und zu zeigen, daß unsere jahrelange Agitation auch wirklich in die Halme geschossen ist. Es ist wahr, die wichtigsten Ereignisse des chinesischen Krieges, die kaiserlichen Reden, die Absendung der Kriegsschiffe nach dem Orient, sind in die Ferienzeit gefallen. Aber um sich während eines folgenschweren Krieges, den Deutschland führt, Ferien zu gönnen, dazu muß man mindestens Reichskanzler sein; wir sind eine Oppositionspartei, und als solche muß man auf dem Posten sein. Ich bringe das vor, nicht um an Vergangenem Kritik zu üben, sondern weil wir aus der weltpolitischen Ära jetzt nicht mehr herauskommen; solche Ereignisse können jeden Tag geschehen, und da möchte ich, daß wir uns etwas mehr auf der Höhe zeigen. Wir werden in den nächsten Tagen über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen beraten und sie, wenn nicht alles trügt, beschließen. Der wichtigste Grund, wenigstens für mich, der einzig sympathische, der für die Beteiligung vorgebracht wird, ist doch der, daß wir neue Gebiete für unsere Agitation suchen müssen. Wie würde nun die Jagd nach neuen Agitationsgebieten aussehen, wenn wir unsere alten unbeackert lassen? Wo finden Sie eine bessere Gelegenheit zur Agitation als den Krieg, wo eine bessere Gelegenheit, die Massen aufzurütteln, als die neuesten Ereignisse? Hören Sie aber endlich einmal auf, uns mit den mangelnden Agitationsrednern aufzuwarten. Wenn ein einziger Redner genügte, um den Krieg einzuleiten, so werden wir wohl auch mit unseren Rednern eine Protestbewegung gegen den Krieg zustande bringen können, auch bevor sich unsere Bebels, Auers und Vollmars wie die Kaninchen vermehren.
Das meiste von dem, was der Referent vorgebracht hat, steht in so schroffem Widerspruch zu dem, was als offizielle Meinung der Partei in Stuttgart festgelegt ist, daß wir eigentlich einen Korreferenten hätten bekommen müssen. Leider ist es bei der Kürze der Zeit nicht möglich, alle seine Ansichten zu widerlegen. Ich kann mich nur auf wenige Punkte beschränken, um die Verkehrtheit des Calwerschen Standpunktes darzutun. Vor allem ist es mir zum erstenmal passiert, daß ich einen Referenten gegen seine eigene Resolution sprechen höre. (›Sehr richtig!‹) Er hat hier für die Schutzpolitik plädiert, während sich seine Resolution dagegen ausspricht. Er fordert in der Resolution die Ablehnung aller Zölle und aller Zollerhöhungen auf Lebensmittel, die möglichste Beseitigung, eventuell Herabsetzung der bisherigen Zollsätze bei der Neugestaltung des Zolltarifs, die Verwerfung aller zollgesetzlichen Maßnahmen, die einen engeren handelspolitischen Anschluß Deutschlands an andere Staaten erschweren. Und das fordert ein Genosse, der hier zugleich eine Rede gegen die Meistbegünstigungsklausel hält. Entweder wußte er nicht mehr, was er in der Resolution geschrieben hat, oder er hat sich an ein Thema herangewagt, das er nicht beherrscht. (Unruhe.) Jeder, der etwas von der Zollpolitik versteht, weiß, daß die Meistbegünstigungsklausel das erste und wichtigste Erfordernis des freien Handelsverkehrs ist. Seit der Ära der freien Handelspolitik ist die Meistbegünstigungsklausel der Grundsatz aller Handelsverträge, und gerade dank dieser Klausel hatte sich der Freihandel verhältnismäßig so schnell verbreitet. Wenn wir nun gegen die Meistbegünstigungsklausel sind, so binden wir uns damit schon ohne weiteres für den Schutzzoll, und wir würden, wenn wir Calwer folgten, nicht nur von unserem bisherigen Standpunkte abschwenken, sondern zu unserer größten Schande noch hinter den linksstehenden bürgerlichen Parteien zurückstehen. Calwer hat den Vorschlag gemacht, wir müßten gegenüber den bürgerlichen Freihändlern die Führung in dem bevorstehenden Kampfe um die Handelspolitik übernehmen; ich verstehe aber nicht, wie man jemand führen will, hinter dem man steht. Will man führen, so muß man vorausschreiten. Und Calwer hat ja selbst gesagt, daß sogar die ›Frankfurter Zeitung‹ sich nicht an die Meistbegünstigungsklausel heranwagt.
