Menschenwerk - Han Kang - E-Book
SONDERANGEBOT

Menschenwerk E-Book

Han Kang

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2024.

"Ich kämpfe, jeden Tag. Ich kämpfe gegen die Schande, überlebt zu haben und immer noch am Leben zu sein. Ich kämpfe gegen die Tatsache, dass ich ein Mensch bin. Und Sie, ebenso ein Mensch wie ich, welche Antworten können Sie mir geben?"

Ein Junge ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen weiterleben. Doch was ist ihnen ihr Leben noch wert? Han Kang beschreibt in ihrem Roman, wie dehnbar die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit sind. Ein höchst mutiges Buch und ein brennender Aufruf gegen jede Art von Gewalt.

»Han Kang zu lesen ist wie in einen Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit geworfen zu werden, aus dem man durchgeschüttelt, perplex und tief bewegt wieder auftaucht.« Doris Dörrie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 259

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Han Kang

Han Kang wurde in Gwangju, Südkorea, geboren. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für ihr literarisches Schreiben wurde sie mit dem Yi- Sang-Literaturpreis, den Today’s Young Artist Award und dem Manhae Literaturpreis ausgezeichnet. Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul. Mehr Informationen zur Autorin: www.writerhankang.com

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.

Informationen zum Buch

»Han Kang zu lesen ist wie in einen Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit geworfen zu werden, aus dem man durchgeschüttelt, perplex und tief bewegt wieder auftaucht.« Doris Dörrie

Ein Junge ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen weiterleben. Doch was ist ihnen ihr Leben noch wert? Han Kang beschreibt in ihrem neuen Roman, wie dehnbar die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit sind. Ein brennender Aufruf gegen jede Art von Gewalt.

Gwangju, Südkorea, 1980. Ein Junge sucht nach der Leiche seines Freundes, der bei einem gewaltsam niedergeschlagenen Studentenaufstand gestorben ist. Eine Mutter trauert um ihren Sohn. Eine Schwester versucht weiterzuleben. Ein Folteropfer versucht, sich nicht zu erinnern. Und die Autorin selbst versucht, in all dem einen Sinn auszumachen. Durch ihr kollektives Leid und ihre Taten der Hoffnung entsteht nach und nach die Geschichte einer brutalisierten Gesellschaft auf der Suche nach einer Stimme. Menschenwerk ist das schriftliche Zeugnis der menschlichen Bereitschaft, Leid zu riskieren, Gefangenschaft, sogar den Tod, um Gerechtigkeit zu erlangen. Es beschreibt die harte Realität der Unterdrückung und die durchschlagende Poesie der Menschlichkeit.

»Ein höchst mutiges Buch – eine Großtat des Protests.« Newsday

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Han Kang

Menschenwerk

Roman

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee

Inhaltsübersicht

Über Han Kang

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorbemerkung

Das Vögelchen

Der schwarze Atem

Sieben Ohrfeigen

Metall und Blut

Die Iris der Nacht

Dorthin, wo die Blumen blühen

Epilog

Impressum

Das Buch »Menschenwerk« ist die Geschichte des Jungen Dong-Ho und all derjenigen, die mit ihm die Zeit des Gwangju-Massakers erlebt haben. Dieses historische Ereignis vollzog sich in den zehn Tagen vom 18. Mai bis 27. Mai 1980 in Gwangju, der Provinzhauptstadt von Jeollanam-do, als das Land von einer Militärjunta regiert wurde.

Das Vögelchen

Dong-Ho, 1980

Sieht nach Regen aus«, murmelst du.

Was machen wir, wenn es tatsächlich anfängt zu regnen?

Die Augen zu Schlitzen verengt, starrst du auf die Ginkgobäume, die vor dem Regierungsgebäude der Provinzhauptstadt Gwangju stehen. Als ob zwischen den leicht bewegten Ästen der Wind plötzlich Gestalt annähme. Als ob jeden Augenblick die in der Luft versteckten Regentropfen hervorperlen und aufblitzen würden wie Diamanten.

Du reißt die Augen auf. Die Umrisse der Bäume, gerade noch klar und deutlich, sind nun leicht verschwommen. Brauchst du vielleicht eine Brille? Sofort musst du an deinen zweitältesten Bruder denken und an die braune rechteckige Plastikbrille in seinem schwammigen Gesicht. Vom Brunnen hallt lautes Rufen und Klatschen herüber und du wirst kurz aus deinen Gedanken gerissen. Dein Bruder sagte einmal, dass ihm im Sommer die Brille immer von der Nase rutscht und er im Winter beim Betreten eines Raumes nichts mehr sieht, weil die Gläser beschlagen. Du hoffst also, dass sich deine Sehkraft nicht weiter verschlechtert und du um die lästige Brille herumkommst.

Hör auf mich und geh heim!

