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Michaela beschließt eines Sonntags sich nicht mehr länger mit ihrem Dasein als trauernde Witwe und treusorgende Großmutter zu begnügen, Michaela will endlich wieder leben. Und so beginnt sie sich einen Traum zu erfüllen: Michaela macht sich auf die Suche nach einem Sommerquartier, wo sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nach gehen kann. Michaela möchte am Strand entlang gehen können, sich mit immer neuen Leuten unterhalten, einwenig in der Philosophie stöbern, lesen und schreiben. Als sie ihre Freundin, die Malerin ist, trifft, kommt sie mit einem großen Schritt ihrem Ziel näher.
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Seitenzahl: 360
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So komme, was da kommen mag!
Solange du lebest, ist es Tag.
Und geht es in die Welt hinaus,
wo du mir bist, bin ich zu Haus.
Ich seh’ dein liebes Angesicht,
ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.
Theodor Storm
Sonntag
Der Besuch
Montag
Dienstag
Wochenende
Donnerstag
Skála Potamiás
Sind wir Don Quijote
Die Frühstückswanderung
Begegnung mit Floria
λουτρού Paradies Beach
Mittwoch - Wochenmitte
Überraschender Besuch
Freitag
Versöhnliches
Kynira
Entscheidungen
Sie wachte mit Herzklopfen auf, das Damoklesschwert der Einsamkeit hatte sie geweckt, ohne daß sie sich dessen bewußt war. Langsam kam sie zu sich, im Unterbewußtsein griff sie neben sich, tastete nach dem Kopfkissen, doch es war keines mehr da, sie lag alleine in ihrem großen Bett. Sie war allein. Es war wieder Sonntag, der Tag der Familie, doch wo war ihre Familie? Die Kinder waren nun groß, alle aus dem Haus und hatten inzwischen eine eigene Familie gegründet. Und das Bett neben ihr war leer. Es war nun seit fünf Jahren leer, doch immer noch erwartet sie jeden Morgen, daß Wolfgang wieder neben ihr liegen würde. Es war leer und sie war alleine. Sie zog sich das Kopfkissen über den Kopf, wollte vergessen, die alten Zeiten heraufbeschwören. Was hatten sie sich doch alles vorgenommen, wenn die Kinder aus dem Haus wären? Sie hatten reisen wollen, wollten das Leben genießen; doch Wolfgang hatte sich, ohne jede Vorwarnung, aus dem aktiven Leben gestohlen. Hatte sie alleine gelassen, und zuweilen war sie der Ansicht, daß er sie im Stich gelassen hatte. Sicher, sie hatte keine Geldsorgen, sie hatte während ihrer Berufstätigkeit viel Geld verdient und Wolfgang hatte sie ebenfalls gut versorgt. Doch alles Geld dieser Welt konnte die Sehnsucht nach ihrem Mann und die Einsamkeit, die sie jeden Sonntag aufs neue in die Klauen nahm, nicht aufwiegen.
Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf; hatte sie früher immer einen stillen Winkel gesucht, in dem sie mit sich und ihren Gedanken alleine sein konnte, um so bedrückender empfand sie nun die sie schier erdrückende und stets umgebende Einsamkeit. Und wie andere sich wohl fühlten und aufblühten, wenn sie endlich in der Lage waren ihr Leben selbst zu bestimmen, so verschloß sie sich immer mehr und mehr in sich selbst, empfand die Freiheit als Last und immer störender.
Der Radiowecker schaltete sich ein, sie nahm die Musik kaum war, eine sanfte Geräuschkulisse. Sie wußte, daß es noch früh war, sie ungestört noch zwei Stunden länger in ihrem Bett bleiben konnte, wenn sie dies wollte. Und wieder kehrten ihre Gedanken zu ihrer Einsamkeit zurück, zur Einsamkeit und Melancholie. War sie früher doch so dankbar für einen Moment der Ruhe und der Besinnung gewesen war, warum erfüllte sie dann jetzt nur diese Einsamkeit? Nein, sie wollte nicht weiter in diesem Sumpf versinken, sie mußte sich endlich, gleich den Fähigkeiten von Münchhausen, selbst an den Haaren aus dem Morast herausziehen! Wolfgang würde es ihr nie verzeihen, wenn sie ihr Leben nicht in den Griff bekommen würde, er hatte bestimmt keine ewig trauernde Witwe gewollt. Er hätte bestimmt alles daran gesetzt, daß sie ihr Leben so weiterführte, wie sie es gemeinsam geplant hatten. - Doch ohne ihn, war dies überhaupt möglich? Michaela sah Wolfgang wie so oft vor sich, sah ihn lachend über das Feld auf sie zukommen, während sie am Wiesenrain kniete und einen Blumenstrauß aus Mohn, Kornblumen und Scharfgabe pflückte. Nein, Wolfgang wollte keine trauernde Witwe, er wünschte sich seine Frau glücklich und das Leben genießend, schloß dies doch nicht aus, daß sie die Erinnerung an ihn in ihrem Herzen bewahrte.
Und an diesem Morgen faßte sie den Beschluß, endlich ihrem Leben eine andere Wendung zu geben. Waren es ihre Gedanken, die sie die ganze Zeit in einem Labyrinth gefangengehalten hatten, so spürte sie nun eine große Erleichterung. Sie wußte, sie würde es schaffen, sie würde ihrem Leben einen neuen Sinn geben können, Vita brevis1. Sie hörte ein Lied im Radio, es war ein fröhliches Lied, es begleitete sie zurück ins Reich der Träume und ließ sie Ruhe finden.
Michaela erwachte erst wieder zwei Stunden später. Sonnenstrahlen fielen durch die Balkontür auf ihr Bett, es war ein schöner Tag, sie fühlte sich frisch und frei, hatte die Melancholie im Reich der Träume zurück gelassen. Sie sah auf ihren Radiowecker, es war kurz nach acht Uhr. Entschlossen schlug sie ihre Bettdecke zurück, sie würde heute in die Kirche gehen - wie lange war es her, daß sie das letzte Mal in die Kirche gegangen war. Die wenigen Male die sie in den letzten dreißig Jahren in der Kirche gewesen war, konnte sie an ihren Fingern abzählen: an ihrer Hochzeit, an den Taufen ihrer beiden Töchter, zur Konfirmation, zur Hochzeit ihrer älteren Tochter Sabine, die Tochter Saskia hatte sich nicht kirchlich Trauen lassen wollen, zur Taufe von Tobias, ihrem Enkelsohn. - Und nach der Beerdigung von Wolfgang. Ja, sie wollte heute in die Kirche gehen.
