Menschen der Tiefe - Jack London - E-Book

Menschen der Tiefe E-Book

Jack London

0,0

Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Die in diesem Buche niedergelegten Erfahrungen machte ich im Sommer 1902. Mit einem Gefühl, das am ehesten dem verglichen werden kann, welches einen Entdeckungsreisenden beseelt, stieg ich in die Unterwelt Londons hinab. Ich wollte lieber mit eigenen Augen sehen, als mich von Leuten belehren lassen, die nichts gesehen, oder von solchen, die vor mir schon alles gesehen und erlebt hatten. Außerdem hatte ich gewisse einfache Voraussetzungen, nach denen ich das Leben in dieser Unterwelt zu beurteilen gedachte: Was Leben, körperliche und geistige Gesundheit fördert, ist gut; was dem Leben entgegenarbeitet, es vernichtet, verkrüppelt, verfälscht, ist schlecht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 Menschen der Tiefe

Jack London

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Hopfenpflücker
Die Frau am Meer
Zweierlei Recht
Der Bodensatz
Der Lohn der Arbeit
Das Ghetto
Kaffee- und Logierhäuser
Die Unsicherheit des Lebens
Selbstmord
Die Kinder
Eine Vision in der Nacht
Die Hungerklage
Trunksucht, Mäßigkeit und Sparsamkeit
Verwaltung der Gesellschaft
Impressum

Vorwort

Die in diesem Buche niedergelegten Erfahrungen machte ich im Sommer 1902. Mit einem Gefühl, das am ehesten dem verglichen werden kann, welches einen Entdeckungsreisenden beseelt, stieg ich in die Unterwelt Londons hinab. Ich wollte lieber mit eigenen Augen sehen, als mich von Leuten belehren lassen, die nichts gesehen, oder von solchen, die vor mir schon alles gesehen und erlebt hatten. Außerdem hatte ich gewisse einfache Voraussetzungen, nach denen ich das Leben in dieser Unterwelt zu beurteilen gedachte: Was Leben, körperliche und geistige Gesundheit fördert, ist gut; was dem Leben entgegenarbeitet, es vernichtet, verkrüppelt, verfälscht, ist schlecht.

Ich gestehe dem Leser, daß ich vieles sah, was von Übel war, und doch darf man nicht vergessen, daß die von mir geschilderten Zeiten in England als »gute Zeiten« galten; Hungersnot und Obdachlosigkeit, die ich beobachtete, sind chronische Leiden, die selbst in Zeiten der höchsten Blüte nie aufhören.

Auf den Sommer, von dem ich spreche, folgte ein harter Winter. Arbeitslose versammelten sich täglich zu mächtigen Prozessionen, und zuweilen zog ein ganzes Dutzend solcher Heere auf einmal durch die Straßen und rief nach Brot. Justin McCarthy, im Januar 1903 Korrespondent der New-Yorker Zeitung »Independent«, schildert die Situation folgendermaßen:

»Die Arbeitshäuser können nicht mehr von den notleidenden Scharen aufnehmen, die sich Tag und Nacht vor den Toren ansammeln und Brot und Obdach fordern. Alle wohltätigen Einrichtungen haben bei dem Versuch, die notleidenden Bewohner von Dachkammern und Kellerräumen in den Gassen und Winkeln Londons am Leben zu erhalten, ihre Mittel aufgebraucht. Die Quartiere der Heilsarmee in den verschiedenen Distrikten Londons werden allnächtlich von Heerscharen Arbeitsloser und Hungernder belagert, denen man weder Nahrung noch Unterkunft verschaffen kann.«

Man hat behaupten wollen, daß die Kritik, die ich an den Verhältnissen in England übe, zu pessimistisch sei. Ich behaupte im Gegenteil, daß ich der optimistischste aller Optimisten bin. Aber man kann den Wert der Menschen nicht nach den politischen Zusammenschlüssen der Nationen beurteilen, sondern nur nach den Individuen. Die Gesellschaft wächst weiter, während die politischen Maschinerien entzweigehen und unbrauchbar werden. In England sieht man in bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit, Gesundheit und Glück einer lichten, lächelnden Zukunft entgegen. Aber in einem großen Teil der politischen Parteien, die jetzt das Land zu seinem Unglück leiten, sehe ich nichts als einen Haufen Gerümpel.

Piedmont, Kalifornien.

Jack London.

Der Abstieg

Das ist überhaupt unmöglich«, sagten meine Freunde zu mir, als ich mich entschlossen hatte, in das Londoner East End hinabzusteigen, und sie um Rat und Hilfe bat. Und als sie nachgedacht hatten, fügten sie mit einem peinlichen Versuch, sich in den Gedankengang eines Irrsinnigen zu versetzen, dessen Empfehlungen offenbar besser waren als sein Geisteszustand, hinzu:

»Sie wenden sich am besten an die Polizei, um einen Führer zu erhalten.« »Aber ich möchte die Polizei nicht in diese Sache hineinmischen«, protestierte ich. »Ich will East End mit eigenen Augen sehen, ich will wissen, wie die Menschen dort leben, warum und wofür sie leben. Kurz, ich will selbst unter ihnen leben.«

»Sie wollen doch nicht dort wohnen?« sagten alle, und die Unzufriedenheit stand deutlich auf ihren Gesichtern geschrieben.

»Vergessen Sie doch nicht, daß es dort Orte gibt, wo ein Menschenleben nicht zwei Schilling wert ist.«

»Diese Orte suche ich gerade«, warf ich ein.

»Aber es ist unmöglich«, lautete die Antwort immer wieder.

