Mending a Dream. Love en Pointe - Ann Sophie Müller - E-Book

Mending a Dream. Love en Pointe E-Book

Ann-Sophie Müller

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Beschreibung

Eine Ballerina, deren Karriere das Aus droht.  Ein angehender Arzt, der sie wieder an ihren Traum glauben lässt. Ich bin meinem Traum einer glänzenden Karriere als Primaballerina ganz nah – doch nun könnte ein einziger Moment alles zerstören. Ein Fehltritt befördert mich ins Krankenhaus und nimmt mir jede Hoffnung, Solotänzerin am Cologne Ballet Theater zu werden. Doch dann treffe ich auf Oskar: Ein angehender Arzt, der mir nicht nur die Angst vor meiner OP nimmt, sondern mir auch langsam mein Herz stiehlt. Er macht mir Mut, für meinen Traum zu kämpfen. Aber bin ich bereit, die Wahrheit über meinen Unfall zu sagen und die Intrigen in der Kompanie aufzudecken? »Mending a Dream. Love en Pointe« ist eine emotionale Slow Burn Romance, in der es darum geht zu heilen, für sich selbst einzustehen und für Träume zu kämpfen.  //»Mending a Dream. Love en Pointe« ist ein in sich abgeschlossener Standalone.//  

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

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Ann Sophie Müller

Mending a Dream. Love en Pointe

Eine Ballerina, deren Karriere das Aus droht.Ein angehender Arzt, der sie wieder an ihren Traum glauben lässt.

Ich bin meinem Traum einer glänzenden Karriere als Primaballerina ganz nah – doch nun könnte ein einziger Moment alles zerstören. Ein Fehltritt befördert mich ins Krankenhaus und nimmt mir jede Hoffnung, Solotänzerin am Cologne Ballet Theater zu werden. Doch dann treffe ich auf Oskar: Ein angehender Arzt, der mir nicht nur die Angst vor meiner OP nimmt, sondern mir auch langsam mein Herz stiehlt. Er macht mir Mut, für meinen Traum zu kämpfen. Aber bin ich bereit, die Wahrheit über meinen Unfall zu sagen und die Intrigen in der Kompanie aufzudecken?

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Vita

Danksagung

© Studioline

Ann Sophie Müller, geboren 1995 in Düsseldorf, absolvierte nach ihrem Bachelor in Medienwissenschaften eine Ausbildung zur Chirurgisch-Technischen Assistentin und studiert nun Medizinpädagogik in Köln. Mit 13 Jahren schrieb sie ihren ersten Kinderroman, mit 16 gewann sie beim Kempener Literaturwettbewerb einen Preis. Wenn sie nicht gerade schreibt, tanzt und unterrichtet sie leidenschaftlich gerne klassisches Ballett und Jazz Dance.

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freund*innen oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Ann Sophie Müller und das Impress-Team

Für Stanzerl

Mein größter Albtraum ist wahrgeworden. Ich kann nicht genau rekonstruieren, wie ich auf dem Boden des Ballettsaals gelandet bin. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Die Stimmen und hektischen Bewegungen um mich herum nehme ich kaum wahr. In meinen Ohren rauscht es. Das Einzige, was ich spüre, ist eisige Kälte und dieser höllische Schmerz in meinem Knöchel. Jemand drückt mir eine Wasserflasche in die Hand, aber meine Hände zittern zu sehr. Um mich herum stehen meine Mittänzerinnen und Mittänzer. Besorgte Blicke, Gemurmel, weil ich nicht in der Lage bin aufzustehen. Nur ein Augenpaar erscheint klar in meinem Blickfeld. Yasmin. Meine Konkurrentin. Die Person, die mir in den letzten Wochen nichts als Angst eingejagt hat. Ist das Häme in ihrem Blick? Triumph? Oder pure Zufriedenheit, dass ich diejenige bin, die gefallen ist? Ich halte ihrem Blick so lange stand, bis die Rettungskräfte mich auf eine Trage verfrachten. Ich wende meinen Blick von Yasmin ab und starre auf meinen Knöchel. Die Kälte kommt offenbar von einem Kühlpack. Oder ist das der Schock? Mir wird schlecht, als ich sehe, wie dick der Knöchel angeschwollen ist. Nein, nein, nein, das darf nicht passiert sein!

„Legen Sie sich hin“, dringt eine Stimme durch das Rauschen in mein Ohr. „Wir fahren Sie ins Krankenhaus.“

Ich kann nicht mehr. Will diese Blicke nicht mehr ertragen. Das Getuschel. Ich schließe die Augen. Und will einfach nur aus diesem Albtraum erwachen.

Als ich die Augen öffne, liege ich auf einer harten Liege und starre an die Decke. Sie ist weiß, mit einem unruhigen Muster, das ich wegen der grellen Neonlampen nicht richtig erkennen kann. Die Nadeln des Dutts an meinem Hinterkopf drücken sich in meine Kopfhaut. Holen mich langsam zurück in die Realität.

Ich bin in der Notaufnahme. Der Albtraum ist noch nicht vorbei. Ich atme tief ein und versuche einigermaßen ruhig auszuatmen. Mir ist immer noch übel. Man hat mir im Rettungswagen eine Infusion gelegt, aber so richtig wirkt das Schmerzmittel nicht.

Vorsichtig setze ich mich auf und schaue mich um. Immer noch trage ich mein dunkelrotes Lieblingstrikot, eine abgeschnittene schwarze Strumpfhose und meinen übergroßen rosa Aufwärmpulli, den irgendjemand mir vor der Abfahrt ins Krankenhaus schnell übergeworfen hat. Meine große Trainingstasche und Jacke liegen auf einem Stuhl neben einer großen Schiebetür, die einen Spalt offensteht und mir den Blick auf das hektische Treiben in der Notaufnahme gewährt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich hasse Krankenhäuser. Wer mag die schon? Sie bringen nichts als Leid. Und schlechte Nachrichten, das weiß ich aus Erfahrung. Aber die kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Die Rettungskräfte haben meinen Fuß in eine Schiene gepackt. Ich spüre, dass er noch weiter angeschwollen ist. Er pocht und bei der kleinsten Zuckung schießt ein stechender Schmerz hindurch, der mir Tränen in die Augen treibt. Da kommt kein Medikament gegen an.

„Guten Tag, Frau König.“

Ich zucke beim Ertönen der tiefen Stimme zusammen. Mein Blick huscht zu der Schiebetür, durch die sich soeben ein junger Mann in einer weißen Hose und diesem typischen blauen Krankenhausoberteil zwängt. Er sieht nett aus mit seinem freundlichen Lächeln. Wahrscheinlich ist er nur ein paar Jahre älter als ich, vielleicht Mitte 20 oder so. Ist man da schon Arzt?

„Guten Tag“, antworte ich leise. Ich mag es nicht, gesiezt zu werden. Ich bin 20 Jahre alt, kann er mich nicht einfach Martha nennen?

„Friedrichs mein Name, ich bin Medizinstudent im praktischen Jahr. Sie haben sich den Fuß umgeknickt?“ Er mustert mich aufmerksam durch seine dunkelbraunen Augen und zieht sich ein paar Gummihandschuhe aus einer Box direkt neben der Tür. Er kämpft ein bisschen mit den klebrigen Handschuhen, lässt einen fallen, flucht leise und zupft sich einen Neuen aus der Box. Ich muss einen kurzen Moment schmunzeln. Irgendwie macht ihn das menschlich. Die Ärzte, die ich bisher kennengelernt habe, wirkten wie Wesen von einem anderen Planeten. Routiniert, jeder Handgriff saß. Aber wenn Herr Friedrichs noch studiert, muss er diese Routine wahrscheinlich erst lernen.