Michaela ging in die Küche. Ihre bloßen Füße fühlten die etwas rauhe Kühle der Bodenfliesen, ihre frisch lackierten roten Zehennägel hoben sich fröhlich leuchtend von den beigen Fliesen ab. Ihr weißes langes Batist-Nachthemd, ihre Figur weich umfließend, hätte heimlichen Beobachtern einen verführerischen Blick auf die Reize ihrer Weiblichkeit freigegeben, doch gab es in Michaelas Nähe keine heimlichen Beobachter. Ungestört bewegte sie sich in ihrer Küche, längst war der Griff nach den Filtertüten und der Dose mit dem gemahlenen Kaffee zur Routine geworden, nur kurz mußte überlegt werden, wie viele Tassen Kaffee sie heute morgen benötigte.
Als sie aus dem Bad kam, erfüllte der Duft des frisch überbrühten Kaffees ihr Haus. Unschlüssig stand sie vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen schmal geschnittenen Tweedrock, eine schlichte weiße Bluse und ihr schwarzes Jackett. Nach einem kritischen Blick in den Spiegel ging sie in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, zum Frühstücken langte die Zeit nicht mehr, hatte sie doch im Bad zu sehr gebummelt.
Es war kurz vor zehn, als Michaela vor der Kirche ankam. Unsicher betrat sie das ihr so fremde Gebäude, was wollte sie hier eigentlich? Sollte sie wirklich in den Gottesdienst gehen? Was war, wenn heute das Abendmahl gereicht werden würde? - Sie kannte doch kaum noch Kirchenlieder und die Gebete fielen ihr auf Anhieb auch nicht ein. Zögernd stand Michaela noch im Vestibül als sie von einer Nachbarin angesprochen wurde.
„Guten Morgen Frau Wagner, wie geht es Ihnen, ich habe Sie ja nach meinem Urlaub noch nicht wieder gesehen!“
„Oh danke Frau Schmitz. Wie war denn Ihr Urlaub, haben Sie sich gut erholt?“
„Ach die Landschaft war sehr schön, nur die Leute dort haben überhaupt kein Deutsch gekonnt, und meine gute deutsche Küche haben sie auch nicht beherrscht!“
Michaela mußte über diesen Ausspruch innerlich lachen, doch mit Ernst und Mitgefühl erkundigte sie sich: „Wo waren Sie denn im Urlaub, daß Sie mit derartige Kulturbanausen vorlieb nehmen mußten?“
„Ich war in Griechenland auf einer kleinen unbedeutenden Insel in der Nordägäis.“
„Oh, das klingt ja so, als wären sie von ihrem Urlaub sehr enttäuscht worden“, bedauerte Michaela Frau Schmitz.
„Ach na ja, ich hatte mir etwas anderes vorgestellt, vornehmer, exquisiter, nicht soviel Natur.“
„Es war ihnen zuviel Natur? Aber das würde mich schon interessieren, gerne würde ich darüber mehr von ihnen erzählt bekommen. Ich habe mir auch überlegt nach Griechenland zu fahren und würde mir daher gerne Ihren Bericht anhören. Kommen Sie doch heute am Nachmittag, falls Sie nichts anderes vorhaben, zu mir auf eine Tasse Kaffee.“ Michaela war sich sicher, daß Frau Schmitz kommen würde, hatte sie doch schon die ganze Zeit über auf eine Einladung gewartet.
Und richtig, Frau Schmitz zögerte nicht lange: „Ja, gerne! Wenn es Ihnen recht ist bringe ich meine Bilder mit, nur habe ich sie noch nicht sortiert und beschriftet.“
Michaela sah den Kirchendiener auf sie zukommen, „ich glaube, wir müssen uns nun einen Platz suchen, ich sehe mir natürlich gerne Ihre Bilder an, bitte bringen Sie alle mit. - Da vorne sind im Mittelschiff noch einige Plätze frei.“
Michaela hatte sich kaum hingesetzt, als auch schon das Orgelspiel begann und der Pfarrer aus der Sakristei trat. Das angestimmte Kirchenlied war ihr unbekannt, sie sah auf die Anschlagtafel und schlug dann das angegebene Lied im Gesangbuch auf. Und sie las den Text des Liedes „Bewahre uns, Gott“ und den ganzen Gottesdienst über gingen ihr die zweite und dritte Strophe: „Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns in allem Leiden. Voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten, voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten. / Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns vor allem Bösen. Sei Hilfe, sei Kraft, die Frieden schafft, sei in uns, uns zu erlösen.“ nicht mehr aus dem Kopf. Auch das Losungswort der Predigt stand im Zusammenhang mit diesem Lied.
Nach dem Gottesdienst ging Michaela in Gedanken versunken nach Hause, das Lied und die Predigt, ihr ungewohnter Besuch in der Kirche, beschäftigte sie sehr, drängten den bevorstehenden Besuch ihrer Nachbarin in den nebensächlichen Hintergrund der Gedanken. Kaum betrat sie ihre Wohnung, als auch schon das Telefon ungeduldig klingelte und ihre Gegenwart umgehend forderte.
„Wagner, guten Tag“ meldete sich Michaela.
„Hallo Mama, wo steckst du denn, ich habe schon den ganzen Morgen versucht dich anzurufen!“ vernahm sie die Stimme ihrer älteren Tochter.
„Das tut mir leid Sabine, aber ich war...“
„Du, ich brauche unbedingt Deine Hilfe, ich bekomme nachher Gäste zum Kaffee, würdest du mir bitte Tobias hüten, der stört mich sonst nur?“
„Sabine auch ich...“
„Ja? Danke Mama! Es macht dir doch nichts aus, wenn ich ihn gleich vorbei bringe, aber dann kannst du ihm gleich seinen Mittagsbrei füttern und dann kann Tobias seinen Mittagsschlaf bei dir machen.“
„Sabine, Frau Schmitz...“
„Also, tschüs Mama, bis gleich“ und schon legte Sabine auf, ohne daß ihre Mutter auch nur einmal dazu gekommen wäre einen Satz zu beenden. Für Sabine war es selbstverständlich, daß ihre Mutter Zeit zu haben hatte, keinen eigenen Interesse, oder Pläne verwirklichen wollte.
Michaela hielt noch den Hörer in der Hand, als es an der Haustür klingelte. Noch in Gedanken an das Telefongespräch, ging sie die Tür öffnen. Vor der Haustür stand Saskia und ihr Ehemann Frank.
„Hallo, guten Tag Mama. Du, wir haben uns überlegt, daß wir dich besuchen kommen. Da können wir doch gleich bei dir essen und nach dem Essen wollen wir dann zu Freunden fahren und dich bitten, daß du uns den braven Max hütest. Meine Freundin hat Asthma, sie ist leider auf die Hundehaare von Max allergisch.“ Wurde sie von Saskia begrüßt und Max, der junge Cairn Terrier von den beiden, begrüßte Michaela fröhlich und laut bellend.
