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Früher war es ein Geschäft für Saiteninstrumente, nun ist es eines für elegante Hüte. Kannstatt hat schon immer eine höfliche Distanz zu den Mietern im Erdgeschoss bevorzugt. Für ihn, der seine Umgebung am liebsten über den Hörsinn wahrnimmt, ist das Wohnhaus eine wohlkomponierte Symphonie. Als Fabienne, eine lebensfrohe Elsässerin und Hutmacherin, dort einzieht, bereichert sie Kannstatts besondere Hausmusik mit ganz neuen Tönen. Mit ihrem Hutgeschäft und noch mehr mit ihrem Temperament und ihrer mitreißenden Energie mischt sie die sechs Parteien des Hauses auf, insbesondere jedoch Kannstatts Leben ...
Ein Haus in Berlin Moabit: die perfekte Bühne für einen charmanten Roman über das Leben und die Liebe
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Seitenzahl: 184
HubertusMeyer-Burckhardt
Meine Tagemit Fabienne
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Marion Hertle, München
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagmotiv: © getty-images/Justin Case
Autorenfoto: © Oliver Betke
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-2356-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Dorothee Meyer-Burkhardt
»Moral ist, wenn man so lebt, dass es gar keinen Spaß macht, so zu leben.«
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Samstag, 24. Juli
Sonntag, 25. Juli
Montag, 26. Juli
Dienstag, 27. Juli
Mittwoch, 28. Juli
Donnerstag, 29. Juli
Freitag, 30. Juli
Samstag, 31. Juli
August
Sonntag, 1. September
Montag, 2. September
Dienstag, 3. September
Mittwoch, 4. September
Donnerstag, 5. September
Freitag, 6. September
Samstag, 7. September
Montag, 9. September
Dienstag, 10. September
Mittwoch, 11. September
Epilog – 11. September, ein Jahr später
Geräusche, die man nicht einordnen kann, sind wie Fragen an das Leben, auf die man keine Antwort haben will. Der Montag klingt anders als der Dienstag, der Morgen anders als der Mittag. Geräusche sind der Grund, warum ich meine Wohnung nie aufgegeben habe. Geräusche geben meinem Leben einen Rahmen. Ich weiß den Lärm der Müllabfuhr genauso zu schätzen wie das Quietschen der Straßenbahn, die alle zehn Minuten genau vor meinem Haus hält. Ich würde verzweifeln, wenn man diese Haltestelle verlegen oder gar aufgeben würde. Dass über mir seit Jahren ein Ehepaar aus dem Libanon wohnt, gehört zu meinem Leben dazu. Wenn sie sich streiten, verstehe ich es nicht. Wenn Sie sich anschließend lieben, entspricht das einem Ritual, das, fiele es aus, Anlass zur Beschwerde meinerseits gäbe. Wäre ich nicht so taktvoll, ginge ich hoch und würde nach dem Rechten sehen. Ich habe bereits darüber nachgedacht, dieses Ritual als Paragraph meinem Mietvertrag hinzufügen zu lassen. Würde dieses Ehepaar namens Nasser dann nicht gegen 15.15 Uhr angeregt diskutierend die knarzenden Stufen des alten Treppenhauses hinuntersteigen, um ihr Restaurant für den Abend vorzubereiten, wäre ich irritiert. Montag ist allerdings Ruhetag. Da kann ich mich darauf verlassen, dass es um 15.15 Uhr ruhig ist. Einmal verließen sie dennoch montags gegen 15.00 Uhr das Haus. Da bin ich aus meinem Sessel aufgesprungen, habe die Tür geöffnet und gefragt: »Wohin des Weges?« Sie hatten vergessen, dass Montag war.
Man kann sich eben einigermaßen auf mich verlassen in der Nachbarschaft. Das Haus, in dem ich wohne, wurde um 1900 gebaut – Altbau eben. Die Mieter werde ich Ihnen alle vorstellen. Jeden einzelnen erkenne ich daran, wie sie oder er unten die Haustür ins Schloss fallen lässt. An einem Sommertag wie heute lege ich mich gern auf meinen Balkon, der, Gott sei Dank, zur Straße geht, und überlege mit geschlossenen Augen, wie die Gesichter der Fußgänger aussehen könnten, deren Stimmen ich höre. Ich montiere dann die verschiedenen Töne in meinem Kopf zu einer Art Symphonie zusammen, zu einer Symphonie der Großstadt. Ansehen muss ich mir das Ganze nicht unbedingt, ich verlasse mich lieber auf mein Gehör.