Schließlich wendet sich der Student wieder mir zu und holt mich aus meinen Gedanken zurück.

Ich nicke stumm und mein aufgeregter Puls beruhigt sich schlagartig. Herr Friedrichs ist zwar groß und nicht besonders breit, eher der schlaksige Typ, aber seine Stimme klingt wie die von Samu Haber, dem Sänger von Sunrise Avenue. Eine solche Tiefe und das Volumen hätte ich nicht von ihm erwartet.

„Was genau ist denn passiert?“ Vorsichtig wickelt er die Schiene ab.

Ich presse meine Zähne zusammen, um vor Schmerzen nicht aufzuschreien. Ich habe mir schon oft den Fuß umgeknickt, aber nie hat es so wehgetan wie jetzt. Augenblicklich beginne ich wieder zu zittern. Bitte, bitte lass es nichts Schlimmes sein.

„Ich habe getanzt“, antworte ich und kneife die Augen zusammen, als würde das meine verschwommenen Erinnerungen ein bisschen schärfen.

„Und dabei sind Sie umgeknickt?“, hakt Herr Friedrichs nach.

„Ich glaube schon.“ Egal, wie sehr ich es versuche, ich kann das Chaos in meinem Kopf nicht sortieren. Mir war schlecht. Ich hätte den zweiten Cocktail gestern Abend ablehnen und auf meine Mitbewohnerinnen hören sollen. Mit einem Kater sollte man keine Pirouetten drehen, das habe ich jetzt auf die harte Tour gelernt. Aber wieso hat John mich nicht gestützt, als ich das Gleichgewicht verloren habe? Er ist doch mein Tanzpartner.

„Die Rettungskräfte sagten, dass Sie professionelle Tänzerin sind?“, reißt Herr Friedrichs mich aus meinen düsteren Grübeleien und drückt zeitgleich auf eine Stelle an meinem Fuß.

Ich schreie auf. Ist er wahnsinnig? Er kann da doch nicht einfach so draufdrücken!

„Entschuldigung.“ Er lässt erschrocken meinen Fuß los.

Ich werfe ihm einen feindseligen Blick zu. Lernt man im Medizinstudium nicht, dass geschwollene Knöchel ziemlich weh tun? Falls nicht, besteht da ein großer Nachholbedarf.

„Ich rufe mal meinen Kollegen, damit der sich das anschaut. Das muss bestimmt geröntgt werden“, erklärt er und zieht die Handschuhe aus. Dann verlässt er den Raum.

Ich lasse mich wieder auf die Liege sinken. Hoffentlich geht das Röntgen schnell. Danach bekomme ich bestimmt ein paar Schmerzmittel verschrieben und werde wieder nach Hause entlassen. Den Fuß muss ich sicher noch ein paar Tage kühlen, schonen, hochlagern und schon bald stehe ich wieder im Ballettsaal. Dort werde ich Yasmin zeigen, dass ich meine Solorolle sehr wohl verdient habe. Ich lasse mich nicht so einfach unterkriegen, egal wie feindselig sie mich anstarrt oder versucht, mir Angst zu machen. Ich habe dank meines Vaters den Vorstand des Theaters auf meiner Seite. Die würden die Tochter des Gründers sicher unterstützen.

„Guten Tag.“ Ein anderer Mann betritt den Raum. Bestimmt ist das der Arzt. Jedenfalls wirkt er etwas älter als der Student. Herr Friedrichs folgt ihm.

„Roberts. Der Dienstarzt für die Unfallchirurgie.“ Er lächelt mich freundlich an. Sieht auch sympathisch aus. Klein, drahtig, kurze blonde Haare, die er mit etwas Gel gestylt hat.

„Mein Kollege hat mir bereits erzählt, was passiert ist.“ Dr. Roberts tastet meinen Fuß ab. Ich schreie wieder auf. Können die nicht vorsichtiger sein?

„Der muss sofort geröntgt werden.“ Er nickt Herrn Friedrichs zu. „Gut erkannt, Oskar.“

„Ist er gebrochen?“, frage ich mit zittriger Stimme und versuche, einen Blick auf meinen Fuß zu erhaschen. Das Wort „sofort“ jagt mir Angst ein. Wenn mit meinem Knöchel alles in Ordnung wäre, müsste ich doch nicht so eilig behandelt werden, oder? Mein Herz rutscht mir in die Hose. Der Knöchel ist ziemlich unförmig und schimmert bläulich. Bitte nicht.

„Das versuchen wir im Röntgenbild zu sehen. Wir bringen Sie gleich dorthin.“ Dr. Roberts eilt nach draußen. Ich höre ihn telefonieren. Sein Tonfall klingt eilig. Fetzen wie „Tänzerin“, „junge Frau“ und „Frakturausschluss“ hallen zu mir herüber, bis sich die Stimme entfernt. Ich habe nur wenig Ahnung von Medizin, aber ich weiß, was das Wort Fraktur bedeutet. Bruch.

Herr Friedrichs – oder Oskar, wie ich gerade erfahren habe - will ihm folgen.

„Hey, warten Sie!“, rufe ich hastig. Die Reaktion von Dr. Roberts hat mich verängstigt. Ich will nicht alleine sein. Ich habe doch noch so viele Fragen. Und Angst.

„Kennen Sie eine Maria Grünberg?“, frage ich schnell. „Sie arbeitet hier als Krankenschwester und müsste heute in der Spätschicht sein.“

„Nein, wieso?“ Oskar hebt eine Augenbraue.

„Sie ist meine Mitbewohnerin. Können Sie sie anrufen und ihr Bescheid sagen, dass ich hier bin? Damit sie sich keine Sorgen macht.“

„Klar. Auf welcher Station arbeitet sie?“

„Keine Ahnung“, erwidere ich. Hitze steigt in meinem Gesicht auf, während ich fieberhaft überlege, in welcher Fachabteilung Maria tätig ist. Aber mein Hirn ist immer noch vernebelt. „Irgendwas mit Bäuchen? Chirurgie oder so?“ Jedenfalls erzählt sie immer wieder davon.

„Ich telefoniere mich einfach durchs Krankenhaus.“ Oskar lächelt kurz und geht.

Erleichtert lehne ich mich zurück. Gut, dass mir noch eingefallen ist, dass Maria hier im Krankenhaus arbeitet. Ihre ruhige Art hilft mir bestimmt, nicht durchzudrehen. Und sie kann mir in Ruhe erklären, was hier los ist.

Als ich aus der Röntgenabteilung zurück in die Notaufnahme gefahren werde, wartet sie schon im Untersuchungsraum auf mich.

„Martha, was ist passiert?“ Sie runzelt besorgt die Stirn. In ihrer weißen Arbeitskluft sieht sie ungewohnt aus. Die dunkelblonden Haare, die sie sonst meistens offen oder als unordentlichen Dutt trägt, hat sie zu einem strengen Zopf zurückgebunden, wodurch ihre großen blauen Augen noch durchdringender wirken.

„Umgeknickt.“ Jetzt steigen Tränen in meinen Augen auf. Ich will einfach nur nach Hause.

„Oh nein.“ Sie nimmt mich in den Arm. Der besorgte Blick auf meinen Fuß ist mir nicht entgangen.

„Es ist meine Schuld.“ Ich schluchze auf. „Ich hätte zu Hause im Bett bleiben sollen. Wieso habe ich mich von den anderen mitreißen lassen und so viel getrunken?“ Ich schlage meine Hand vor die Stirn.