„Guten Tag Saskia, guten Tag Frank, kommen erst einmal herein.“ Michaela freute sich ihre Tochter zu sehen. Doch sie war nicht auf Besuch eingerichtet, hatte kein Mittagessen vorbereitet und auch nicht genügend Vorräte im Haus, um Saskia und Frank zu bewirten. „Es ist bedauerlich, daß ihr mir nicht schon gestern Bescheid gesagt habt, jetzt habe ich nichts im Haus, womit ich euch bewirten könnte. Wenn ihr aber einverstanden seid, rufe ich beim Italiener an, dann kann uns Frank Pizza holen.“
„Schade, ich habe mich so auf Deinen Sonntagsbraten mit Rotkraut und Klößen gefreut“, bedauerte Saskia.
„Du kannst gerne mein Rezept haben“, bot Michaela an. „Also, soll ich nun beim Italiener etwas bestellen oder nicht? Nachher kommt auch Sabine vorbei, sie will mir Tobias bringen, da sie heute am Nachmittag Besuch erwartet.“
„Das ist aber ganz schön rücksichtslos von Sabine, dir so einfach Tobias aufzuhalsen!“ erklärte Saskia ohne auch nur im geringstem in Erwägung zu ziehen, daß sie gerade Max zu ihrer Mutter brachten.
„Nun Saskia“ meldete sich Frank zu Wort, „was die Rücksichtslosigkeit deiner Schwester anbelangt, sind wir auch nicht viel besser! Ich denke auf jeden Fall, daß wir beim Italiener Pizza bestellen sollten, da können wir uns gleich bei deiner Mutter revanchieren und um gut Wetter bitten; ich wollte ja gleich, daß wir essen gehen!“
„Es ist ja schon gut, steh du nur meiner Schwester bei, da hättest du sie ja gleich selbst heiraten können!“
„Also, was soll denn das jetzt?“ schaltete sich Michaela ein, „könnt Ihr Euch nicht einmal fünf Minuten vertragen? Ihr streitet euch wie kleine Kinder, sobald ihr etwas von Sabine oder Tobias hört! Ich werde jetzt die Pizza bestellen, wollt Ihr eine spezielle Pizza haben?“
„Ja gerne, ich möchte mit Meeresfrüchten und Saskia bestimmt eine Pizza Hawaii, ist dir dies recht Schatz?“ antwortete Frank versöhnlich.
Michaela zog ihr Telefonbuch zu Rate, hatte sie doch die Telefonnummer des Italieners nicht im Kopf. Sie schlug das Telefonbuch bei R wie Restaurant auf um die Nummer zu suchen, dabei viel ihr Blick auf die Anzeige eines Griechen - ihre Verabredung für den Nachmittag! Nun, zum Kuchenbacken würde ihr die Zeit nicht mehr ausreichen, schon gar nicht, wenn sie Tobias und Max hüten mußte, vielleicht konnte sie ja beim Italiener noch einen Panettone bekommen. Michaela wählte die Nummer des Italieners.
„Restaurant Rimini, guten Tag!“ meldete sich kurz darauf die freundliche Stimme eines Kellners.
„Wagner, guten Tag! Sagen Sie, kann ich denn drei Pizzen bei Ihnen bestellen?“
„Selbstverständlich Signora, welche hätten Sie denn gerne?“
„Eine Pizza Meeresfrüchte und zweimal Pizza Hawaii. Dazu hätte ich gerne noch einen großen Italienischen Salat. Und sagen Sie, haben Sie auch noch von Ihrem Panettone da?“
„Eine Pizza Meeresfrüchte, zwei Pizza Hawaii und einen großen Salat,“ wiederholte der Italiener, „vom Panettone habe ich verschiedene da, einmal mit Schokoladensoße, oder mit Früchten, und einen ohne alles, welchen hätten Sie denn gerne Signora?“
„Oh, wenn ich die Auswahl habe, dann möchte ich den mit der Schokoladensoße. Wann können denn die Pizzen abgeholt werden?“
„In einer halben Stunde ist alles fertig, es tut mir leid, daß es so lange dauert, aber wir haben im Moment alle Plätze belegt!“
„Nein, nein, das ist nicht schlimm, ich lasse dann in einer halben Stunde die Pizzen holen!“
„Danke schön Signora, dürfte ich bitte nochmals Ihren Namen wissen?“
„Wagner.“
„Danke schön Signora Wagner, die Pizzen werden pünktlich fertig sein!“
Michaela wand sich an Frank „Frank hast du alles gehört? Ich habe eine Pizza Meeresfrüchte für dich und zwei Hawaii für Saskia und mich bestellt, dazu noch Salat und den Panettone. Bitte sei so lieb und merke es dir, nicht daß dann etwas von der Bestellung fehlt.“ Inzwischen hatte es schon wieder an der Haustür geklingelt. Michaela hörte, wie Saskia die Tür öffnete und Tobias von Sabine in Empfang nahm, während Sabine noch einmal an das Auto ging, um die Tasche und den Kinderwagen für Tobias zu holen.
Bald war das Wohnzimmer von Michaela dichtbevölkert, Max und Tobias tobten um den Eßtisch und robbten hinter der Couch entlang, derweilen die Erwachsenen sich Gehör zu verschaffen versuchten. Sabine zeigte einen Anflug eines schlechten Gewissens. „Mama wird es dir auch nicht zuviel, wenn du Tobias und Max hüten mußt? Aber bestimmt freust du dich, wenn du Tobias endlich einmal wieder bei dir hast!“
Was blieb Michaela schon anderes übrig, als Sabine zu beruhigen und ihre Freude über den Besuch ihres Enkelsohnes kund zu tun? Bald war die halbe Stunde um und es wurde für Frank Zeit die bestellten Pizzen abzuholen. Auch Sabine verabschiedete sich, Saskia deckte den Tisch, während Michaela Tobias fütterte und zum Mittagsschlaf fertigmachte. Bis Frank von der Pizzeria zurück kam, lag Tobias gefüttert und mit frischen Windeln im Bett, das störungsfreie Mittagessen war gesichert.
1 Das Leben ist kurz
Michaela war wieder alleine, Saskia und Frank hatten noch geholfen, das Geschirr abzutragen und dann waren sie zu ihrer Verabredung aufgebrochen. Ein Moment würde wohl noch Zeit sein, bis Michaela den Kaffeetisch decken mußte. Erwartungsvoll stupste Max Michaela an, er war unruhig, wollte gerne an die frische Luft. Und so ließ ihn Michaela in den Garten, konnte sie doch keinen Spaziergang mit ihm unternehmen, da Tobias noch in seinem Bettchen schlief.