»Das wollte ich nicht wissen«, unterbrach ich sie kurz, abgestoßen von dem Mangel an Verständnis bei diesen Menschen. »Ich bin hier fremd und bin gekommen, um mir alles von Ihnen erzählen zu lassen, was Sie von East End wissen, damit ich ein wenig Bescheid weiß, ehe ich hingehe.«

»Aber wir wissen nichts von East End. Es liegt irgendwo dort drüben.« Und sie wiesen mit der Hand in der Richtung, wo man bei seltener Gelegenheit einmal die Sonne über London aufgehen sehen kann.

»Wollen Sie denn, daß ich mich an Cook wende?« meinte ich.

»Warum nicht?« antworteten sie erleichtert. »Cook wird wohl Bescheid wissen.«

Aber Herr O. Cook, in Firma O. Thomas Cook & Son, Pfadfinder und Reiseführer, dieses lebende Adreßbuch für die ganze Welt, der Helfer aller verirrten Reisenden erster Klasse, der mich ohne Bedenken im Augenblick mit Leichtigkeit und Expreß nach dem dunkelsten Afrika und ins innerste Tibet hätte schicken können, Herr O. Cook kannte nicht den Weg nach dem Londoner East End, das nur einen Steinwurf vom Ludgate Rondell entfernt liegt!

»Das ist nicht möglich«, sagte der lebende Katalog über Routen und Preise in Cooks Cheapside-Bureau. »Das ist so – hm – so ungewöhnlich.«

»Wenden Sie sich an die Polizei«, fertigte er mich ab, als ich an meiner Forderung festhielt. »Wir pflegen Reisenden East End nicht zu zeigen, niemand hegt den Wunsch danach, und wir wissen gar nichts über diese Gegend.«

»Lassen Sie es gut sein«, unterbrach ich ihn, um nicht von diesem Strom von Weigerungen aus dem Bureau gespült zu werden. »Sie können doch etwas für mich tun. Ich möchte gern, daß Sie im voraus wissen, was ich unternehmen will, so daß Sie gegebenenfalls imstande sind, mich zu identifizieren.«

»Schön, falls Sie ermordet werden sollten, werden wir die Leiche erkennen.«

Er sagte das so zuversichtlich und kaltblütig, daß ich plötzlich meinen starren, verlassenen Leichnam auf einer Steinplatte liegen sah, über die unaufhörlich kaltes Wasser rieselte, während er sich über mich beugte und betrübt und ruhig erklärte, daß dies die Leiche des verrückten Amerikaners sei, der durchaus East End sehen wollte.

»Nein, nein,« antwortete ich, »ich meine nur, daß Sie wissen sollen, wer ich bin, für den Fall, daß ich in Konflikt mit der Polizei gerate.«

»Dann müssen Sie sich schon in unsere Zentrale bemühen«, erklärte er. »Das ist etwas so Ungewöhnliches«, entschuldigte er sich.

Der Mann, den ich in der Zentrale antraf, räusperte sich, blinzelte mit den Augen und erklärte: »Wir haben es uns zur Regel gemacht, nie irgendwelche Auskunft über unsere Klienten zu erteilen.«

»Aber in diesem Fall bittet ein Klient Sie, es gegebenenfalls über ihn zu tun.«

Wieder räusperte er sich und blinzelte mit den Augen.

»Ja, ich weiß wohl, daß es etwas Ungewöhnliches ist, aber –« warf ich schnell ein.

»Das wollte ich eben sagen, es ist etwas Ungewöhnliches, und ich glaube nicht, daß wir Ihnen dienen können.«

Ich verließ ihn indessen mit der Adresse eines Detektivs in East End, und hierauf begab ich mich zum amerikanischen Konsul. Und in ihm fand ich endlich einen Mann, mit dem man reden konnte. Er blinzelte und räusperte sich nicht, hob nicht die Brauen und zeigte weder Mißtrauen noch Erstaunen. Im Verlauf einer Minute erklärte ich ihm mein Vorhaben, das er gleich als Tatsache hinnahm. Und in der nächsten Minute bat er mich um Auskunft über Alter, Größe und Gewicht und notierte mein Signalement. In der dritten Minute, als wir uns die Hand zum Abschied reichten, sagte er: »Also schön, Jack. Ich werde an Sie denken und Ihrer Fährte folgen.«

Ich atmete befreit auf. Jetzt hatte ich meine Schiffe hinter mir verbrannt, und es stand mir frei, mich in die menschliche Wildnis zu stürzen, von der niemand etwas zu wissen schien. Aber gleich darauf stieß ich auf eine neue Schwierigkeit in Gestalt meines Droschkenkutschers, eines graubärtigen, ungeheuer dekorativen Herrn, der mich mehrere Stunden lang in seinem Cab in der City herumgefahren hatte.

»Fahren Sie mich nach East End«, befahl ich, in den Wagen steigend.

»Wohin?« fragte er erstaunt.

»Irgendwohin in East End, fahren Sie!«

Der Wagen fuhr einige Minuten ziellos weiter. Dann hielt er plötzlich an. Die Klappe über meinem Kopf öffnete sich, und der Kutscher blickte völlig verwirrt zu mir herunter.

»Darf ich mir die Frage erlauben,« sagte er, »wo Sie hin wollen?«

»Nach East End. Keine bestimmte Stelle. Fahren Sie mich ein bißchen herum.«

»Aber nach welcher Adresse?«

»Also hören Sie doch!« rief ich. »Fahren Sie nach East End, und zwar sofort!«

Offenbar begriff er nicht, aber er zog den Kopf zurück und trieb das Pferd brummend an.

