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Heilmittel und Zaubertrank: Schon vor 20.000 Jahren sollen sich Mensch und Tier an der exquisiten Köstlichkeit Met berauscht haben. Ob in Ritualen, als Bardentrunk, mystische Opfergabe und Teil festlicher Zeremonien: Met ist unverzichtbar. Die namhaften Autorinnen und Autoren dieser Sammlung ließen, wie einst die nordischen Skalden, ihre Phantasie durch Met beflügeln. In fünfzehn Erzählungen preisen sie den fruchtigen, süßen oder herben Göttertrunk in all seinen Varianten. Folgt ihnen über die Blaubeerbrücke, über den großen Teich und durch die Zeiten. Seid dabei, wenn Met heilt, Menschen rettet oder heiß umkämpft wird, und findet mit ihm die Liebe und die Magie des Augenblicks. Mit Texten von Tommy Krappweis, Sandra Melli alias Iny Lorentz, Ju Honisch, Mira Valentin, Sam Feuerbach und vielen anderen.
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Seitenzahl: 201
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Amandara M. Schulzke,Nadine Muriel (Hrsg.)
Met-Magie
Der Trunk der Götter, Barden und Bauern
Amandara M. Schulzk und Nadine Muriel(Hrsg.): Met-Magie. Der Trunk der Götter, Barden und Bauern. Hamburg, acabus Verlag 2022
1. Auflage
ISBN: 978-3-86282-833-3
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-835-7
Lektorat: Amandara M. Schulzke
Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag
Cover- und Innenillustrationen: ©
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
_______________________________
© acabus Verlag, Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Gedruckt in Europa
Inhaltsverzeichnis
„Vorwort“
„Methode“
„Die Tränen des Ra“
„Die Jagd der Katzenfrau“
„Winterzauber“
„Ein Hauch von Minze“
„Das Hochzeitsgeschenk“
„Du, Martin“
„Hexenblut“
„Der Berg und der Prophet“
„Met für Amerika“
„Ein letzter Schluck“
„Das Gegenmittel“
„Die Blaubeerbrücke“
„Schottisches Blut“
„Hüttenzauber“
„Die Autorinnen und Autoren“
„Die Herausgeberinnen“
Vorwort
Liebe Leser,
als junger Mann habe ich Met durch unseren Mittelalterverein Society for Creative Anachronism (SCA) kennengelernt. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie sich der edle Tropfen seinen Weg durch meinen Rachen bahnte. Wow. Ein unglaubliches Erlebnis! Ich spürte sofort die Magie, die von dem »Trank der Götter« ausging. Mir war klar: »Ich muss wissen, wie man diesen edlen Geschmack erzeugt.«
Mein alter Freund Helmut Riebe (RIP) führte mich in das Geheimnis des Metkelterns ein. Wir haben mit einigen Freunden immer weiter experimentiert, bis ich beschloss, der Magie freien Lauf zu lassen, und die Metwabe gründete. Unterstützt wurde ich von vielen Freunden und einigen freiwilligen Helfern, denen ich hier natürlich meinen Dank aussprechen möchte. Im Laufe der Jahre sind meine stetig wachsende Zahl an Mitarbeitern und Unterstützern und ich zu einer »Metwabe-Familie« zusammengewachsen.
Wir haben damit einen Rahmen geschaffen, in dem wir nicht nur den guten Geschmack immer weiter optimieren, sondern auch immer mehr Innovationen kreieren können. Wir erfanden die Rezeptur, von der uns mancher Barde berichtete, dass sie seine Stimme zurückgebracht hat. Es gelang uns, mithilfe von Chilis und Kirschen, Hexenblut in Flaschen zu füllen und geisterhaften Glitzer in den Westminster Fog zu streuen.
Wir verwenden hierbei Rohstoffe, die mit uns in besonderer Weise verbunden sind, wie z.B. die Blaubeeren vom Bickbeernhof in Brokeloh, dem Ort des weltweit größten Liferollenspiels Conquest of Mythodea.