Michaela blieb einen Moment im Wintergarten in der offenen Tür stehen und sah Max beim fröhlichen Spielen mit sich selbst und den bunten Schmetterlingen zu. Übermütig bellend rannte Max hinter Vögeln her, freute sich, als er erreichte, daß die Vögel sich flatternd in die Luft erhoben. Und wieder dachte Michaela an Wolfgang. Sie hatten gemeinsam den Umbau des Hauses geplant und waren dann mit viel Freude an die Verwirklichung der Pläne gegangen. Sie hatten sich immer vorgestellt, hier in diesem Haus gemeinsam ihren Lebensabend zu verbringen, hatten die neuen Möbel mit Bedacht ausgewählt, hatten den Garten mit Liebe neue gestaltet. Die Bäume wuchsen nun schon prächtig in den Himmel, überragten bald den Dachfirst, die Rosenstöcke und der Lavendel umrahmten die Treppe in den Garten und den Weg zum Seerosenteich. Leise wiegten sich die Köpfe der Fackellilien und des Lampenputzergrases am Rande des Teiches und warfen bizarre Schatten auf die glänzende Wasseroberfläche. Im Schatten der Blutbuche hatten sie einen Sitzplatz geplant mit Blick auf den Teich und den Gartenfleck, an dem die Kübelpflanzen, Oleander, Lorbeer, Schönmalven, Kamelie und Engelstrompete, standen. Michaela lauschte ob sie etwas von Tobias hörte und dann ging sie die wenigen Meter zum Seerosenteich. Versonnen sah sie auf das Wasser und zu ihrem Sommersitzplatz hin. - Wolfgang, was würde er sich jetzt über seinen Garten freuen. Doch sie empfand das große Haus als erdrückend, was sollte sie nur mit den vielen Räumen machen? Allein konnte sie die Zimmer gar nicht alle nutzen, doch eine Mieterin wollte sie sich nicht ins Haus nehmen. Das Haus war für sie wie ein zu groß gewordenes Kleid nach einer heftigen Abmagerungskur, ohne Wolfgangs Gegenwart und das fröhliche Kinderlachen vergangener Tage, wirkte es kalt und leer. Doch lange konnte sich Michaela nicht ihren Gedanken hingeben, sie mußte den Kaffeetisch decken und wieder nach Tobias sehen.
Bald war alles für den Besuch vorbereitet, das übermütige Bellen von Max erklang vom Hoftor und kündigte die Nachbarin an. Kurze Zeit später erklang das Dingdong der Klingel am Gartentor. Ach ja, die Nachbarin hatte ja Angst vor Max. Michaela ging an die Tür und pfiff Max zurück, damit Frau Schmitz das Gartentor passieren konnte.
„Max, Max, komm′ bei Fuß! – Kommen Sie nur rein, Frau Schmitz, Max ist nur ein wenig verspielt, er macht Ihnen nichts!“
„Oh ich habe keine Angst vor so kleinen Hunden“ versicherte Frau Schmitz. „Ich habe auch schon einmal so einen süßen kleinen Pudel gehabt, leider ist er mir sehr bald in ein Auto gelaufen. Er war so sehr davon erschrocken, als der Autofahrer hupte, daß er davon rannte, schnurr stracks in das nächste Auto hinein. Es war ein schönes Auto, ein noch ganz neuer Wagen mit so einem ausländischen Namen. Sie haben doch auch ein neues Auto, gehen sie auch zu Antonio in die Werkstatt? Von Antonios Autowerkstatt hört man ja nur das Beste. Ich habe letztens mit ihrer Tochter gesprochen, sie hat ja so einen süßen kleinen Buben! Der Antonio hat mir übrigens von Italien erzählt, er schwärmt ja immer so von seiner Heimat, hat oft Heimweh. Als er im letzten Monat in Italien bei seinen Eltern war, hat er sich ja so eine süße kleine Katze mitgebracht, und wissen Sie, wie er das Kätzchen nennt? Er nennt das kleine Kätzchen Nero Cannelloni2 – oder so ähnlich. Dabei ist doch Nero ein Hundenamen, meinen sie nicht? Ich habe noch nie gehört, daß was anderes als ein Hund so einen komischen amerikanischen Namen bekommen hätte. – Ach, wovon sprachen wir doch gerade?“
„Von Hunden“ antwortete Michaela.
Sekundenlang verstummte Frau Schmitz, wußte sie doch nun zu diesem Thema nichts mehr zu sagen. Ein Baby weinte, kam das Weinen aus dem Haus?
„Mein Enkelsohn Tobias ist aufgewacht, ich muß rasch nach ihm sehen. Darf ich Sie in den Wintergarten bitten, Frau Schmitz?“
„Oh jetzt haben Sie auch noch Arbeit mit mir, wo Sie doch schon den kleinen Hund da und Ihren Enkelsohn beaufsichtigen müssen. Hoffentlich mache ich Ihnen nicht noch zusätzlich Mühe.“ Und, es klang nicht nur ein ganz kleinwenig vorwurfsvoll, als sie ergänzte: „– Ich wäre gerne auch ein anderes Mal gekommen, es ist doch eine große Belastung für sie, müssen sie neben dem Kaffeetrinken auch noch die beiden Süßen beaufsichtigen. Ich …“
„Nein, nein Frau Schmitz“, unterbrach Michaela den erneuten Redefluß. „Es macht mir keine Mühe, so setzen sie sich nur hin, ich bin gleich wieder da.“ Und eilig ging Michaela zu Tobias, bevor Frau Schmitz wieder wortreiche Entschuldigungen dafür fand, daß sie die Einladung angenommen hatte. Max trottete hechelnd hinter Michaela her.
Tobias lag unruhig in seinem Bettchen. Max schnupperte interessiert, die Windel mußte gewechselt werden. Tobias war durch und durch naß. Michaela sah in der Babytasche nach, ob etwas zum Wechseln gerichtet war. Sie fand zwei Windeln, die feuchten Baby-Reinigungstücher, ein Teefläschchen, ein Breiglas und ein Milchfläschchen. Michaela ging an den Wandschrank, scheuchte Max aus dem Weg, suchte in ihren alten Beständen und war froh, noch eine passende Strampelhose und eine Hemdchen zu finden.
Mit dem zufriedenen Enkelsohn auf dem Arm und Max im Gefolge, ging Michaela wieder zu Frau Schmitz. Gut, daß sie einen Laufstall für Tobias im Wintergarten zur Verfügung hatte, war sie doch auf die Erzählung und die Bilder von Griechenland gespannt. Tobias spielte, leise vor sich hin plappernd, mit seinen Kuscheltieren, während die beiden Frauen Kaffee und den Panettone genossen.