Wichtig ist, wie bei einer »richtigen« Symphonie, dass das, was an die Ohren gelangt, gewissen Hörgewohnheiten entspricht und nicht verunsichert. So wie auch an diesem sommerlichen Samstagmorgen – alles in bester Ordnung. Jedenfalls bis genau zu diesem Moment. Unter all die gewohnten Geräusche mischten sich schon seit einigen Minuten (ich konnte es nicht sofort zuordnen) junge Stimmen, die sowohl Deutsch als auch Französisch sprachen und ihr Möglichstes taten, um einen Autofahrer rückwärts in eine offensichtlich zu enge Parklücke zu lotsen. ›Entweder ist die Lücke wirklich zu eng‹, dachte ich, ›oder der Fahrer ist nicht mit ausreichend Talent ausgestattet.‹ Nachdem das Manöver unter dem übermütigen und wie ich fand übertriebenen Applaus der Umstehenden offenbar ein erfolgreiches Ende genommen hatte, begann man zu entladen. ›Aber hier zieht doch niemand ein oder aus‹, grübelte ich. Und den schon länger leerstehenden Laden wird doch wohl hoffentlich niemand übernehmen?
Und wenn doch …! Ich war glücklich gewesen, als – es mag ein Jahr her sein – der Käseladen ausgezogen war. Ich mochte die beiden jungen Männer durchaus, die sich mit viel Leidenschaft der französischen Käsekultur verschrieben hatten. Sie waren freundlich zu jedermann, meistens auch zu mir, und gelegentlich kaufte ich auch bei ihnen ein. Aber wenn man genau darüber wohnt, riecht es den ganzen Tag nach Käse. Und, schlimmer noch, Käse macht keine Geräusche. Und da die beiden Lauf- und kaum Stammkundschaft hatten, waren die Geräusche beim Öffnen und Schließen der Ladentür so unberechenbar, dass man keine Ruhe mehr fand.
Das war ganz anders, als ich vor ungefähr zwanzig Jahren eingezogen bin. Da war dort ein alteingesessenes Geschäft für Saiteninstrumente. Das Ehepaar Poschmann war in der Gegend für Musikliebhaber ein Begriff. Aber was soll ich sagen: Wir haben uns als Mieter nur fünf Jahre überschnitten. Poschmanns waren bereits fünfzehn Jahre vor mir hier, und jetzt sind seit deren Geschäftsaufgabe wiederum fünfzehn Jahre vergangen.
Eine Weile hatte ich noch gehofft, dass die Musikliebhaber auch Käseliebhaber sind. Dann wäre wenigstens das Öffnen und Schließen der Tür berechenbar geblieben. Aber das war nicht der Fall. Das Zupfen von Gitarren- oder Geigensaiten durch Kunden, die sich einem Instrument, das ihnen noch nicht gehört, respektvoll nähern, habe ich lange vermisst. Am Käse zupft eben niemand, und die Laufkundschaft, die sich dann vor dem Geschäft auch noch ewig darüber unterhält, wo man den noch besseren korsischen Schafskäse bekommt, ging mir auf die Nerven.