Unser Met ist vielfältig wie die Menschen und die Gründe, aus denen sie Met genießen.
Die Magie in der Flasche ist in einigen Produkten sichtbar, in anderen schmeckbar … und in allen spürbar.
Wir bedanken uns bei den Verfassern der Kurzgeschichten, dass sie sich von unserem Met haben inspirieren lassen. Jeder Autor hat eine besondere Met-Sorte ausgewählt und ihr eine Geschichte gewidmet.
Ich finde die Ergebnisse unglaublich. Als ich damals mit Amandara darüber sprach, dass ich die Idee habe, eine Kurzgeschichte zu schreiben »Wie der Met die Magie in die Welt zurückbringt«, hätte ich mir nicht im Entferntesten vorstellen können, was daraus wird. Viele namhafte Autoren haben unter der Ägide von Amandara und Nadine ein Werk erschaffen, das unsere Vorstellungen bei weitem übertrifft. So wurde aus der Idee einer Kurzgeschichte nicht nur ein Buch, sondern zwei. Wir bemühen uns, das zweite Buch so schnell wie möglich folgen zu lassen.
Wir wünschen allen viel Spaß beim Lesen. Lasst euch fesseln von der uralten Magie, die dem Honigwein innewohnt. Möge der Met mit euch sein!
Euer Metizinmann Andreas Struwe (Met-Apha)
Methode
(Tommy Krappweis)
Met …
Du ganz besond’rer Saft,
Sonnenlicht, der Dichter Kraft,
stürzest dich aus Krug und Horn
in der Köpfe Öffnung vorn.
Wärmst Geist und Körper gleichermaßen
strömst durch Nieren, füllst die Blasen,
von wo aus du uns dann verlässt
bis auf diesen kleinen Rest,
der im Kopfe uns verbleibt
(wenn man ihn nicht nach draußen speibt)
und wo er tanzt, sich dabei dreht.
Egal ob man liegt oder steht
dreht man sich mit, im Kreis ganz schnell,
die Welt, sie wird zum Karussell,
und über allem schwebt die schwere
Süße, füllt die letzte Leere
von Verstand, von Geist, von Seele,
rinnt hinunter durch die Kehle
und hinauf in deine Birn’,
dort pocht er dann laut in der Stirn
und raunt dir zu: »Schalt ab das Pochen,
trink noch mal aus dem Hörnerknochen.«
Wird aus dem Pochen Hämmern dann,
wohnt Thor im Kopf – der Met gewann.
Der Nacken steif, wie Eisen hart,
die Zunge schwer, verklebt der Bart
(so du einen solchen hast,
und er dir zu Gesichte passt) –
jammern hat man dich nie gehört
(außer du warst ungestört).
Der Kopf, dick und schwer wie ein Fass,
die Tür vor dir nur Mittelmaß.
Drum scheinst du auch nicht durch zu passen,
doch ist mit dir nun nicht zu spaßen
und du schlägst mit der Asen Power
deinen Kopf halt durch die Mauer,
oder zumindest denkst du das,
in Wahrheit prangt der ganze Spaß
in Form einer Beule zwischen den Augen,
die grad auch nicht so viel taugen.
Doch deine Freunde, Spaß sie ha’m,
mit dem Clip auf Instagram.
Drum trinke weise, trink mit Maß
(nicht vom Oktoberfest das Glas),
genieße jeden kleinen Schluck,
dies sei nicht der Betankung Druck.
Es sei Moment zum Innehalten
und zwischendrin die Hände falten,
auf dass sie nicht am Becher kleben
und stets damit zum Halse streben.
Nun, des Ermahnens sei genüge,
Freunde; hebet eure Krüge,
Becher, Hörner, Gläser, Flaschen,
oder versucht, was zu erhaschen.
Das Gedicht, wie’s hier nun steht,
ich widme es … dem Skaldenmet.
