Meine schönsten Novellen, Band 3 - Theodor Storm - E-Book

Meine schönsten Novellen, Band 3 E-Book

Theodor Storm

0,0

Beschreibung

Theodor Storm war gehört zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern. Besonders seine vom Leben in Norddeutschland erzählenden Novellen im Stil des deutschen Realismus gehören zu den Literaturklassikern. In diesem Band finden Sie: Es waren zwei Königskinder Geschichten aus der Tonne Hans Bär Hans und Heinz Kirch Hinzelmeier Im Brauerhause Im Nachbarhause links Im Saal Im Schloß Im Sonnenschein

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meine schönsten Novellen, Band 3

Theodor Storm

Inhalt:

Theodor Storm – Biografie und Bibliografie

Es waren zwei Königskinder

Geschichten aus der Tonne

Hans Bär

Hans und Heinz Kirch

Hinzelmeier

1. Kapitel - Die weiße Wand

2. Kapitel - Der Zipfel

3. Kapitel - Die Rose

4. Kapitel - Krahirius

5. Kapitel - Der Eingang zum Rosengarten

6. Kapitel - Ein Meisterschuss

7. Kapitel - Die Rosenjungfrau

8. Kapitel - Nachbars Kasperle

9. Kapitel - Der Stein der Weisen

Im Brauerhause

Im Nachbarhause links

Im Saal

Im Schloß

Von der Dorfseite

Im Schloß

Die beschriebenen Blätter

Ein anderer Tag

Es wird Frühling

Im Sonnenschein

1.

2.

Meine schönsten Novellen, Band 3, T. Storm

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636920

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Theodor Storm – Biografie und Bibliografie

Dichter und Novellist, geb. 14. Sept. 1817 zu Husum in Schleswig, gest. 4. Juli 1888 in Hademarschen, studierte Rechtswissenschaft in Kiel und Berlin, wo er mit dem Brüderpaar Theodor und Tycho Mommsen in nähere Verbindung trat, und ließ sich nach abgelegter Staatsprüfung 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt nieder, verlor aber 1853 als Deutschgesinnter sein Amt und ward hierauf erst als Gerichtsassessor in Potsdam, dann als Landrichter zu Heiligenstadt im Eichsfeld angestellt. Nach der Befreiung Schleswig-Holsteins ging er 1864 nach Husum zurück, wo er zunächst zum Landvogt, 1867 zum Amtsrichter und 1874 zum Oberamtsrichter befördert wurde. Seit 1880 als Amtsgerichtsrat im Ruhestand, siedelte er nach Hademarschen (Kreis Rendsburg) über. S. nimmt unter den neuern Lyrikern, besonders aber unter den Novellisten eine hervorragende Stellung ein. Als ersterer führte er sich mit dem im Verein mit den beiden Mommsen herausgegebenen »Liederbuch dreier Freunde« (Kiel 1843) in die Literatur ein; »Sommergeschichten und Lieder« (Berl. 1851) und ein Band »Gedichte« (das. 1852, 15. Aufl. 1906) folgten nach. Besonders letztere brachten ihm stets wachsende Anerkennung ein. Der Dichter S. erweist sich als eine tiefsinnige, dabei frische und warmblütige Natur, die den tausendmal besungenen uralten Themen der Lyrik den Stempel des eigensten Gefühls ausdrückt. Reicher und mannigfaltiger noch sind seine Novellen. Der zuerst in den »Sommergeschichten und Liedern« veröffentlichten vielgelesenen Novelle »Immensee« (Sonderausg., Berl. 1852; 62. Aufl., das. 1906) ließ er zahlreiche andre Erzählungen und Novellen folgen, die sämtlich Stimmungsbilder von einer Tiefe, Zartheit und Kraft der Empfindung sind, wie sie nur eine ursprüngliche und echte Dichternatur schaffen kann. Der Kreis des Lebens, den er darstellt, ist eng, aber innerhalb dieses engen Kreises waltet Lebensfülle und Lebensglut; der norddeutsche Menschenschlag mit seinem tiefinnerlichen Phantasie- und Gemütsreichtum findet sich in Storms Geschichten in einer fast unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Charaktere geschildert. Dabei ist seine Vortragsweise künstlerisch sein und durchgebildet. Die Titel seiner meist vielfach ausgelegten Novellen sind: »Im Sonnenschein«, drei Erzählungen (Berl. 1854); »Ein grünes Blatt«, zwei Erzählungen (das. 1855); »Hinzelmeier« (das. 1857); »In der Sommermondnacht« (das. 1860); »Drei Novellen« (das. 1861); »Leonore« (das. 1865); »Zwei Weihnachtsidyllen« (das. 1865); »Drei Märchen« (Hamb. 1866; später u. d. T.: »Geschichten aus der Tonne«); »Von jenseit des Meeres« (Schleswig 1867); »Zerstreute Kapitel« (Berl. 1873); »Novellen und Gedenkblätter« (Braunschw. 1874); »Waldwinkel etc.« (das. 1875); »Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links« (das. 1877); »Aquis submersus« (Berl. 1877); »Carsten Curator« (das. 1878); »Neue Novellen« (das. 1878); »Eekenhof. Im Brauerhause« etc. (das. 1880); »Die Söhne des Senators« (das. 1881); »Der Herr Etatsrat« (das. 1882); »Schweigen« und »Hans und Heinz Kirch« (das. 1883); »Zur Chronik von Grieshuus« (das. 1884); »Ein Bekenntnis« (das. 1887); »Der Schimmelreiter« (das. 1888) etc. Außerdem besitzen wir von S. eine wertvolle kritische Anthologie: »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius« (4. Aufl., Braunschw. 1877). Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien in 19 Bänden (Braunschw. 1868–89; letzte Ausg. in 8 Bdn., das. 1905). Seinen Briefwechsel mit Mörike gab J. Bächtold heraus (Stuttg. 1891), den mit Emil Kuh dessen Sohn Paul in »Westermanns Monatsheften«, Bd. 67 (1890), den mit Gottfried Keller Köster (Berl. 1904). Vgl. Erich Schmidt, Theodor S., in den »Charakteristiken«, Bd. 1 (2. Aufl., Berl. 1902), und in der »Allgemeinen Deutschen Biographie«, Bd. 36; Schütze, Theodor S., sein Leben und seine Dichtung (das. 1887, 2. Aufl. 1907); Ad. Stern, Studien zur Literatur der Gegenwart (3. Aufl., Dresd. 1905); Remer, Theodor S. als norddeutscher Dichter (Berl. 1897); Gilbert, Theodor S. als Erzieher (Lübeck 1904).

Es waren zwei Königskinder

Es ist ein Erlebnis, das ich heut erzählen will; nicht mein eigenes, es ist mir selbst erzählt worden, aber von so lebendiger Erinnerung getragen, daß ich nur hätte nachzuschreiben brauchen.

Mitte Juli war es, eine laue Sommernacht; wir saßen mit unseren Gästen auf der Terrasse unseres Landhauses, und soweit die hellen nordischen Sommernächte es gestatteten, lag um uns her der Garten schon in Duft und Dämmer; nur am Himmel über uns strahlte im Sternbilde des Perseus der prächtige Algol. Wir hatten lebhaft geplaudert, etwas philosophisch sogar, über kleine Ursachen und große Wirkungen. »Soll es doch geschehen sein«, sagte der alte Doktor, »daß nachts eine Maus über die Nase einer königlichen Geliebten gesprungen ist, und der König hat darüber eine große Schlacht verloren!«

Wir lachten; aber das steigende Dunkel löschte das Gespräch allmählich aus. Mein Vetter, der Musiker, der sich die Erlaubnis zu einer langen Pfeife ausgebeten hatte, hielt seine Augen auf den funkelnden Stern gerichtet und blies schon lange schweigend seine Rauchwolken gen Himmel. »Ja«, sagte er jetzt, wie zu sich selber, »wenn man nicht näher zusah, so war es auch nur ein Rausch - ein Räuschlein! - Meine nächsten Freunde vom heiligen Konservatorium, wo sind sie? Man soll sich in acht nehmen; es liegt uns überall im Wege!«

»Was faseln Sie da, Fritz?« frag unser Doktor leise.