„Nein, Martha“, erwidert Maria mit fester Stimme. „John hätte gestern deine Grenze respektieren müssen und dich nicht abfüllen dürfen.“

„Wenn ich Pech habe, ist meine Karriere vorbei.“ Ich sacke in mich zusammen. „Wegen zwei blöder Cocktails.“ Oder mehr. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer an Johns dämliches Grinsen und Yasmins auffordernden Blick, als sie mir den zweiten Cocktail gereicht hat.

„So weit denken wir noch nicht.“ Sie stupst mich in die Seite. „Bestimmt wertet der Arzt gerade dein Röntgenbild aus und kann uns gleich mehr sagen.“

Ich beruhige mich etwas. Zum Glück hat sie ausgerechnet heute Spätdienst und kann kurz bei mir sein. Maria weiß, wie man ängstliche Patienten beruhigt.

„Musst du nicht zurück zu deiner Station?“, frage ich. Nicht, dass ihre Kollegen jetzt die doppelte Arbeit machen müssen, nur weil ich hier nicht alleine herumliegen will.

„Ich habe dort Bescheid gesagt und bleibe so lange bei dir, bis wir ein Ergebnis haben. Und dann sehen wir weiter. Das ist jetzt ein Notfall.“ Sie lächelt. „Und wir sind ausnahmsweise mal einigermaßen gut besetzt.“

In dem Moment kommen Dr. Roberts und Oskar herein. Der Name passt viel besser zu ihm als „Herr Friedrichs“.

„So, Frau König. Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie.“ Er schaut besorgt auf meinen Fuß. „Ihr Sprunggelenk ist gebrochen. Das muss operiert werden.“

„Oh nein.“ Maria hält sich entsetzt die Hand vor den Mund.

In meinen Ohren rauscht es. Oskar dreht den Computerbildschirm zu mir, aber ich sehe das Röntgenbild nur durch einen Tränenschleier. Gebrochen. Operation. So eine verfluchte Scheiße!

Dr. Roberts erklärt noch irgendwas, Maria nickt aufmerksam. Gut, dass sie dabei ist, denn ich bin nicht mehr in der Lage, etwas aufzunehmen. Zu laut hallen die Worte des Arztes noch in meinen Ohren nach. Gebrochen. Operation. Gebrochen. Operation. Das ist eine Katastrophe!

„Das letzte Mal hast du heute Morgen etwas gegessen, oder?“ Maria stupst mich sanft an. Ich nicke.

„Du hast mir doch einen Apfel angedreht. Um den Kreislauf etwas in Schwung zu bringen.“ Wozu wollen sie das wissen?

„Alles klar. Der Bruch ist so stark verschoben, dass wir Sie heute noch operieren müssen, bevor der Knöchel zu dick anschwillt. Ich spreche gleich mit meinem Oberarzt, Herr Friedrichs stellt Ihnen noch ein paar Fragen, wir erledigen den Papierkram und dann geht es auch schon los.“ Dr. Roberts nickt mir zu und geht.

Ich kann die Tränen kaum mehr zurückhalten. Zu groß ist die Überwältigung. Maria streicht mir beruhigend über den Rücken.

„Martha, alles wird gut“, murmelt sie. „Sie werden sich Mühe geben, sodass du dein Bein bald wieder belasten kannst.“

„Ich helfe bei der OP mit und passe auf“, meldet Oskar sich zu Wort.

Den hatte ich vollkommen vergessen. Er ist bei der OP dabei. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie beruhigt mich das. Sein Blick ist offen, er sieht mir direkt in die Augen und mein Herzschlag verlangsamt sich allmählich von einem ICE auf eine Straßenbahn.

„Siehst du?“ Maria lächelt. „Du bist nicht allein. Und in guten Händen.“

Ich versuche einigermaßen ruhig ein- und auszuatmen, zittere aber trotzdem am ganzen Körper. Oskar fragt, ob ich irgendwelche Medikamente nehme oder krank bin. Wen interessiert das alles? Es gibt doch im Augenblick nur eine einzige wichtige Frage: Kann ich danach wieder tanzen? Ich traue mich nicht, diese Frage zu stellen - aus Angst vor der Antwort. Maria nimmt meine Hand und drückt sie fest. Sie sieht, wie sehr ich um Fassung ringe.

„Wie lange werde ich ausfallen?“, frage ich leise. Ich muss es einfach wissen, Angst hin oder her.

„Puh, so genau kann man das vor der OP noch nicht sagen.“ Oskar runzelt die Stirn. Er wirkt zwar professionell, aber ich sehe genau, dass er etwas vor mir verbergen will.

„So im Durchschnitt?“

„Ein paar Monate“, meint er.

Jetzt laufen die gerade gestoppten Tränen wieder los. Ein paar Monate. Ich bin 20 Jahre alt und habe meine gerade begonnene Solokarriere schon wieder beendet. Nach diesen Monaten kann ich von vorne anfangen. Und Yasmin triumphiert.

„Das heißt aber noch lange nicht, dass du nie wieder tanzen kannst“, beruhigt Maria mich.

Oskar nickt bekräftigend.

„Und wenn doch?“, schluchze ich.

„Jetzt warten wir erst mal ab. Morgen können wir mehr dazu sagen“, erklärt Oskar. Er wippt unruhig auf und ab, als wäre ihm die Situation unangenehm. Macht er das bei allen heulenden Patienten, deren Träume gerade zerplatzen?

„Gibt es jemanden, den wir anrufen können?“, will Oskar wissen. „Du bist ihre Mitbewohnerin, richtig?“

Maria nickt.

„Ich rufe gleich Marthas Mutter an. Die soll mit unserer dritten Mitbewohnerin ein paar Sachen packen und dann sofort hierherkommen. Informiert mich bitte, sobald die OP vorbei ist. Dann schaue ich auch noch mal nach ihr“, bittet sie Oskar, der unter ihrem energischen Ton kurz zusammenzuckt und nun brav nickt. Maria ist die Planerin in unserer WG. Manchmal glaube ich, sie hat vor ihrem geistigen Auge eine Checkliste, die sie in jeder möglichen Situation einfach abhakt. Egal wie ruhig und besorgt sie vorher war. Sie kann jederzeit spontan in den Organisationsmodus wechseln.

„Wie lange tanzt du schon?“, will Oskar wissen, als er am Computer meine Akte ausfüllt. Er wird rot. Offensichtlich hat er gemerkt, dass er mich gerade versehentlich geduzt hat. Wahrscheinlich ärgert er sich jetzt innerlich schwarz, dass ihm seine professionelle Distanz für eine Sekunde entglitten ist.

Sein Zeigefinger tippt auf der Computermaus herum. Es scheint, als könne er sich nicht eine Minute ruhig halten. Und so will er mich gleich mitoperieren? Vielleicht ist das doch keine so gute Idee.

„Seit ich denken kann“, erwidere ich. Im Alter von drei Wochen wurde ich das erste Mal von meiner Mutter in einen Ballettsaal geschleppt. Mit zwei Jahren stand ich selbst in winzig kleinen Schläppchen und rosa Tutu im Saal. Und mit zehn Jahren tanzte ich auf Spitzenschuhen meine erste Hauptrolle in der Weihnachtsaufführung unserer Ballettschule. Das Tanzen ist mein Leben. Ich kann nicht ohne sein.

„Und tanzen Sie hier in Köln in einem Theater?“

„Ich tanze beim Cologne Ballet Theatre.“ Ich schlucke. „Ich bin … war dort Solistin.“ Mein Atem hatte sich gerade wieder beruhigt, aber der Gedanke an meine vermasselte Chance auf eine Solopremiere lässt ihn wieder schneller werden. Wenn Oskar recht hat, werde ich in dieser Saison die Bühne nicht mehr betreten. Und vielleicht auch nie wieder in meinem Leben.