Die Tränen des Ra
Amandara M. Schulzke
Metsorte: Tränen des Ra
»Scheri!« Die Stimme seiner älteren Schwester überschlug sich und riss ihn aus seinem Traum. Eben hatte er noch am Rand der Oase gestanden und über das ungewohnte Grün der Savanne, die sie umgab, gestaunt.
»Scheri!«, dröhnte sie wie die Kriegergöttin Pachet, deren Namen sie trug. Hätten Mutter und Vater ihr nicht einen freundlichen Namen geben können? Er presste seine Hände auf die Ohren.
Im nächsten Moment flog die Tür ihrer Lehmhütte auf.
»Wo ist das blöde Vieh? Du hast es doch gestern Abend angebunden?« Das klang nicht nach Fragen, sondern nach fetten Vorwürfen. Jetzt bekam er einen Schreck und räusperte sich schlaftrunken.
»Ähm, ich weiß nicht«, antwortete er zögerlich, »natürlich habe ich ihn fest angebunden. Und er ist kein blödes Vieh, sondern ein Esel mit Herz und Verstand.«
»Nimm ihn noch in Schutz! Aber darum geht es überhaupt nicht, er ist samt Strick weg«, schnaubte sie und ihr ebenmäßiges Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze. »Du weißt, dass er uns eine Amphore Honig gekostet hat und dass wir ihn brauchen. Oder willst du die ganzen Krüge auf deinen schmächtigen Armen zum Tempel am Nil schleppen?«
Selbstverständlich nicht, und das wusste sie. Schmächtig, protestierte er in Gedanken, du warst mit acht Jahren auch nicht stärker, bestimmt nicht. Er rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen. Wie gern hätte er noch seinem Traumbild von einer üppig wuchernden Savanne hinterhergehangen.
Scheri lief hinter Pachet her zu der Einfriedung, an der er den Esel gestern Abend neben seinem Futtertrog angebunden hatte. Wirklich fest genug? Er hetzte um das Gebirge aus leeren, rötlichen Tonröhren herum. Sie sollten die Wildbienen, die Tränen des Ra, aufnehmen, die Mutter und Vater im entfernten Nildelta einfangen wollten.
Hier war er nicht. Keine Spur von ihm.
Am oberen Ende der Tonröhren flatterte ein Fetzen, der von dem Hanfseil stammte. Völlig zerfasert.
Seine Eltern hatten den Esel erst vor sieben Tagen eingetauscht.
»Ist er vielleicht zu seinem alten Besitzer zurückgelaufen?«, fragte Scheri seine große Schwester.
»Na ab, flitz rüber und schau nach, ob er dort ist«, blaffte sie ihn an und schüttelte ihr langes schwarzes Haar, das sie noch nicht einmal zu einem Zopf geflochten hatte, wie sie es sonst jeden Morgen tat.
Scheri nahm die Beine in die Hand. Erst als er sicher war, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte, drosselte er sein Tempo. Er dachte an seine Eltern. Sie waren schon wieder weg und hatten ihn mit seiner zänkischen Schwester allein gelassen. Momentan übten sie den Beruf des Zeidlers aus, des Waldimkers, wollten aber zu Imkern werden, also zu Bienenzüchtern. Noch mussten sie immer zum Nildelta, wo die wilden Bienen ihre Stöcke gebaut hatten, um Honig und Wachs zu ernten. Scheri war jedes Mal beunruhigt, wenn sie verschwanden. Was ihnen alles passieren konnte! Giftige Schlangen, gefräßige Raubtiere, gierige Räuber … Einmal war der Vater abgestürzt und hatte sich den Fuß verrenkt. Nur mit Mühe konnte Mutter ihn zurückschleppen. Und irgendwo in der Wildnis schlafen … Nein, das war mehr als besorgniserregend.