Du schüttelst den Kopf, um die wütende Stimme deines Bruders aus deinem Gedächtnis zu vertreiben. Der Lautsprecher vor dem Brunnen verzerrt die hohe, durchdringende Stimme der jungen Frau am Mikrofon. Den Brunnen selbst kannst du von deinem Sitzplatz auf den Stufen der Turnhalle aus nicht sehen. Du müsstest rechts ums Gebäude gehen, um einen besseren Blick auf die Gedenkfeier zu haben. Aber du rührst dich nicht von der Stelle und spitzt die Ohren, um die Worte der Frau zu verstehen.

»Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, die sterblichen Überreste unserer lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger sind heute vom Rotkreuzkrankenhaus hierher gebracht worden.«

Jetzt stimmt sie die Nationalhymne an. Abertausend Stimmen fallen ein, überlagern sich, wachsen empor zu einem riesigen Turm und übertönen die junge Frau. Der Gesang schwillt an und erreicht einen Höhepunkt, bevor er wieder abebbt. Auch du summst mit.

Am Morgen hast du Jin-Su gefragt: »Wie viele Tote bringen sie heute vom Krankenhaus herüber?«

Worauf dieser geantwortet hat: »Dreißig bestimmt.«

Während die Strophen des feierlichen Gesangs erklingen, sich in den Himmel schrauben und schließlich verstummen, werden der Reihe nach über dreißig Särge von einem Lastwagen abgeladen. Sie werden neben die achtundzwanzig anderen gestellt, die du und die übrigen Helfer heute Morgen von der Turnhalle zum Brunnen gebracht habt.

Von den dreiundachtzig Toten in der Turnhalle hat es für sechsundzwanzig noch keine öffentliche Gedenkfeier gegeben. Dazu kommen die beiden Leichname, die erst gestern Abend von ihren Familien identifiziert und hastig in Särge gelegt wurden. Du hast ihre Namen und die Nummern der Särge in ein Heft eingetragen, die Liste mit einer geschweiften Klammer versehen und ›Gedenkfeier 3‹ dahintergeschrieben. Jin-Su hat dir erklärt, dass man genau Buch führen muss, damit nicht die gleichen Särge zweimal zu einer Zeremonie hinausgebracht werden. Eigentlich wolltest du diesmal der Gedenkfeier beiwohnen, aber er hat dir befohlen, dich nicht vom Fleck zu rühren. »Kann sein, dass man dich hier braucht. Bleib, wo du bist.«

Die Älteren, die mit dir zusammenarbeiten, sind alle hingegangen. Wie mit Sand oder Stoff ausgestopfte Vogelscheuchen sind die Familienangehörigen der Toten unbeholfen den Särgen gefolgt, an denen sie schon mehrere Tage gewacht hatten. Auf der linken Brust trugen sie an Sicherheitsnadeln befestigte schwarze Schleifen. Eun-Suk blieb bis zum letzten Moment bei dir. Als du ihr sagtest, sie solle ruhig gehen, du kämst schon zurecht, lächelte sie dich um Verzeihung bittend an. Dabei entblößte sie ihre schiefen Schneidezähne, was sie trotz ihrer Verlegenheit schelmisch aussehen ließ.

»Ich bleibe nicht lange und komme wieder, so schnell es geht.«

Du bist allein und setzt dich auf die Stufen, die zur Turnhalle hinaufführen. Auf deinen Knien das schwarze Heft mit den Namen der Toten. Durch deinen hellblauen Trainingsanzug spürst du die Kälte des Betonbodens. Die Militärjacke, die du darüber trägst, hast du bis oben hin zugeknöpft und deine Arme vor der Brust verschränkt.

Dort, wo der Hibiskus blüht,

Dreimal tausend Meilen lang,

Prachtvoll über Berg und Tal.

Du singst mit den anderen die Nationalhymne, bis du plötzlich verstummst. »Prachtvoll über Berg und Tal«, wiederholst du und erinnerst dich an das chinesische Zeichen für ryo, prachtvoll, das du in der Schule gelernt hast. Du bist nicht sicher, ob du diese komplizierte Strichkombination noch zeichnen könntest. Berg und Tal, voller prächtiger Blüten? Oder Berg und Tal, prachtvoll wie Blüten? Die Schriftzeichen werden jetzt in deinem Kopf von Stockrosen überwuchert. Stockrosen, die in einer Ecke des Hofes stehen und im Sommer über dich hinauswachsen. Lange, gerade gewachsene Stängel, deren Blüten sich zum Himmel recken und an Teller aus weißem Stoff erinnern. Du schließt die Augen, um dir alles besser ins Gedächtnis rufen zu können. Als du sie einen Spalt weit öffnest, wiegen sich die Ginkgobäume vor dem Regierungsgebäude immer noch leicht im Wind. Aber bisher ist kein einziger Regentropfen gefallen.

*

Die Nationalhymne ist verklungen, aber die Särge scheinen noch nicht an ihren Plätzen angekommen zu sein. Zwischen den Geräuschen, die zwangsläufig von einer vieltausendköpfigen Menschenmenge ausgehen, sind gelegentlich laute Schluchzer zu hören. Um etwas Zeit zu gewinnen, schlägt die Frau am Mikrofon vor, das Volkslied Arirang zu singen.