Maria drückt empört meine Hand.

„Noch ist Ihre Karriere nicht vorbei“, meint Oskar. Seine Stimme klingt gelassen. „Viele Patienten können ihren Sport nach einer verletzungsbedingten Pause wieder ausüben. Wenn Sie sich an alle Vorgaben halten, spricht nichts dagegen.“ Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ein offenes Lächeln. Vertrauenswürdig. Vielleicht sollte ich doch froh sein, dass er während der OP auf mich aufpasst, egal wie zappelig er ist. Aber er hat „viele Patienten“ gesagt, nicht „alle“. Meine Gedanken beginnen wieder zu kreisen und noch mehr Fragen purzeln durch meinen Kopf.

„Wie lange muss ich im Krankenhaus bleiben?“ Ich hasse Krankenhäuser. Bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren haben meine Mutter und ich jeden Tag meinen Vater besucht. Es war schrecklich und ich hoffte eigentlich, danach nie wieder ein Krankenhaus betreten zu müssen. Nie mehr diese kargen Krankenzimmer zu sehen. Den Geruch von Desinfektionsmittel zu riechen. In diesem Gewusel von Pflegekräften, Ärzten und Patienten den Durchblick zu bewahren. Nie wieder.

„Mitte oder Ende der Woche entlässt man Sie sicher nach Hause“, vermutet Oskar.

„Versprochen?“ Länger halte ich es hier nicht aus.

„Versprochen.“ Sein Lächeln wird breiter.

Mir wird warm ums Herz und für einen kurzen Moment rückt meine Angst in den Hintergrund. Trotz des Arztoutfits und des ganzen medizinischen Schnickschnacks, der aus seinen Taschen herausragt, wirkt er echt sympathisch. Auf eine andere Weise als seine Kollegen. Ich vertraue ihm. Seine dunklen Locken sehen zerzaust aus, als würde er sich oft mit der Hand durchfahren. Ein ganz anderer Typ als John mit seinem Haargel. Oskar würde bestimmt niemals so ein enges Hemd anziehen wie John gestern Abend. John. Wie konnte ich diesem Idioten nur vertrauen? Glauben, dass er ernsthaft Interesse an mir hat, obwohl er mit Yasmin befreundet ist? Er hat mich nur ausgenutzt. Mich abgefüllt und heute wie Luft behandelt. Er hätte mich stützen können, als ich das Gleichgewicht verloren habe. Stattdessen hat er nicht einmal den Mut gehabt, mir zu sagen, was eigentlich sein Problem war. Wahrscheinlich tanzt er jetzt gerade mit Yasmin und erntet eine Menge Lob. Und in ein paar Wochen treten sie zusammen bei der Premiere auf. Das perfekte Paar. Obwohl ich dort eigentlich hätte stehen sollen.

Dr. Roberts rauscht in den Raum. „So, Frau König, ich erkläre Ihnen jetzt noch ein bisschen die OP und dann geht es auch schon los.“

Mir wird etwas von Platten, Schrauben und allerlei weiteren gruseligen Details erzählt und meine Hoffnung, bald wieder tanzen zu können, schwindet dahin. Wie soll ich auf Spitzenschuhen stehen, wenn mein Knöchel ein Metallhaufen ist? Gut, dass Maria immer noch dabei ist. Sie hört wieder einmal aufmerksam zu und stellt dem Arzt eine Menge Fragen, während ich nur die Hälfte von dem, was er sagt, verstehe. Mir schwirrt der Kopf.

Eine andere Ärztin erklärt mir etwas zur Narkose, ich muss tausende Zettel unterschreiben und bekomme dann ein hellblaues Hemd mit kleinen Mustern gereicht. Das scheint mein Zeichen des Aufbruchs zu sein. Dr. Roberts wünscht mir alles Gute für die Operation. Oskar zwinkert mir aufmunternd zu.

„Bis gleich.“ Seine Hand streift im Vorbeigehen meine Schulter und hinterlässt einen unsichtbaren heißen Abdruck.

Dann setzt der Zeitraffer ein. Maria hilft mir beim Umziehen, eine Pflegerin nimmt mir Blut ab, um einen Schnelltest für alle möglichen Werte vor der OP zu machen, und legt eine Infusionsnadel in meinen Arm. Schnell zupfe ich mir noch die Haarnadeln und Haargummis aus dem Dutt, zu dem ich meine schulterlangen dunkelbraunen Haare für die Probe hochgesteckt hatte. Stattdessen wird mir eine Haube gereicht, die verrutscht, sobald ich meinen Kopf bewege. Ich muss absolut schrecklich aussehen.

„Ich drücke dir ganz fest die Daumen“, flüstert Maria mir ins Ohr. „Sobald du wieder wach bist, komme ich zu dir. Und bestimmt ist deine Mutter dann auch schon da.“

Ich nicke nur stumm. Schon wieder habe ich Tränen in den Augen. Ist das normal, dass man vor einer Operation so große Angst hat? Oder nur, wenn die gesamte Karriere davon abhängt?

Ich werde in ein Bett verfrachtet und durch die halbe Klinik in den Operationssaal gefahren. Während sich über mir das Deckenmuster und die Neonleuchten abwechseln, konzentriere ich mich auf meine Atmung. Einatmen, ausatmen. Nur nicht noch nervöser werden. Die Narkoseärztin gibt sich alle Mühe, mir jedes Kabel zu erklären. Vergeblich. Als das Piepen der Maschinen anfängt, laufen die Tränen wieder los. Ich kann sie nicht zurückhalten. Die Angst vor der OP und vor meiner Zukunft vermischt sich mit Bildern von meinem krebskranken Vater, der am Schluss ebenfalls an piependen Maschinen hing. Ich wollte ihn doch stolz machen, habe ihm mein Solo gewidmet und jetzt liege ich mit einem gebrochenen Sprunggelenk selber im Krankenhaus. Yasmin und John hatten die ganze Zeit recht. Ich hatte dieses Solo nicht verdient.

„Denken Sie an etwas Schönes. Dann träumen Sie davon.“ Die arme Narkoseärztin wagt einen weiteren hilflosen Beruhigungsversuch, aber ich kann die Tränen trotzdem nicht aufhalten. Die ganzen Bilder in meinem Kopf, der hellblau gekachelte Operationssaal, die Kälte, die hellen Lampen und das rhythmische Piepen der Maschine, die gleich die Kontrolle über meinen Körper übernehmen wird, überwältigen mich und ich zittere am ganzen Körper. Wie soll ich da an etwas Schönes denken?

Plötzlich nimmt jemand meine Hand. Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Ein grünes Männchen steht neben mir. Ich erkenne die Person in der grünen Kleidung mit der grünen Haube und dem Mundschutz nicht. Grün ist meine Lieblingsfarbe. Die Person streichelt sacht über meinen Handrücken.

„Entspann dich“, murmelt sie. Ich halte einen kurzen Moment die Luft an. Es ist Oskar. Seine Stimme und die dunklen Augen verraten ihn. Seine Augenfarbe erinnert mich an Zartbitterschokolade.

„Ich habe doch gesagt, dass ich auf dich aufpassen werde.“ Er zwinkert mir zu. Ich atme noch einmal tief ein. Stimmt. Das hatte er gesagt.

„Danke“, flüstere ich, soweit das unter der Sauerstoffmaske, die mir vor die Nase gehalten wird, geht. Mein Herzschlag beruhigt sich.