Das würde sich ändern, wenn die Familie ihre Bienen auf ihrem Hof hegte. Alles ordneten seine Eltern diesem Ziel unter. Sogar einen Garten hatten sie angelegt. Die Blumen, die sie gesät und gepflanzt hatten, sollten den Bienen den Nektar liefern, aus dem die Speise der Götter entstand. Scheri und Pachet mussten jeden Tag viele Eimer Wasser aus dem Wasserlauf holen, der die Oase speiste. Außer an jenen Tagen vor drei Wochen, als der Himmel grollte und Massen über ihnen ausschüttete. Selbst Pachet, die gerne so erwachsen tat, hatte sich unter den Tropfen wild gedreht und getanzt und gelacht. Wie schön sie aussah! Ihm fiel siedend heiß ihr Schlechte-Laune-Gesicht wieder ein. Sollten die vielen Stunden des Erntens umsonst gewesen sein? Ob Mutter und Vater ihn bestrafen würden, falls der Esel nicht wieder auftauchte? Hoffentlich war ihm nichts geschehen. Vor einiger Zeit hatte Scheri ein Löwenrudel in der Ferne gesehen. Er erinnerte sich noch genau, gerade hatte er dem Langohr heimlich eine Handvoll Körner zugesteckt und es einen halben Eimer Wasser mehr saufen lassen, weil es an diesem Tag so hart geschuftet hatte. Zum Dank hatte der Esel lang und tief geschnaubt und ihn aus seinen dunklen Augen angeblickt. Ob er damit »Danke« sagen wollte?
Die Erde lag angenehm kühl unter seinen nackten Füßen, in der Mittagssonne würde er wieder Sandalen tragen müssen. Wie gern wäre er ein Magier, der sich mit den Elementen in Verbindung setzen konnte. Das wurde ja den Priestern nachgesagt. Ob das wirklich stimmte? Dann würde er dem Wind befehlen, der Spur des Esels zu folgen, und er könnte ihn schneller finden.
Schließlich erreichte Scheri sein Ziel. Erleichtert sah er Tenem auf seinem Hof werkeln. »Mögen die Götter dich schützen«, grüßte er höflich.
»Kleiner? Was führt dich zu so früher Stunde hierher?«, wollte der ältere Mann wissen.
Scheri runzelte die Stirn. Gewiss, sein Name bedeutete der Kleine, aber so, wie ihn Tenem ausgesprochen hatte, klang er wie Kleiner. Ob sie alle zu mir auch noch Kleiner sagen, wenn ich schon längst groß bin?
»Hast du unser Eselchen gesehen, das unser Vater vor sieben Tagen bei dir eingetauscht hat? Es ist weg. Dabei habe ich es gestern Abend fest angebunden. Ich dachte, es wäre vielleicht zu seinem alten Hof zurückgelaufen.«
Tenem grinste. »Eselchen!« Er betonte das »chen«. »Wahrscheinlich nicht fest genug. Nein, hier ist er nicht, der Esel.«
Scheri ärgerte sich über sich selbst. Wenn ich weiter so rede, nehmen mich die Erwachsenen nie ernst. »Schau doch bitte noch mal genau nach, vielleicht hatte er Sehnsucht nach seiner Mutter.«
Funken der Belustigung sprühten nun aus Tenems Augen: »Gewiss nicht, sie hat ihn von ihren Zitzen weggebissen und ihn verscheucht. Dann kommt ein Eseljunges nicht mehr zurück. Er ist kein Fohlen mehr.«
»Wo könnte er nur hingelaufen sein?« Das fragte er sich und den Eselzüchter zugleich. »Oder hat ihn vielleicht jemand gestohlen?«
»Das glaube ich eher nicht. In unserer Oase gibt es keine Diebe. Wer will schon Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, herausfordern?«
Scheri schob mit den Zehen kleine Steinchen beiseite, unschlüssig, was er als Nächstes tun solle. Offenbar tat er Tenem leid, denn der schlug vor: »Frag doch mal Rattawi, ob sie etwas gesehen hat, sie ist immer sehr früh wach und weiß viel.«
Scheri verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung und rannte los, einen Funken Zuversicht im Herzen.