Du trennst dein Herz von meinem Herzen,

Doch schon am vierten Kilometerstein

Holt dich die bitt’re Reue ein,

Weil deine müden Füße schmerzen.

Die Klagen verstummen und die Frau fährt fort: »Legen wir zu Ehren der Verstorbenen eine Schweigeminute ein.«

Du bist erstaunt über die Ruhe, die mit einem Mal herrscht, als sich das Murmeln der Anwesenden gelegt hat. Statt die Schweigeminute einzuhalten, stehst du auf und gehst mit dem Heft unter dem Arm die Treppe hinauf. Der eine Flügel der Eingangstür zur Turnhalle steht offen. Du ziehst einen Mundschutz aus der Hosentasche und legst ihn an.

Kerzen anzünden hilft gar nichts.

Trotz des strengen Geruchs betrittst du den Turnsaal. Der Himmel draußen ist bedeckt, sodass man in der Halle meinen könnte, es dämmere bereits. Die Särge der Toten, für die schon eine Gedenkfeier abgehalten worden ist, stehen direkt am Eingang. Die zweiunddreißig anderen Leichen, die zwar identifiziert sind, aber noch nicht die Sterberituale erfahren haben, liegen in weiße Leinentücher eingewickelt entlang der großen Fensterreihe aufgebahrt. Neben den Köpfen brennen Kerzen still vor sich hin. Sie stecken in leeren Getränkeflaschen.

Du gehst zum anderen Ende der Halle und betrachtest die Umrisse der sieben toten Körper, die dort in einer Ecke liegen. Sie sind von Kopf bis Fuß mit großen weißen Baumwolltüchern bedeckt. Ihr Anblick ist dermaßen grauenvoll, dass das Tuch nur kurz angehoben wird, wenn jemand nach einer jungen Frau oder nach einem Kind sucht.

Die Leiche am äußersten Ende der Reihe ist am stärksten entstellt. Einem ersten Blick nach zu urteilen, handelt es sich um den Körper einer ziemlich kleinen, ungefähr zwanzig Jahre alten Frau. Die Gase, die durch die Verwesung entstanden sind, haben sie jedoch aufgeblasen, sodass ihre Maße denen eines erwachsenen Mannes entsprechen. Jedes Mal, wenn du das Laken anhebst, um den Leichnam jemandem zu zeigen, der seine Tochter oder seine jüngere Schwester sucht, überrascht dich der Fortschritt der Verwesung von Neuem. Die junge Frau hat mehrere Schnittwunden auf der Stirn, die eindeutig von einem Säbel stammen. Das linke Auge, die Wangen, das Kinn sowie die linke Brust und ihre Taille sind ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Auf der rechten Schädelseite liegt das Gehirn frei, vermutlich durch Schläge mit einem Gewehrkolben. An diesen sichtbaren Verletzungen schreitet die Fäulnis am schnellsten voran. Danach kommen die Prellungen am Oberkörper. Die Zehen, deren Nägel ein durchsichtiger Lack überzieht, sind unversehrt, aber im Laufe der Zeit schwarz geworden. Außerdem sind sie groß wie Ingwerwurzeln. Der gepunktete Faltenrock, der einen Großteil ihrer Beine bedeckt hatte, kann nun nicht einmal die geschwollenen Knie verstecken.

Du gehst zur Eingangstür, nimmst eine Kerze aus einer Schachtel unter dem Tisch und kehrst zurück. Dann entzündest du sie an dem fast heruntergebrannten Rest der alten, die neben dem Kopf der armen Frau steht. Sobald die neue Kerze brennt, pustest du den Stummel aus, entfernst ihn aus dem Flaschenhals und ersetzt ihn. Dabei gibst du Acht, dich nicht zu verbrennen.

Mit dem noch warmen Kerzenrest in der Hand bleibst du einen Augenblick stehen und verbeugst dich. Der intensive Gestank ist so beißend, dass du fürchtest, Nasenbluten zu bekommen. Du starrst in die Flamme, die den schlechten Geruch verbrennen soll und deren durchsichtiger, äußerer Rand hin und her züngelt. Der Kern glimmt besonders intensiv orange und zieht dich in seinen Bann. Nun fokussierst du den blauen Bereich, der den Docht umgibt. Er pulsiert wie ein kleines Herz von der Größe eines Apfelkerns.

Du erträgst den Gestank nicht mehr und richtest dich auf. Dein Blick wandert durch den Raum. Die Flammen der überall neben den Köpfen stehenden Kerzen wirken auf dich wie sanfte Augen, die dich beobachten.

Du fragst dich, wohin die Seele wandert, wenn der Körper stirbt. Wie lange bleibt sie noch in der Nähe ihrer sterblichen Hülle?

Während du zur Tür gehst, überprüfst du erneut, ob weitere Kerzen ersetzt werden müssen.