Auf alle Schnitzer, die der Referent gemacht hat, kann ich hier nicht eingehen. Er hat u. a. die Behauptung aufgestellt, daß in unserem Warenverkehr mit Amerika die Zölle nicht von Amerika, sondern von uns getragen werden. Eine solche wissenschaftliche Leichtfertigkeit ist mir noch nicht vorgekommen. Wer die Zölle trägt, das hängt von so vielen Umständen ab, daß von Jahr zu Jahr eine Schwankung darin eintritt. Mit einer solchen wissenschaftlichen Leichtfertigkeit sollte man sich doch nicht an ein Referat heranwagen. Der Standpunkt Calwers ist nicht mehr und nicht weniger als der des Grafen Kanitz, der Krieg gegen Amerika war seine Losung. Dieser Zusammenschluß der europäischen Staaten zu einem Zollbündnis gegen Amerika ist ein alter Ladenhüter aus dem Magazin der Agrarier und anderer Schutzzöllner. Weiter meint Calwer, wir sind noch nicht imstande, die Freihandelspolitik zu befolgen, weil Amerika nichts davon wissen will. Das ist der Standpunkt, den die Regierung immer in Arbeiterschutzfragen einnimmt, das ist ein echt bürgerlicher Standpunkt. Wir aber sagen: Was wir prinzipiell für richtig halten, damit fangen wir zunächst in unserem eigenen Lande an. Calwer steht im schroffen Gegensatz zu unserem Parteistandpunkte. So kann man nur sprechen, wenn man in der Zollpolitik auf nationalem Standpunkte, nicht aber auf dem internationalen steht. Wir haben die Pflicht, nicht nur die nationalen, sondern auch die internationalen Arbeiterinteressen im Auge zu behalten, wenn nicht das, was im Kommunistischen Manifest steht, Phrase sein soll, nämlich der Satz, daß die Sozialdemokratie die Interessen der gesamten Arbeiterklasse gegenüber einzelnen Gruppeninteressen vertrete. Wir müssen uns fragen, was für alle Arbeiter aller Länder von Nutzen ist, wir müssen die amerikanischen Schutzzölle bekämpfen, nicht nur im Interesse unserer Textilindustrie, sondern auch im Interesse der amerikanischen Arbeiter, denn sie haben ebensogut wie wir darunter zu leiden. Die amerikanischen Arbeiter wissen sehr wohl, daß die schutzzöllnerische Ära mit dem Imperialismus und der Reaktion verbunden ist. Also im gemeinsamen Interesse müssen wir uns gegen die Schutzzölle in Amerika und in Deutschland wenden. (Glocke des Vorsitzenden.) Ich bitte, mir das Wort noch etwas länger zu erteilen.
Eins hat mich bei den Ausführungen Vollmars überrascht: Vollmar, der gegen die Verstaatlichung spricht! Sieht so die "praktische Politik" aus? Halten es die praktischen Politiker auch mit ihren eigenen Dogmen so? Nun, dann sind sie nicht gefährlich. Calwer gegenüber fasse ich dahin zusammen, daß wir sein Referat als seine Privatmeinung betrachten müssen, dagegen die Resolution, die auf dem richtigen Standpunkt der Partei steht, ruhig annehmen können. Unser Standpunkt betr. die Handelsbeziehungen ist auf dem Stuttgarter Parteitag festgestellt, er hat sich nicht geändert, kann und wird sich hoffentlich nicht ändern.