„Nun, Frau Schmitz, erzählen Sie mir doch von Ihrem Urlaub“, versuchte Michaela das Gespräch auf den Grund des Besuches zu bringen. Sanft wurde Michaela von Max mit seiner feuchten Schnauze angestupst. Max wollte Aufmerksamkeit. Michaela graulte den kleinen Hund, versuchte ihre Aufmerksamkeit zwischen den Anwesenden zu teilen. „Haben Sie die Fotos dabei, ich interessiere mich sehr für die Bilder von Griechenland, bin ich doch immer noch unschlüssig, wo ich dieses Jahr meinen Urlaub verbringen werde.“
„Ach die Bilder hätte ich jetzt fast vergessen. Ich habe sie in meiner Handtasche. Aber leider habe ich vorhin in der Eile nicht meinen Zettel gefunden, auf dem ich mir notiert habe, wo ich Bilder aufgenommen habe. Ich bin darin sehr gewissenhaft, notiere mir immer sofort, wann und wo ich welches Bild aufgenommen habe. Die Bilder sind nämlich noch nicht beschriftet. Und mein Tagebuch führe ich auch immer jeden Abend, es ist so schade, daß ich keine Kalender mehr geschenkt bekomme, früher bekam ich so viele. Aber von den meisten Fotos weiß ich ja, wo ich sie aufgenommen habe, nur nicht von allen. Schreibe ich nicht alles in mein Tagebuch, so kann ich mich zwei Jahre später nicht mehr erinnern, wo ich die Pflanze aufgenommen habe. Oder die Kirche, zu welchem Ort sie gehört.
Hier,“ und damit zeigte sie Michaela die ersten Aufnahmen, „hier sind wir gerade im Hafen von Limenas mit der Fähre angekommen. Und das ist das Hotel Artemis in Skála Prinos, dort war ich drei Wochen. Und dies sind die Bilder von der Inselrundfahrt.“ kommentierte Frau Schmitz die 24 Bilder des ersten Filmes, die sie sorgfältig auf den Tisch blätterte.
„Ihre Aufnahmen sind sehr schön, da hat es ihnen doch bestimmt sehr gut gefallen, doch heute morgen hatte ich den Eindruck, daß Sie enttäuscht von Ihrem Urlaub waren?“ wollte Michaela wissen. Frau Schmitz überging großzügig den Einwand, beschrieb weiter, was dem Betrachter das Foto offensichtlich zeigte.
Max sprang an Michaela hoch, versuchte unablässig ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Michaela wollte gerade nach einer besonders schönen Fotografie greifen, als Max sie wieder stupste, den Ärmel ihrer Jacke mit seinen Pfoten bearbeitete und den dünnen Stoff zu zerreißen drohte. „Max, hör doch auf! Was willst du denn?“ tadelte Michaela den unruhigen Hund. „Entschuldigung Frau Schmitz, ich will nur kurz Max in den Garten lassen.“
Und kaum hatte Michaela Max in den Garten gelassen, verkündete auch schon Tobias lautstark, daß er nun Aufmerksamkeit verlangte, er hatte Hunger.
Frau Schmitz saß derweilen ungestört auf dem bequemen Sessel und erzählte von ihren Erlebnissen am Strand, von den andersartig schmeckenden Speisen, von dem lästigen Knoblauch, der in jedem Gericht enthalten war. Von der merkwürdigen Schrift der Griechen, welche von niemandem, außer ihnen selbst, gelesen werden konnte.
Michaela verließ den Wintergarten, um das Fläschchen für Tobias zu erwärmen, Frau Schmitz erzählte ununterbrochen weiter. Zufrieden lag Tobias in Michaelas Arm, träge an seinem Fläschchen nuckelnd. Frau Schmitz sprach immer noch vom Essen in Griechenland.
Zügig bekam Michaela weiter ein Foto um das andere vorgelegt, kaum blieb ihr Zeit die Bilder zu erfassen. Frau Schmitz versank in den Anblick der Fotos in ihren Händen, ihr Gesicht zeigte einen verträumt-seligen Ausdruck, sie war wieder auf ihrer Urlaubsinsel und von diesem fernen Ort aus erzählte sie, wie zu sich selbst:
„Ach ja, da bin ich mit meinen Zimmernachbarn noch einmal zu diesem Nonnenkloster gefahren. Leider durften wir innerhalb der Klostermauern keine Aufnahmen machen, doch auch vor dem Tor des Klosters war der Blick imposant, alte Frauen verkauften dunklen Honig, in Honig eingelegte Feigen und Walnüsse.“ Frau Schmitz legte gewissenhaft das Foto, mit der Bildseite nach unten, auf den Tisch, damit die richtige Reihenfolge gewahrt blieb. Es blieb Michaelas Phantasie überlassen, wie wohl das Bild ausgesehen haben mochte. Frau Schmitz kommentierte bereits das nächste Foto.
„Und hier sind wir entlang der Ostküste nach Limenas gefahren. Zuweilen führte die Straße durch verträumte kleine Ortschaften. Einmal kündigte sogar ein Wegweiser das Paradies an.“ Und wieder wollte Frau Schmitz im fliegenden Wechsel zum nächsten Bild übergehen, als Michaela sie unterbrach.
„Bitte nicht so schnell, darf ich dieses Foto auch einmal sehen?“
„Ach dieses Bild ist nicht gut gelungen, es ist verwackelt“, entschuldigte sich Frau Schmitz für die Qualität des Bildes, gab es nur zögernd, wie widerwillig, aus der Hand. „Gerade als ich auf den Auslöser drücken wollte, kam ein schwerer Lastwagen vorbei!“
Michaela sah das Foto an. Wälder umrahmten eine goldene Bucht, das von weißen Strichen durchzogene Meer leuchtete in einem unbeschreiblichen Türkis. Vor dem Horizont lag eine Insel, wie um die Wellen zu brechen, und doch war der Blick frei auf ein unendliches Meer.
„Wo haben sie dieses Foto aufgenommen?“ wollte Michaela gespannt wissen.
„In der Nähe des Wegweisers ‹Paradise›, kurz vor Kynira.“ gab Frau Schmitz Auskunft. „Doch ich habe noch viel bessere Fotos von der Ostküste …“ ihre Worte gingen im nachhaltigen Bellen von Max unter. Wieder wurde Michaela aus dem Gespräch gerissen.
Vorsichtig legte sie Tobias in den Laufstall, er war beim Trinken seines Fläschchens eingeschlafen. Max wollte nicht aufhören zu bellen. Als Michaela ihm die Tür öffnete, damit er zurück in den Wintergarten konnte, tänzelte er nervös um sie herum, setzte sich erwartungsvoll neben Michaela, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte. Tobias wachte auf, fing zu weinen an. Als sie aufstand, um Tobias wieder aus dem Ställchen zu nehmen, sprang Max ebenfalls auf, wedelte heftig mit seinem kurzen Stummelschwänzchen, daß sein ganzes Hinterteil wackelte. Und wieder rannte er nervös zwischen Tür und Michaela hin und her.