Wenn ein Trauernder einen Verstorbenen betrachtet, steht dann dessen Seele daneben und betrachtet das Gesicht seiner irdischen Hülle?

Du drehst dich noch einmal herum, bevor du den Saal verlässt. Da sind keine Seelen. Nur still daliegende Körper und ein furchtbarer Gestank.

*

Zunächst waren die Leichen in einem Gang des Regierungsgebäudes abgelegt worden. Ein Mädchen, das die Sommeruniform des Supia-Mädchengymnasiums trug, leicht zu erkennen an dem großen Kragen, säuberte zusammen mit einer jungen Frau in Straßenkleidern die blutüberströmten Gesichter der Toten mit feuchten Tüchern. Versonnen sahst du ihnen dabei zu, wie sie sich abmühten, die leichenstarren Arme in eine Position seitlich neben den Körper zu zwingen.

»Was machst du hier?«, fragte dich das junge Mädchen in der Schuluniform, wobei sie den Kopf hob und sich den Mundschutz übers Kinn herunterzog. Ihre leicht vorstehenden Augen waren kindlich rund und ihre lockigen, zu zwei Zöpfen geflochtenen Haare klebten ihr vor Schweiß an Stirn und Schläfen.

Du nahmst die Hand herunter, die du wegen des Gestanks vor die Nase gehalten hattest, und sagtest: »Ich suche einen Freund.«

»Seid ihr hier verabredet?«

»Nein, aber ich dachte unter den vielen Leichen …«

»Oh, ich verstehe, dann schau dich um.«

Gut zwanzig tote Körper lagen entlang des Ganges an der Wand. Du hast versucht, dir ihre Gesichter genau anzusehen, aber bei dem Gestank konntest du die Augen nicht lange offen halten und musstest andauernd blinzeln.

»Findest du ihn nicht?«, fragte dich die andere, während sie sich aufrichtete. Sie hatte die Ärmel ihrer hellgrünen Bluse bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Du hattest gedacht, sie ginge ebenfalls noch zur Schule, aber ohne Mundschutz sah man ihrem Gesicht an, dass sie in den Zwanzigern war. Sie wirkte etwas zerbrechlich mit ihrem zarten Hals und ihrer gelblich blassen Haut. Trotzdem waren ihre Augen lebhaft und ihre Stimme fest.

»Nein.«

»Warst du schon in den Leichenhallen vom Chonnam-Universitätskrankenhaus und vom Rotkreuz-Spital?«

»Ja.«

»Wo sind seine Eltern? Warum kümmerst du dich darum?«

»Er hat nur noch seinen Vater und der wohnt in Daejeon. Mein Freund und seine Schwester haben bei uns ein Zimmer gemietet.«

»Sind denn die Telefonleitungen immer noch gekappt?«

»Ja. Ich habe es mehrfach probiert.«

»Und seine Schwester?«

»Sie ist am Sonntag nicht nach Hause gekommen. Mein Freund und ich haben sie überall gesucht. Gestern meinte dann ein Nachbar, er hätte ihn im Kugelhagel der Soldaten fallen sehen. Gar nicht weit von hier.«

Das Mädchen in der Schuluniform mischte sich ein. Sie sah dabei nicht einmal auf. »Vielleicht ist er nur verletzt und liegt im Krankenhaus.«

Du aber hast den Kopf geschüttelt und gesagt: »Er hätte irgendwie einen Weg gefunden, uns Bescheid zu geben. Er weiß doch, dass wir uns Sorgen machen.«

Die junge Frau in der hellgrünen Bluse erklärte: »Komm einfach in den nächsten Tagen wieder. Anscheinend werden alle neuen Leichen hierher gebracht. Es sind nämlich so viele Leute erschossen worden, dass sie in den Leichenhallen keinen Platz mehr haben.«

Das Schulmädchen wusch gerade das Gesicht eines jungen Mannes, dessen Hals aufgeschlitzt worden war, sodass man die Mandeln sah. Nachdem sie seine weit geöffneten Augen zugedrückt hatte, tauchte sie den Lappen in einen Eimer und wrang ihn aus. Dabei spritzte blutiges Wasser über den Rand des Gefäßes auf den Boden. Die Frau stand auf und schlug vor: »Wenn du Zeit hast, könntest du uns vielleicht helfen? Nur heute? Wir sind froh um jeden, der mit anpackt. Die Arbeit ist nicht schwer. Du müsstest aus dem Stoff dort Laken zum Zudecken der Leichen schneiden. Wenn jemand kommt, um nach einem Angehörigen zu suchen, müsstest du ihnen die Toten der Reihe nach zeigen. Die Gesichter sind oft ziemlich entstellt. Um sie identifizieren zu können, muss man den ganzen Körper und die Kleidung zu Hilfe nehmen.«