»Ich fasele nicht, lieber Doktor, aber es ist so wunderbar um uns; man möchte den Toten einmal Gehör geben; ich habe es Ihnen vor Jahren, da es mich eben stark geschüttelt hatte, auch wohl schon erzählt!«

Der Doktor schwieg einen Augenblick. »Das mit dem jungen Marx?« sagte er dann.

Mein Vetter nickte.

»Sie haben recht, Fritz, und wenn die Erinnerung Sie drängt, so erzählen Sie es jetzt auch den andern; ich mein, es ist jetzt eine rechte Stunde, und ein gutes Gedenken könnte, wenn man so sagen dürfte, auch denen wohltun, welche nicht mehr sind.«

»Wollen wir das annehmen!« erwiderte Fritz, und da auch wir anderen in ihn drangen, so begann er:

»Schon fast zwei Jahre war ich auf dem Konservatorium in *** gewesen, da wurde es mir eines Tages klar, daß für hochbegabte Musiker dort vielleicht sehr viel, für Leute meines Schlages aber trotz der besten Musik, die dort gemacht wurde, verzweifelt wenig zu holen sei; denn eine feste, das Ganze beherrschende Methode der Technik fehlte dem Klavierunterricht dort zu jener Zeit - das ist auch heute noch meine Ansicht, und die Anstalt war seit mehreren Dezennien unter der Direktion eines alten Herrn geblieben, der als Klavierlehrer nur die anstellte, die ihm von den besten Sachkundigen nicht empfohlen waren. Jetzt mag das alles ja ganz anders sein.

Damals aber - nach Beratung mit Gleichgestimmten und nach eingeholter väterlicher Erlaubnis - ging ich Ostern 187* nach Stuttgart, wo die Hochschule der Musik unter Faißts Direktion und mit der Lebert-Starkschen Methode viele Schüler hinzog; zumal auch Liszt - so hieß es - wesentlich nur dort Gebildeten sich musikalisch annahm. Bald war ich geprüft und aufgenommen und hatte Silberburgstraße Nr. 21 bei einem nachdenklichen Schneider meine Wohnung eingerichtet; die Möbelausstattung war etwas dürftig, aber das Zimmer recht groß, und das Pianino, das ich rasch gemietet hatte, klang in dem leeren Raume prächtig.

Noch entsinne ich mich des Morgens, da die erste Stunde für Harmonielehre bevorstand; ein grimmiges Gewitter entlud sich über der Stadt; mir war, als hätte ich solche Donner zuvor noch nie gehört. Ich stand in Zweifel, ob ich gehen sollte; denn ich besaß keinen Regenschirm. Endlich ließ es nach, und ich machte mich auf den Weg. Ein etwas unzufriedener Blick des Lehrers empfing mich bei meinem Eintritt: an ein Zuspätkommen schien man hier nicht gewöhnt zu sein.

In derselben Reihe mit mir saß ein junger Mann, dessen schönes Antlitz während des Vortrages unwillkürlich meine Aufmerksamkeit auf sich zog; unter dunkelgelocktem Haar wandten zwei milde braune Augen sich ein paarmal zu mir. Als wir nach dem Ende des Unterrichts auf die Straße getreten waren, regnete es wieder. »Sie haben keinen Schirm«, sagte er freundlich, indem er auf mich zukam; »wo wohnen Sie? Ich werde Sie nach Hause bringen!«

Ich dankte ihm, und wir gingen unter seinem Schirm meiner Wohnung zu; unterwegs erfuhr ich, daß er der Sohn eines Musikdirektors aus Basel sei, dessen Namen ich später mehrfach in Werken über Musik getroffen habe. Aus seinem Antlitz wie aus seinen Worten sprachen Güte und Verstand; ich fühlte, ich sei bei einem Überlegenen, der gleichwohl diese Eigenschaft mir gegenüber nur gebrauchen werde, mir zu helfen, mich zurechtzuweisen. Und so geschah es auch; obwohl ihm später viel Fertigere zur Wahl standen, er spielte am liebsten doch mit mir; ich sah es bald, wie alle, die ihm näherstanden, ihn verehrten.

Aber« - unterbrach sich der Erzähler - »ich muß um Nachsicht bitten, daß ich bei ihm verweile, denn von einem andern wollte ich erzählen; es ist nur - er ist nach einem kurzen Glücke jung gestorben, und die Leere, die mir sein Tod gelassen, empfinde ich noch immer.

Da wir schon meiner Wohnung nahe waren, kam aus einer Nebengasse mit nervöser Hastigkeit, mit stapfigen Schritten ein junger Mann auf uns zu, von gelblicher Gesichtsfarbe und schlichtem schwarzem Haar; seine dunkeln Augen, die er forschend auf mich richtete, schienen fast zu zittern. »Auch ein Konservatorist!« flüsterte mein neuer Freund mir zu; »der Vater ist ein Schwabe, der als angesehener Gelehrter in Metz lebt; daß wenigstens seine Mutter eine Französin ist, sehen Sie wohl selbst.«

Indessen stand er vor uns. »Ah, Walther!« rief er, »wen schleppst denn du da mit dir durch die Stadt?« Er zog seinen kleinen Hut, der, wie seine übrige Kleidung, recht durchnäßt war; denn auch er trug keinen Schirm.

»Kommen Sie, bis der Regen nachläßt, mit in meine Wohnung« sagte ich, ihn begrüßend, »da können wir Bekanntschaft machen, denn auch ich gehöre zu Ihrem Orden.«

Er warf flüchtig den Kopf zu mir herum: »Haben Sie denn auch die Nerven zu dem alleinseligmachenden Anschlag mitgebracht? Es kommt hier auf ein Menschenleben nicht groß an!«

»Ich hoffe«, sagte ich lachend; dann stiegen wir die drei Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Der Halbfranzose beguckte, lebhaft mit seinen Fingern spielend, die Bilder vom verlorenen Sohn, die nebst König und Königin an der Wand hingen, sah dann durch Seine Brille aus dem Fenster in den noch tröpfelnden Regen, dabei unterweilen den Kopf nach mir zurückwendend; dann trat er plötzlich zu mir, musterte meine lange Figur von den Fußspitzen bis zu meinem blonden nordischen Haupte und sagte lebhaft: »Sacré nom de Dieu, Walther! Wo hast du diesen Senfkerl eingefangen?«

»Was bin ich?« Ich wollte schon aufbrausen, aber Walther trat dazwischen: »Wir haben ein gelindes Rotwelsch unter uns: Senfkerl, Senfmädchen ist bei uns der Superlativ vom Allerbesten, und Marx oder alias Lavendel - denn er kann nicht ohne Wohlgerüche leben - redet gern in diesem Idiom. Darüber dürfen Sie ihm nicht zürnen, er ist mein guter Freund!«

»Sans doute! Sans doute!« rief der Halbfranzose; »aber siehst du, Walther - kennen Sie den schon?« unterbrach er sich und wandte sich zu mir. »Nun, Sie werden Ihre Freude an ihm haben! Aber ich meine, Sie sind unser vierter Mann; abends für unsere Versammlungen, wenn bei einer Pfeif Tobak Kopf und Hände wieder zur Ruhe kommen sollen! Der Franz, unser Dritter, das ist der Humorist, man sieht es kaum dem Blondkopf an - Sie werden ihn schon kennenlernen! Aber jetzt, sincères amis, gebt euch die Hände, und hier ist die meine! Smollis! Um Entschuldigung, wie ist Ihr Name?«

»Aber, lieber Herr«, sagte ich etwas verlegen, nachdem ich mich genannt hatte, »geht das bei Ihnen in Frankreich so geschwinde? Wir haben uns ja erst in diesem Augenblick gesehen.«

»Ach, Frankreich!« sagte er; »mein Vater ist ein Deutscher, aus dem gesegneten Lande Schwaben!« Und seine nicht großen Augen leuchteten vor Zärtlichkeit.

Es half eben nichts; ihm war nicht zu widerstehen, Walther und Marx waren meine Duzbrüder.

So war der Anfang unserer Bekanntschaft.