„Sag mal Max, warst du heute noch nicht spazieren, daß du so unruhig bist?“ Fragend sah Michaela auf den kleinen Hund nieder. Tobias ruhte mit seinem Kopf an Michaelas Schulter, sanft klopfte sie ihm auf den Rücken, damit er sein befreiendes Bäuerchen machen konnte. Er tat es mit Inbrunst, Michaela jedoch mußte sich eine frische Bluse anziehen.
„Entschuldigung Frau Schmitz, dies ist ja wirklich ein unruhiger Nachmittag, hätte ich geahnt, daß meine Töchter mir heute das Baby und den Hund bringen, hätte ich ihnen soviel Unruhe am Sonntagnachmittag nicht zugemutet. Jetzt muß ich sie leider erneut allein lassen, wie sie sehen muß ich mir jetzt auch noch eine frische Bluse anziehen.“
„Ach, das macht doch gar nichts.“ Frau Schmitz lächelte bemüht.
Michaela, Tobias auf dem Arm, von Max gefolgt, ging in ihr Schlafzimmer, sich umziehen. Kaum hatte sie Tobias auf ihr Bett gelegt, als er auch wieder leise zu weinen begann. Tobias weinte immer kläglicher, bis Michaela endlich umgezogen war und ihn wieder auf den Arm nehmen konnte. Sanft massierte Michaela Tobias den Rücken, legte ihn nochmals auf ihr Bett und massierte den Bauch des kleinen Buben. Endlich kam die Erlösung, der verklärte Gesichtsausdruck zeigte Michaela an, daß nun eine frische Windel notwendig wurde. Der intensive Duft, der kurze Zeit später folgte, beschleunigte ihr Handeln, Frau Schmitz mußte warten.
Michaela zog Tobias aus, Max beobachtete die beiden aufmerksam. Der Duft der Windel begeisterte den Vierbeiner. Tobias mußte gründlich gereinigt werden. Michaela war froh, daß ihre Tochter Sabine wenigstens die feuchten Reinigungstücher in die Babytasche gepackt hatte. Max wollte zu gerne an die volle Windel, wieviel Spaß würde es ihm bereiten, könnte er die Windel Michaela entreißen und zerlegen. Ja, das wäre etwas für sein Hundeherz.
„Max laß das! Du kannst die Windel nicht zum Spielen haben! Max, nein, aus!“ schimpfte Michaela mit dem unbändigen kleinen Hund, als dieser immer und immer wieder an ihr hochsprang, mit den viel zu kurzen Vorderpfoten versuchte den Windeltisch zu erreichen.
Endlich war Tobias frisch gewindelt und wieder angezogen, Frau Schmitz hatte ergeben im Wintergarten gewartet. Michaela war unruhig, Max mußte unbedingt ausgeführt werden, fürchtete sie doch, daß sie sonst auch noch putzen mußte. Um ein Lächeln bemüht, betrat Michaela mit Tobias auf dem Arm den Wintergarten, der kleine Junge weigerte sich lautstark wieder in den Laufstall zu seinen Kuscheltieren gelegt zu werden.
„Ich entschuldige mich für diese Unruhe, muß auch noch so unhöflich sein, und sie fragen, ob sie einen Spaziergang mit mir machen. Ich muß unbedingt Max ausführen, und auch Tobias sollte an die frische Luft. Natürlich habe ich vollstes Verständnis für sie, Frau Schmitz, falls sie nicht mit in den Park kommen wollen. -Nach dem Regen sind ja so häufig Pfützen auf den Wegen.“ versuchte Michaela die Begleitung von Frau Schmitz zu verhindern. Doch kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, da fiel ihr ein, daß es bereits seit einer Woche nicht mehr geregnet hatte.
„Ach gerne, komme ich mit zu einem Spaziergang, aber leider habe ich die falschen Schuhe an. Wenn man den ganzen Tag nur sitzt, sich so gemütlich unterhält, Kaffee trinkt und den leckeren Kuchen ißt, - nur gut, daß nicht noch Schlagsahne dazu gereicht wurde, - dann benötigt man schon einen Ausgleich. Wir haben uns ja so nett unterhalten und ich habe Ihnen noch soviel zu erzählen! Da komme ich gerne bis zur Wiese mit. Stellen Sie sich nur vor, ich habe mir ja so viele ungewöhnliche Sachen kaufen können! - Andererseits, wenn ich bis zur Wiese mitkomme, muß ich den ganzen Weg wieder zurück, in die entgegengesetzte Richtung gehen -.” Frau Schmitz sprang übergangslos zwischen dem Spaziergang und ihrem Urlaub in Griechenland hin und her. „Da gab es in den Bergen so verträumte Dörfer, kaum einen Laden hat man da gesehen, nur diese Markets. Aber dort konnte man alles kaufen. Schuhe habe ich mir auch in Limenaria gekauft.“ Frau Schmitz verwies stolz auf die Schuhe an ihren Füßen. „Leider sind sie etwas empfindlich, aber diese reizenden Stoffschühchen haben mir so gut gefallen. Obwohl ich sie mir ja auf der Insel gekauft habe, kann ich sie doch fast nur als Hausschuhe tragen. Aber bisher hatte ich sie ja auch nur auf ganz sauberen Straßen und am Strand an. Wenn ich in den Park spazierengehen will, muß ich natürlich andere Schuhe anziehen.
Ach, so viele wunderschöne Läden gibt es in Limenas und Limenaria, überall wird Schmuck verkauft und Nachbildungen von römischen Altertümern. Und dann beim griechischen Abend in Mikro Kazaviti …“ Frau Schmitz stürmte atemlos von Thema zu Thema. Michaela wurde unruhig.
Max saß halb auf Michaelas Fuß, er wollte endlich in den Park. Ungeduldig stand er auf und lief aus dem Raum. Michaela lauschte, hoffentlich stellte Max nichts an. Leise rasselte es im Flur, Michaelas Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Flur. Kurze Zeit später erschien der kleine Hund wieder, seine Leine hinter sich herziehend.
„… in Mikro Kazaviti habe ich dann Abschied gefeiert, man wird ja immer älter, weiß nicht wie lange man sich noch Reisen in ferne Länder erlauben kann. -Aber wenn Sie jetzt spazierengehen wollen, dann lasse ich Sie natürlich allein und gehe nach Hause.“ Hastig packte Frau Schmitz ihre Bilder zusammen, als sie sich verabschiedete, war ihr Lächeln zu Frost erstarrt.
Michaela war erleichtert, endlich konnte sie mit Max und Tobias spazierengehen. Der kleine Hund war heute bestimmt noch nicht spazieren, brauchte dringend seinen Auslauf. Und auch Tobias würde die Spazierfahrt an der frischen Luft gut tun. Doch neben Erleichterung verspürte Michaela auch ein wenig schlechtes Gewissen: Frau Schmitz hatte sehr unter dem plötzlichen Einfall von Michaelas Töchtern leiden müssen, die Baby und Hund ohne Vorankündigung zur Betreuung gebracht hatten.