* * *
Scheri kratzte sich am Kopf. Wie sag ich’s meiner Schwester? Er bog auf den Hof. Da stand sie, die Haare ordentlich geflochten.
»Pachet, bei Tenem war er nicht, aber Rattawi hat heute Morgen einen jungen Esel gesehen, der in Richtung der Savanne lief und einen Strick hinter sich herzog«, stieß er eilig hervor. Zu seinem Erstaunen schimpfte sie diesmal nicht.
»Komm, lass uns ein paar Sachen zusammenpacken, wir laufen in die Steppe, um ihn wieder einzufangen.«
Eigentlich müsste ich jetzt beunruhigt sein, doch ich freue mich. Endlich mal hier raus! Pachet hatte ein kleines Bündel geschnürt, Getreidekörner, Fladen und einen Wasserschlauch hineingetan und ebenso einen neuen Strick.
Schon als sie die letzten Hütten hinter sich ließen, sahen sie, dass die Trockenheit wieder über jegliches Grün triumphiert hatte. Ab und zu bedeckten flache Dornsträucher den Boden, eine verkrüppelte Dattelpalme behauptete sich auf dem trockenen Grund, vereinzelte Tamarisken versuchten, sich gen Himmel zu recken. Hartgräser rotteten sich in Inseln zusammen. Ein Milan zog seine Kreise. Doch von dem Esel war rundherum nichts zu sehen.
Scheri spähte nach Süden. »Schau mal, eine Herde Antilopen!« Er streckte seinen linken Zeigefinger in die Richtung, in der er sie entdeckt hatte.
Pachet ergänzte: »Und eine Herde Addax, guck!«
Scheri hob die ausgestreckte Hand über die Augen. »Sind das dort Esel?«
»Könnte sein, sie sind noch zu weit weg. Seltsam, alle streben in eine Richtung. Da gibt es doch diesen Affenbrotbaum. Vater hat gesagt, dass ein Reisender ihn vor vielen Generationen aus dem tiefen Süden mitgebracht hat und dass er der einzige ist, der in unserem Reich wächst. Er steht wohl auf einer Wasserader, sonst könnte er sich in der Savanne nicht halten. Lass uns auch in diese Richtung gehen.«
Die Geschwister marschierten und marschierten. Die Sonne stand bald hoch am Firmament und zauberte ihnen Schweißtropfen in die Gesichter und in den Nacken. Mit jedem Schritt betete Scheri in Gedanken zu Ra: Lieber Sonnengott, bitte führe uns zu unserem Eselchen, bitte lass es gesund sein, bitte pass auf es auf, bitte lass Pachet wieder gut sein, bitte beschütze unsere Eltern. Er wiederholte das in unterschiedlichen Variationen zu allen Göttern, die ihm einfielen.
An einem Stein, der aussah, als hätte ihn ein Riese in die Wüstensteppe geschleudert, setzten sie sich und streckten ihre Beine aus. Scheri trank, reichte den Wasserbeutel an seine Schwester und betete wieder zu Ra: Lieber Gott, wenn du uns zu unserem Esel führst, werde ich dir mein Leben lang dienen. Dabei schaute er hoch in Richtung der Sonne.
»Pachet«, rief er begeistert, seine Stimme hüpfte wie ein Fohlen, »Ra hat mir eben zugezwinkert. Wir finden unseren Esel, das weiß ich ganz genau.«
Ein amüsiertes Lächeln leuchtete auf dem Gesicht seiner Schwester. Sie strich ihm über seinen kahlrasierten Kopf, über dessen rechtem Ohr die Jugendlocke hing, und meinte: »Du bist so ein Kindskopf! Wenn du nur etwas achtsamer wärst und nicht ständig in der Gegend herumträumen würdest.« Bei ihrem ersten Ausruf fühlte sich Scheri fast gemocht. Doch einmal gemein, immer gemein.