Man führt gegen eine Festlegung zugunsten des freien Handelsverkehrs gewöhnlich an die internationale Rücksicht auf die Arbeiterklasse zurückgebliebener Industrieländer und die Rücksicht auf die Arbeitsverhältnisse noch schutzbedürftiger Industriezweige in Deutschland selbst. Das erste Argument beruht auf Unkenntnis der Verhältnisse. Man nennt dabei besonders Rußland als ein Land, dessen Industrie ohne Schutzzölle sofort zugrunde gehen würde. Jeder Kenner russischer Verhältnisse wird Ihnen sagen, daß die russische Industrie gegenwärtig gerade von dem geltenden Schutzzollsystem Schaden trägt. Die hohen Zölle schaffen den russischen Unternehmern allerdings wahnsinnige Profite, machen sie aber apathisch, initiativlos und völlig konkurrenzunfähig auf dem Weltmarkt. Am meisten leidet darunter wieder der Arbeiter, denn mit der Schutzzöllnerei besteht in Rußland primitive Arbeitsweise und Rückständigkeit im Arbeiterschutz, so daß die russischen Sozialdemokraten für Aufhebung der Schutzzölle eintreten. Sollen wir aber auf die industrielosen Balkanstaaten Rücksicht nehmen? Ebenso hinfällig ist der Hinweis darauf, daß in Deutschland einzelne Industriezweige des Schutzzolls noch nicht entraten können. Keine Reform hat alle einschlägigen sozialen Verhältnisse berücksichtigen können; auch bei Einführung der Gewerbefreiheit, bei jedem technischen Fortschritt werden eine Reihe Unternehmer ruiniert; trotzdem sind wir für die Gewerbefreiheit und technischen Fortschritt eingetreten, wenn auch eine Anzahl Existenzen dabei zugrunde gegangen sind. Man hat z. B. neulich in der Presse hervorgehoben, die Fabrikation von Spazierstöcken könne nicht die rauhe Luft der freien Konkurrenz ertragen. Nun, ich glaube, wenn die wichtigsten Industriezweige soweit sind, dann werden wir, wenn auch mit großem Seelenschmerz, über die Spazierstöcke hinwegschreiten.
Aber überhaupt ist es eine Übertreibung, wenn man behauptet, wir wollten erklären: Vom nächsten ersten April an sind sämtliche Schutzzölle aufgehoben. Wir sind überhaupt keine Draufgänger, sondern vernünftige Leute (Heiterkeit.), die, wenn sie erst die Macht haben, wohl verstehen werden, eine Reform vernünftig einzuführen. So wie wir die Verkürzung der Arbeitszeit stufenweise fordern, können wir uns auch die Abschaffung der Schutzzölle als eine Reihe von Reformen denken, die den betreffenden Industrieländern und Industriezweigen Zeit lassen, sich vorzubereiten. Daraus folgt aber nicht, daß wir eine Politik von Fall zu Fall oder von Umfall zu Umfall treiben dürfen, heute für Schutzzölle und morgen gegen, sondern wir müssen programmatisch die völlige Abschaffung der Schutzzölle fordern und daher gegen jeden neuen Zoll uns erklären. Daher habe ich mein Amendement eingebracht, das unsere Stellung präziser faßt.