Es gibt keine Straße in London, wo man den Anblick der Armut meiden kann, weil etwa fünf Minuten von jedem beliebigen Punkt ein Armenviertel liegt; die Gegend aber, durch die mein Cab jetzt fuhr, war eine einzige große Spelunke. Die Straßen waren mit Menschen einer anderen Rasse bevölkert, von kleinen Menschen, die niedergebrochen und benebelt aussahen. Wir rollten dahin durch Meilen von Mauersteinen und Schmutz, und jede Querstraße zeigte eine ebenso lange Allee von Mauern und Elend. Hier und dort torkelte ein betrunkener Mann oder eine betrunkene Frau, und die Luft war direkt unrein von Streit und Zank. Auf einem Platz suchten alte Männer und Frauen tastend im Schmutz nach Gemüseabfällen, verfaulten Kartoffeln und Bohnen, während kleine Kinder wie Fliegen um einen Haufen verfaulten Obstes schwärmten und ihre Arme bis zu den Schultern in die breiige Masse bohrten, um kleine Stücke herauszufischen, die nur teilweise in Fäulnis übergegangen waren, und die sie sofort verzehrten.

Auf dem ganzen Wege sah ich nicht eine Droschke, und danach zu urteilen, wie die Kinder hinter meinem Wagen herliefen, muß er ihnen eine Offenbarung aus einer anderen und besseren Welt gewesen sein. So weit ich sehen konnte, erblickte ich nur die soliden Steinmauern, die schleimigen Bürgersteige und die staubigen Straßen; und zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich einen Hauch von Furcht vor der großen Masse. Man kann sie mit der Furcht vor dem Meere vergleichen, die elenden Schwärme straßauf und straßab erschienen mir wie die Wogen eines unermeßlichen, übelriechenden Meeres, das um mich her wogte und über meinem Kopf zusammenzuschlagen drohte.

»Stepney, Bahnhof Stepney«, rief der Kutscher.

Ich sah mich um. Es war wirklich ein Bahnhof, zu dem der Kutscher in seiner Verzweiflung gefahren war, als dem einzigen Ort in dieser Wildnis, von dem er je hatte reden hören.

»Nun, und?« fragte ich.

Er murmelte etwas Unverständliches, schüttelte den Kopf und sah sehr besorgt drein.

»Ich bin hier selbst ganz unbekannt«, stammelte er. »Wenn Sie nicht nach dem Bahnhof Stepney wollen, so weiß ich wahrhaftig nicht, wo ich Sie hinfahren soll.«

»Ich will Ihnen sagen, was ich will. Fahren Sie weiter und versuchen Sie, einen Laden zu entdecken, wo alte Kleider verkauft werden. Wenn Sie einen sehen, dann fahren Sie noch ein bißchen weiter, biegen um die nächste Ecke, halten dann und lassen mich aussteigen.«

Ich konnte merken, daß er um sein Geld zu fürchten begann. Aber kurz darauf hielt er an und sagte, ein Stückchen weiter in der Straße sei ein Altkleidergeschäft.

»Wollen Sie mich nicht zuerst bezahlen?« bat er. »Ich bekomme sieben Schilling sechs.«

»Jawohl,« lachte ich, »und dann kriege ich Sie nicht mehr zu sehen.«

»Es wird wohl eher so sein, daß ich Sie nicht mehr zu sehen bekomme, wenn Sie mich nicht vorher bezahlen«, rief er.

Eine Schar zerlumpter Zuschauer hatte sich schon um den Wagen gesammelt, und deshalb lachte ich nur und begab mich nach dem Laden.

Die größte Schwierigkeit hier war, dem Verkäufer begreiflich zu machen, daß ich wirklich alte Kleider haben wollte. Aber nach fruchtlosen Versuchen, mir neue und ganz unmögliche Jacken und Hosen aufzuschwatzen, brachte er einen Haufen gebrauchtes Zeug ans Tageslicht, während er mir geheimnisvolle und vielsagende Blicke zuwarf, um mich verstehen zu lassen, daß er mich durchschaute. Er meinte meine Furcht vor Entdeckung gut ausnutzen zu können. Offenbar hielt er mich für einen Mann in der Klemme oder einen Schwerverbrecher von jenseits des Ozeans, jedenfalls für einen Mann, der um jeden Preis der Polizei entgehen wollte.

Aber ich stritt mit ihm über den unverschämten Unterschied zwischen Preis und Wert seiner Ware, bis er völlig verzweifelte und schon den schwierigen Kunden an die Luft setzen wollte. Schließlich wählte ich ein Paar derbe, aber stark abgetragene Hosen, eine verschlissene Jacke, an der nur noch ein Knopf saß, ein Paar Nagelschuhe, die offenbar beim Kohlenlöschen getragen waren, einen Lederriemen und eine sehr schmutzige Sportmütze. Mein Unterzeug und meine Socken waren warm und neu, aber von der Art, wie sie sich jeder amerikanische Landstreicher unter gewöhnlichen Verhältnissen verschaffen konnte.

»Ich muß schon sagen, Sie haben einen harten Schädel«, sagte er mit unverhehlter Bewunderung, als ich ihm die zehn Schilling gab, über die wir uns schließlich für die ganze Geschichte geeinigt hatten. »Sie sind sicher nicht zum erstenmal in der Petticutgasse. Ihre Hosen sind ihre fünf Schilling wert, und jeder Dockarbeiter würde zwei Schilling sechs für die Latschen geben, gar nicht zu reden von Jacke, Mütze, dem neuen Heizerhemd und allem übrigen.«

»Was bieten Sie mir denn dafür?« frage ich plötzlich. »Ich habe Ihnen zehn Schilling für den ganzen Kram gegeben, und Sie sollen ihn ohne weiteres für acht wiederhaben.«

Aber er schüttelte nur lachend den Kopf. Wenn ich ein gutes Geschäft machte, so hatte er offenbar noch ein besseres gemacht.