Ich hatte bald empfunden, daß hier ein ernster Geist regiere, der jeden nicht gar zu Trägen mit sich reißen mußte; nur die Übung am Klavier beschäftigte uns je drei, ja wohl gar vier Stunden am Vormittage und ebenso am Nachmittag. Abends waren dann unsere »Versammlungen«, die wir wechselsweise auf unseren Stuben abhielten; da wurde geraucht und über das, was uns in den theoretischen Stunden vorgekommen war, ein Quantum hingeredet; auch gesungen wurde bisweilen: unser Hauptstück war ein Terzett a capella, das von Franz, mit dem ich bald zusammengeführt war, auf seinem Zimmer vorgelegt wurde. »Tropfen von Tau«, den milden Anfang hatte es, Melodie und Komponisten habe ich vergessen, ich meine, es war für Frauenstimmen, und wir stiegen dabei eine Oktave tiefer; aber wir sangen es, wie Franz, unser Dirigent, bemerkte, umstandsverhältnismäßig schön; auch Marx war einer von den Sängern.

Eines Mittsommerabends waren wir bei Franz; die Pfeifen brannten, die schlecht geputzte Lampe hatten wir des Qualms wegen tief hinabgeschraubt; Walther war nicht da, er wohnte bei einer alten Tante und war dadurch mitunter abgehalten. Marx und ich rauchten schon unsere zweite Pfeife, da - klatsch! ging es, und Franz hatte seinen Morgenschuh ausgezogen und ihn über sich gegen die niedrige Decke geworfen. »Hol der Teufel den Bäcker und seine schwarzen Teufelsdinger!« rief er.

»Was rasest du?« sagte ich und blickte mich in der dämmerigen Stube um; aber Scharen von jenen häßlichen großen Küchenschaben, wie sie bei Bäckern - der Hauswirt war ein solcher -ihren liebsten Heimsitz haben, huschten mit ihrer spukhaften Hastigkeit blitzschnell über Deck' und Wände.

»Potz Himmeltausendsakramenter!« rief ich; wir waren alle aufgesprungen; der eine nahm den Stiefelknecht, der andere riß den Handleiter vom Klavier, Franz zog auch den zweiten Schuh vom Fuß, und nun begann eine Jagd: Klitsch, klatsch! Und die Schaben, die ihr Loch nicht finden konnten, waren unsere sichere Beute; auf Tisch und Stühlen lagen ihre zerquetschten Leiber, das Bett war völlig übersäet. Das Jagdfieber ergriff uns immer mehr; wir sprangen vor- und rückwärts, gegeneinander und um uns selber; das Nachtgezücht rannte an uns empor, über unsere Kleider, auf unser Gesicht, und wir schlugen es auf uns selber tot. Aber schon genügte uns der enge Schauplatz nicht mehr; wir rannten zur Stube auf den Flur hinaus, die Mordinstrumente in den Händen; überall waren Schaben; dann die Treppe hinab; Marx trug die Lampe, der Qualm flog aus dem Glaszylinder - da plötzlich im unteren Hausflur öffnete sich eine Wand, es mag wohl eine Tür gewesen sein, und die dicke Gestalt des Hauswirtes stand im baren Hemde vor uns; das bärbeißige Gesicht mit den buschigen Brauen über den kleinen Augen betrachtete uns voll Grimm und Staunen:

»Ho, ho, ihr Herre, was geit's denn? Se alarmieret jo 's ganz Haus! Lasset Se das Zinselwerk und ganget Se hoim!«

Aber Franz legte feierlich die Hand auf seine Schulter. »Mann!« sagte er, »ein Dankgebet wäre Ihrem Munde ziemlicher gewesen als so nichtsnutzige Reden; kommen Sie mit in mein Gemach und inspizieren Sie dort die Leichen; wir haben Ihnen zum mindesten fünfhundert Schaben totgeschlagen!«

»Totg'schlage?« wiederholte der Mann und lachte grimmig. »Die hättet Se kenne lebe laun!«

»Den Teufel auch!« rief Franz. »Ich mag nicht mit ihnen leben.«

»Ach, Herr Franz, d'Schwobe hänt mer no nia nex vo meim kurze Schlof abisse!« Damit schlug er verdrießlich seine Tür wieder zu und verschwand dahinter, Gott weiß, wohin.

»Der Mann hat keinen Sinn für Höheres!« sagte Franz, und wir gingen etwas abgekühlt nach seinem Zimmer zurück. »Aber was nun, meine Lieben?« begann er wieder. »Schlafen kann ich nicht unter diesen Toten, und, wie mir deucht - sie stinken auch ganz erklecklich! Aber - mich erleuchtet der Geist: die Nacht ist schön. Schaben gibt es draußen nicht - machen wir einen Männerspaziergang!«

»Einen Spaziergang?« wiederholte Marx zögernd, der nach dieser Aufregung recht jämmerlich dreinsah. »Ich bin müde, Franz, und habe morgen vormittag um zehn Uhr Klavierstunde; komm mit mir, du kannst auf meinem Sofa schlafen!«

»Nein, nein, edler Lavendel, gute Gedanken dürfen nicht auf Sofas verschlafen werden. Kommt nur! Durch Kannstatt nach Waiblingen, wo die Wachtturmtreppe so eng ist, daß die Witwe des alten Turmwarts sich anstandshalber mit dem neuen Wächter verheiraten mußte, da sie wegen ihrer Dicke nicht mehr hinunterkonnte! Unser nordischer Freund muß nebenbei auch Schwaben kennenlernen!«

Mit einem Wort, er drängte so, daß wir beiden andern uns endlich bereit erklärten und die Treppe mit ihm hinabstiegen. Als wir unten waren, stürmte er noch einmal hinauf, kam aber sogleich mit einer Notenrolle wieder herab.

»Was hast du denn geholt?« frag ich.

»Das Allernotwendigste«, sagte er und hob die Rolle in die Höhe, »unser Terzett!«

Nun gingen wir auf die Gasse; es mochte nach elf Uhr sein; die Juninacht war schön, einige Sterne funkelten über uns; aber auf Erden war's doch dunkel. So marschierten wir zur Stadt hinaus; die Nachtkühle brachte ihre erfrischende Wirkung, und schon auf der Chaussee rief Franz: »Was meint ihr, mir ist, als müßten wir einmal singen!«

»Ja, aber was denn?«

»Was anders als unser Terzett!«

»Aber dazu brauchen wir Licht, wir können's ja nicht auswendig.«

»Alles vorgesehen«, erwiderte Franz, zog sein Schnupftuch hervor und entwickelte daraus ein Kästchen mit Zündhölzern und einige Stümpfchen Stearinlichts. Wir warfen uns auf einen Haufen von Chausseesteinen, der am Wege lag; die Lichter wurden angezündet und daraufgeklebt, Franz hatte die Stimmen verteilt und taktierte mit der Hand: »Eins, zwei!«, und: »Tropfen von Tau!« - unser Terzett strahlte wie ein Stern durch die einsame Juninacht.

»Schön!« sagte Franz, indem er die Stimmen wie der einsammelte. »Doch nun vorwärts!«

Marx wollte die beiden Lichter ausblasen, aber er wehrte ihm. »Laß,« sagte er. »Zur Freude der Nachtwanderer, die nach uns kommen!«

So ließen wir sie brennen und marschierten weiter. Da stieg zu Osten unten über den Eßlinger Bergen ein gelber Mond empor; zugleich schlug eine Nachtigall, und ein Schauer zog durch die Obstbäume, die am Wege standen.

De la nuit j'aime le silence:

Doux rossignols, chantez pour moi!

sang Marx mit halber Stimme; dann faßte er mich unter den Arm, drückte ihn und sagte zitternd: »Nord und Süd! Wir kommen doch zusammen!«

Noch mehrmals sahen wir zurück nach unseren Lichtern, bis die schwache Helle nicht mehr zu uns reichte; dann marschierten wir durch Kannstatt; es muß nach Mitternacht gewesen sein, die Stadt war totenstill. So suchten wir denn einiges Leben hineinzubringen; unsere Stöcke schwingend, tralate jeder von uns seine eigene Melodie. Da schlurfte es heran. »He, Sie! Was machet Se denn für en Heidespektakel? Des ischt hie net der Brauch!« scholl eine rauhe Stimme, und eine Gestalt mit Speer und Tuthorn hatte sich vor uns hingepflanzt.