Beide Kommissionen, die vierte und die fünfte, haben von Anfang an zusammen getagt, weil der Militarismus und die Kolonialpolitik gegenwärtig nur zwei verschiedene Seiten der einen Erscheinung Weltpolitik sind. Auf internationalen Kongressen ist der Protest gegen den Militarismus nichts Neues, in seinem richtigen Instinkt hat das Proletariat von jeher empfunden, daß es im Militarismus den Todfeind aller Kultur zu erblicken hat. Schon die alte Internationale hat mehrfach solche Proteste formuliert. Für uns handelt es sich aber nicht bloß um Wiederholung der früheren Beschlüsse, sondern darum, etwas Neues zu schaffen gegenüber der neuen Erscheinung der Weltpolitik. Die Rednerin schildert unter dem Beifall des Kongresses die Delirieren der Weltpolitik, den Mahlstrom der Kolonialpolitik, die in den letzten sechs Jahren vier blutige Kriege herbeigeführt haben. Dagegen dürfen sich die Sozialisten nicht mehr auf platonische Deklarationen beschränken. Bisher gab es nur auf ökonomischem Gebiet internationale praktische Aktionen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Arbeiter eines Landes von der Lage der Arbeiter anderer Länder ist frühzeitig zutage getreten und hat bereits in einer internationalen gewerkschaftlichen und auf den Arbeiterschutz gerichteten Aktion Ausdruck gefunden. In politischer Beziehung war der enge Zusammenhang der Interessen der Arbeiter verschiedener Länder viel weniger greifbar. Allein auch hier hat die Weltpolitik einen Umschwung herbeigeführt. Derselbe Militarismus, Marinismus, dieselbe Jagd nach Kolonien, dieselbe Reaktion überall und vor allem eine permanente internationale Kriegsgefahr oder wenigstens ein Zustand permanenter Animositäten, in den alle wichtigen Kulturstaaten gleichmäßig verwickelt sind. Damit ist aber eine neue Grundlage für eine gemeinsame politische Aktion geschaffen. Der Allianz der imperialistischen Reaktion muß das Proletariat eine internationale Protestbewegung entgegensetzen. Die Resolution enthält praktische Vorschläge dazu. Es ist nicht viel, was wir in Vorschlag bringen: Die sozialistischen Abgeordneten sollen nur überall verpflichtet werden, gegen jede Ausgabe für die Zwecke des Land- und Wassermilitarismus zu stimmen, und die vom Kongreß geschaffene permanente Kommission soll in Fällen von internationaler Tragweite, wie es z.B. im Chinakrieg war, eine gleichförmige Protestbewegung in allen Ländern ins Leben rufen. Wird aber dies wenige genau ausgeführt, so werden wir sicher einen großen Fortschritt in den internationalen Beziehungen zu verzeichnen haben. Allein nicht nur vom Standpunkte des alltäglichen Kampfes gegen den Militarismus erscheint jetzt eine internationale Annäherung der Arbeiterparteien dringend geboten, sondern auch aus Rücksicht auf unser sozialistisches Endziel. Immer mehr wird es wahrscheinlich, daß der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung nicht durch eine ökonomische, sondern durch eine politische, durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis erfolgen wird. Vielleicht wird die Herrschaft der kapitalistischen Ordnung noch lange dauern. Aber einmal, früher oder später, wird die Stunde schlagen, und damit uns der entscheidende Augenblick der großen Rolle gewachsen findet, ist es notwendig, daß das Proletariat aller Länder sich durch ständige internationale Aktion auf diesen Augenblick vorbereitet. Möge dieser Kongreß die Losung dazu ausgeben, möge er an das internationale Proletariat den Appell richten:›Proletarier aller Länder, in Erwartung des gemeinsamen entscheidenden Kampfes gegen die kapitalistische Ordnung vereinigt Euch zum gemeinsamen alltäglichen Kampfe gegen die militaristische, die weltpolitische Reaktion.‹ (Beifall.)