Es dauerte nicht mehr lange, da sahen sie in der Ferne den merkwürdigsten Baum, der ihnen je unter die Augen gekommen war. Als hätte ein Gott ihn ausgerissen und mit den Wurzeln nach oben wieder in die Erde gesteckt. Riesig war er, riesig! Sein Stamm wölbte sich wie eine gefüllte Blase unter lauter kleinen, knorrigen, verzweigten Ästen in der Höhe. Doch das Allermerkwürdigste war, dass sich unzählige Tiere unterschiedlichster Arten um ihn versammelt hatten.
Die Geschwister näherten sich langsam, unwillkürlich fasste Scheri an das Leinengewand seiner Schwester. Ihm blieb der Mund offen stehen. Gazellen, Oryxantilopen, Springböcke, aber auch Fenneks und Hyänen reihten sich um den Baum, der so gewaltig war, dass es gewiss dreißig Männer brauchte, um ihn zu umrunden.
»Was machen die da?«, flüsterte der Junge entgeistert und atemlos.
Seine Schwester atmete ein. Bevor sie antworten konnte, stürzte ein unermesslich großer Vogel aus der Krone des Baobabs. Aber nein, der war nicht tot! Er flatterte unbeholfen wie ein Küken, das erst noch fliegen lernen muss. Mühsam breitete er seine Flügel aus, die breit waren wie zwei Männer. Fast gelang es ihm, sich abzufangen, doch er wedelte nur herum. Letztendlich plumpste er mit einem hörbaren Plopp wie ein Kleinkind bei den ersten Gehversuchen auf seinen Hintern – und zwar inmitten der eleganten hellen Addax mit ihren langen, spiralförmig eingedrehten Hörnern. Träge rückten die ansonsten flinken Tiere von dem monströsen Flugungeheuer ab. Scheri war verwirrt, er wusste gar nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Warum bloß liefen die Gazellen nicht weg?
»Das muss ein Bartgeier sein«, flüsterte seine Schwester. »Ich hätte nicht geglaubt, in meinem Leben je einen zu Gesicht zu bekommen.«
Noch nie hatte Scheri so viele unterschiedliche Tiere gesehen, schon gar nicht auf so engem Raum. Sie drängelten sich um den Baum und leckten an seinem dicken Stamm, in dem gewiss zehn Menschen Platz finden würden, wenn er denn hohl wäre.
Pachet fasste nach der Hand ihres Bruders. Sie sah erschrocken aus. Ich muss mich beruhigen, schoss es durch Scheris Kopf. Er holte tief Luft. Ein Gemisch der unterschiedlichsten Gerüche flutete seine Nasenwände und kitzelte seine Zunge. Es stank zuallererst scharf wie der Urin eines ganzen Hunderudels, darüber legten sich die sanften Düfte der Gazellen und Antilopen, und er vermeinte, die leckeren Früchte des Affenbrotbaums wahrzunehmen. Aber da war noch irgendwas, etwas Aromatisches, ein Wohlgeruch, der ihm bekannt vorkam. Er schnupperte. Ja, Honig – aber nicht ganz – viel intensiver. Scheri blickte am Baum hoch und entdeckte eine kleine Höhle, vor der Bienen aufgeregt herumschwirrten.
Bevor er jedoch dazu kam, Pachet darauf hinzuweisen, rappelte sich der Bartgeier auf und torkelte herum wie ein Betrunkener. Von der anderen Seite des Baums tönte ein munterer Eselschrei, und ihm fiel schlagartig ein, warum sie überhaupt hier waren. Er zog seine Hand aus der seiner Schwester und lief los.
»Scheri«, schrie Pachet, »bleib hier!« Angst schwang in ihrer Stimme mit.
»Da bist du ja«, rief der Junge freudig aus. Seelenruhig stand sein Eselchen inmitten einer kleinen Herde. Der Strick baumelte mit einem zerfransten Ende an seiner Seite. Wie lieb er aussieht. Scheri wollte ihn küssen und herzen und drängelte sich zu ihm. »Was leckt ihr alle an dem Stamm?« Er nahm seinen Zeigefinger und fing damit einen herunterfließenden gelblichen Tropfen auf. Der roch köstlich und er öffnete seinen Mund.