Ich fand meinen Cabkutscher, wie er und ein Schutzmann die Köpfe zusammensteckten, als der letztere mich aber scharf in Augenschein genommen und namentlich dem Bündel, das ich unter dem Arm trug, große Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ging er seines Weges und überließ es dem Kutscher, selbst mit mir fertig zu werden. Der Kutscher wollte nicht weiterfahren, ehe er nicht die sieben Schilling sechs Pence, die ich ihm schuldete, erhalten hatte. Dann war er aber auch bereit, mich bis ans Ende der Welt zu fahren, und entschuldigte sich eifrig bei mir wegen seines Benehmens, indem er erklärte, daß man in einer Stadt wie London oft die merkwürdigsten Kunden fände.

Indessen mußte er sich damit begnügen, mich nach Highbury Vale in London-Nord zu fahren, wo mein Gepäck stand. Hier entledigte ich mich am nächsten Tage meiner Schuhe (mit Trauer sagte ich ihrer Leichtigkeit und Bequemlichkeit Lebewohl), meines weichen, grauen, reinen Anzuges und – nun ja, all meiner Kleider, worauf ich das Zeug des andern, mir gänzlich unbekannten Mannes anzog. Wie schlecht mußte es ihm gegangen sein, wenn er diese Lumpen für die elenden paar Schillinge verkaufte, die er von dem Trödler bekommen haben konnte.

In die Achselhöhle meines Heizerhemdes nähte ich ein Goldstück ein – eine verhältnismäßig geringe Summe in Anbetracht des Umstandes, daß es mein letzter Notgroschen sein sollte; und dann zog ich das Hemd an. Hierauf setzte ich mich und philosophierte über die guten fetten Jahre, die meine Haut weich gemacht und meine Nerven direkt unter die Haut gebracht hatten, denn das Hemd war hart und rauh, wie aus Haar gemacht. Ich bin sicher, daß der strengste Asket nicht mehr leidet, als ich in den folgenden vierundzwanzig Stunden litt.

Die andern Kleidungsgegenstände zog ich schnell an. Nur mit den Stiefeln hatte es seine Not. Sie waren steif und hart wie aus Holz, und erst nach einer langwierigen Bearbeitung des Oberleders glückte es mir, meinen Fuß hineinzubekommen. Einige wenige Schillinge, ein Messer, ein Taschentuch, etwas braunes Papier und etwas Shagtabak in der Tasche stolperte ich die Treppe hinunter und verabschiedete mich von meinen unkenden Freunden. Als ich ging, konnte die »Stütze«, eine freundliche Frau in mittleren Jahren, ein Lächeln nicht beherrschen, ihre Lippen trennten sich, und aus ihrer Kehle kam das seltsame Geräusch, das wir als Lachen bezeichnen.

Kaum stand ich auf der Straße, als ich auch schon den Unterschied fühlen sollte, den die Kleider schufen. Alle Zuvorkommenheit bei den einfachen Leuten, mit denen ich in Berührung kam, war verschwunden, in einer Sekunde war ich zu einem der ihren geworden. Meine alte, an den Ellbogen durchgeriebene Jacke war das Kennzeichen meiner Klasse, und meine Klasse war die ihre. Wir waren von derselben Art, und an Stelle der ehrerbietigen, etwas zu respektvollen Aufmerksamkeit, die sie mir bisher erwiesen hatten, trat jetzt Kameradschaft. Der Mann im Arbeitszeug und mit dem schmutzigen Tuch um den Hals sagte nicht mehr »Herr« zu mir. Jetzt hieß es »Kamerad«, ein schönes, herzliches Wort mit einem Klang von Wärme und Freude, den das andere Wort nicht besitzt. »Herr« – das Wort schmeckt nach Machtherrschaft und Autorität. Es ist ein Ausdruck der Untertänigkeit gegenüber dem besser Situierten. Man bittet um seine Gnade, mit andern Worten: eine Art Bettelei. Dies erinnert mich an eine Annehmlichkeit, die ich empfand, wie ich so in meinen Lumpen dahinging, an etwas, das dem reisenden Amerikaner selten begegnet: ich entging der langweiligen Trinkgeldplage und konnte mit den Leuten auf gleichem Fuß verkehren. Ja, noch ehe die Sonne unterging, hatten die Verhältnisse sich gänzlich verändert, und ich sagte sehr höflich: »Danke, Herr«, zu einem Herrn, dessen Pferd ich gehalten hatte, und der einen Penny in meine ausgestreckte Hand fallen ließ.

Ich entdeckte auch andere Veränderungen, die die Folge meines Kleiderwechsels waren. Wenn ich sonst den Schutzmann nach dem Wege fragte, sagte er stets: »Autobus oder Droschke?« Jetzt hieß es: »Wollen Sie gehen oder fahren?« Jetzt war es auch selbstverständlich, daß man mir auf dem Bahnhof Fahrkarten dritter Klasse gab.

Aber für das alles fand ich Ersatz. Zum erstenmal sah ich das englische Volk von Angesicht zu Angesicht und lernte es kennen. Wenn ich an Straßenecken und in Wirtshäusern mit Arbeitern und Müßiggängern sprach, redeten wir wie natürliche Menschen miteinander, und sie hatten keinen Hintergedanken, einen Vorteil aus mir zu ziehen.