Über den Vorschlag des Parteivorstandes war ich sehr überrascht; ich bin sonst gewöhnt, daß unser Vorstand seinen großen Einfluß und seine Kraft darauf verwendet, unsere altbewährten Prinzipien und Gepflogenheiten in jeder Beziehung aufrechtzuerhalten und in diesem ehrenden Sinne konservativ zu wirken. Nun sehe ich ihn mit jugendlichem Übermut uns eine wichtige Neuerung vorschlagen. Bis jetzt habe ich aber weder aus den schriftlichen Erklärungen des Vorstandes noch aus der mündlichen Erklärung von Bebel ausreichende Gründe dafür heraushören können. Man sagt, wir wollen bestimmte wichtige finanzielle und technische Fragen untereinander besprechen, und wir halten es nicht für nötig, daß die bürgerliche Presse diese Debatten in alle Welt hinausträgt und ihre Glossen dazu macht. Nun, ich glaube, wir waren bis jetzt allen diesen Unannehmlichkeiten im reichsten Maße ausgesetzt, und wir sind daran nicht zugrunde gegangen. Bebel beruft sich auf geschichtliche Vorgänge aus den 60er und 70er Jahren, aber erstens waren wir damals nicht eine so große Partei wie heute, und zweitens, wozu wäre der Fortschritt da? Wenn wir einmal den Schritt von den geschlossenen Sitzungen zur vollen Öffentlichkeit gemacht haben, wozu sollen wir diesen Fortschritt rückgängig machen? Wir waren bis jetzt von allen politischen Parteien die einzige, welche alle ihre Angelegenheiten auf offenem Marktplatz verhandeln konnte, ohne sich der Tatsachen, auch auf finanziellem Gebiete, schämen zu brauchen. Das war für uns sehr wichtig und ließ sich sehr gut agitatorisch ausnutzen, und ich glaube nicht, daß wir aus den bisher angeführten Gründen auch auf diesen agitatorischen Vorzug verzichten dürfen. Ich glaube, Sie sind mit mir der Meinung, daß wohl der schönste Augenblick auf allen Parteitagen derjenige ist, wo Singer das Wort zur Schlußrede ergreift (Heiterkeit) und mit berechtigtem Stolz sagt: Man zeige mir diejenige Partei, die imstande wäre, einen solchen heftigen Meinungskampf im vollen Licht der Öffentlichkeit auszukämpfen. Wir müßten sehr wichtige Gründe haben, um unseren unvergleichlichen Vorsitzenden um die schönste Stelle seiner Schlußrede und uns um den genußreichsten Moment des Parteitages zu bringen. (Große Heiterkeit.) Wir wollen lieber auch in dieser Beziehung die Alten bleiben.
Genosse Anseele hat in seiner Rede die Äußerung getan, daß die zu beschließende Resolution den großen europäischen Parteien eine Taktik aufoktroyieren wolle, die durch die Abstimmung von Vertretern solcher Nationen bestimmt werde wie Rußland, Polen, Bulgarien, Spanien und Japan. Er hat dabei bemerkt, daß er, Anseele, an Stelle der Delegierten dieser Länder vielmehr sich der Abstimmung enthalten würde über die Fragen, die die großen europäischen Nationen angehen. Im Namen der russischen Sozialdemokratie, der polnischen Sozialdemokratie, der spanischen Arbeiterpartei, der bulgarischen Arbeiterpartei und der Sozialdemokratischen Partei Japans protestieren wir gegen diesen Versuch, die Kongreßmitglieder in aktive und passive zu scheiden und sozusagen ein europäisches Konzert der sozialistischen Großmächte zu bilden, das allein das Recht hat, über grundlegende Fragen des internationalen Sozialismus zu entscheiden, gez.: Plechanow, Luxemburg, Iglesias, Katayama, Rakowski. (Beifall.)