Seit diesem Tag bist du Teil des Teams. Wie du schon vermutet hast, ist Eun-Suk Schülerin des Supia-Gymnasiums. Sie geht in die zwölfte Klasse. Seon-Ju, die Frau mit der grünen Bluse, hatte als Näherin bei einem Schneider in Chungjangro gearbeitet, bis sie vorübergehend freigestellt wurde, weil ihr Arbeitgeber sich mit Frau und Sohn nach Yeongam zu seinen Verwandten in Sicherheit brachte. Beide sind durch Straßendurchsagen darauf aufmerksam geworden, dass viele Menschen sterben, weil nicht genug Blut für Transfusionen zur Verfügung steht. Daraufhin sind sie zum Blutspenden ins Universitätskrankenhaus gegangen und anschließend in dem Regierungsgebäude gelandet. Dieses wird übergangsweise von einer Bürgerinitiative geführt und man braucht dort freiwillige Helfer. Den beiden jungen Frauen ist die Aufgabe übertragen worden, sich um die Toten zu kümmern.

In der Schule wurde die Sitzordnung durch die Körpergröße bestimmt. Du hast immer in der ersten Reihe gesessen. Seitdem du im März in die neunte Klasse gekommen warst, hatte sich deine Stimme verändert. Sie war tiefer geworden. Außerdem warst du etwas gewachsen. Dennoch hielt dich jeder für jünger. Als Jin-Su, der zum Krisenstab gehörte, dich zum ersten Mal sah, war er erstaunt. »Du bist in der siebten Klasse, oder? Diese Arbeit ist zu anstrengend für dich. Geh heim!«

Mit seinen ausgeprägten Oberlidfurchen und den langen Wimpern war Jin-Su ein schöner junger Mann. Er hatte an einer Universität in Seoul studiert, als diese, ebenso wie weitere Universitäten, nach dem Dekret zur Verhängung des Ausnahmezustands vorübergehend geschlossen wurde. So war er nach Gwangju gekommen. Du hast ihm geantwortet: »Nein, ich bin in der Neunten und ich finde die Arbeit nicht schwer«.

Das ist auch die Wahrheit. Deine Arbeit ist nicht schwierig. Seon-Ju und Eun-Suk legen die Toten auf ein Brett aus Sperrholz oder Kunststoff, das sie zuvor mit Plastikfolie bedeckt haben. Dann waschen sie ihnen mit einem nassen Lappen Gesicht und Hals, kämmen so gut es geht die verklebten Haare und schlagen die Körper in Plastikfolie ein, damit sich der Verwesungsgeruch nicht im ganzen Raum ausbreitet. Unterdessen trägst du das ungefähre Alter der jeweiligen Leiche, ihr Geschlecht und eine Beschreibung der Kleidung und der Schuhe in ein Heft ein. Die Nummerierung erfolgt fortlaufend. Die jeweilige Nummer schreibst du auf einen kleinen Zettel, befestigst ihn mit einer Sicherheitsnadel auf der Brust des Toten und breitest ein Laken über ihn. Daraufhin schiebst du ihn mithilfe der beiden Mädchen an die Wand.

Jin-Su, der der geschäftigste Mensch im ganzen Regierungsgebäude zu sein scheint, eilt mehrmals am Tag im Laufschritt herbei, um sich von dir die Daten der Toten geben zu lassen und sie neben dem Eingang auszuhängen. Sobald jemand kommt, der glaubt, auf der Liste einen Vermissten entdeckt zu haben, zeigst du ihm den entsprechenden Körper, indem du das betreffende Laken ein Stück anhebst. Kommt es zu einer Identifikation, wartest du etwas abseits, bis die Schluchzer verstummt und die Tränen versiegt sind. Die Toten können nur notdürftig hergerichtet werden, weswegen es Aufgabe der Familie ist, Nase und Ohren des Verstorbenen mit Watte zu verstopfen und ihm saubere Kleidung anzuziehen. Dann wird die Leiche in einen Sarg gelegt und nach einem kurzen Ritual umgehend in die Turnhalle gebracht. Auch darüber führst du exakt Buch.

Warum die Hinterbliebenen anschließend bei der Gedenkfeier die Nationalhymne singen, kannst du nicht recht verstehen. Auch dass über jeden Sarg die koreanische Flagge gebreitet und mit Kordeln festgezurrt wird, findest du seltsam. Warum singt man die Nationalhymne für Menschen, die von Soldaten getötet worden sind? Warum werden sie in die Nationalflaggen eingehüllt? Es ist doch genau dieser Staat, der sie getötet hat.

Als du Eun-Suk einmal schüchtern danach gefragt hast, antwortete sie mit weit aufgerissenen Augen: »Generäle haben einen Staatsstreich verübt und die Macht an sich gerissen. Das musst du doch mitbekommen haben. Am helllichten Tag wurden Leute verprügelt. Soldaten haben sie aufgespießt und erschossen. Das ist natürlich alles auf Befehl hin geschehen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es im Auftrag des Staates war.«

Du warst verwirrt, denn du hattest das Gefühl, eine Antwort auf eine völlig andere Frage bekommen zu haben. An diesem Nachmittag wurden besonders viele Tote identifiziert und im Gang vollzog man Trauerrituale. Zum wiederholten Male wurde die Nationalhymne gesungen. Stumm hörtest du zu, wie sich der Gesang mit den Schluchzern der Trauernden mischte. Als könntest du dadurch verstehen, was der Staat war.