»Mann der Nacht«, sagte Franz. »Lassen Sie uns, wir fahren jetzt gen Waiblingen.«

Der Wächter sah verächtlich nach unseren Stiefeln: »Fahre? Und da hent Se's Schusters Rappe dazue eing'spannt?«

»Ganz recht, Liebwertester, aber« - und Franz konnte, wenn es ihm nötig schien, ein gar fürnehmes Wesen vortun - »Er kennet uns wohl nicht? Wir sind fahrende Sänger, falls Er von solchen jemals etwas sollte gehört haben; Er aber ist ein Zuberklaus, und wir wünschten ihm Verstand und gute Wacht!«

Damit schritten wir rüstig weiter und dem andern Tore zu, aber noch lange hörten wir den Wächter schelten.

Draußen malte jetzt der Mondschein die Schatten der Bäume quer über die Chaussee; hinten aus der Stadt schlug es von den Türmen eins. Als wir etwa eine Stunde wacker zugeschritten waren, regte sich etwas in mir, das ich alsbald und zweifellos für Hunger anerkennen mußte; denn seit acht Uhr hatten wir wohl alle nichts gegessen. Aber in Waiblingen! Die Wecken mußten bei unserer Ankunft gerade fertig sein. Ich griff in meine Tasche, fand aber nur vier lose Kreuzer. »Halt!« rief ich, »ich spüre einen Männerhunger.«

Alle standen still. »Warum redst du nur davon!« sagte Franz. »Der Teufel hol, nun fühl ich auch der gleichen.«

»Aber du hast doch Geld zu dir gesteckt?«

»Versteht sich!« rief er und fuhr zuversichtlich in seine Tasche; aber das geöffnete Portemonnaie ergab nur sieben Kreuzer. »Hm!« sagte er, »daß ich bei der Ausfahrt nicht an das schändliche Metall gedacht habe! Aber« - und er sah uns lachend an - »im Grunde war es auch egal gewesen, ich führe doch allzeit mein Vermögen in der Tasche.«

»Ihr seid auch ewig hungrig!« murmelte Marx.

Franz nickte ihm zu: »Das verstehst du nicht, Lavendel, du nährst dich nötigenfalls von Schnecken und Knoblauch, wir mögen das nicht! Sieh lieber einmal nach dem Wesentlichen in deinen Taschen!«

Sie wurden umgekehrt, und als Summe unseres Gesamtvermögens ergaben sich dreizehn Kreuzer. »Das reicht für die Morgenwecken!« rief Franz. »Und nun vorwärts auf die alte Hohenstaufenstadt!«

Und weiter ging es, und allmählich begann der Mond zu blassen, und ein leises Morgendämmern zog durch die Welt. Nach zweistündiger Wanderung scholl ein dumpfer Glockenton zu uns herüber. »Hört ihr's?« rief Franz. »Die Glocke von Waiblingen schlägt drei Uhr, nun sind die Wecken fertig!«

»Da halte ich auch mit«, sagte Marx; »euer Schwätzen hat mich angesteckt!«

Franz klopfte ihm auf die Schulter: »Siehst du, Halbfranzöschen, nun wird dein Vaterteil lebendig.«

Bald hatten wir die alte Stadt erreicht; die finsteren Giebel sahen auf uns herab, und die engen Gassen führten uns bergauf, bergab. Aus einem geöffneten Fenster wehte der lockende Duft von frischgebackenem Brote auf uns zu, und da ich aufblickte, sah ich zwei Engel eine goldene Brezel uns entgegenhalten; aus dem Fenster drang ein schwacher Lichtstrahl auf die Gasse. »Koin Schritt gang i weiter!« sagte ich schwäbelnd und klopfte an die Scheiben des geschlossenen Fensters. Auch die andern stützten sich auf ihre Wanderstäbe, des Erfolges gewärtig. Und nach einer Weile fuhr der Kopf eines Mannes durch die Fensteröffnung mit weißer Linnenmütze und gutmütigen, noch etwas verschlafenen Augen und sah uns der Reihe nach voll Verwunderung an. »Ah, meine Herre«, sagte er dann, »Se send ja scho früeh auf!«

»Ja, Meister, und wir sind schon von Stuttgart kommen!«

»Ei der Tausend, scho vo Stuegert? Des wär!«

»Ja freilich; aber saget, sind denn die Wecken fertig? Wir haben Hunger!«

»No net, ihr Herre, aber bald! Send Se no so guet und ganget Se derweil in d'Stube!«

Und rasch war die Haustür geöffnet, und wir traten in ein großes Zimmer, in dessen Verlängerung wir auf den Backofen sahen. Ein köstlicher Duft strömte von dort auf uns zu, und in Erwartung der Wecken setzten wir uns auf die Holzbänke, die um einen groben Tisch an der Wand entlangliefen. Der Meister ging zwischen uns und dem Ofen hin und wider, bald aber schüttete er aus seiner weißen Schürze einen Haufen Wecken vor uns hin und schob ein großes hölzernes Salzfaß, das auf dem Tische stand, in unsere Nähe. Ha, wie uns die in Salz getauchten Wecken schmeckten, und wie taschenspielerartig wir sie verschwinden ließen! Auch Marx hielt tapfer mit, und seine blaßgelben Wangen röteten sich von dem warmen Brote. Noch einmal mußte der Meister Sukkurs aus dem Ofen holen, dann blieb er am Tische stehen und sah vergnüglich unserer Mahlzeit zu.

»Liebwerter Meister«, sagte Franz, als alles gesättigt war, und sah ihn zärtlich an, indem er sich den Schnurrbart wischte: »Sie glauben nicht, welche Saukerle in Ihrer Zunft sind, selbst wenn man ihnen tausend Schaben totschlägt! Sie aber haben sich der unzeitigen Gäste wie ein Vater angenommen; dafür soll Ihnen auch ein Hochgenuß bereitet werden. Wir gehören nämlich zu dem immer seltener werdenden Orden der fahrenden Sänger!« Damit griff er in die Tasche, reichte uns die Stimmen, dann bewegte er die Hand: »Eins, zwei!«, und »Tropfen von Tau!« klang es; wir sangen, der Meister faltete die Hände über seinem Bauch, lächelte uns an und taktierte schließlich mit dem Kopfe.

»Schön; aber schön!« sagte er endlich, »no der Tenor«, und er sah mit bescheidener Schlauheit zu uns auf, »der Tenor kommt mir e bissele schwach für!«

Marx strich sein dunkles Haar sich von den Schläfen; denn er war der Tenor. »Das macht der Text, Meister«, sagte er, »das darf man nur so spinnewebenartig singen, wenn's nicht zerreißen soll.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, murmelte Franz.

»Ja freile«, sagte der Bäcker; »die Herre verstandet des besser, und schön isch gewea, des laß i mir net nemme! Mer hänt hie au en G'sangverein, aber der goht no im Sommer manchmal furt, wisset Se, wenn's e Fahnenweih oder so ebbes geit. I g'hör au derzue, weil i zu dene Ausflug d' Wecke und d' Hörnle liefere mueß.«

Ein schelmisches Lächeln lief über das hübsche Antlitz unseres Dirigenten. »Nun, Meister«, sagte er, »wir müssen weiter, aber wir sollen unsere Wecken noch bezahlen!«

Aber der gute Mann wehrte mit beiden Händen ab: »Descht mei Sach. 's ischt alles scho in Richtigkeit, und jetzt danki ebe reacht schöa für den schöne Morgegrueß!« Und somit geleitete er uns zur Haustür.

»Ein prächtiger alter Herr«, sagte Franz, da wir draußen auf der Gasse standen; »das Frühstück hätten wir uns ersungen, wo kriegen wir nun den Kaffee? Die geretteten dreizehn reichen dazu nicht.«

Es gab ein Hin- und Widerreden, ich wollte nach Haus, aber ich wurde überstimmt. Marx zog seine Uhr. »Nordischer Siebenschläfer!« rief er und wies gen Osten in eine Nebengasse, »sieh nur, wie dort die Sonne schon am Himmel tanzt! Im nächsten Dorfe lebt mir ein Gastfreund, das heißt: ein Krugwirt, der mich im Frühjahr auf seinem Wagen ein Stück Weges mitnahm und mich dann mit einem Schnaps traktierte; dort laßt uns um den Kaffee singen!«

»Akzeptiert! Vorwärts zum Kaffee!« rief Franz, und wir schritten alle die buckelige Straße hinunter. Es war noch erste Morgenstille, die Schatten der alten Häuser lagen auf den feuchten Steinen, nur am Markte rauschte ein Brunnen aus drei kleinen Röhren, und aus dem Fenster eines oberen Stockwerks sah ein Mädchen auf uns herab, das braune Haar um die verschlafenen Augen, einen Besenstock in der Hand.