Und als ich endlich nach East End gelangte, war ich froh, als ich merkte, daß die Angst vor der Menge mich verlassen hatte. Jetzt gehörte ich selbst zur Menge. Das unermeßliche, übelriechende Meer war über meinem Kopf zusammengeschlagen, oder ich war sanft hineingeglitten, und es hatte nichts Fürchterliches an sich – außer dem Heizerhemd.

Johnny Upright

Ich werde nicht Johnny Uprights Adresse nennen. Es mag genügen, daß er in der respektabelsten Straße von East End wohnt – einer Straße, die man in Amerika für sehr armselig ansehen würde, die aber in Ost-London eine reine Oase bedeutet. Auf allen Seiten ist sie von konzentriertester Unsauberkeit umgeben, von Straßen, die von einer elenden, schmutzigen Jugend wimmeln. Aber ihre eigenen Bürgersteige sind verhältnismäßig frei von spielenden Kindern, und sie sieht direkt verödet aus, so wenige Menschen verkehren in ihr.

Jedes Haus in dieser Straße steht Schulter an Schulter mit dem Nachbarhaus, genau wie in den andern Straßen von East End. Die Häuser haben jedes nur einen Eingang. Sie sind achtzehn Fuß breit, und hinter jedem liegt ein kleiner, von einer Mauer umgebener Hof, von dem man, wenn es nicht regnet, ein Stückchen grauen Himmels sehen kann. Man vergesse nicht, daß wir jetzt East-End-Luxus betrachten. Einige von den Bewohnern dieser Straße sind so wohlhabend, daß sie sich eine »Sklavin« halten können. Johnny Upright hat eine solche, und ich kenne sie sehr gut, denn sie war die erste Bekanntschaft, die ich in diesem seltsamen Teil der Welt machte.

Ich kam in Johnny Uprights Haus und wurde von der Sklavin empfangen. Ihre Stellung war bedauernswert und verachtet, aber sie betrachtete mich mitleidig und geringschätzig. Sie zeigte deutlich, daß sie unsere Unterhaltung so sehr wie möglich abzukürzen wünschte. Es war Sonntag, und Johnny Upright war nicht zu Hause, so daß es nichts mehr zu sagen gab. Aber ich blieb stehen und diskutierte mit ihr, ob das alles war, was sie mir zu sagen hätte, bis ich die Aufmerksamkeit von Frau Johnny Upright erregte und sie in die Tür trat. Ehe sie mich jedoch eines Blickes würdigte, begann sie mit dem Mädchen zu schelten, weil sie die Tür nicht geschlossen hatte.

Nein, Mr. Johnny Upright sei nicht zu Hause und empfinge zudem nicht am Sonntag. Ich sagte, das sei sehr schade. Ob ich denn käme, um Arbeit zu erhalten? Nein, im Gegenteil, ich sei eigentlich gekommen, um mit ihm über ein Geschäft zu reden, das Vorteile für ihn haben könnte.

Da erhielt alles ein anderes Aussehen. Der Herr sei in der Kirche, käme aber in einer Stunde heim, und dann könnte ich sicher mit ihm reden.

Ob ich nicht so freundlich sein wolle, näherzutreten? – nein, das bat die Dame doch nicht, obwohl ich es mit meiner Bemerkung, daß ich in der Wirtschaft an der Ecke warten wolle, darauf abgesehen hatte. Ich begab mich daher an die Ecke, aber die Wirtschaft war während der Kirchzeit geschlossen, und so setzte ich mich mangels etwas Besserem auf eine Treppe in der Nähe, um zu warten. Und hier fand mich die Sklavin, als sie mir mürrisch und erstaunt mitteilte, daß die gnädige Frau mir erlaubte, in der Küche zu warten.

»Es kommen so viele und wollen Arbeit haben«, erklärte Frau Johnny Upright. »Ich hoffe deshalb, daß Sie es mir nicht übelnehmen werden, wie ich Sie empfing.«

»Durchaus nicht, durchaus nicht«, antwortete ich herablassend, um doch einmal meine Lumpen mit Würde zu tragen. »Das sehe ich vollkommen ein. Ich kann mir denken, daß Sie von Arbeitsuchenden überlaufen werden.«

»Furchtbar«, erwiderte sie mit einem beredten Blick und führte mich dann – nicht in die Küche, sondern ins Eßzimmer, was ich als Ergebnis meines vornehmen Auftretens betrachtete.

Dieses Eßzimmer lag im selben Stock wie die Küche, etwa vier Fuß unter der Straße, und war selbst jetzt, mitten am Tage, so dunkel, daß meine Augen sich erst daran gewöhnen mußten. Ein matter Lichtschimmer sickerte durch ein Fenster herein, dessen Oberteil in Straßenhöhe lag, und ich stellte fest, daß ich bei der Beleuchtung eine Zeitung lesen konnte.

Und während ich hier auf Johnny Uprights Heimkehr warte, will ich erklären, was ich wollte. Ich wünschte in der Zeit, da ich mit den Bewohnern von East End zusammen wohnen, essen und schlafen sollte, eine Zuflucht in der Nähe zu haben, die ich hin und wieder aufsuchen konnte, um mich zu überzeugen, daß es noch gute Kleider und Sauberkeit gab. Hier wollte ich auch meine Post empfangen, meine Aufzeichnungen machen und hin und wieder in anderen Kleidern Streifzüge nach zivilisierten Gegenden unternehmen.