Während ich also auf meinem Liegestuhl die jüngere Geschichte des kleinen Ladenlokals noch einmal melancholisch Revue passieren ließ, drangen weiterhin von unten Stimmen an mein Ohr, die mit einem Samstagvormittag, wie ich ihn kenne und schätze, nichts zu tun haben. Es war nicht mehr zu leugnen, unten wurde etwas abgeladen. Ferner schien es so, dass es sich eindeutig nicht um ein professionelles Umzugsunternehmen handelte, sondern eher um ein gemietetes Lasttaxi, dessen Handhabung diese jungen Leute nicht gewohnt waren, die ihnen aber nichtsdestotrotz Spaß bereitete. Dummerweise machte der Spaß Krach. ›Wenn der Laden dort unten neu vermietet ist, dann kann ich meinen Plan, dort meine fünftausend Langspielplatten zu verkaufen (und zwar nur an Kenner), vergessen‹, durchfuhr es mich. Gleichwohl komme ich nicht umhin zuzugeben, dass ich diesen Plan immer nur dann in die Tat umsetzen möchte, wenn die Umstände es nicht erlauben. Sind nahe Räumlichkeiten verfügbar, finde ich immer sofort eine Begründung, warum man es nicht tun sollte. Offenbar wendete sich also das Schicksal dort unten an diesem eigentlich herrlichen Sommermorgen gerade gegen mich. Ich erhob mich vorsichtig und schaute auf die Straße hinunter. Eine größere Zahl Pappkartons wurde entladen. Allzu schwer schienen sie nicht zu sein. Und der letzte Zweifel war beseitigt: All diese Pappkartons wurden in den Laden gebracht, der einst Umschlagplatz von Gitarren und Käse war.
Aber, warten Sie, vielleicht sollte ich mich Ihnen erst einmal vorstellen:
Ich bin Immobilienkaufmann. Kein großer, kein reicher, aber ich habe mir eine gewisse Unabhängigkeit erarbeitet. Ich bin über fünfzig, war einmal verheiratet, »aber nur ganz kurz« (das möchte ich ausdrücklich betonen.) Ich bin durchaus ein Freund der Frauen, sofern sie Distanz halten. Ich bin ferner ein Kenner der Rockmusik der 70er- bis 80er-Jahre, kenne jeden Bassist mit Namen und weiß meist sogar das Studio, in dem der Song aufgenommen wurde. Ich lebe in Berlin Moabit, würde aber lieber am Montmartre in Paris wohnen. Ich koche ganz gern, möchte aber nichts mit anderen kochenden Männern zu tun haben. Denn ich rede nicht gern übers Kochen, ich rede überhaupt nicht so wahnsinnig gern. Die oberflächliche Konversation mit den Nachbarn liebe ich allerdings, vermeide es aber gleichzeitig, in ihre Wohnungen eingeladen zu werden. Ich bin hilfsbereit, wenn daraus keine Verpflichtung entsteht. In meinem Kühlschrank lagern an die fünfzig Herrendüfte. (Da halten sie länger.) Individualität entspricht mir sehr, deshalb wohne ich gern in einem Mehrparteienhaus. Meiner sehr romantischen Vorstellung nach sind alle Nachbarn auf ihre Weise so individuell, wie ich es bin bzw. für mich in Anspruch nehme. Ich missioniere nicht und will nicht missioniert werden. »Das alles soll sich eben nicht vermischen. Jedem das seine.« Mein Credo.
Vermischt werden bei mir nur Steine. Wenn ich reise, hebe ich Steine auf und werfe sie woanders wieder weg. Ich lasse sie dann wieder frei – so nenne ich das. Konkret heißt das, dass ich Kiesel aus Nevada, Bulgarien oder der Steiermark in die Havel werfe, ich möchte die Geologen der Zukunft irritieren. Mein Weg zu einer Prise Unsterblichkeit.
Böse Zungen nennen mich den Concierge des Hauses, ich selbst sehe mich indes eher als den Chronisten der Immobilie. Und in eben dieser Immobilie wohnen in Ruhe und Frieden sechs Parteien.