Marx streckte die Arme gegen uns: »Halt!« sagte er leise, »Franz, die Stimmen.«

Im Augenblicke standen wir um den Brunnen, und: »Eins, zwei! - Tropfen von Tau!«

Die Dirne sah lachend zu uns nieder und drückte sich den Besenstock ans Herz; wir aber warfen die Augen zu ihr empor und sangen nicht ohne Innigkeit das Stück zu Ende. »Leb wohl, schönes Kind!« rief Marx, da wir die Stimmen wieder abgaben, »leb wohl, und laß den Tag dir Süßes bringen!«

»Leb wohl! Leb wohl!« riefen auch wir andern, und sie nickte noch einmal, blutrot in ihrem schmucken Angesicht, und verschwand im Dunkel des Gemaches. Wir aber schritten bald zum Tor hinaus, die Lerchen sangen schon, und wie leise Melodie tönte das Rauschen der Rems zu uns herüber. »Linele!« murmelte Marx und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Was, Linele? Hieß die Linele? Bist du auch hier bekannt?« frug Franz.

»Ei was, ich sprach nur zu mir selber.«

»So? - Nun, Lavendel, das mußt du nächstes Mal dabeisagen. Übrigens scheinst du dich mit sträflichen Geheimnissen zu befassen!«

Marx tat, als ob er nichts gehört habe, und ging strack voran. Bald hatten wir ein Dorf erreicht - den Namen habe ich vergessen -, in der offenen Tür eines Hauses, unter einem Schilde mit einem roten Ochsenkopf, stand, von den schrägen Sonnenstrahlen angeschienen, ein grauköpfiger Mann in Hemdsärmeln und mit weißer Zipfelmütze. »Mein Gastfreund«, sagte unser Halbfranzose, und »Grieß Gott, Herr Marx!« rief der Wirt und streckte ihm die runde Hand entgegen und schüttelte sie kräftig. »Wisset Se no, wia mer mit anander g'fahre send? Se hent wölle nach Stuegert aufs Konservatori! Wo kommet Se denn ietzt gar so früeh scho her? Aber wöllet die Herre net rei'spaziere? D' Luft goht kuel vom Tal her.«

Wir traten in die große leere Gaststube, Franz warf seinen Ziegenhainer auf den Tisch und sagte mit Würde: »Drei Glas Pomeranzen, Herr Wirt.«

Ich erschrak: »O weh, unsere armen dreizehn!« Aber Franz hatte in diesen Dingen stets die Oberleitung.

Der Wirt hantierte schon an seinem Flaschenbort und setzte die Gläser vor uns auf den Tisch. »No«, sagte er zu Marx, »wie goht's? Was machet Se denn? Se send e bißle schmäler worren do rum«, und er strich sich mit dem Finger um seine runden Backen.

Marx nahm sein Glas und nippte: »Ach, Herr Wirt, das ist vom selben, mit dem Sie mich dazumal erquickten. Ja, mich anlangend«, fuhr er fort, »wir drei, wie Sie uns hier sehen, gehören zu dem jetzt so seltenen Orden der fahrenden Sänger, aber wir hoffen frischen Schwung hineinzubringen.«

»Des wär! Ei, was Se saget!« sagte der Wirt und schaute uns mit unglaublich dummen Augen an.

»Sie scheinen Zweifel zu hegen, lieber Mann«, nahm jetzt Franz das Wort und sah ihn mit Würde durch seine Brille an; »es ist Ihnen auch nicht gerade zu verdenken, aber - liebe Sangesbrüder, habt die Güte!« Und er verteilte wiederum die Stimmen.

»Ei was, machet Se koine G'schichte!« rief unser Wirt; »i han jo net da mindeschte Zweifel.«

Aber schon taktierte Franz: »Eins, zwei!« und »Tropfen von Tau!« scholl es in so reinem Dreiklang; ich weiß nicht, half uns der Morgen, der so hell in die Fenster schien; mir war, wir hätten's niemals noch so schön gesungen.

Der Wirt hatte beide Hände auf den Tisch gestemmt und sah uns bewegungslos mit seinen runden Augen an. »Noi, so was!« rief er. »Ebbes so Schönes! Wo hent Se des denn profitiert? Aber halt!« Und er schlug mit der Faust auf den Tisch. »I hol mei Weib! Ah, wia di jung gwea isch, hot se au g'sunge wie a Lerchele! Und mei Tochter, dia hot Klavierstund beim Lehrer hie. Gelt, so singet's uns no emol!«

Er wollte davontraben, aber Franz hielt ihn zurück. »Warten sie, Herr Wirt, wir singen's Ihnen schon gern noch einmal wieder; aber, wissen Sie, hier? In der ordinären Gaststub? Es geht schon auf fünf Uhr, es könnten Leute kommen - das paßt sich nicht für unsern Stand.«

»Ja, ja«, sagte der Wirt, »i hör, i begreif scho, aber kommet Se no nauf in die ober' Stub, in unser guete Stub, da wird's schon gehe!«

Franz warf uns einen triumphierenden Blick zu, und der Wirt führte uns eine Treppe hinauf in eine leidlich möblierte Stube mit niedriger Decke, worin sich außer den Bildern von König und Königin auch eine Art von hartem Sofa vorfand. Dann lief er fort und kam bald mit einer sauberen Fünfzigerin und einem etwa zehnjährigen Mädchen in die Stube. Sie sagten beide ihr »Grieß Gott!« und setzten sich auf Stühle neben der Tür, während der Wirt am Pfosten stehen blieb. Aber als wir kaum die ersten zwölf Takte hinter uns hatten, wurde das Gesicht der Wirtin schon lebendig; sie schlug mit den Händen auf ihre runden Knie und sah aus ihren feurigen Augen liebevoll zu uns herüber. »Wisset Se!« rief sie, da wir eben einen brillanten Schluß gemacht hatten, »mer hent e Hauzich heut im Dorf! Das wär e Fraid, wann Se do singe tätet! 's ischt en alte Liabschaft, 's Bräutigams Vater hot net wolle, und er hat's Guett g'hett; aber jetzt leit er drüben aufm Kirchhof und heut lasset sich de Junge z'sammegebe. Des wär halt schön von dene Herre, wenn mer do so a paar Liedle könnt z'höre kriege! Und a Tänzle? Do werdet Se au nix dagege han!«

Ich sah schon, daß dem Franz die Lust zu Kopfe stieg; auch dem Wirt gefiel der Vorschlag, und beide Eheleute drängten jetzt, wir sollten bleiben. »Nu, nu«, sagte der Ehemann endlich, da keine reine Antwort von uns kam, »verakkordieret's mit enander!« Damit zog er seine Frau zur Tür hinaus, während das Dirnlein sich hinterdrein drängte.

»Das geht nicht«, sagte Marx bestimmt, »um zehn Uhr habe ich Klavierstunde, ich muß nach Haus.«

Franz sagte nichts, aber er saß verdrossen auf dem Sofa und kaute an einem Strohhalm, er konnte sein Gelüsten offenbar noch nicht verwinden.

»Liebster Dirigent«, sagte ich, da auch mir des Abenteuers nun genug schien, »gedenkst du wirklich den fahrenden Sängerorden mit unserem einen Terzett gegen eine ganze Bauernhochzeit aufrechtzuerhalten?«

Er warf den Kopf zurück, und ein sieghaftes Lächeln flog über sein junges Antlitz; denn schwere Schritte und ein Klirren von Tassen und Löffelchen kam draußen die Stiege herauf. »Der Kaffee! Beim Zeus, der Kaffee!« rief er fröhlich; »du hast recht, Nordmann, wir müssen gehen!«

Und da erschien er und erfüllte das Zimmer mit seinem belebenden Morgenduft; eine dicke Magd trug ihn, die Familie folgte. »Nu, ihr Herre!« rief der Wirt, »was hent Se ausg'macht?«

Aber Franz erklärte, nicht ohne Feierlichkeit, daß eine Versammlung der fahrenden Sänger uns auf den Abend unabkömmlich mache.