Plötzlich brüllte es hinter ihm. Laut. Durchdringend. Die Esel und anderen Tiere stolperten aufgebracht beiseite. Scheri drehte sich langsam um. Die Savanne und ihre Wesen hielten ihren Atem an. Selbst der Wind legte sich, und die Vögel verstummten. Vier Manneslängen entfernt näherte sich majestätisch der König der Tiere mit einer gewaltigen sandfarbenen Mähne, in seinem Gefolge ein Jungmann und vier Löwinnen. Wie aus weiter Ferne hörte der Junge den erschreckten Ruf von Pachet: »Scheri!«
Ein Löwe, nein sechs Löwen. Was wollen die hier? In die friedliche Versammlung der Steppentiere einfallen und eines von ihnen fressen? Oder gar mich? Rasend schnell purzelten die Gedanken durch seinen Kopf. Die Härchen an seinen Armen richteten sich auf. Er hatte solche Angst wie noch nie zuvor. Irgendwas muss ich jetzt tun, aber was? Wenn ich weglaufe, stürzen sich die Raubkatzen erst recht auf mich.
Sein Mund stand immer noch offen, und weil ihm nichts Besseres einfiel, steckte seinen Finger mit dem Tropfen hinein.
* * *
Später sollte Pachet erzählen: »Mein kleiner Bruder steckte den Finger in den Mund. Urplötzlich breitete sich ein Kranz aus goldenem Licht um seinen Kopf aus. Der riesige Löwe hielt in seinem Schritt inne und ließ sich langsam zu Boden gleiten wie ein Hund, dem sein Herrchen Platz gebot. Seine Frauen und der Junglöwe taten es ihm nach. Alle anderen Tiere rückten ein Stück weg von dem Baum und bildeten einen großen Halbkreis vor dem leuchtenden Jungen.«
Scheri indes schmeckte das Köstlichste, das je seine Zunge benetzt hatte. Einfach göttlich. Er drehte sich zu dem Baobab und fing einen weiteren Tropfen auf, der in seinem Munde explodierte und sein ängstliches Herz leicht machte. Staunend beobachtete er, wie sich sein ganzer Körper in die Länge und Breite zog, bis er alle Tiere überragte. Es kam ihm vor wie ein Traum. Aus seinen Armen und Beinen strahlte es golden.
Das Leuchten verstärkte sich und je mehr er glänzte, desto klarer wurde sein Kopf. Zum zweiten Mal an diesem Tag zwinkerte ihm Ra vom Himmelsgewölbe aus zu. Jetzt bin ich nicht mehr der kleine Scheri, sondern der Große, der Diener des Ra. Egal, wie jung oder schmächtig ich äußerlich bin.
Er drehte sich, seiner Kraft bewusst, zu dem Esel, der mit seinen neu gewonnenen Freunden in seiner Nähe stand. Scheri sah in den Erinnerungen des jungen Tieres, wie es sich in dem Hof entsetzlich gelangweilt und wie einsam es sich gefühlt hatte. Ihm fehlten das leichte Scharren von Hufen, das Atmen seiner Gefährten, das gemeinsame Herumtollen und das gegenseitige Kratzen.
Kurzentschlossen nahm Scheri ihm den Strick ab und flüsterte in sein langes graues Ohr: »Lauf, kleiner Esel, lauf. Ich gebe dir den Namen Nemti, der Wanderer. Wandere durch die Savanne und werde glücklich.«
Er wandte sich zu den Tieren und löste mit einem Wink deren Formation auf. Die anderen Herdentiere machten den Löwen Platz, die auch nichts anderes wollten, als von diesen köstlichen Rinnsalen zu kosten, die den Stamm des gewaltigen Baumes herunterliefen.