Doch dieser Frieden scheint mir durch jeden Neuankömmling bedroht zu sein, fragen Sie mich nicht warum. Vielleicht weil ich nichts so sehr schätze wie Verlässlichkeit und mich nichts so sehr irritiert wie Veränderung.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Im dritten Stock rechts wohnt ein Lufthansa-Pilot. Wie soll ich den beschreiben? Früher habe ich immer gedacht, dass Menschen, die beruflich die Welt bereisen, in Weltläufigkeit gebadet haben. Das ist bei Herrn Jasper nicht der Fall. Er stammt aus Bayern und hängt an jeden auch noch so unbedeutenden Satz (und er gibt ausschließlich unbedeutende Sätze von sich) die Floskel »… das muss ich ganz ehrlich sagen …«, als ob die Ehrlichkeit bei ihm die Ausnahme sei und deshalb entsprechender Honorierung bedarf. Seine Frau, eine Stewardess, hat ihn vor ein paar Jahren wegen Roger Willemsen verlassen. Das hat er mir im Treppenhaus mal anvertraut. Er fühlte sich durch diesen Umstand geadelt, war mein Eindruck. Wahrscheinlich hat Roger Willemsen mit ihr einen flüchtigen Flirt gehabt, vielleicht eine Affäre. Die arme Frau war vermutlich sinnlich so unterzuckert, dass die Akquise trotz gebremster Anstrengung von Seiten Roger Willemsens dennoch zum Ziel geführt hat. Jetzt hat Herr Jasper wohl eine Vorliebe für die Prostitution entwickelt. Ich möchte das moralisch nicht bewerten. Gleichwohl – das war ebenfalls Gegenstand des Gespräches im Treppenhaus – mit einer verlässlichen Note. Er kommt erotisch in Schwung, wenn die Frauen aussehen wie die junge Piaf, schweres, eher süßliches Parfum auflegen und Pumps tragen. Und obwohl ich diesen Jasper unerträglich finde, muss ich Ihnen sagen – ich schätze seine Verlässlichkeit als Nachbar.
Wenn er von seinen Trips (er nennt das Umläufe) nach Hause kommt, läuft er federnden Schrittes in seine Wohnung und – man kann erfreulicherweise die Uhr danach stellen – in maximal zehn Minuten ist er wieder unten auf der Straße, um zu joggen. Das wiederum macht er genau eine Stunde lang und kehrt wieder zurück ins heimische Treppenhaus mit einem Keuchen in der Schrittfolge. Einige seiner Piafs – mein Gott, welche Agentur vermittelt denn bitte so was? – habe ich zufällig gesehen. Zufällig, das möchte ich betonen! Seitdem verlasse ich mich wieder zu hundert Prozent auf meine Ohren. Denn was die Agentur für die junge Piaf hält, lässt jeden Chanson-Freund ratlos zurück.
Aber Sie sehen, dieser Einfaltspinsel ist in seinen Ritualen ein verlässlicher Nachbar. Wenn ich doch nur nicht jetzt gerade, wo ich Ihnen von ihm berichte, seine Stimme hören würde! Offensichtlich war er unten vor der Tür und schloss Bekanntschaft mit den neuen Nachbarn. Grässlich. Die Gefahr eines Grillabends im Hinterhof schien mir ein für alle Mal gebannt zu sein. Während er seine Allgemeinplätze vom Stapel ließ, fuhr Gott sei Dank die Straßenbahn vorbei. Der Nahverkehr kann eine Gnade sein. Kaum verklang das Quietschen (es muss sich wohl um ein Modell älterer Bauart gehandelt haben, was am Wochenende nicht unüblich ist, weil diese Fahrzeuge für die Fußballfans der Bundesligavereine eingesetzt werden …), hörte ich eine Frauenstimme sagen: »Danke, ich schaffe das schon …«
Offensichtlich hatte Jasper ihr seine Hilfe angeboten, derer sie aber nicht bedurfte. Sprach schon mal für sie.
»Wie gesagt … ich mache das gern allein.« Nachdrücklichkeit muss man ihr nicht beibringen, durchfuhr es mich.
Diese Stimme war der Beginn einer neuen Zeitrechnung in diesem Haus. Heiser … so, wie man klingt, wenn man am Vortag noch erkrankt war und sich auf dem Weg der Besserung befindet. Ein heiterer Grundton, der in der Stimme angelegt war, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese vermutlich junge Frau den Hauptsatz dem Nebensatz vorzieht, und den Indikativ dem Konjunktiv. Vermutlich ältere Brüder gehabt. Und ich hatte den Eindruck, sie stammt aus dem Elsass, vielleicht aus Luxemburg. Sie sang ein wenig beim Sprechen.