Aber ich stand einem schwierigen Problem gegenüber. Ein Logis, in dem mein Eigentum sicher sein sollte, erforderte eine Wirtin, der ein Mann, welcher ein solches Doppelleben führte, verdächtig sein mußte; und eine Wirtin wiederum, die sich nichts daraus machte, daß ihr Mieter derart lebte, konnte keine Garantie für die Sicherheit meines Eigentums bieten. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, suchte ich Hilfe bei Johnny Upright. Als Detektiv mit einer Erfahrung von einigen dreißig Jahren bei dauerndem Dienst, in East End weit und breit bekannt unter dem Namen, den ein verurteilter Verbrecher ihm gegeben hatte, war er eben der Mann, eine ehrliche Wirtin für mich zu finden und sie in bezug auf mein seltsames Tun und Lassen zu beruhigen.

Seine beiden Töchter kamen vor ihm aus der Kirche. Prächtige Mädel in ihrem Sonntagsputz, mit all der seltsam zarten Anmut, die für die echte Londonerin charakteristisch ist, einer Schönheit, die eigentlich nur ein Versprechen auf unbestimmte Zeit und verurteilt ist zu entschwinden wie die Farbenpracht des Sonnenuntergangs. Sie betrachteten mich mit freimütiger Neugier, als sei ich ein seltsames Tier, und ignorierten mich dann den Rest der Wartezeit hindurch vollkommen. Dann kam Johnny Upright selbst und ging mit mir nach oben, damit wir miteinander reden könnten.

»Sprechen Sie lauter«, unterbrach er mich gleich. »Ich bin so schrecklich erkältet und höre nicht gut.«

Ich dachte unwillkürlich, wo wohl der Gehilfe verborgen sein mochte, der die Aufgabe hatte, alles, was ich jetzt laut verraten sollte, aufzuschreiben, und noch heute weiß ich nicht, ob Johnny Upright wirklich erkältet war oder einen Gehilfen im Nebenzimmer hatte, obgleich ich seither viel mit ihm zusammengekommen bin und über die Sache nachgedacht habe. Soviel aber steht fest, daß er, obgleich ich ihm offen jede Auskunft über mich und mein Vorhaben erteilte, seine Meinung erst aussprach, als er mich am nächsten Tage gut gekleidet in seiner Straße angefahren kommen sah. Da wurde ich herzlich von ihm begrüßt und mußte mit ihm ins Eßzimmer gehen und mit seiner Familie Tee trinken.

»Wir sind einfache Leute,« sagte er, »nicht sehr verwöhnt, und Sie müssen versuchen, sich in unser anspruchsloses Leben zu finden.«

Die Töchter erröteten und waren verwirrt, als sie mich begrüßten, und er tat nichts, um es ihnen zu erleichtern.

»Ha! ha!« lachte er herzlich und schlug auf den Tisch. »Die Mädel glaubten, Sie wären gestern gekommen, um ein Stück Brot zu erbetteln! Ha! ha! ho! ho! ho!«

Sie leugneten es gekränkt mit wütenden Blicken und schuldvoll geröteten Wangen, als wäre es die Höhe wahren Feingefühls, durch Lumpen hindurch einen Mann entdecken zu können, der nicht in Lumpen zu gehen brauchte.

Und während ich hier saß und Brot mit Marmelade aß, entwickelte sich eine lustige Szene. Die Töchter meinten, daß ich beleidigt sein müßte, weil sie mich für einen Bettler gehalten hatten, während der Vater meinte, es sei ein großes Kompliment für meine Tüchtigkeit, daß die Verkleidung so gut geglückt wäre. Ich genoß das alles, wie ich das Brot und die Marmelade und den Tee genoß, bis der Augenblick kam, da Johnny Upright mit mir gehen sollte, um ein Logis für mich zu suchen, was ihm sechs Häuser weiter in seiner eigenen respektablen, wohlhabenden Straße glückte, in einem Hause, das seinem eigenen Hause glich wie ein Tropfen Wasser dem anderen.

Meine Wohnung und die einiger anderer

Für Ost-Londoner Verhältnisse war das Zimmer, das ich für sechs Schilling wöchentlich mietete, wirklich komfortabel. Aber mit amerikanischen Augen gesehen, war es schlecht möbliert, ungemütlich und klein. Als ich die Einrichtung durch einen gewöhnlichen Schreibmaschinentisch vermehrt hatte, konnte ich mich kaum darin umdrehen. Am besten ließ es sich durch eine Art Schlängeln ausführen, das große Gewandtheit und Geistesgegenwart erforderte.

Als ich eingezogen war oder vielmehr mein Eigentum hingeschafft hatte, zog ich meine »Wanderkleidung« an und machte mich auf den Weg. Da ich mich nun einmal schon mit der Mietsfrage beschäftigt hatte, sah ich mir Wohnungen an, wobei ich immer den Gedanken festhielt, daß ich ein armer junger Mann mit Frau und vielen Kindern wäre.

Meine erste Beobachtung war, daß nur sehr wenige Häuser leer standen. Ich ging tatsächlich meilenweit in allen Richtungen, um ein einziges leeres Haus zu finden – ein entschiedener Beweis dafür, daß die Gegend übervölkert war.

Da es klar ist, daß ich als armer junger Mann mit Familie kein ganzes Haus in diesem wenig einladenden Stadtteil mieten konnte, begann ich mich nach unmöblierten Zimmern umzusehen, in denen ich Frau und Kinder, Hab und Gut zusammen unterbringen konnte. Es gab nicht viele, ich fand sie immer nur einzeln, denn ein Zimmer sieht man für genügend an, daß die Familie eines armen Mannes darin kochen, essen und schlafen kann. Als ich nach dem Preis für zwei Zimmer fragte, warf der Hauswart mir einen Blick zu, wie der, mit dem eine gewisse Person Oliver Twist ansah, wenn er um mehr bat.