Kein einziger Redner hat Jaurès' Haltung verteidigt. Was hat man diese zwei Tage anders gemacht als Jaurès verurteilt, obwohl man ihn angeblich nicht verurteilen wollte. Das ist die historische Bedeutung dieser drei Tage. Jaurès warnt vor Aufstellung allgemeiner Regeln, die doch nicht innegehalten werden können. Seit wann ist Jaurès so gewissenhaft? Wiederholt haben er und seine Freunde Kongreßbeschlüsse übertreten. Was können wir andres tun, als Regeln für die praktische Taktik aufzustellen. Unterlassen wir das, welche Bedeutung haben dann noch Kongresse, unsre internationale Solidarität? Jaurès macht aus dem Klassenkampf, aus der internationalen Solidarität eine Phrase. Renaudel ist nur der Kugelfänger Jaurès'. Wenn ein sozialistischer Minister in einer bürgerlichen Regierung seine Grundsätze nicht durchführen kann, so ist es eine Sache der Ehre, abzutreten; wenn ein Revolutionär in einer gemäßigten Partei seine Grundsätze verleugnen muß, so gebietet seine Ehre ihm zu gehen. Ich will die Renaudelsche Einheit nicht; die Zerrissenheit ist bedauernswert, aber sie ist da. Und nichts ist revolutionärer, als zu erkennen und auszusprechen, was ist. Vollkommene Resolutionen sind noch nie gemacht. Die Dresdner Resolution ist nicht bloß ein Stück Papier, sondern eine historische Tatsache, ein Symbol; nehmt sie an und Ihr erweist der Sache des Sozialismus einen großen Dienst!
Robert Schmidt hat mehrmals betont, daß es zwischen Partei und Gewerkschaften in Deutschland keinen Gegensatz geben könne. Tatsächlich darf es einen solchen Gegensatz nicht geben, aber wenn Erscheinungen in der Arbeiterbewegung dazu angetan sind, einen solchen Gegensatz zu schaffen und zu schüren, so hat uns gerade die Rede von Schmidt bewiesen, daß es wohl Elemente gibt, die dahin arbeiten. (›Sehr richtig!‹) Denn was war anders die Zentralachse der Rede von Schmidt, der sich eine Stunde erbeten hat, um seine Haltung in der Maifeierfrage zu rechtfertigen, die Redezeit aber dazu benutzt hat, eine unerhörte Hetze gegen die "Neue Zeit" und die Theorie zu halten. ("Sehr richtig!") Und zwar war diese Hetze mit so unschönen Mitteln geführt, wie wir sie nur bei den ärgsten Gegnern aus dem bürgerlichen Lager kennen. ("Sehr richtig!") Kautsky, der eigentlich berufen ist, für die "Neue Zeit" zu reden, ist gegenwärtig in der Fünfzehnerkommission beschäftigt, ich fühle mich verpflichtet, an seiner Stelle einige Tatsachen vorzuführen, die die Methode von Schmidt in seinem Kampf gegen die "Neue Zeit" beleuchten. Auch die Vorwürfe des "Vorwärts" sind ja ausgeklungen in den wehmütigen Klagelaut: Ach, wie schade, daß die "Neue Zeit" nicht genügend für die theoretische Durchbildung der Massen arbeitet! Der "Vorwärts" ist so beschäftigt, daß er das nicht tun kann. Zu denjenigen, die bereit sind, alle Augenblicke zu bedauern, daß die "Neue Zeit" so wenig verbreitet ist, gehört wahrscheinlich auch Robert Schmidt, aber dieselben Leute ergreifen mit dem größten Eifer jede Gelegenheit, gegen die "Neue Zeit" zu arbeiten und sie herunterzureißen. So sagte Schmidt wörtlich, es sei ein Glück, daß nicht mehr Arbeiter die "Neue Zeit" lesen. Ich frage, wie kann ein Parteigenosse, ein Reichstagsabgeordneter der Sozialdemokratie sich hinstellen und solche Äußerungen wagen gegen die "Neue Zeit", das einzige wissenschaftliche Organ, um die deutschen Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen! ("Sehr gut!") Die "Neue Zeit" soll