Max tänzelte um Michaela. Seine Freude kennt kein Ende, als er merkt, daß nun wirklich spazierengegangen wird, er nicht nur ersatzweise in den Garten geschickt wird. Aufgeregt wedelt er mit seinem kurzen Schwanz, daß das ganze Hinterteil wackelt. Tobias wird warm angezogen, in den Sportwagen gesetzt, der Reißverschluß des Fußsackes geschlossen und dann ging es endlich los. Michaela hat es nicht weit, gleich am Eingang des Parks kann sie Max von der Leine lassen, Max stürmt davon, übermütig in gewohnter Manier die auffliegenden Vögel anbellend. Langsam folgt Michaela mit dem Sportwagen dem fröhlichen kleinen Hund. Sie hat Zeit ihren Gedanken nachzuhängen. Überrascht stellt sie fest, daß sie vor ihrem geistigen Auge die Bilder von Frau Schmitz Revue passieren läßt. Ein Bild überstrahlte alle anderen, doch benötigte Michaela einige Zeit, bis ihr dies auffällt.
Frau Schmitz hatte ihren Urlaub auf der Insel in der Nordägäis verbracht, die Michaela schon lange kennenlernen wollte. Wann war es doch gewesen, daß sie zum erstemal von dieser Insel vorgeschwärmt bekommen hatte? – Pano. Michaela und ihr Mann hatten Pano, den Griechen, vor einigen Jahren kennengelernt. Er hatte von seiner Heimat erzählt, von „Saßos“, daß dort das Paradies zu finden sei. Michaela hatte später auf der Landkarte von Griechenland die Insel gesucht. Sie war der griechischen Sprache nicht mächtig. In der Schule lernte man nur selten mehr, als die ersten Buchstaben des griechischen Alphabetes „Alpha, Beta, Gamma, Delta“. Sie konnte sich nur nach dem Gehörten auf die Suche nach der Insel machen. Doch in der Nordägäis hatte sie keine Insel entdecken können, deren Namen mit „S“ begann, nur die Insel Thassos, diese mußte wohl gemeint sein.
Michaela schob den Sportwagen von dem wieder eingeschlafenen Tobias gedankenverloren vor sich hin, die Bilder von Frau Schmitz hielten ihre Gedanken gefangen. Das intensive Grün der Bäume, das leuchtende Blau des Himmels, welches sich von türkis bis dunkelblau im unendlichen Meer spiegelte; der helle Strand, Schaumkronen ließen Wellen ahnen. Eine Ahnung von klarer Luft, die das Herz durchatmen ließ – Sehnsucht. Ob die Farben auf den Fotografien wohl sehr von der Wirklichkeit abwichen? Diese eine Bucht, wie hatte doch Frau Schmitz gemeint, daß diese Bucht hieß? Paradise-Beach. War dies das Paradies, von dem Pano gesprochen hatte?
Michaela folgte Max immer weiter in den Park, mechanisch folgte sie dem Weg ohne Ziel. Zuweilen kam Max vorbei gestürmt, sah nach Michaela, um gleich darauf wieder im Gebüsch zu verschwinden, imaginäre Feinde vertreibend. Unvermittelt fing Tobias an zu weinen, holte Michaela in die Wirklichkeit zurück. Unwillig strampelte der kleine Junge mit seinen Beinen, unruhig streckte er seine kleinen Händchen Michaela entgegen. Als sie sich über ihn beugte, schlang er seine Arme um ihren Hals und versuchte sich so aus dem Sportwagen zu befreien. „Was fehlt dir denn, mein kleiner Schatz? Den ganzen Nachmittag bist du schon so unruhig. Komm, sei schön lieb, wir gehen jetzt wieder zurück und dann bekommst du dein Abendessen.“ Besorgt fuhr Michaela Tobias mit ihrer kühlen Hand über die Stirn, sie war sich nicht sicher, ob der kleine Junge nicht doch Fieber hatte. „Du wirst mir doch kein Fieber haben, Tobias? Ach könntest du doch nur schon sagen, was dir fehlt!“ Michaela durchforstet im Geist ihren Badezimmerschrank, überlegte sich, wo sie zum letzten Mal die gelbe Hülse des Fieberthermometers gesehen hatte. Fieberzäpfchen für Säuglinge hatte sie schon lange nicht mehr im Haus, da würde nur Wadenwickel helfen. Sie überlegte noch, ob Vorrat an Fencheltee oder Kamillentee im Schrank sei, als Tobias im hohen Bogen den Inhalt seines Magens auf sich und den Fußsack erbrach. Die Tempos waren schnell verbraucht, kaum daß das Gesicht von Tobias gereinigt war und die entsetzten Händchen abgewischt werden konnten, als der kleine Körper sich auch schon wieder aufbäumte und den Rest des säuerlichen Mageninhaltes in den flauschigen Stoff des Fußsackes abgab. Erschöpft und leise weinend lag Tobias im Wagen.
„Max, komm schnell, wir müssen zurück!“ rief Michaela, sie war erleichtert, daß Max trotz allem Übermut doch so folgsam war. Sie eilte nach Hause, der Hund folgte gehorsam, auch ohne daß er an die Leine genommen werden mußte. Zu Hause angekommen schob Michaela den Kinderwagen an die Kellertreppe, öffnete vorsichtig den Fußsack, damit der Sportwagen nicht noch mehr beschmutzt wurde, hob ihren kleinen Enkelsohn heraus und eilte dann zur Haustür und ins Bad. Die Kleidung von Tobias flog im hohen Bogen in die Badewanne. Die durchweichte Windel landete im Windeleimer. Der nackte Körper des kleinen Buben lag bibbernd auf der warmen Windelauflage, zärtlich reinigte ihn Michaela mit einem warmen feuchten Lappen. Doch kaum hatte Michaela den Klebestreifen der letzten Pampers befestigt, als wieder ein Beben durch den geschwächten Körper des Kindes lief, doch diesmal wurde die Windel explosionsartig beansprucht. Eine erneute Reinigung wurde notwendig. – Alle Windeln waren verbraucht, die Kleidung von Tobias schmutzig.
Michaela reinigte Tobias rasch vom ätzenden Durchfall, dann nahm sie ihr Frotteehandtuch und schlang es als Windel um den gebeutelten kleinen Körper. Eine warme Wolldecke mußte zunächst als wärmende Kleidung dienen. Tobias auf solche Weise zum Bündel verpackt auf dem Arm, lief sie rasch zu ihrer jungen Nachbarin, die ein kleines Mädchen in Tobiassen Alter hatte. Michaela klingelte bei ihrer Nachbarin.