„Mach die Augen zu. Dann musst du diese ganzen Kabel nicht mehr sehen“, sagt Oskar.

Ich schließe die Augen. Verrückt. Ich kenne ihn kaum und doch fühle ich mich sicher. Hält er allen Patienten die Hand, wenn sie operiert werden? Oder hat er Mitleid mit mir, weil ich die ganze Zeit heule wie ein Schlosshund?

Jemand fummelt an meiner Infusionsnadel herum.

„Hast du schon mal Schwanensee getanzt?“, fragt Oskar. Ich höre seine Stimme nur noch wie durch Watte. Ich schüttle den Kopf. Ich wollte schon immer mal Odile, den schwarzen Schwan, tanzen. Oder Odette, den weißen. Ein Traum, der möglicherweise nie in Erfüllung gehen wird.

„Nussknacker?“

Nicken ist zu anstrengend. Die Watte wird immer dichter. Ich weiß nicht, ob Oskar mich noch etwas fragt, denn bevor ich das realisieren kann, schlafe ich ein.

Mit klopfendem Herzen öffne ich die schwere Glastür und betrete den hellen Flur. Aus den Studios zu meiner Linken tönen Stimmengewirr und leise Musik, im Flur wuseln Tänzer und Tänzerinnen in Trainingskleidung herum. Das Schlurfen der Thermostiefel zum Aufwärmen der Füße auf dem mausgrauen Betonboden hallt von den weißen Wänden wider, die mit großen, gerahmten Fotografien der letzten Aufführungen geschmückt sind. Ich atme den Geruch von Deo, Schweiß und Putzmittel ein. Das sind sie. Die heiligen Hallen des Cologne Ballet Theatre. Ein paar Mal habe ich dieses Gebäude schon bei Kindersommerprogrammen von innen gesehen und wusste direkt, dass ich eines Tages selbst einmal hier trainieren würde. Deshalb finden meine Füße wie von alleine den Weg zur Damenumkleide.

Ich bin wie immer viel zu früh dran und kann mir in Ruhe einen Platz suchen. Meine ausgebeulte Trainingstasche stelle ich auf die Holzbank und schäle mich aus meiner Regenjacke.

„Hi. Bist du neu?“ Eine blonde junge Frau kommt aus den Duschräumen. Sie lächelt mich freundlich an und wickelt anmutig ihre langen glatten Haare zu einem Dutt zusammen. „Ich habe dich doch schon einmal gesehen, oder? Du kommst mir bekannt vor. Wo hast du deine Ausbildung gemacht?“

„John-Cranko-Schule in Stuttgart“, antworte ich.

„Cool, da war ich auch. Ivana.“ Sie hält mir ihre rechte Hand hin.

„Stimmt, du hast ein paar Jahre vor mir den Abschluss gemacht.“ Ich schlage ein und erwidere ihr Lächeln. Ein paar Mal bin ich ihr in den Gängen über den Weg gelaufen oder habe sie bei Soloauftritten bewundert. Aber ich wusste nicht, dass sie zum CBT gegangen ist.

„Ist das hier dein erstes Engagement?“, will sie wissen.

„Ja.“ Wieder beginnt mein Herz zu klopfen, während ich meine Schuhe abstreife und in Ballettschläppchen und Aufwärmstiefel schlüpfe. „Ich wollte immer hierher.“

„Das hat unseren Intendanten sicher gefreut. Das Cologne Ballet Theatre bildet schon lange junge Tänzer nach ihren Abschlüssen weiter aus. Wie heißt du?“

„Oh.“ Ich streiche mir eine Haarsträhne zurück hinters Ohr. „Ich bin Martha.“ Schnell stecke ich die widerspenstige Strähne mit einer Nadel zurück an ihren Platz.

„Schön. Kommst du mit zum Aufwärmen?“

Ich folge Ivana den Flur entlang und betrete nach ihr den hellen Trainingsraum. Ein paar Köpfe drehen sich zu mir um. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die zu früh gekommen ist.

„Das ist Martha“, stellt Ivana mich vor. „Sie kommt frisch von der Akademie und startet heute ihre Ballettkarriere bei uns.“

„Willkommen“, begrüßt ein blonder Tänzer mich und lächelt freundlich. „Ich bin Leo.“

Ich nicke ihm zu und suche mir einen Platz an der Ballettstange, um mein Aufwärmtraining zu beginnen. So fühlt es sich also an, Profi zu sein. Ein Gefühl von Freiheit durchflutet mich. Ich habe die Akademie geliebt und vermisse meine Freunde aus aller Welt, aber es tut gut, wieder in der Heimat zu sein. Erst recht nach Papas Tod vor zwei Jahren, der mich und meine Familie komplett aus der Bahn geworfen hat.

Ich tanze meine Pliés und Tendus, mache ein paar Dehnübungen und genieße es, wie meine Muskeln unter der Fleece-Hose langsam warm werden. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich an einem Sommerprogramm des Cologne Ballet Theatres teilgenommen. Ich stand genau an diesem Platz an der Stange und folgte ehrfürchtig den Anweisungen des Trainers. Jetzt bin ich achtzehn und beginne meine Karriere im Corps de Ballet dieser Kompanie. Von nun an ist es mein Ziel, mich nach oben zu arbeiten. In die Solistenreihe.

Für einen kurzen Moment breitet sich plötzlich Stille aus. Zwei weitere Mitglieder der Kompanie haben den Raum betreten. Er ist groß und breitschultrig, die dunkelblonden Haare lässig aus dem kantigen Gesicht gegelt. Sie klein und zierlich, die schwarzen Haare zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt. John und Yasmin. Die ersten Solisten. Mein Herz macht einen Hüpfer. Yasmin ist der Star der Kompanie. Seit sechs Jahren ist sie hier die Primaballerina, ein echtes Naturtalent. Mit John zusammen bildet sie das perfekte Balletttraumpaar. Schon ganz früh habe ich mir YouTube-Videos von ihnen angeschaut. Unsere Blicke treffen sich. Ups, vielleicht habe ich ein bisschen zu offensichtlich gestarrt. Sie kommt auf mich zu.

„Du bist neu.“ Sie schenkt mir ein höfliches Lächeln.

„Ja. Ich bin Martha. Die Neue im Corps de Ballet“, erkläre ich hastig.

„Schön, dich kennenzulernen.“ Yasmin reicht mir die Hand. „John, das ist Martha.“ Sie winkt ihren Partner zu sich heran.

„Hi, Martha. Herzlich willkommen.“ John zwinkert mir zu.

Ein warmer Schauer rieselt über meinen Rücken. Ich wusste, dass mir als Profitänzerin viele Stars über den Weg laufen würden, aber hätte nie gedacht, dass es so ein besonderer Moment ist, wenn einem die Idole wirklich gegenüberstehen.

„Guten Morgen, alle zusammen.“ George, der Intendant und Choreograf des CBT, betritt den Saal. „Ich hoffe, ihr seid alle ausgeschlafen und erholt vom freien Wochenende. Wir starten heute mit dem neuen Stück, da brauche ich konzentrierte Tänzer.“ Er lacht. Dann entdeckt er mich in der Menge. Sein Blick wird warm.

„Wir haben ein neues Mitglied in unseren kreativen Reihen. Herzlich willkommen.“ Er winkt mich nach vorne. Zögerlich trete ich vor. Ich habe nicht damit gerechnet, mich vor allen Leuten vorstellen zu müssen. Ist das in Ballettkompanien üblich?