Die Frau wollte sich nicht zufriedengeben; sie hatte die Augen immer noch auf unsern schmucken Dirigenten; der Wirt aber rief: »Nu, Weib, wenn's emol net sei ka! Schenk dene Herre ihre Schale voll, se hent no en weite Weag z'mached.«

Ich glaube, nimmer noch hat mir ein Kaffee so geschmeckt, wie Wonne zog es mir durch alle Glieder; dann aber fragten wir nach unserer Schuldigkeit.

Die guten Leute wurden fast zornig, als Franz in frevlem Übermut den Finger auf den Tisch stützte und aufrechnend frug: »Drei Portionen Kaffee?«

Mir fiel das Herz dabei völlig - salva venia - in die Hosen; aber, Gott bewahre! Nur für die drei bestellten Pomeranzen, weiter waren wir nichts schuldig!

Unter vielem Dank und Händeschütteln verabschiedeten wir uns, und da wir nachzählten, waren noch fünf Kreuzer in unserer Reisekasse. Wir fühlten endlich, daß wir unsere Kräfte ausgegeben hatten, und gingen ohne viele Worte unseren Weg zurück; nur Franz sagte noch einmal wie zu sich selber: »Neun Kreuzer und ein Terzett!«

Etwa halb zehn Uhr vormittags langten wir in meiner Wohnung an. »Nicht einen Schritt weiter!« rief Franz und warf sich auf mein Sofa; »hier laß ich's nachten und auch wieder tagen!« Ich warf mich, wie ich war, aufs Bett; ich glaube, es war die größte Müdigkeit meines Lebens. »Und du, Marx?« frug ich.

Er saß zusammengesunken auf meinem Klavierbock und sah hundselend aus. »Laß mich noch ein Viertelstündchen!« erwiderte er; »um zehn Uhr muß ich zur Klavierstunde!«

Wir suchten es ihm auszureden, aber er ging wirklich.

Wie ich später von dem Lehrer hörte, hatte er gerade damals vortrefflich gespielt; aber was es ihm an Nervenkapital gekostet, davon hat er nicht geredet. - Franz und ich schliefen, bis am andern Morgen früh die Hähne krähten.

So lebten wir im ersten Jahre miteinander zusammen in frischem Jugendübermut, jeder für sich in gewissenhafter Arbeit, Marx in peinlichster Pflichterfüllung. Im Winter wurde ein größerer Verein gestiftet - »Drehorgel« hieß er -, wo man einmal in der Woche im Wirtshaus zusammenkam; Zweck und Inhalt waren dieselben wie bei unsern kleinen »Versammlungen«, die aber deshalb nicht gestört wurden.

Von den drei Freunden hatte sich derzeit Marx am festesten an mich geschlossen; wir sahen uns fast täglich. Aber er war nicht eben ein bequemer Freund, obgleich er mit fast kindlicher Liebe an mir hing, denn das leiseste Wort konnte ihn verstimmen, er war von krankhafter Reizbarkeit; zumal seine Abhängigkeit von der Meinung anderer über ihn war völlig quälend. War ihm dergleichen zugekommen, dann, wenn er abends nach der Versammlung mich nach Hause geleitete, faßte er krampfhaft meinen Arm, zitterte und knirschte mit den Zähnen und redete unendlich und immer eifriger über die meist recht gleichgültige Sache. »Nicht wahr, du fühlst es! Du, du fühlst es doch auch, daß ich es nicht ertragen kann!« Ich hörte meist geduldig zu, oder mitunter hörte ich auch nicht, oder ich sagte: »Laß doch den Plunder, du könntest dich um drei Kreuzer noch ins Tollhaus reden.« Dann wurde er eine Weile still, aber es half doch nicht. Nie vergesse ich den Abend, da unser gemeinsamer Klavierlehrer, ein wahrer Vater seiner Konservatoristen, ihn in der Nachmittagsstunde, ich weiß nicht mehr wie, auf den Tod sollte beleidigt haben; der Mensch sollte ihm vor die Pistole, der Unterricht zum mindesten sollte aufhören! Ich entsinne mich noch, daß ich schließlich die Nachtklingel an einer Apotheke ziehen mußte, um Brausepulver für ihn zu kaufen, und daß ich ihn in seiner Wohnung selber noch ins Bett packte. Er machte die Sache anderntags auch wirklich beim Direktor anhängig, und der gute Professor schrieb ihm dann: »J'attends Monsieur Marx pour sa leçon de Vendredi, je lui promets de ne pas le manger et d'oublier même sa singulière façon de me mettre à la porte.« - Wir andern lachten, und so war dieser Fall geschlichtet.

Marx hat mir einmal angedeutet, er sei, da er zum Musiker bestimmt gewesen, schon als Kind zu übermäßigem Klavierspiel angetrieben worden, er habe nachher oft seine kleinen Hände nicht stillhalten können; vielleicht lag hier der Urquell dieser Zustände. Überdies trank er den stärksten Kaffee, bevor er sich des Morgens ans Klavier setzte, und rauchte scheußlich schweren Tabak, den er sich in grünen Blättern von einer Muhme in Lahr zu holen pflegte. Nun war in den ersten neuen Frühlingstagen auch noch jener Seufzer: »Linele!«, den wir bei unsrer Sängerfahrt zum ersten Mal von ihm gehört hatten, zu einer vollgerechten Liebschaft ausgewachsen. Allmählich hatte er alles mir anvertraut: die allerliebste Tischlermeistertochter wohnte ihm gerade gegenüber, durch die Fenster hatten sie sich zuerst gesehen, dann angesehen, blutrot und unter starkem Herzschlagen, dann hatten kleine Handbewegungen und Blumentöpfe ein Verständnis vermittelt; er hatte ihr ein Konzertbillett gesandt und, nachdem endlich die ewige Musik zu Ende gewesen, das junge blonde Kind durch manche überflüssige Gassen nach ihrer Wohnung hingeleitet. In sein Notizbuch, das er mir eines Tages aufgeschlagen in die Hand drückte, hatte er das alles deutsch und französisch durcheinander hingeschrieben: »Sa robe flottante résonna comme une harpe éolienne! Und wie ich den schön geformten Arm an meinem Herzen fühlte! Es zitterte mir ins Gehirn hinauf, und alles Denken wurde ausgelöscht. Wenn ich nur wüßte, ob sie gleicherweis empfunden hat!«

Es stand noch mehr in diesem Büchlein: »Am 2. Mai: Ich habe sie geküßt! Es ist zwar nicht zu glauben; aber es ist dennoch wahr.

»Wie kannst mi nur so lieb habe?« sagte sie.

»Weshalb nicht? Bist du nicht das süßeste Geschöpf zum Liebhaben?Í

»Ach, i weiß ja, i bin ja gar net schön!«

Da nahm ich das liebe Wesen und hielt es ein wenig von mir und sah sie an; ich hatte selbst noch nicht daran gedacht. »Nein, Linele« - ihre Augen schienen von meinen Lippen lesen zu wollen - »schön bist du wohl nicht; aber weißt du, was hübsch ist? Ich glaub, Linele, du bist wunderhübsch!«

Sie blickte mich ganz verworren an: »Was sagst, Adolf? des verstand i net.«

Und das Gesichtel sah so reizend dabei aus.

»Wenn ich es nur versteh, herztausiger Schatz!« rief ich fröhlich und küßte sie zum zweiten Mal.

»Ja freili, Adolf; aber jetzt sei brav; gelt?«

Wo ist das Ende? Je ne pourrai jamais la laisser!«

Aber diese Liebe ließ ihn seine Pflicht niemals versäumen; wie eine Madonna erfüllte das Linele die Phantasie des Liebenden; sie war ihm Antrieb und Wächterin für alles Gute. So konnte denn auch der Handel den nächsten Freunden nicht verborgen bleiben; wenn wir auf sein Zimmer zur Versammlung kamen, unterließ wohl keiner, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, ob sich nicht etwa drüben der unschuldige Mädchenkopf bei der Gardine vorbeuge.