Ich erfuhr bald, daß man ein Zimmer nicht nur für einen armen Mann und seine Familie als genügend ansah, sondern daß verschiedene Familien, die ein einziges Zimmer bewohnten, noch Platz übrig hatten, um ein oder zwei Untermieter aufzunehmen. Wenn man ein solches Zimmer für drei bis sechs Schilling wöchentlich mieten kann, so ist es nur recht und billig, daß sie einem gutempfohlenen Schlafburschen für acht Pence oder einen Schilling gestatten, sich in der Stube aufzuhalten. Zuweilen kann er sich sogar von seiner Wirtin für einige wenige Schillinge mit beköstigen lassen. Über diesen Punkt konnte ich jedoch keine Aufklärung erlangen, da ich mich ja für einen Familienversorger ausgab.

In den Häusern, die ich untersuchte, gab es keine Badeeinrichtung, und ich erfuhr, daß sich in keinem der vielen tausend Häuser, die ich passiert hatte, eine solche befand. In Anbetracht des Umstandes, daß ich Frau und Kinder hatte, und daß noch ein paar Untermieter das Zimmer mit uns teilen sollten, mußte es eine schwierige Angelegenheit sein, in einer Blechwanne in der Stube zu baden. Aber – dafür sparte man ja Seife; jedes Ding hat sein Gutes, und der liebe Gott sitzt ja immer noch in seinem Himmel.

Ich mietete indessen nicht, sondern kehrte in meine und Johnny Uprights Straße zurück. Bei dem Gedanken an meine Frau, meine Kinder, meine Schlafburschen und die kleinen Zellen, in denen ich sie alle untergebracht hatte, war meine Vorstellung allmählich so eingeengt, daß es eine Weile dauerte, ehe ich mich wieder an all den Raum in meinem eigenen Zimmer gewöhnt hatte. Dessen Dimensionen waren erstaunlich. War dies wirklich das Zimmer, das ich für sechs Schilling die Woche gemietet hatte? Unmöglich! Aber meine Wirtin, die anklopfte, um sich nach meinen Wünschen zu erkundigen, verscheuchte allen Zweifel.

»Ach ja,« antwortete sie mir, »diese Straße ist die allerletzte. Alle andern waren noch vor acht bis zehn Jahren wie sie, und alle Bewohner waren sehr respektabel. Aber die andern haben uns verjagt. Wir in dieser Straße sind die einzigen, die noch übrig sind. Es ist schrecklich!«

Und dann setzte sie mir näher auseinander, wie die Übervölkerung gekommen war, die die Mieten in die Höhe getrieben und das Niveau herabgedrückt hatte.

»Sehen Sie, Leute wie wir sind ja nicht gewohnt, uns so zusammenpferchen zu lassen wie die andern. Wir brauchen mehr Raum. Die andern, die Eingewanderten und die allergewöhnlichsten Leute können gut zu fünf oder sechs Familien in diesen Häusern wohnen, und dann können sie natürlich zusammen mehr bezahlen als wir ... und stellen Sie sich vor, daß noch vor wenigen Jahren die ganze Nachbarschaft so nett war, wie man es nur wünschen konnte!«

Ich betrachtete sie. Hier stand ich einer Frau aus der besten englischen Arbeiterklasse gegenüber, einer Frau mit Anzeichen von Verfeinerung, aus der Klasse, die dazu verurteilt war, langsam von dem widerlichen, fauligen Menschenstrom fortgeschwemmt zu werden, den die Oberklassen aus dem inneren London vertreiben. Dort werden Banken, Fabriken, Hotels und Kontorhäuser gebaut, während die Armen obdachlos gemacht und nach Osten gedrängt werden, Woge auf Woge überschwemmt und verunreinigt Stadtteil auf Stadtteil, die bessere Arbeiterklasse wird als Pioniere zur Besetzung der Grenzen vorausgejagt oder vom Strom verschlungen – wenn nicht in der ersten Generation, dann in der zweiten und dritten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Reihe an Johnny Uprights Straße kommt. Das weiß er auch selber gut.

»In einigen Jahren«, sagte er, »ist mein Mietvertrag abgelaufen. Mein Wirt gehört unserer eigenen Klasse an, er hat nie einen einzigen Mieter in seinen Häusern steigern wollen, denn dann hätten wir nicht wohnen bleiben können. Aber er kann ja jeden Tag verkaufen oder sterben; für uns ist das dasselbe – ein Wucherer bekommt das Haus, er richtet eine Werkstatt ein auf dem kleinen Stückchen Garten hinter dem Hause, wo ich meinen Weinstock gepflanzt habe, und dann vermietet er an ebenso viele Familien, wie das Haus Zimmer hat. Dann ist Johnny Upright hier erledigt!«

Und in Gedanken sah ich Johnny Upright und seine gute Frau, seine hübschen Töchter und sein schlampiges Dienstmädchen wie so viele andere Schatten durch das Dunkel gen Osten gejagt, das brüllende Großstadtungeheuer auf den Fersen.

Johnny Upright ist nicht der einzige Flüchtling. Ganz an der Grenze der Großstadt wohnen kleine Kaufleute, Geschäftsführer und tüchtige Kontoristen. Sie wohnen in kleinen, villenartigen Häusern mit kleinen Blumengärten, wo sie jedenfalls Platz haben, sich zu regen und zu atmen. Sie brüsten sich vor Stolz, wenn sie an den Abgrund denken, dem sie entgangen sind, und sie danken Gott, weil sie nicht sind wie so viele andere ... Aber seht! auf sie zu kommt Johnny Upright, das Großstadtungeheuer auf den Fersen. Die Mietskasernen schießen wie durch Zauberschlag hoch, die Gärten werden bebaut, die Villen in viele Wohnungen geteilt, und die dunkle Nacht Londons läßt ihren schwarzen Vorhang über die Szene sinken ...