*

Am darauffolgenden Morgen habt ihr, du und die Mädchen, einige besonders streng riechende Leichen in den Hof hinter dem Empfang gebracht, denn im Gang war kein Platz mehr für Neuzugänge. Jin-Su eilte wie immer herbei und erkundigte sich erstaunt: »Und was, wenn es regnet?« Ratlos blickte er den Gang entlang, in dem man sich kaum mehr bewegen konnte.

Seon-Ju nahm ihren Mundschutz ab und antwortete: »Wir haben keine Wahl. Hier ist nirgends mehr Platz. Bis heute Abend werden noch weitere Tote eintreffen. Was ist denn mit der Turnhalle? Ist die auch schon voll?«

Noch vor Ablauf einer Stunde kamen vier Männer, die Jin-Su geschickt hatte. Sie schienen irgendwo Wache gestanden zu haben, denn sie hatten Gewehre über der Schulter hängen und trugen Helme, die von den Rollkommandos zurückgelassen worden waren. Während die Männer die Leichen aus dem Gang und aus dem Hinterhof auf einen Lastwagen luden, habt ihr alles, was ihr für eure Arbeit brauchtet, zusammengepackt. Dann seid ihr dem Lastwagen zur Turnhalle gefolgt. Es war ein strahlender Morgen. Du kamst an einem jungen Ginkgobaum vorbei. Automatisch hast du nach einem Ast gegriffen, der dir ins Gesicht hing, und ihn wieder schnalzen lassen.

Eun-Suk, die vorwegging, betrat als Erste die Turnhalle. Als du bei ihr ankamst, stand sie da und starrte in den mit Särgen gefüllten Saal. Ihre Hände krampften sich um die mit braunroten Blutflecken übersäten Baumwollhandschuhe. Seon-Ju, die kurz nach dir angekommen war, schritt an dir vorbei, band sich mit einem Taschentuch die schulterlangen Haare zusammen und sagte: »Ich wusste nicht, dass es so viele sind … Von uns aus wurden sie immer weitertransportiert. Aber wenn man sie so auf einem Haufen sieht, merkt man erst, wie viele es sind.«

Du hast die Angehörigen betrachtet, die eng aneinandergedrängt Totenwache hielten. Die meisten Särge waren mit gerahmten Fotos verziert, gelegentlich flankiert von einer Kerze in einer leeren Getränkeflasche. Auf einem stand in einer Flasche sogar ein weißer Wildblumenstrauß.

An diesem Abend hast du Jin-Su gefragt, ob er Kerzen besorgen könnte. Er nickte bedächtig: »Gute Idee. Das wird den Gestank vertreiben.«

Alles, was er zu besorgen hatte, notierte er sich in ein Heft: Stoffballen mit Baumwolle, Särge, Papier, Nationalflaggen. Spätestens vierundzwanzig Stunden später hatte er es besorgt. Jeden Morgen ging er zum Einkaufen auf den Daein- oder Yangdong-Markt. Wenn es nötig war, auch zum Schreiner, zum Bestatter oder zum Stoffhändler. So hatte er es jedenfalls Seon-Ju gegenüber erklärt. Seit den Versammlungen leisteten viele Leute ihren Beitrag. Etliche Händler hatten ihre Preise gesenkt oder spendeten die Ware, wodurch Engpässe in der Versorgung vermieden werden konnten. Und als es in der ganzen Stadt keine Särge mehr gab, zimmerten die Schreiner schnell welche aus Sperrholz, um den dringenden Bedarf zu decken.

An dem Morgen, an dem dir Jin-Su fünf Pakete Kerzen und eine Schachtel Streichhölzer in die Hand gedrückt hatte, hast du alle leeren Flaschen im Regierungsgebäude und im Anbau eingesammelt. Du hast die Kerzen angezündet und sie in die Flaschenhälse gesteckt. Die Angehörigen nahmen sie und stellten sie neben die Särge. Da du genügend hattest, konntest du auch die noch nicht identifizierten Körper und die Särge damit erleuchten, an denen keine Familienmitglieder wachten.

*

Jeden Morgen trafen neue Särge in der Turnhalle ein, die man zur Andachtshalle umfunktioniert hatte. Es gab Angehörige, die ihre Verstorbenen selbst auf Karren von den Krankenhäusern hierher überführten. Sie hatten feuchtglänzende Gesichter, sei es vom Schweiß oder von Tränen.