Mittlerweile kam Jasper die Treppe herauf und ich zögerte eine kurze Weile. Sollte ich ihn darauf ansprechen, was da unten vor sich ging und wem vor allem diese eigenwillige Stimme gehörte? Ich konnte es nicht. Würde er an diesem Samstag, der ohnedies nicht in meiner gewünschten verlässlichen Ruhe verlief, würde er also an diesem Samstag auch nur ein einziges Mal sein »das muss ich ganz ehrlich sagen« rausposaunen, würde ich ihn in meiner Wut wissen lassen, dass ich mittlerweile lieber Air Berlin fliege. Dass stimmte zwar nicht, machte ihn aber zuverlässig wütend. Dann konnte ich mich darauf verlassen, dass er die Tür seiner Wohnung besonders leise schloss. Er traute wohl seiner Emotion nicht. Er hat sich im Griff. Ist vielleicht bei seinem Beruf auch ganz hilfreich.
Ich beschloss über die Stimme nachzudenken. Ich kannte nur zwei Sätze dieser Frau. Kurze Sätze. Sätze der Zurückweisung. Und dennoch war es Musik. Und da kannte ich mich einigermaßen aus. Nicht Klassik oder Jazz. Mich umgab schließlich schon genug Humorlosigkeit. Rock! Rock ’n’ Roll! Ich zog mich also in mein Musikzimmer zurück. Das ist nicht allzu groß, vielleicht etwa 40 Quadratmeter, und an den Wänden sind ausschließlich Regale für Langspielplatten und CDs. Die gern gestellte Frage »Haben Sie die alle gehört«, beantworte ich ungern. Was sagt denn die Antwort aus? Nichts. Wie viele es sind, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall sind die Tonträger alphabetisch geordnet.
Ich kannte mal ein Mädchen, Patty, die immerhin mal in den USA in so einem Retro-Plattenladen gearbeitet hat, insofern bei mir einen Vertrauensvorschuss hatte. Sie hatte ernsthaft vorgeschlagen, die Platten und CDs nach Farbe zu ordnen. »So wie früher die Buchrücken der Suhrkamp-Taschenbücher.« Diese Beziehung, die eigentlich noch gar keine war, habe ich sofort beendet.
Zurück zum Musikzimmer: In der Mitte steht ein alter Ledersessel, den ich seit meiner Studentenzeit besitze. Wenn ich manchmal zwischen Lehne und Sitzfläche in die Polster greife, kommen Requisiten der Vergangenheit zum Vorschein. Erst kürzlich ein alter Schuhlöffel, an den ich mich kaum mehr erinnern konnte. Daneben steht ein Holztisch, auf dem Zeitschriften liegen … genau genommen zwei: der Rolling Stone und mare. Beim Stone lese ich über Musik, bei mare höre ich Musik. Ich versinke in den Bildern und werde, wenn man so will, »zum Dirigent der Meere«. Ich ließ mich also in meinen Sessel fallen, legte die Füße hoch, steckte mir eine LUX an (eine Zigarettenmarke, die ich meinem Nachbarn Samuel C. Feldmann zu verdanken habe, der auf derselben Etage wie ich wohnt, nur eben links, aber dazu später) und stellte mit der Fernbedienung den CD-Player an. Ich hatte nicht im Kopf, welche CD ich zuletzt gehört habe, weil es schon eine Weile her war, hoffte aber, dass sie zur unbekannten Stimme von unten passte.
Es war Eric Carmen – der Mann, der heute vergessen ist. Und als er noch nicht vergessen war, haben die Kritiker kein gutes Haar an ihm gelassen. Was wiederum daran lag, dass Kritiker meist wie Elvis Costello aussehen, Eric Carmen hingegen bei den Frauen ankam und eine Schnulze nach der nächsten komponierte … unter anderem auch I wanna hear it from your lips … Ich weiß noch, als ich mir die CD damals kaufte, habe ich darauf geachtet, dass mich an der Kasse des Plattenladens keiner erkennt.