„Das ist Martha König. Sie hat gerade ihren Abschluss an der John-Cranko-Schule gemacht und tanzt ab heute bei uns im Corps de Ballet“, präsentiert George. Die anderen Tänzer und Tänzerinnen applaudieren und lächeln mir freundlich zu. Schüchtern lächle ich zurück.

„Ich kenne Martha schon sehr lange und weiß, welches Talent in ihr steckt. Ihr Vater, Christian König, hat diese Kompanie aufgebaut und ich freue mich sehr darüber, dass Martha sich entschieden hat, mit uns zusammen sein Werk fortzuführen. Denn ich bin mir sicher, dass sie es ohne Probleme auch in größere Kompanien geschafft hätte.“ George stupst mich kurz in die Seite und scheucht uns dann alle an die Ballettstangen.

Mit hochrotem Kopf schleiche ich an meinen Platz zurück. Natürlich sind mir die Tuscheleien und teils skeptischen Blicke der anderen nicht entgangen. Ich würde genauso gucken, wenn man mir plötzlich die Tochter eines der größten Choreografen Deutschlands vor die Nase stellen würde. Denken sie jetzt, ich wurde nur genommen, weil ich den berühmten Namen trage? Ich hatte gehofft, diesen Fakt eine Weile verschweigen zu können, bis alle wissen, dass ich genauso ein Vortanzen absolvieren musste, wie jeder andere auch. Natürlich haben George und die anderen hohen Tiere sich gefreut, dass ich mich beworben habe, aber letztendlich konnte ich mit meinem Talent überzeugen. Ich werde meinen Vater da, wo er gerade ist, stolz machen.

Der restliche Tag fliegt an mir vorbei. Nach der OP befinde ich mich in einem seltsamen Dämmerschlaf und bekomme gar nicht richtig mit, wie ich aus dem Aufwachraum in mein Zimmer gefahren werde, wo schon Maria und meine Mutter auf mich warten. Mein Hirn ist wie benebelt und ich bin gar nicht in der Lage, richtig auf ihre Fragen zu antworten. Mein Bein fühlt sich schwer an, als hätte man es einbetoniert. Ob das von dem ganzen Metall kommt, das jetzt in meinen Knochen steckt? Das Bein wurde in einen festen Stiefel gepackt. Vielleicht sorgt auch der für das neue Gewicht. Immerhin tut es nicht so mehr weh. Wahrscheinlich wurde ich mit starken Schmerzmitteln vollgepumpt. Der Vorteil daran ist, dass ich mir in diesem Dämmerzustand keine Gedanken über meine Zukunft machen kann.

„Es ist alles gut verlaufen“, höre ich Maria sagen.

„Gott sei Dank.“ Weint Mama? Meine Augenlider sind schwer, ich kann sie kaum offen halten vor Müdigkeit. Zittert ihre Stimme? Ich weiß, dass sie seit Papas Tod ebenfalls Angst vor Krankenhäusern hat.

Ich taste nach ihrer Hand, will ihr zeigen, dass wir das hier gemeinsam durchstehen – als Familie. Wie damals.

„Du bist so tapfer, Martha.“ Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Du auch.“ Ich lächle schwach. Sie ist immer die Starke von uns dreien gewesen.

„Schlaf noch ein bisschen. Ich bleibe bei dir.“ Mama drückt meine Hand und mir fallen die Augen wieder zu. Ich bin so froh, dass sie da ist. Es ist wie damals, als ich fünf Jahre alt war und mir das Handgelenk gebrochen habe. Ich habe geweint, weil ich dachte, ich könnte keine Ballerina werden. Mama hat mir Mut gemacht und hatte recht. Ein Gips und zack, wenige Wochen später war schon wieder alles gut.

Am nächsten Morgen bin ich allerdings wieder weniger zuversichtlich. Für einen kurzen Moment habe ich geglaubt, das ganze Drama sei nur ein schlechter Traum gewesen. Aber als um Punkt Mitternacht die Schmerzen in meinem Fuß so stark wurden, dass ich kein Auge mehr zumachen konnte, wurde mir klar, dass ich nichts von alldem geträumt hatte. Ich habe mir das Sprunggelenk gebrochen. Wurde operiert. Habe höllische Schmerzen und liege schlaflos in einem Krankenhausbett.

Meine Laune ist also nicht gerade die beste, als bereits in aller Herrgottsfrühe eine große Mannschaft von Ärzten in mein Zimmer spaziert kommt und mich aus dem Dämmerschlaf reißt, in den ich mich gequält habe. Da das Bett neben mir leer ist, bekomme ich auch noch ihre volle Aufmerksamkeit. Ich blinzle in das Licht der viel zu hellen Deckenlampe und streiche meine zerzausten Haare glatt. Zum Glück habe ich mir gestern noch mit Mamas Hilfe ein langärmliges graues T-Shirt und eine schwarze Trainingsshorts angezogen. So muss ich hier nicht halb nackt in diesem hässlichen OP-Hemd liegen.

Dr. Roberts erklärt den anderen Ärzten, die am Wochenende nicht im Dienst waren, was passiert ist, und ein älterer Arzt ergänzt das Ganze mit ein paar Details in Fachsprache. Er hat mich wohl operiert. Mir fällt es schwer, ihrem Gemurmel zu folgen, denn ich habe von diesem Medizinkram keine Ahnung. Ich erkenne Oskar, der in der hinteren Reihe steht. Er erwidert meinen Blick mit seinen Schoko-Augen. Ist das ein kleines Lächeln in seinem sonst neutralen Gesicht? Erinnerungen kommen hoch. Hat er wirklich gestern meine Hand gehalten und beruhigend auf mich eingeredet, als ich eingeschlafen bin? Oder habe ich das geträumt? Wieso sollte ich so was träumen?

„Morgen wechseln wir den Verband. Und dann entscheiden wir, wann Sie nach Hause gehen dürfen“, erklärt der Oberarzt freundlich.

„Wann kann ich denn wieder mit dem Training anfangen?“, frage ich zögerlich. Ich weiß, ich bin gerade erst operiert worden. Aber ich will nichts sehnlicher, als auf die Bühne zurückzukehren. Es kann jetzt nicht einfach vorbei sein.

„Sie sind Balletttänzerin?“ Der Oberarzt runzelt die Stirn.

Abgesehen von seiner Fachsprache scheint er sehr nett zu sein. Ich hoffe, er ist ehrlich und verheimlicht kein Detail vor mir. Falsche Hoffnungen würde ich nicht ertragen.

„Solistin.“ Ich nicke.

„Das war ein sehr komplizierter Bruch. Das konnte man im Röntgenbild nicht so erkennen. Wir warten ab, wie die Wunde und Knochen heilen und dann sehen wir, wann Sie wieder trainieren können“, antwortet er vage.

„Das heißt, es wäre möglich, dass ich nie mehr tanzen kann?“, hake ich nach. Meine Stimme zittert. Ich will Antworten, keine schwammigen Vermutungen. Mein Leben hängt davon ab!

„Das können wir jetzt noch nicht sagen“, wiederholt mein Gegenüber. „Es liegt im Bereich des Möglichen, dass Sie das Sprunggelenk problemlos wieder belasten können. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Sie immer vorsichtig sein müssen, weil die Bänder nicht richtig heilen und das Gelenk instabil wird. Dann könnten Sie zumindest nicht mehr professionell tanzen. Aber erst mal hoffen wir das Beste. Rechnen Sie auf jeden Fall damit, dass sie mindestens ein halbes Jahr ausfallen werden.“

Mein Herz bleibt stehen. Ein halbes Jahr. Mindestens. Und wenn ich richtig Pech habe, dann für immer. Jetzt ist es wirklich wahr.