Am Abend brachte man welche, die bei einer Auseinandersetzung mit dem Militär in der Vorstadt von Kugeln getroffen worden waren. Sie waren noch auf dem Weg zur Notaufnahme gestorben. Da dies gerade erst passiert war, sahen sie noch so lebendig aus, dass Eun-Suk, die bei einem von ihnen die herausquellenden Gedärme wieder in den Unterbauch zurückzudrücken versuchte, nach draußen rannte und sich übergab. Seon-Ju, die unter ständigem Nasenbluten litt, legte immer wieder den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke, wobei sie sich mit einer Hand durch die Maske die Nasenflügel zusammendrückte.

Im Vergleich dazu waren deine Aufgaben leicht zu bewältigen. Wie schon drüben in dem Regierungsgebäude, hast du in deinem Heft Datum und Uhrzeit des Eintreffens sowie die Beschreibung jedes einzelnen Toten vermerkt. Du hast ein angemessenes Stück Baumwolltuch abgeschnitten und mit einer Sicherheitsnadel ein raues Papier daran befestigt, um die Registrierungsnummer darauf zu schreiben. Du hast den Abstand zwischen den noch nicht identifizierten Körpern und den Särgen immer mehr verringert, um Platz für die neu Eintreffenden zu machen. In einer Nacht waren sie so zahlreich, dass du weder Zeit noch Raum hattest, die Ordnung zu wahren, sodass die Särge eng gepresst aneinanderstanden. Als du damals den vor Leichen überquellenden Raum betrachtet hattest, erschien er dir angefüllt mit Leuten, die zu einer Verabredung gekommen waren. Mit deinem Heft unter dem Arm bist du schnell in die Mitte dieses Gedränges gegangen, in dem sich jedoch nichts bewegte, niemand schrie und keiner den anderen an den Händen nahm. Zusammen verströmten sie nur einen bestialischen Gestank.

*

Es sieht wirklich nach Regen aus. Du trittst aus der Turnhalle und atmest tief ein. Du willst im Hinterhof etwas frische Luft schnappen, aber an der Ecke bleibst du plötzlich stehen. Du solltest dich nicht zu weit vom Eingang entfernen.

Die Stimme eines jungen Mannes ist am Mikrofon zu hören: »Wir dürfen uns nicht beugen, wir dürfen nicht aufgeben und wir dürfen unsere Waffen nicht niederlegen. Erst müssen sie uns die Leichen unserer Mitbürger übergeben. Außerdem die vielen Menschen freilassen, die sie verschleppt haben. Vor allem aber müssen sie versprechen, dem ganzen Land mitzuteilen, was genau passiert ist. Und sie müssen unsere Ehre wiederherstellen. Erst dann werden wir die Waffen niederlegen. Seid ihr meiner Meinung?«

»Ja!«, rufen die Leute und klatschen. Aber du hast den Eindruck, es ist nicht mehr ganz so laut wie ein paar Tage zuvor. Du erinnerst dich an den Tag nach dem Rückzug der Armee. Überall hatten sich Menschen versammelt, sogar dicht gedrängt auf der Dachterrasse des Regierungsgebäudes und auf dem Uhrenturm. Die quadratisch angelegten Straßen waren bevölkert von einer ungeheuren Menschenmasse, die wie eine große Welle auf und ab wogte. Von allen Seiten erklang die Nationalhymne und die Stimmen schwollen zu einem riesigen Klanggebäude mit mehreren Tausend Stockwerken an. Dazwischen wurde immer wieder frenetisch geklatscht, was sich wie die Explosion von hunderttausend Knallfröschen anhörte. Gestern früh hast du Jin-Su und Seon-Ju über die aktuelle Lage reden hören. Mit ernster Miene hat Jin-Su von dem Gerücht gesprochen, die Soldaten würden zurückkommen und jeden auf der Straße umbringen, um die Demonstrationen ein für alle Mal zu beenden. »Wir brauchen viel mehr Leute, wenn wir die Soldaten aus der Stadt raushalten wollen … Aber die Stimmung ist nicht gut. Jeden Tag kommen neue Särge hinzu. Die Leute überlegen es sich zweimal, bevor sie auf die Straße gehen.«

»Ist nicht schon genug Blut geflossen? Wie können wir über dieses Blutvergießen einfach hinweggehen, als wäre nichts geschehen? Die Seelen der Toten starren uns an.« Die Stimme des Mannes am Mikrofon bricht ab.

Die Wiederholung des Wortes ›Blut‹ lässt dich nach Luft schnappen, weswegen du den Mund weit öffnest und erst einmal tief einatmest. Die Seele hat doch keinen Körper mehr. Wie kann sie uns dann anstarren?

Du musst an den Tod deiner Großmutter im letzten Winter denken. Eine ganz normale Erkältung hatte sich zu einer Lungenentzündung ausgewachsen. Daraufhin war sie zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht worden. Sie war schon fast zwei Wochen dort, als du sie an einem Samstagnachmittag mit deiner Mutter besuchtest. Du warst in Hochstimmung, weil endlich alle Prüfungen vorbei waren. Der Zustand deiner Großmutter hatte sich jedoch rapide verschlechtert und ihr seid ihr nicht von der Seite gewichen, bis sie verstarb, während ihr noch darauf gewartet habt, dass dein Onkel und seine Frau mit dem Taxi eintrafen.