Scheri – normal groß und von einem inneren Leuchten erfüllt – streckte seinen Rücken durch und lief direkt seiner Schwester in die Arme, der die Tränen über das Gesicht strömten und die stammelte: »Scheri, Scheri«, und sein Gesicht mit Küssen bedeckte. Er schob sie mit einem glücklichen Lachen ein wenig von sich. Von dem gewaltigen Affenbrotbaum löste sich eine schwarze Wolke und flog zu ihm herunter. Die Tränen des Ra setzten sich auf ihn, überall. Sie umhüllten ihn sitzend und fliegend und begleiteten ihn den ganzen langen Weg nach Hause. Das Dutzend Esel marschierte ihnen freudig hinterher. Tja, sein Eselchen war gar nicht mit seinen Freunden in die Savanne gezogen. Wie würden sich seine Eltern über diese zusätzlichen Tragtiere freuen!
Zuhause angekommen, bezogen die wilden Bienen die erste der vorbereiteten Tonröhren und bildeten somit den Grundstock für die erste Metproduktion der Erde.
* * *
Künftig sollte der Met von der königlichen Familie getrunken werden. Mit ihm feierte sie das jährliche Ritual der Thronbesteigung. Der Honigwein bewirkte, dass ihre Untertanen treu zu ihnen standen und für sie sorgten wie die Bienen für ihre Königin.
Scheri wurde später der jüngste Hohepriester des Tempel des Ra und damit der mächtigste Mann nach dem Pharao.
* * *
Das ist ein wenig geflunkert. Met, der Trank der Götter, entstand tatsächlich in einem Bienenstock in einem Baobab nach einem Regenguss durch anaerobe Spontangärung. Allerdings soll das bereits vor rund zwanzigtausend Jahren passiert sein, nur im südlicheren Afrika. Aber ein betrunkener Geier ist wirklich vom Baum gefallen? Ehrlich!
Die Jagd der Katzenfrau
Sandra Melli
Metsorte: Waldfruchtmet
Laisa blieb stehen und konzentrierte sich ganz auf ihre magischen Sinne. Zuerst nahm sie nichts Ungewöhnliches wahr, aber dann fühlte sie, dass die Umgebungsmagie wie von einem Magneten angezogen in eine Richtung floss. Sie nickte erleichtert. Dort war der Magiefresser! Nicht mehr lange, dann würde sie das Ungeheuer zu fassen bekommen. Um ihn genauer ausmachen zu können, gab sie ein wenig ihrer eigenen Magie ab und verfolgte ihrenWeg. Eine knappe Meile vor ihr verschwanden ihre magischen Schwaden so plötzlich, als würden sie aufhören zu existieren.
Mehr als vierhundert Meilen war sie dem Magieräuber gefolgt, aber nie nahe genug an ihn herangekommen, um ihn angreifen zu können. Nun aber würde er ihr nicht mehr entkommen. Als sie weiterlief, dachte sie an die fünfhundert Goldfirin, die die weiße Priesterschaft in E’Dareh auf den Kopf dieses Wesens ausgesetzt hatte. Es war eine ansehnliche Summe, dennoch war sie die Einzige gewesen, die sich gemeldet hatte. Magisch begabte Menschen zitterten bereits vor Angst, wenn nur das Wort Magiefresser fiel, und wurden daher zu leichten Opfern für diese Ungeheuer. Sie hingegen war kein Mensch – oder wenigstens nur zum Teil. Ihresgleichen nannte man Katzenmenschen. Allerdings besaß sie mehr Fähigkeiten als eine normale Katzenfrau und wusste diese auch zu nutzen. Daher war sie die perfekte Jägerin für ein Wesen, das magisch begabte Personen überfiel und sie tötete, indem sie ihnen alle Magie und damit auch die Lebenskraft aussaugte.
»Grüble nicht, jage!«, mahnte Laisa sich selbst, als sie sich der Stelle näherte, an der sie den Magiefresser ausgemacht hatte.