Die Ärzte ziehen weiter. Ich sacke zusammen. Was für ein Albtraum.

Ich habe mich gerade mit Kopfhörern in meinem Bett vergraben, um mir auf meinem Tablet zur Ablenkung einen kitschigen Film anzuschauen und danach noch eine Runde zu schlafen, da öffnet sich meine Zimmertür.

„Hallo, Frau König.“ Oskar stellt ein Tablett mit allerlei medizinischem Krimskrams auf meinem Nachttisch ab. „Und, habe ich gut aufgepasst?“

„Wie man's nimmt“, brumme ich und setze mich auf. Gestern im OP hat er mich noch geduzt. Das enttäuscht mich ein bisschen. „Wenn meine Karriere jetzt zu Ende ist, wohl nicht.“

„Vielleicht geht ja alles gut.“ Sein freches Grinsen wird etwas weicher. „Ich muss Ihnen einmal Blut abnehmen.“ Er hält ein paar bunte Röhrchen hoch.

„Schon wieder?“ Ich verziehe mein Gesicht. Ich hasse es, wenn man Nadeln in mich hineinsticht. Genauso wie ich es hasse, operiert zu werden. Und in diesem Zimmer zu liegen. An die hellgelben Wände zu starren und dieses superidyllische Strandbild mir gegenüber zu sehen. Ich hasse alles, was in diesen Mauern geschieht. Ich will das alles nicht.

„Wir kontrollieren, ob Sie die OP gut überstanden haben.“ So wie Oskar die Worte hinunter leiert, scheint diese Nachfrage ziemlich oft zu kommen.

„Na gut.“ Widerwillig schiebe ich den Ärmel meines Langarmshirts hoch.

„Heißen Sie mit Vornamen wirklich Martha Isadora?“, fragt Oskar verwundert mit Blick auf das Etikett auf dem Röhrchen.

„Es wird englisch ausgesprochen.“ Ich verdrehe die Augen. Wie vielen Leuten ich das schon erklären musste. Irgendwann habe ich damit aufgehört und akzeptiere mittlerweile auch die deutsche Aussprache. „Meine Eltern haben mich nach großen Tänzerinnen benannt. Martha Graham und Isadora Duncan. Die haben den modernen Tanz geprägt.“

„Sind Ihre Eltern auch Tänzer?“

„Meine Mutter ist früher Ballerina gewesen, jetzt leitet sie eine Ballettschule. Mein Vater war Choreograf. Er ist vor vier Jahren gestorben.“ Ich schlucke.

„Oh, das tut mir leid“, antwortet Oskar.

„Deswegen bin ich vermutlich gestern vor der OP ein bisschen durchgedreht.“ Ich schaue betreten auf meine Bettdecke. „Er hatte Krebs, weißt du?“ Wieso erzähle ich ihm das? Ich kenne ihn nicht. Er behandelt mich hier. Er hat gestern an meinem verdammten Bein herum geschraubt und jetzt will er mir auch noch Blut abzapfen. Und da er Medizin studiert, macht ihm das Ganze wahrscheinlich auch noch Spaß. Ist es der weiße Kittel, den er heute trägt, der mich zum offenen Buch macht, oder die Kombination aus dunkler Stimme, schokobraunen Augen und Wuschelhaaren?

„Darf ich dich dann Martha nennen? Oder lieber Martha Isadora?“ Er grinst, legt mir ein viel zu enges Gummiband um den Arm und desinfiziert die Stelle, in die er mich gleich stechen will.

„Äh …“ Ich werde rot. Jetzt habe ich ihn versehentlich auch außerhalb meiner Gedankenwelt geduzt. Ups. „Martha reicht voll und ganz.“ Immerhin achtet er auf die korrekte englische Aussprache, die so viele Leute in Köln einfach nicht verstehen.

„Okay, Martha, dann halte deinen Arm jetzt ganz ruhig. Es piekst gleich einmal kurz.“

Ich kneife die Augen zusammen. Was habe ich in meinem früheren Leben falsch gemacht, dass ich jetzt so gequält werde?

„Schon fertig.“ Oskar löst das Band.

Erstaunt reiße ich die Augen auf. Ich habe nichts gespürt. Keinen Pieks, nicht einmal dieses ekelhafte Gefühl, als würde der Arm jeden Moment absterben.

„Ich glaube, du wirst mal ein guter Arzt“, platzt es aus mir heraus. Okay, jetzt hält er mich wahrscheinlich für vollkommen bescheuert. Es reicht nicht, dass ich die ganze Zeit heule, nein, ich muss auch noch unüberlegte Kommentare vom Stapel lassen. Kein Wunder, dass John und Yasmin mich für unreif halten.

„Vielen Dank.“ Er schmunzelt. „Ich bin mir sicher, du bist auch eine großartige Tänzerin.“

„Danke.“ Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Oskar verabschiedet sich mit einem Winken und verlässt mein Zimmer.

Ich lasse mich zurück auf mein Kissen sinken. In meinem Kopf herrscht Chaos. Da ist die Wut auf John, Yasmin und mich selbst, die Verzweiflung, dass meine Karriere vielleicht beendet ist, die Erleichterung, dass die OP überstanden ist, und die Freude darüber, dass Oskar nicht nur eine Augenweide, sondern auch ein echt netter Kerl zu sein scheint. Irgendwie vergesse ich meine Sorgen und die Angst vor all dem Krankenhauskram hier, sobald er ins Zimmer kommt und mir aufmunternd zuzwinkert. Johns Zwinkern war schmierig. Oskars ist sexy.

Ich kneife mir in den Oberschenkel. Ich muss dringend aufhören, so über ihn zu denken …

„Guten Morgen, Schätzchen.“ Mama steckt den Kopf ins Zimmer.

„Hi“, antworte ich. Ist das immer so im Krankenhaus, dass die Leute sich die Klinke in die Hand geben? Seit Oskar verschwunden ist, ist vielleicht eine Stunde vergangen. Und zwischendurch habe ich Frühstück bekommen, mein Blutdruck wurde gemessen, mein Frühstück wieder abgeräumt und ein stämmiger Physiotherapeut namens Tobi fügte mir mit seinen Foltermethoden Höllenqualen zu. Eigentlich war ich gerade froh über einen kurzen Ruhemoment, bevor mir bald schon mein Mittagessen vor die Nase gesetzt wird. Trotzdem freue ich mich sehr, Mamas Gesicht zu sehen.

„Du bist ja wieder ansprechbar.“ Sie nimmt mich fest in den Arm. „Was haben die Ärzte gesagt?“

„Ich habe nicht alles verstanden. Aber wenn ich Pech habe, werde ich nie wieder professionell tanzen können.“ Ich schluchze auf. Für einen kurzen Moment hatte ich es verdrängt. Es ist so surreal, es auszusprechen. Wie einer dieser Träume, die sich wahnsinnig echt anfühlen und man sich doch die ganze Zeit fragt, wo der Fehler in dem Geschehen ist, der das Ganze unglaubwürdig macht.

„Ach Martha-Schatz.“ Mama drückt mir einen sanften Kuss auf den Scheitel und hält mich fest, als wäre ich nicht zwanzig, sondern drei Jahre alt. Sie lässt mich einfach weinen.

„Dabei hat doch alles gerade erst angefangen“, schniefe ich.

„Es kann immer noch weitergehen. Du bist jung. Dein Körper steckt so eine Operation viel leichter weg als der einer älteren Frau. Was meinst du, wie oft meine Bänder während der Ausbildung gerissen sind und ich hatte trotzdem fünfzehn wunderbare Jahre auf der Bühne.“ Mama lässt mich los und reicht mir ein Taschentuch.