„Entschuldigung Frau Lehmann“, Michaela war froh, als sich endlich die Tür öffnete. „Mein kleiner Enkelsohn ist heute bei mir, und da er zur Zeit offensichtlich unter einer Darmverstimmung leidet, bin ich jetzt in eine mißliche Situation geraten. Leider hat mir meine Tochter nicht genügend Windeln eingepackt und daher muß ich sie nun fragen, ob sie mir bitte mit einer Windel aushelfen könnten.“
„Du meine Güte, hat die Sabine Ihnen nicht genügend mitgegeben? Sicher, Frau Wagner, kommen Sie doch bitte rein, letztens hat mir Sabine sowieso Windeln geliehen, als ich bei ihr war, da kann ich es jetzt doch ganz einfach wieder gut machen!“ lachte die junge Frau. „Moment, ich laufe nur rasch ins Kinderzimmer und hole Ihnen Windeln.“ Michaela mußte nicht lange warten, schon kam Frau Lehmann wieder zurück in den Windfang und brachte ihr die Windeln. „Bitte Frau Wagner, ich habe Ihnen sicherheitshalber mehrere Windeln mitgebracht.“ Und nach einem kurzen Moment fügte sie hinzu „haben Sie eigentlich hier in dem Bündel“ und damit wies sie auf die warme Decke, die Michaela in ihren Armen hielt, „den Tobias hinein gepackt?“
„Ja, ich konnte das Kind nicht alleine zu Hause lassen. Und da er seine Kleider voll gebrochen hatte, die Windeln aufgebraucht waren, habe ich Tobias nur in ein Handtuch gewickelt und in die warme Decke gehüllt.“ antwortete Michaela mit einem entschuldigenden Lächeln.
„O je, da haben Sie wohl Tobias im falschen Moment zum Hüten gebracht bekommen! Ich habe mich noch nie von meiner kleinen Lisa trennen können. Meine Mutter würde nie und nimmer damit fertig werden, wenn meiner Tochter etwas fehlen würde und ich könnte wahrscheinlich vor lauter Sorgen keine freie Sekunde genießen.“
„Ach, da auch Sie einmal ein kleines Kind waren, bin ich ganz sicher, daß ihre Mutter auch ihre süße kleine Tochter versorgen könnte, das verlernt man nicht. Nur, wird man älter, so wird man auf der einen Seite ängstlicher, auf der anderen Seite verwöhnt man mehr. Das ist das Privileg der Großmütter. Doch hatte ich als junge Mutter auch nie Ruhe, konnten ich nicht meine kleinen Mädchen sehen, sie um mich haben. Sabine ist da ganz anders, sie ist sich ganz sicher, daß Tobias bei mir wohlversorgt wird, ich ihn nie aus den Augen lasse. Aber jetzt muß ich gehen, ich weiß nicht, wann meine Töchter kommen, um den Max und den Tobias wieder zu holen. Vielen Dank für die Windeln, Frau Lehmann!“ verabschiedete sich Michaela. Tobias lag schwer in ihren Armen, sie wollte ihn endlich in der sicheren Windel wissen. Es war ihr nicht so ganz wohl dabei, dachte sie daran, daß der kleine Junge unter der warmen Decke nur in ein Handtuch gewickelt war.
Michaela eilte in ihr Haus zurück, auf der Wickelauflage, unter dem warmen Rotlicht, packte sie Tobias aus. Sie war erleichtert, ihre Hoffnung erfüllt zu finden, das Handtuch war noch sauber, der kleine Körper fühlte sich warm und zart an. Tobias sah sie aus müden Augen erschöpft, doch zufrieden, an. Hungrig nuckelte er an seinem Daumen. Als die Klebstreifen der Windel befestigt waren, zog Michaela Tobias ein weißes Baumwollhemdchen über den Kopf, Erinnerungen an ihre kleinen Töchter wurden wach.
Dieses Hemdchen hatte sie vor 25 Jahren ihrem kleinen Töchterchen über den Kopf gestreift, Wolfgang hatte ihr dabei zugesehen. Er hatte hinter ihr gestanden und sie auf die Schulter geküßt, bis sie endlich ihr Baby fertig angezogen hatte und seine zärtliche Umarmung erwidern konnte. Sie waren so glücklich gewesen. Michaela nahm einen weißen Strampelanzug von ihrem wohlgehüteten Wäschestapel. Wie oft er schon gewaschen worden war, war nicht zählbar, war ihm nicht anzusehen. Beide Töchter hatten ihn getragen. Nur die Baumwollbänder waren einmal erneuert worden.
Nie hatte sich Michaela von der Babykleidung trennen können. Und als dann Sabine ihrer Mutter verzweifelt gesagt hatte, daß sie, nach nur einem Jahr Ehe, schwanger war, hatte sie in überschwenglicher Vorfreude die Babykleider aus dem Schrank geholt, frisch gewaschen und hingebungsvoll gebügelt. Sie hatte auch das Taufkleid aus dem Seidenpapier gewickelt und die Spitzen vorsichtig gestärkt.
Tobias war hungrig. Michaela sehnte sich einen Moment nach Ruhe, nach Entspannung. Über ihren Enkelsohn gebeugt, die Hände rechts und links neben dem kleinen Körper aufgestützt, schloß sie für Sekunden die Augen. Innerlich schüttelte sie sich wie eine Katze, die gerade wieder eines ihrer sieben Leben verbraucht hatte und doch hoffte, daß ihr noch neun weitere zur Verfügung standen. Tobias streckte ihr seine kleinen Hände entgegen, griff spielerisch nach ihrer langen Perlenkette. Stirn an Stirn fühlten Großmutter und Enkelsohn ihre Zusammengehörigkeit. Liebevoll nahm Michaela Tobias auf den Arm und ging mit ihm in die Küche, sein Hochstuhl stand an der Küchentheke bereit. Tobias konnte seiner Großmutter bei der Zubereitung des Abendessens zusehen, laut rasselnd schlug er mit seinem Beißring auf seinen Stuhl ein. Michaela zögerte einen Moment, sah auf das Verfallsdatum des von der Tochter gerichteten Breigläschens. Doch da Tobias gebrochen hatte und auch vom Durchfall gequält worden war, entschloß sie sich, lieber einen Haferbrei für das Kind zu kochen, obwohl Sabine den praktischen fertigen Obstbrei hingestellt hatte.
Es waren nur noch wenige Löffel Brei auf dem Teller, als Sabine fröhlich in die Küche trat. Sie sagte so etwas, daß sich wie „Hallo, grüß dich“ anhörte. Michaela führte geduldig den Löffel an Tobias Mund. Sabine strich sich schwungvoll die Haare aus der Stirn und schaute sich suchend in der Küche um, trat an den Herd und sah voll Interesse in die Töpfe. Michaela wischte Tobias mit dem Lätzchen die Finger ab, da er in einem unbeobachteten Moment mit seiner Hand in den Brei gepatscht hatte.