Es war Mitte Mai, und die Dämmerung war eben angebrochen, als ich mit Franz und Walther zu Marx ins Zimmer trat; er stand vor seiner offenen Schatulle und kramte in einem Pappkasten, in dem er allerlei Zierlichkeiten und Schnurrpfeifereien zu bewahren pflegte; durch das offene Fenster sahen wir drüben die weiße Gardine sich bewegen.

»Was machst du, Marx?« fragte einer.

»Bitte, tretet ein wenig leiser!« sagte er, »ihr sollt mir singen helfen!« Dann nahm er drei kleine mit Rosen bemalte Wachskerzen aus seinem Schatzkasten, zündete sie an und klebte sie vor dem offenen Fenster auf die Fensterbank, wo sie bei der Stille der Luft ruhig weiterbrannten.

»Was sind das für Anstalten?« frug Walther. »Was sollen wir denn singen? Ein Ave Maria?«

Marx hob beschwichtigend seine Hand: »Setz dich ans Klavier, Walther; ihr andern stellt euch neben mich! - »Es waren!« raunte er dann zu Walther hinüber.

Wir wußten Bescheid; wir hatten seit unserer Sängerfahrt außer den »Tropfen von Tau« noch andere Lieder gesungen und brauchten keine Noten. Bald standen wir an Marx' Seite vor dem Fenster, und in gedämpftem Tone klang das alte Lied in den Maiabend hinaus:

Es waren zwei Königskinder,

Die hatten einander so lieb,

Sie konnten beisammen nicht kommen,

Das Wasser war viel zu tief.

»Ach, Liebster, kannst du schwimmen,

So schwimm doch herüber zu mir;

Drei Kerzchen will ich anzünden,

Die sollen leuchten dir!«

Unserem Marx standen die dicken Tränen in den Augen, er war völlig »verturnt«, wie wir zu sagen pflegten; er drückte uns allen krampfhaft die Hand und warf sich dann in eine Sofaecke; drüben aber hatte die Gardine sich nicht mehr geregt.

Seit jenem Abend wurde das

für uns vier zum Signal; wir sangen oder pfiffen es, sei es, daß einer den andern von der Gasse aus zum Spaziergang herabrufen oder ihm sonst nur von dort etwas nach seinem hohen Kämmerlein hinauf zu melden hatte.

So gingen mehrere Monate hin; Marx war von höchstem Fleiße und gewann eine Innerlichkeit des Vortrags, die ich ihm zuvor nicht zugetraut hatte. Zwar im technischen Klavierspiel hatte er, vielleicht infolge jener verfrühten Übungen, mich schon lange überholt; er hatte begonnen, wenn wir allein waren, mir schwierige Sachen ohne Anstoß vorzuspielen; aber es war mir mitunter schwer erträglich geworden, denn ich meinte zu fühlen, daß ihm etwas fehle, das mit dem Kern und Urquell aller Musik zusammenhing, was ich selber in mir trug, aber derzeit wegen mangelnder Technik nicht zum vollen Ausdruck bringen konnte. Bei der Reizbarkeit des Freundes wagte ich lange kein Wort darüber gegen ihn zu äußern; als ich mich später dennoch dazu überwand, gab er es freundlich zu; nur einmal sagte er traurig: »Mais - cela restera, mon ami.«

Jetzt aber wurde alles anders; namentlich mit Chopin ging er in den tiefsten Abgrund. Wie oft saß ich ihm nun zur Seite am Klavier, nur bittend, daß er es noch einmal und noch zum drittenmal spiele; endlich aber, wenn von der Gasse herauf der Wächterruf dazwischenklang, sprang er plötzlich auf, raffte seine Noten zusammen; und mich umarmend, rief er: »Genug, lieb Herze; da ist der Zuberklaus! Wie freut's mich, daß du heut zufrieden warst!« Und ehe ich mich besonnen hatte, war er schon zur Tür hinaus; aber ich stieg doch langsam hintennach, um unten für ihn aufzuschließen. »Es waren zwei Königskinder!« hörte ich ihn dann noch einmal im Fortgehen auf der Gasse pfeifen.

Auch das wurde wieder anders, oder vielmehr, es ging zurück; dieser glückliche Zustand, den ich in Gedanken »Linele« überschrieb, hörte auf. Wenn ich ihn bat, mir vorzuspielen, so hatte er immer einen andern Grund, es abzulehnen, und wenn es einmal geschah, so war es nur das Spiel von früher. Seine Stunden und Vorlesungen besuchte er zwar, aber er tat alles ohne innere Teilnahme; in der »Drehorgel«, wo er in den letzten Monaten am lebhaftesten die Register angezogen hatte, saß er jetzt schweigend mit gestütztem Kopf vor seinem Seidel. Ich sah das eine Zeit mit an; dann faßte ich einmal seine Hand: »Was ist dir, Marx? Du spielst seit einiger Zeit wieder so seelenlos, so wie ein Automat - ja so, als hättest du dein Linele verloren!«

Da fiel er mir um den Hals: »Ich hab sie auch verloren!« Und nun erfuhr ich's denn; seit einigen Wochen hatte das Mädchen den Fenstersitz vermieden; war sie einmal dagewesen, dann hatte sie seine ihr so wohlverständlichen Aufforderungen zu neuen Zusammenkünften mit traurigem Kopfschütteln abgelehnt; in der letzten Woche war sie völlig unsichtbar geblieben.

»Und wo«, frug ich halb neckend, »hatte sie denn ihre Hand, als sie so hübsch ihr blondes Köpfchen schüttelte?«

Seine Augen leuchteten auf, als habe er was Verlorenes gefunden. »Ihre Hand? Ja, die drückte sie auf die Brust.«

»Siehst du«, sagte ich, »das Herz ist noch dasselbe; das andere sind nur Liebesirrwege; du mußt ihr wieder auf den rechten Weg helfen!«

Aber er wollte es nicht zugeben. »Nein, Freund, es ist wie in unserem alten Liede:

Das hört' ein falsches Nönnchen,

Die tät, als wenn sie schlief;

Sie tät die Kerzen auslöschen,

Der Jüngling ertrank so tief.«

Und er starrte düster vor sich hin.

»Marx!« rief ich, »ich fürchte nur, du selber bist das Nönnchen!« Denn er litt wie an prickelndem Ehrgeiz, so auch an einem gesellschaftlichen Hochmut; sein Vater war in den besten Familien ein geschätzter Mann und stand in freundlichem Verkehr mit ihnen; der Sohn hatte oft nicht ohne Gewicht zu mir davon gesprochen. Und jetzt liebte er eine Handwerkerstochter mit der ganzen Heftigkeit seines Wesens; ein sonst tadelloses Mädchen, aber sie sprach nicht ganz richtig Deutsch, sie schwäbelte ein wenig, was zwar von den jungen Lippen lieblich klang; von Französisch gar war ihr Gewissen völlig frei. Schon aus seinem Tagebuch, hatte ich es herausgelesen, daß diese Gegensätze ihn gequält hatten. Wie leicht, bei dem lebhaften Menschen, konnte in ihrer Gegenwart ein Wort darüber ihm entschlüpft sein und eine kühlere Überlegung in dem Mädchen wachgerufen haben.

Ich sagte ihm dies alles, aber er wollte mir nichts zugeben.

Am zweiten Tage danach - ich wußte, er hatte ihr noch einmal geschrieben - hörte ich unter meinem Fenster die »Königskinder« pfeifen. Als ich öffnete, stand Marx auf der Gasse und nickte heiter zu mir herauf.

»Guten Morgen!« rief ich hinab. »Du siehst ja gewaltig fröhlich aus!«

Er nickte: »Sehr!« rief er hinauf. Dann hielt er die hohle Hand an seinen Mund: »Ich - soll« - und er schrieb mit dem Finger ein großes L in die Luft - »heut abend - sehen!«

»Gratuliere!« rief ich; und er nickte wieder und eilte frohen Schritts von dannen.

Es war schon gegen Oktober, an einem Mittwochabend; ich hatte mich eben für die »Drehorgel« angezogen, hatte den Hut schon auf dem Kopf und bürstete nur noch einige Fäserchen von den Kleidern, da stürmte es die Treppe hinauf; meine Tür wurde aufgerissen, und Marx stand vor mir, totenblaß, sagte aber nichts, sondern begann in meinem geräumigen Zimmer auf und ab zu schreiten, knirschte mit den Zähnen, und ich sah, wie seine Finger heftig in der Luft spielten.