Ein Mann und der Abgrund

Kann man bei Ihnen mieten?«

Ich sagte diese Worte sehr gleichgültig zu einer dicken älteren Frau, in deren schmutzigem Kaffeehaus in der Nähe von Limehouse ich saß.

»Ja, das kann man!« antwortete sie kurz. Mein Äußeres entsprach vielleicht nicht den Anforderungen, die an ihr Haus gestellt wurden.

Ich sprach nichts weiter, sondern genoß schweigend meine Scheibe Schinken und meinen dünnen Tee. Sie bewies mir auch weiter kein Interesse, bis ich bezahlen wollte und ganze zehn Schilling aus der Tasche holte. Da blieb die erwartete Wirkung nicht aus.

»Ja,« fuhr sie jetzt fort, »ich habe ein hübsches Heim, und ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Sind Sie gerade von einer Reise zurückgekommen?«

»Was nehmen Sie für ein Zimmer?« fragte ich und ignorierte ihre Neugier völlig.

Sie sah mich mit sichtbarer Überraschung von oben bis unten an.

»Ich vermiete nie ganze Zimmer, nicht einmal an meine festen Mieter, geschweige denn an vorübergehende.«

»Dann muß ich mich wohl nach etwas anderm umsehen«, sagte ich sichtlich enttäuscht.

Aber der Anblick meiner zehn Schilling hatte seine Wirkung getan, und sie sagte:

»Ich kann Ihnen ein gutes Bett geben, und Sie schlafen mit zwei andern Männern, achtbaren und zuverlässigen Menschen, zusammen.«

»Aber ich will nicht mit andern zusammenschlafen«, wandte ich ein.

»Das brauchen Sie auch nicht, es sind drei Betten, und das Zimmer ist nicht klein.«

»Wieviel?« fragte ich.

»Zwei Schilling sechs die Woche für einen ordentlichen Menschen. Die beiden andern werden Ihnen gut gefallen, das weiß ich. Der eine arbeitet auf einem Lager, er wohnt seit zwei Jahren bei mir, und der andere seit sechs Jahren. Nächsten Sonntag werden es sechs Jahre und zwei Monate. Er ist an einem Theater angestellt,« fuhr sie fort, »er ist ein stiller, ruhiger Mann und hat in der ganzen Zeit, die er bei mir wohnt, nie einen sitzen gehabt. Er ist sehr zufrieden mit der Wohnung, er sagt, sie sei die beste, die er finden könnte. Ich beköstige sowohl ihn wie den andern.«

»Da kann er wohl noch obendrein Geld zurücklegen«, sagte ich naiv.

»Wie können Sie das glauben! Aber sonst würde sein Geld überhaupt nicht reichen.«

Meine Gedanken wanderten hin zu meinem weiten amerikanischen Westen, unter dessen unendlichem Himmel Tausende von Städten von der Größe Londons Platz hätten. Und hier war ein Mann, ein ehrlicher, zuverlässiger Mann, der sein Zimmer mit zwei andern teilte, zweieinhalb Dollar im Monat dafür bezahlte und die Erfahrung gemacht hatte, daß dies die vorteilhafteste Lebensweise für ihn war. Und hier war ich selbst – kraft der zehn Schilling, die ich in der Tasche hatte, war ich imstande, mit meinen Lumpen bei ihm einzudringen und mein Bett neben dem seinen aufzuschlagen. Die menschliche Seele ist einsam, und sie muß zuweilen wahrlich noch einsamer werden, wenn drei Betten in einem Zimmer stehen und ein vorübergehender Gast mit zehn Schilling in der Tasche sich in eines davon legen darf!

»Wie lange wohnen Sie schon hier?« fragte ich.

»Dreizehn Jahre. Und glauben Sie nicht auch, daß Ihnen die Wohnung gefallen wird?«

Während sie sprach, hantierte sie in der kleinen Küche herum, wo sie das Essen für ihre Zimmerherren bereitete. Sie war bei meinem Eintritt beschäftigt gewesen und ließ nicht einen Augenblick während der Unterhaltung von ihrer Arbeit. Sie war offenbar eine von den Frauen, die morgens um halb sechs aufstehen und spät abends zur Ruhe gehen, die bis zum Umfallen arbeiten; und der Gewinn dieses dreizehnjährigen Fleißes waren graues Haar, ärmliche Kleider, hängende Schultern, eine schlechte Figur und unaufhörliche Mühe in einem häßlichen, ungesunden Kaffeehaus in einer zehn Fuß breiten Gasse.

»Kommen Sie wieder, um es sich genauer anzusehen?« fragte sie gespannt, als ich ging.

Und als ich mich zu ihr umwandte, verstand ich ganz die Wahrheit des alten Wortes: Tugend trägt ihren Lohn in sich.

Ich trat wieder zu ihr und fragte: »Haben Sie je Ferien gehabt?«

»Ferien!«

»Ja, einen Ausflug aufs Land, um für ein paar Tage frische Luft zu schöpfen, sich richtig auszuruhen.«

»Ach, du lieber Gott!« lachte sie und hielt zum erstenmal in ihrer Arbeit inne. »Ferien? Zum Vergnügen? Wie können Sie das denken! – – Heben Sie doch die Füße!« Die letzten Worte rief sie mir scharf zu, da ich gerade über die morsche Schwelle stolperte.