Ich musste wohl für einige Minuten eingeschlafen sein, denn als es an der Tür klingelte, erschrak ich. Wäre ich wach gewesen, hätte ich vielleicht schon ahnen können, wer vor meiner Tür steht. Ich hatte aber keine Schritte im Treppenhaus gehört und war insofern auf alles gefasst, nur auf nichts Gutes. Ich näherte mich meiner Wohnungstür, war aber wegen des Stimmengewirrs im Treppenhaus augenblicklich beruhigt. Es handelte sich ganz offensichtlich um den Briefträger, der, weil unter Zeitdruck, wohl gleichzeitig bei Feldmann und mir geklingelt hatte (der mit den LUX). Insofern hatte ich keine Bedenken mehr, die Tür zu öffnen.
Und sah mich in mehrerlei Hinsicht getäuscht, ich hatte schon Recht, mit der üblen Vorahnung. Zum einen schickte der Vermieter Einschreiben an alle Mieter … Sam Feldmann hatte seinen Umschlag bereits geöffnet, das Anschreiben überflogen, und stellte nun mit blasser Gesichtsfarbe fest: »Die wollen aus unserem Dachboden zwei Eigentumswohnungen machen. Das macht keinen Spaß, mein Junge. Dreck, neue Mieter, Krach.«
Der Boden schwankte unter meinen Füßen. Ich musste mich am Türrahmen festhalten. Unten diese neue Stimme, oben der Boden, der bald keiner mehr war. Das war aber noch nicht alles. Sam C. (»C steht für Cigarette …«) Feldmann übergab mir ein Paket, das an eine gewisse Fabienne Marinoff adressiert war. »Ich kann das nicht annehmen, weil ich auf dem Weg zu einer Tabakmesse in Zürich bin. Ist wohl für die Hutmacherin unten, die nächste Woche ihr Geschäft eröffnet.«
»Hutmacherin …?«, stammelte ich.
»Unten ist ein Zettel an der Tür, dass sie im Moment nicht da ist. Solange werde ich aber nicht warten«, sagte der Postbote und verschwand. Warum haben Postboten heute im Sommer immer kurze Hosen an, zumal wenn sie an der Wade eine Tätowierung haben? Zu einem weiteren klaren Gedanken war ich nicht fähig.
Feldmann, der mir das Paket ohne zu zögern mit einer Hilfsbereitschaft, auf die ich gern verzichtet hätte, in den Wohnungsflur stellte, rief mir noch auf halber Treppe zu: »Wir machen eine Mieterversammlung! Wir müssen doch wissen, was durch den Dachausbau auf uns zukommt …!«
Ich stand noch eine Weile im Treppenhaus, denn ich musste mich sammeln. Mieterversammlung! Da war der Weg zur sogenannten netten Hausgemeinschaft nicht weit. Und jetzt sang plötzlich und ungefragt auch noch Eric Carmen wieder. War das jetzt ein Hidden Track, oder was sollte das alles?!
Gerade als ich mich in meine Wohnung zurückziehen wollte, ging unten die Haustür. Diesmal rechnete ich intuitiv mit dieser Fabienne, die also Hutmacherin war. Wusste gar nicht, dass dieser Beruf noch ausgeübt wird. Sie war es aber nicht. Man muss wissen: Die Hausgemeinschaft leistete sich einen Putzmann aus Ghana mit schwäbischem Akzent (»Isch Kehrwoche …«) und mit dem Vornamen Linus. Und heute war Samstag und Linus kam, um zu putzen. Wenigstens irgendetwas war hier noch wie früher.
Mit Zustelldiensten kann ich nicht viel anfangen. Vor allen Dingen dann nicht, wenn der, der sie bestellt, im obersten Stockwerk wohnt. Zalando, alle Pizza-Taxis Berlins sowie jeder Sushi-Express zwischen Potsdam und Prenzlauer Berg haben dieses Treppenhaus im Eilschritt erklommen, um es dann fluchtartig wieder zu verlassen. Und das auch am Sonntag. Und heute war Sonntag. Noch schlimmer: Es war Sonntagmorgen, und oben im dritten Stock – gegenüber von unserem intellektuell luziden Piloten – wohnt Valentin Deutsch. Seinetwegen frage ich mich häufig, ob wir aus dem Treppenhaus nicht die Hälfte aller Stufen ausbauen sollten – dieser Deutsch ist derart durchtrainiert, dass er pro Stockwerk vielleicht nur zwei der fünfzehn Stufen tatsächlich auch betritt. Die Kuriere und Zustelldienste scheinen bei ihm in die Lehre gegangen zu sein. Sie machen es nicht anders. Ich muss also genau aufpassen: Wenn ich die Valentin-Schritte höre und es riecht weder nach italienischer noch nach japanischer Küche, dann darf ich hoffen, dass es sich tatsächlich um ihn selbst handelt.