»Was ist nun wieder?« rief ich, »hast du sie neulich abends nicht getroffen?«

»Ja, was ist?« sagte er, indem er stehenblieb. »Als ich in den Lauerschen Garten kam, wohin sie mich bestellt hatte, lief ich lang und konnte sie nicht finden. Aber ich fand sie doch; in einem wüsten, vernachlässigten Winkel stand sie neben einer verfallenen Laube und riß wie in Gedanken die gelben Blätter von den Zweigen. Oh, mon ami, sähest du je die Trauer in Augen von sechzehn Jahren? - »I hab dir was z'sagen, Adolf; deswege bin i komme«, hob sie zitternd an, aber sie kam nicht weiter, sie brach in bitterliche Tränen aus und sagte dann: »s druckt mir's Herz ab, aber i muß, i muß!? Sie schwieg; ich wartete umsonst; aber dann plötzlich schlug sie die Arme um meinen Nacken und küßte mich, als ob sie mich ersticken wollte. »O, Adolf, guck, z' Tod möcht i di drucke und mi selber mit!«

Marx begann wieder auf und ab zu gehen. »Wie ich auch in sie drang«, sagte er, »ich bekam an jenem Abend nichts zu wissen. - »I kann nit, und wenn i sterbe müeßt!« rief sie. - Sie hatte mich in die Laube gezogen und den Kopf an meine Brust gelegt. »Laß mi bei dir sein!« sprach sie leise, »morgen will i dir alles schreibe!« Das war das Ende. Aber heute abend, eben - lies! Das hab ich mit der Post bekommen!« Und er griff in die Tasche und warf ein offenes Schreiben vor mir auf den Tisch.

Ich nahm es auf und las; es war von schulmäßiger Mädchenhand geschrieben: »Ich hab gestern Abschied von Dir nommen, Adolf: Du bist mein Einzigs auf der Welt; aber es ging doch so nit meh; Dein Vater ist ein fürnehmer Gelehrter, und ich bin nur ein Meistertochter, das paßt nit z'sammen. - Ich schick Dir auch Dein liebs Bild wieder, das Du mir geschenkt hast; ich darf's nit anschaun mehr. Aber behalt Du meines, ihr Männer habt ja stärkere Natur. Oh, mei Schatz, mei lieber Schatz, und so b'hüt Di Gott viel tausendmal!«

Es war nicht so gar leicht zu lesen, denn statt manchen Wortes war nur eine Tränenspur. »Und um dies liebe Blatt verzweifelst du?« frug ich. »Du siehst nun, daß du selbst dein Nönnchen warst!«

»Was hilft's!« rief er; »sie ist fort, Gott weiß, wohin; zu einer Tante oder Muhme, irgendwohin in der weiten Welt!« Er hatte sich auf einen Stuhl geworfen; nun sprang er wieder auf: »Komm, wir wollen zur »Drehorgel«; es soll einen Rausch geben, einen Rausch, der mich die Weiber vergessen läßt, die uns das Herz aus der Brust nehmen und uns dann am Wege liegenlassen!«

»Du solltest lieber zu Bett gehen, als dir einen Rausch trinken!« sagte ich; denn er sah gottsjämmerlich aus.

»Zu Bett?« wiederholte er und knirschte mit den Zähnen. »Ja, in das letzte, um nicht wieder aufzustehen.«

Ich suchte es ihm auszureden; ich wollte mit ihm allein ins Freie gehen, aber er stampfte mit dem Fuße, als ich den entgegengesetzten Weg einzuschlagen suchte.

So gingen wir denn in die »Drehorgel«, die diesmal vollzählig versammelt war. Ich fand Franz und Walther und muß mir den Vorwurf machen, daß ich mich zu ihnen setzte, denn ich wurde so von Marx getrennt, der an ihnen vorbei in eine leere Ecke ging und dort allein an einem Tische Platz nahm. Aber ich hatte das Bedürfnis, eine Weile mit normalen Menschen zu verkehren, und bald auch waren wir in der lebhaftesten Unterhaltung, über das letzte Konzert, über den Chorgesang, über die Modulationslehre, die hier ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Ich muß gestehen, ich dachte nicht an Marx; da, während ich eben für Wagner eine Lanze brach, klopfte ein vorübergehender Bekannter mich leise auf die Schulter: »Du, möchtest du nicht mal nach Marx sehen?«

Ich war aufgesprungen und fand ihn noch auf seinem platze: er saß mit verglasten Augen vor seinem halbgeleerten Seidel, das er eine Handbreit in die Höhe hob, dann aber wieder, ohne es berührt zu haben, niedersetzte; ich suchte vergebens, mit ihm zu reden. Um Hülfe zu holen, ging ich wieder zu den Freunden, fand aber nur noch Walther; und uns gelang es, den fast Sinnlosen aufzurichten und den Weg nach Hause mit ihm einzuschlagen. Als wir bei der Stiftskirche vorbeikamen, entriß er sich uns plötzlich und warf sich auf die steinernen Stufen zum Haupteingange. »So müde, ich bin so müde«; lallte er: »laßt mich, hier ist gut schlafen!« Damit streckte er sich und legte den Kopf auf seinen Arm. Da wir ihn vergebens aufzuziehen suchten, bat ich Walther: »Laß nur, ich will dich erst nach Haus begleiten; ich bringe ihn nachher schon fort!«

Walther, der wegen seines Tantenquartiers nicht gerne spät nach Hause kam, nahm meinen Vorschlag an. Als ich nach einer Viertelstunde zurückkehrte, lag Marx noch ebenso, er schien in festen Schlaf versunken. Ich strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht und neigte mich zu ihm. »Komm!« rief ich ihm ins Ohr; »du sollst in deinem Bett jetzt weiterschlafen, und wenn du willst, so bleib ich bei dir!« Aber er schien es nicht zu hören; erst als ich ihn schüttelte, warf er sich herum und riß seine Schulter aus meiner Hand. »Laß mich, verfluchter Deutscher!« schrie er.

»Marx, Marx!« rief ich, »erkenne mich doch! Ich bin es ja, dein Freund, dein lieb Herze, dein nordischer Siebenschläfer!«

Aber er stieß mit seinem Fuß nach mir, und als ich aufsah, war die Schildwache, die in der Nähe vor einem öffentlichen Gebäude stand, herangetreten. »Se dürfet do koin so Lärm mache!« sagte der Soldat.

Das Gesicht des Trunkenen verzog sich, als ob er etwa ein rostiges Pistol zu spannen habe. »Prussien!« schrie er die über ihm stehende Wache an; »dummer deutscher Söldling!«

Ich erschrak und hielt den Mann zurück, der ihn ergreifen wollte. Von diesem französischen Feuer hatte ich nimmer etwas bei unserem Freunde brennen sehen; noch in den letzten Ferien hatte er mir aus Metz geschrieben: »Spazierengehen ist nicht viel; ich fürchte immer von den Franzosen überfallen zu werden.« Aber jetzt aus dem Berauschten redete die Nationalität der Mutter; er sprach Französisch und fluchte auf die Deutschen.

»Ich bitte, lassen Sie ihn!« sagte ich zu dem Soldaten. »Sie sehen, er weiß nicht, was er spricht; ich will einen Freund holen, dann bringen wir ihn nach Haus.«

Der stieß mit dem Gewehrkolben auf das Pflaster: »So machet Se tapfer, denn sottiche Sache derfet mer net dulde.«

Ich lief mehr, als ich ging; gleichwohl mochte über eine Viertelstunde vergangen sein, bis ich mit Franz zurückkam. - Aber Marx war nicht mehr da; es war alles still, nur die Schildwache wandelte wieder, hundert Schritte davon, an ihrem alten Platze auf und ab. Als wir zu ihr gingen, sah ich, daß es nicht mehr dieselbe war; doch soviel erfuhren wir: Marx war arretiert. Als wir zu dem entfernten Wachthause kamen, war er von dort schon auf die Polizei geschafft; auch dorthin gingen wir, aber wir standen vor einem dunklen und verschlossenen Hause. - So blieb uns nur, das eigene Bett zu suchen.