„Störe ich?“

Vor lauter Naseschnäuzen habe ich nicht gemerkt, dass noch jemand in mein Zimmer gekommen ist.

„Oskar Friedrichs. Medizinstudent.“ Er reicht meiner Mutter höflich die Hand.

Ich versuche, mein Taschentuch möglichst unauffällig unter der Bettdecke verschwinden zu lassen. Es reicht schon, dass ich wieder in seinem Beisein weinen muss. Da soll er nicht auch noch meine Rotzfahnen sehen.

„Ich bin Marthas Mutter.“ Mama lächelt.

„Ich habe die Röntgenbilder aus der OP dabei.“ Oskar reicht mir ein paar Blätter mit einem Schwarz-Weiß-Druck. „Ich dachte, du findest das vielleicht interessant. Manchmal reden die Ärzte bei der Visite ja sehr schnell.“

„Sehr aufmerksam.“ Mama rutscht mit ihrem Stuhl ein Stück zur Seite, um Oskar Platz zu machen.

Oskar erklärt uns, was man auf den Bildern sieht. Aber ich kann mich schon wieder nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit auf seine dichten dunklen Wimpern und die feingliedrigen Finger starren muss. Diese Hände haben meine gehalten, als ich eingeschlafen bin. Und danach die Schrauben in meinen Knochen gebohrt, die auf dem Röntgenbild in Kombination mit der Platte bedrohlich aussehen. Kaum zu glauben.

„Gibt es noch Fragen?“ Er schaut uns erwartungsvoll an.

Mama schüttelt den Kopf. Ich tue es ihr hastig gleich. Ich habe kaum zugehört, wie soll ich da Fragen stellen?

„Das war sehr nett von dir“, bedanke ich mich höflich. Wenn ich entlassen werde, sehe ich ihn wahrscheinlich nie wieder, fällt mir auf. Schade, dass Köln so eine Großstadt ist.

„Gern geschehen.“ Oskar lächelt. „Ich lasse sie dir da.“ Er legt die Bilder auf meinen Nachttisch.

„Danke.“ Mein Herz macht einen Hüpfer.

„Das war ja ein netter junger Mann.“ Mama grinst breit, als Oskar das Zimmer verlassen hat. „Findest du nicht?“

„Er hat einfach Mitleid mit mir.“ Ich verdrehe die Augen. Seit ich hier bin, habe ich die meiste Zeit geweint. Ich habe noch keinen Blick in den Spiegel gewagt, aber ich kann mir meine roten, geschwollenen Augen und die passenden Schatten darunter gut vorstellen. Außerdem habe ich meine Haare seit vorgestern Nachmittag nicht mehr gewaschen und dementsprechend kleben sie jetzt platt an meinem Hinterkopf.

„So hat er dich nicht angesehen.“ Mama zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich lasse mich stöhnend zurückfallen, was mein Fuß mir mit einem stechenden Schmerz dankt. Wie ich diesen Stiefel jetzt schon hasse …

„Was mache ich, wenn die Ärzte Recht haben?“, wechsle ich das Thema. „Und ich meine Karriere an den Nagel hängen muss?“

„Denk da gar nicht dran.“ Mama streicht mir beruhigend über die Haare.

„Aber ich muss doch einen Plan B finden.“ Ich schließe die Augen. Alle raten mir, ich solle nicht daran denken. Aber wie ist das umzusetzen, wenn es für mich im Leben nie etwas anderes gab als Ballett? Würden sie nicht genauso große Angst vor der Zukunft haben, wenn ihre Träume auf dem Spiel stünden?

„Noch nicht. Schau erst mal, dass du wieder auf die Beine kommst. So viele Ballerinen vor dir haben sich schon die Sprunggelenke gebrochen. Es gibt immer einen Weg.“ Sie lächelt.

Ich schmiege mich an ihren Arm. Meine Mutter weiß, wovon sie spricht. Aber sie hatte nach dem Ende ihrer Karriere auch einen Plan. Sie hat zwischendurch meinen Vater kennengelernt und mit ihm die Ballettschule eröffnet. Und sie waren auch schon um die 40 Jahre alt, als sie ihre Bühnenkarriere beendeten. Ich bin gerade mal zwanzig. Und eigentlich auf der Zielgeraden zu meinem Karrierehöhepunkt. Wieso sollte ich da an einen Plan B denken?

„Du kannst jederzeit in meiner Schule mitarbeiten“, bietet Mama mir an. „Das hat dir doch immer so viel Spaß gemacht in deinen Ferien.“

„Wie soll das gehen, wenn ich nicht mehr richtig laufen kann“, brumme ich und drehe mich zur Seite. Das hat doch alles keinen Sinn.

Mama bleibt bis zum Mittagessen. Ich bin wortkarg, eigentlich will ich heute niemanden mehr sehen. Dieser blöde Stiefel drückt überall, obwohl eine nette Pflegerin ihn schon weiter eingestellt hat. Mein Rücken tut weh von der harten Gummimatratze. Außerdem ist mir immer noch schwindelig. Sie sagen, es sei noch eine Nachwirkung der OP, aber ich glaube, dass ich vom vielen Heulen vollkommen dehydriert bin. Oder mir wurde zu viel Blut abgezapft.

„Martha!“ Die Tür öffnet sich schwungvoll und knallt gegen die Wand.

Ich fahre hoch. Habe ich hier denn nie meine Ruhe? Ich weiß genau, wer jetzt in dieses Zimmer gestürmt kommen und mich an sich drücken wird, bis ich keine Luft mehr bekomme.

„Ich wollte ja gestern schon vorbeischauen, aber Maria meinte, du bräuchtest Ruhe.“ Meine zweite Mitbewohnerin Kenzie drückt mir einen dicken Schmatz auf die Wange und quetscht mir gefühlt alle Luft aus der Lunge.

„Jetzt konnte ich sie leider nicht mehr aufhalten, es tut mir leid.“ Maria grinst und zieht sich einen Stuhl an mein Bett.

„Hast du John schon zur Rede gestellt?“, will Kenzie wissen und lockert ihren Klammergriff. „Ich helfe dir auch beim Formulieren einer bösen Nachricht. Der kann dich doch nicht einfach fallenlassen!“

„Wie denn? Ich war gestern komplett weggetreten. Ich muss das erst mal alles verarbeiten.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. Die schwammigen Erinnerungen an den Sturz und die Stunden davor erscheinen mir immer noch unwirklich. Obwohl ich mittlerweile wieder klar denken kann. Irgendein wichtiges Detail blende ich aus. Yasmins seltsames Verhalten in der Probe? Johns herablassender Blick, nachdem ich gestürzt war? Das passt alles nicht zusammen.

„Ich wäre so ausgerastet“, schnaubt Kenzie und fährt sich wütend durch ihre hellblonde Kringellockenmähne.

Ich schmunzle. Ihre Mutter ist Schauspielerin und hat ihr sprühendes Temperament definitiv an ihre Tochter weitergegeben.

„Jetzt lass sie doch erst mal wieder gesund werden“, meint Maria beschwichtigend und deutet Kenzie mit dem Finger, sich auf einen der Stühle zu setzen. „Haben die Ärzte bei der Visite etwas Besonderes gesagt?“ Maria schaut interessiert auf die Röntgenbilder, die Oskar auf meinen Nachttisch gelegt hat.

Ich gebe in knappen Worten wieder, was die Ärzte mir gesagt haben, beziehungsweise das, was ich davon verstanden habe.

„Du musst John verklagen.“ Kenzie bebt vor Wut. „Wenn du wirklich nicht mehr tanzen kannst.“