zu wenig Artikel über gewerkschaftliche Fragen bringen. Ich habe hier das Verzeichnis der gewerkschaftlichen Artikel, die die "Neue Zeit" im letzten Jahre, abgesehen von den Artikeln über den Massenstreik, gebracht hat, ich werde mit Beweisen in der Hand vorgehen, denn in bezug auf Wahrheitsliebe und Zitierkunst Robert Schmidts ist das sehr angebracht. Im letzten Jahre also schrieb in der "Neuen Zeit" in Nr. 2 Legien über ein Jahrzehnt gewerkschaftlicher Bewegung, in Nr. 9 Umbreit über Arbeiterkammern, in Nr. 20 Schnetter über den Zunftgedanken in den Tarifverträgen, in Nr. 27 Umrath über die Generalstreikdebatte, in Nr. 28 Umbreit über gewerbliche Friedensschwärmerei, in Nr. 33 Kloth über Generalstreik und Maifeier auf dem Gewerkschaftskongreß in Köln, in Nr. 33 Hermann Müller über eine Fusion auf gewerkschaftlichem Gebiet, in Nr. 34 Heinrich Beer über Gewerkschaft und Partei, in Nr. 34 Kautsky über eine Revision der gewerkschaftlichen Taktik, in Nr. 36 Kautsky über den Kongreß in Köln, in Nr. 41 Hoch über die christliche Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, in Nr. 47 Ströbel über Gewerkschaften und sozialistischen Geist, in Nr. 48 Fleißner über Partei und Gewerkschaft. ("Hört! Hört!") Allerdings, in dieser ziemlich langen Liste finden Sie weder den Namen Robert Schmidt noch Hue, noch den des zur besseren Erkenntnis bekehrten v. Elm. ("Sehr gut!") Wenn Sie diese Namen finden wollen, dann suchen Sie nicht in der "Neuen Zeit", dann suchen Sie in den "Sozialistischen Monatsheften" oder noch einen Schritt weiter in der "Neuen Gesellschaft" oder noch weiter in dem nunmehr entschlafenen "Europa" von Herrn Michalski und Ed. Bernstein. (Heiterkeit und "Sehr richtig!") Dafür schreiben sie, aber nicht für die "Neue Zeit", und dann kommen sie, die ihr Geisteslicht in andere Blätter hintragen, stellen sich hin und sagen, die "Neue Zeit" bringt nichts über Gewerkschaften, es sei ein Glück, daß sie nicht mehr gelesen wird.
Schmidt hat unter anderem behauptet, wenn schon jemand über Gewerkschaften in der "Neuen Zeit" schreibt, so ist das gewiß ein so gottverdammter Theoretiker, der nichts von der gewerkschaftlichen Praxis versteht, und als Beweis zitiert er einen Artikel des bekannten Theoretikers Fleißner aus Dresden (Heiterkeit) und einen zweiten des noch bekannteren Theoretikers, des Bäckergesellen Fischer aus Weimar. (Erneute Heiterkeit.) Und wie versteht Schmidt zu zitieren? Er verliest den Satz: "Nun muß ganz naturgemäß das Streben für die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter im heutigen Staat dazu beitragen, die Existenz dieses Staates zu verlängern, denn je wohler es den einzelnen Gliedern eines Staatswesens geht, desto weniger werden diese Glieder dafür zu haben sein, eine Änderung des Staatswesens herbeizuführen." Hier klappt er schnell das Buch zusammen und sagt: Ja, sehen Sie, solche Ansichten werden in der "Neuen Zeit" verbreitet. Hier hat aber der Artikel nicht angefangen, und hier war er nicht zu Ende. Der Verfasser ging zunächst auf die damals aktuelle Frage ein, ob die Neutralität der Gewerkschaften überhaupt eine neue Erfindung, ein Rezept wäre, das erst den Gewerkschaften zu empfehlen sei, oder ob das nicht eine alte Praxis der Gewerkschaften sei. "Die Gewerkschaften", sagte zunächst der Verfasser, "haben sich stets dagegen verwahrt, wenn irgend jemand sie als Organisationen der sozialdemokratischen Partei, als sozialdemokratische