Wenn du als kleiner Junge diese Großmutter besucht hast, die, solange du denken kannst, einen Buckel hatte, ging sie auf dich zu und flüsterte: »Komm mit.« Daraufhin bist du ihr in einen dunklen Raum gefolgt, der als Vorratskammer diente. Du wusstest genau, dass sie eine bestimmte Schranktür öffnen und daraus Yakgwa und Gangjeong holen würde, die dort für die Ahnenverehrung aufbewahrt wurden. Wenn sie dir dann die Süßigkeiten in die Hand drückte und dein Gesicht vor Freude strahlte, lächelte deine Großmutter zurück. Dabei kniff sie immer ihre Augen zusammen. Wie es ihrem sanftmütigen Wesen entsprach, war auch ihr Tod friedlich und still. Sie lag mit geschlossenen Augen und einer Sauerstoffmaske über dem Gesicht da, als plötzlich etwas von ihr zu weichen schien, wie ein Vögelchen, das davonfliegt. Du warst da, hast ihr runzeliges Gesicht betrachtet, das von einem Augenblick auf den nächsten leblos wirkte, und fragtest dich, wohin dieses vogelähnliche Wesen verschwunden war.

Hatten die Seelen derer, die in der Turnhalle aufgebahrt lagen, ihre Körper verlassen? Wie kleine aufgescheuchte Vögel? Wohin waren sie geflogen? Du glaubst nicht, dass sie an so ungewöhnlichen Orten sind wie im Paradies oder in der Hölle. Du hast davon in der Bibelstunde gehört, als du an Ostern deine Freunde begleitet hast, um auch etwas von den Eiern abzubekommen. Ebenso wenig glaubst du, dass die Seelen in einen Nebel gegangen sind, in weißen Gewändern und mit zotteligen Haaren, wie du es in einem Fernsehdrama gesehen hast.

Plopp, dropp, Regentropfen fallen auf deine kurz geschnittenen Haare. Du hebst das Gesicht und sofort prasseln sie dir auf Stirn und Wangen nieder. In kürzester Zeit ist der Regen sintflutartig geworden.

Der Mann am Mikrofon ruft hektisch aus: »Setzen Sie sich bitte wieder hin. Die Trauerfeier ist noch nicht zu Ende. Der Regen, das sind nur Tränen, vergossen von den Seelen derjenigen, die von uns gegangen sind.«

Das kalte Wasser rinnt dir in den Kragen der Militärjacke und durchnässt dein Unterhemd bis hinunter zur Hüfte. Die Tränen der Seelen sind kalt. An den Armen und auf dem Rücken bekommst du eine Gänsehaut. Du springst auf die Füße, um unter dem Vordach am Eingang Schutz zu suchen. Der Regen peitscht gegen die Bäume vor dem Regierungsgebäude. Auf die oberste Treppenstufe gedrückt, denkst du an eine der letzten Biologiestunden. Es war die fünfte Stunde am Nachmittag und die Sonne schien träge in den Raum hinein. Es ging um die Atmung von Pflanzen. Im Moment hast du das Gefühl, dass diese Biologiestunde weit weg in einer anderen Welt stattgefunden hat. Du hast dabei gelernt, dass Bäume nur einen Atemzug pro Tag machen. Sobald die Sonne aufgeht, saugen sie das Licht während des ganzen Tages ein und atmen nach Sonnenuntergang genauso lang wieder aus, wobei sie Kohlendioxid freisetzen. Auf die Poren dieser Bäume, die mit so viel Geduld atmen, trommelt nun der Regen.

Hätte diese andere Welt weiter existiert, hättest du letzte Woche Klausuren geschrieben. Heute, dem Sonntag nach den Prüfungen, würdest du ausschlafen und dann mit Jeong-Dae Badminton spielen. Du kannst es zwar immer noch nicht fassen, was innerhalb einer Woche passiert ist, aber genauso wenig glaubst du noch an diese andere Welt.

Alles begann letzten Sonntag. Du warst zu einer Buchhandlung in der Nähe der Schule gegangen, um ein Übungsbuch für die Prüfungen zu kaufen. Verschreckt durch die bewaffneten Soldaten, die plötzlich in die Straße vorgedrungen waren, bist du zum Kai hinuntergelaufen. Ein junges Paar kam auf dich zu. Der Mann hatte eine Bibel und ein Gesangbuch in der Hand. Er trug einen Anzug und die Frau ein dunkelblaues Kleid. Oben auf der Straße waren Schreie zu hören. Dann eilten drei Soldaten den Abhang herunter und umkreisten das Paar. Sie hatten Gewehre umgehängt und Knüppel in der Hand. Ihr ursprüngliches Ziel schienen sie aus den Augen verloren zu haben.

»Was ist denn los? Wir wollen zur Kirche.«