Ich saß also an diesem Sonntagmorgen bei einer Tasse Espresso und einem Wasser auf meinem Balkon und hörte, dass sich Valentin nun auch Brötchen ins Haus bestellte. Das gibt es jetzt wieder. Zumindest am Prenzlauer Berg. Wen wundert’s: Hier ist ja auch Marmelade einkochen und Stricken wieder an der Tagesordnung. Wenn das Jimmy Hendrix wüsste, der gerade für mich die amerikanische Nationalhymne spielte und dabei von diesem Brötchen-Kurier gestört wurde … Herr Deutsch steht wohl noch unter der Dusche oder macht sonst was, wo ich nicht dabei sein möchte.
Ich öffnete die Tür in dem Versuch, den Kurier bei mir im ersten Stock abzupassen, riss also meine Wohnungstür entschlossen auf und schaute in … das Gesicht einer hübschen Frau: far away eyes, fuhr es mir durch den Kopf, eine energische, vertikale Stirnfalte über der Nasenwurzel, sowie ein etwas spöttischer Mund, und endlich mal keine geweißte Zahnreihe. Sie wollte gerade auf meinen Klingelknopf drücken, während man hinter ihr noch die Beine des Brötchenkuriers nach oben verschwinden sah. Mein Gott, da war sie, die neue Zeitrechnung im Haus, die diese Hüte macht und vermutlich aus dem Elsass kommt mit dieser Melodie in der Stimme! Weil ich irgendwie in diesem Augenblick gehemmt und außerdem nicht vorbereitet war, warf ich ihr statt einer Begrüßung schroff an den Kopf: »Ich denke, Sie brauchen keine Hilfe …«
»Guten Tag, Herr Kannstatt, wieso Hilfe? Und wer sagt das denn?«
»Na Sie, gestern zu Jasper, habe ich doch genau gehört.«
Sie sah mich ratlos an. Fing an mich zu mustern, hielt die Stille aus, begann sich für meinen Flur zu interessieren, schaute also an mir vorbei und flüsterte dann: »Mein Paket …?«
Ich drückte es ihr wortlos in die Hand.
»Möchten Sie bitte einmal für ein paar Minuten mit mir runterkommen …?«
Nach meiner barschen Begrüßung hatte ich mit ihrer sehr direkten Bitte nicht gerechnet. Vielleicht hatte ich auch nur befürchtet, dass sie hereingebeten werden will. Insofern lief ich nicht ungern hinter ihr die Treppe hinunter. »Sie haben ein eigenwilliges Parfum …«
Sie hielt es nicht für nötig, mir zu sagen welcher Duft das war, kein Wunder, kommunikationstechnisch war ich nicht gerade vorbildlich gewesen. Mittlerweile waren wir auf der Straße angekommen, direkt vor dem Haus. Sie stand eine Weile etwas versunken vor ihrem Geschäft, versuchte sich wohl vorzustellen, wie es ausschauen sollte, wenn alles fertig war. Dann drehte sie sich zu mir, verschränkte die Arme hinter dem Rücken, schaute zunächst auf ihre Schuhspitzen, um mich dann aber umso entschlossener ins Visier zu nehmen: »Herr Kannstatt … wir werden die nächsten Jahre Tür an Tür, Wand an Wand wohnen.«
Ich hätte ihrer Stimme stundenlang zuhören können, ganz egal, was sie sagt.
»Ich möchte drei Dinge mit Ihnen besprechen.«
Ich öffnete die Augen wieder, die ich versehentlich geschlossen hatte.