Eine Frau namens Anne - Elisabeth Zarow - E-Book

Eine Frau namens Anne E-Book

Elisabeth Zarow

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Beschreibung

Anne ist auf der Suche. Doch wonach, ist ihr wohl selbst nicht so ganz klar. Eine Heimat vielleicht? Eine Heimat für sich und ihren kleinen Sohn. Anne ist keine Heimatlose - Unruhe ist in ihr. Vernunft und Sehnsucht sind nicht zu vereinbaren, dazu bekämpft die Vernunft in ihr viel zu sehr die Sehnsucht. Als sie sich dann entschlossen hat, die Vernunft hat dabei das Übergewicht, wird kurz darauf ihre Entscheidung wieder umgeworfen. Anne ist keine Frau, welche die Weltgeschichte verändern will. Nein, Anne ist eine Frau, die das Leben liebt - und doch hat sie zuweilen Angst davor. Der Roman spielt zu einer Zeit, als das Handy noch nicht zur Standardausrüstung gehörte, vielleicht wäre über die Möglichkeit des kurzen Kommunikationsweges alles anders verlaufen. Wer kann das schon sagen? 2. überarbeitete Auflage

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Seitenzahl: 216

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

An den Mond

1

2

3

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5

6

7

8

9

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Impressum

Elisabeth Zarow

Eine Frau namens Anne

Roman

überarbeitete Fassung

                An den Mond

     Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz,

Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz

Froh- und trüber Zeit,

Wandle zwischen Freud und Schmerz

In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!

Nimmer werd ich froh,

So verrauschte Scherz und Kuß,

Und die Treue so,

Ich besaß es doch einmal,

Was so köstlich ist!

Daß man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,

Ohne Rast und Ruh,

Rausche, flüstre meinem Sang,

Melodien zu,

Wenn du in der Winternacht

Wütend überschwillst,

Oder um die Frühlingspracht

Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Haß verschließt,

Einen Freund am Busen hält

Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

1

Die Katze strich behaglich schnurrend um die Beine einer jungen Frau ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß sie dabei über die Unterlagen lief, die auf der Treppe ausgebreitet worden waren. Schließlich fand sie Ruhe, schmiegte sich an ihren Rücken und begann sich zu putzen. Es war ein schöner Frühlingstag, Anne hatte die ersten Sonnenstrahlen genutzt, um ins Freie zu gehen und draußen zu arbeiten. Der Winter war lang gewesen, selbst im April hatte es noch geschneit und das ihr, wo sie sich doch so sehr nach Wärme sehnte! Da konnte das Feuer im Kamin noch so gemütlich vor sich hin brennen, die warmen Sonnenstrahlen konnte es nicht ersetzen. Leise raschelte es neben ihr, auch das grünschillernde Eidechsenmännchen wollte sich in der Sonne erwärmen.

Es war nun schon ein paar Tage her, daß sie sich wieder auf die Reise gemacht hatte, um aus dem kühlen Deutschland in ihr Domizil in Mittelitalien überzusiedeln; und wie immer, wenn sie wieder hier war, konnte sie nicht verstehen, warum sie nicht endlich für immer hierblieb. Die Ruhe und den Frieden konnte sie nur hier finden. Da sie jedoch nicht vom Müßiggang leben konnte, mußte sie zuweilen zurück nach Deutschland und sei es nur, um ihre Arbeit abzugeben. Heute fiel ihr das Arbeiten schwer, jede mögliche Ablenkung hatte sie bisher in vollen Zügen ausgenutzt, denn eigentlich wollte sie sich nur in der Sonne aalen, sich erwärmen und die Reste des Winters abstreifen, gerade so, wie es die Eidechse mit ihrer Haut machte. So saß sie also auf der Treppe, die Katze im Rücken und die Sonne im Gesicht. Ihre Arbeit ruhte in ihren Händen, traumverloren blickte sie auf die gegenüberliegenden Hügel. Im Unterbewußtsein registrierte sie, daß ein Auto auf dem schmalen Karrenweg ins Tal fuhr, ein Weg, der normalerweise nur mit dem Traktor befahren wurde, führte er doch lediglich zu den Weiden und zu einigen Zugängen der Schächte des stillgelegten Bergwerkes.

Und wie so oft dachte sie wieder an den Mann, der ihr in ihrem Leben bisher immer noch am meisten bedeutet hatte. Sie dachte an den Mann, den sie bewundert hatte und von dem sie wußte, daß auch er sie grenzenlos geliebt hatte. Er hatte sie so geliebt, wie nur ein Vater seine Tochter lieben kann, und sie hatte ihn so geliebt und bewundert, wie dies nur einer Tochter möglich war. Sie sehnte sich nach den Stunden mit ihm zurück, wollte wieder mit ihm durch die Wälder spazierengehen, sich an den ersten Sonnenstrahlen im Frühling erwärmen, während sie an den frisch bestellten Feldern vorbei gingen. Sie vermißte die von ihrem Vater geliebte Musik, das sonntägliche Frühstück, die gemeinsame Arbeit mit ihm, seine ruhige Gegenwart. Sie dachte an die kurzen Monate, in denen ihr Vater mit dem Tod gerungen hatte, er hatte nicht sehen wollen, daß sein Körper Hilfe brauchte. Dann hatte er nicht sehen wollen, daß er den Kampf gegen den Tod nicht gewinnen konnte, denn welcher Feldherr kann schon das feindliche Heer besiegen, wenn alle Beteiligten und Unbeteiligten längst die weiße Flagge von ihm erwarten? Der Tod war viel zu früh gekommen, zu früh für den Vater, zu früh für seine Frau, die es lange nicht hatte fassen wollen, zu früh für seine Kinder - viel zu früh für sie, die Tochter. Und doch war sein Tod - gab es das wirklich? - die Chance für ihren Neffen gewesen. Dieses Baby, noch keine Woche alt, hatte den Weg in die Zukunft gefunden, es hatte den Lebenswillen seines Großvaters übertragen bekommen. War es Schicksal, war es Vorhersehung, sie wußte es nicht, aber die ganzen Jahre ließ sie dieser Gedanken nicht mehr los. Immer wieder mußte sie an diesen Mann denken, er war ruhig gewesen und doch hatte er großes vollbracht. Die Zeitungen ihrer Heimatstadt hatten damals anläßlich seines Todes viel über ihn geschrieben, er war Ehrenbürger der Stadt, und seiner Witwe war für ihn das Bundesverdienstkreuz überreicht worden. Er war wirklich eingroßerMann gewesen, jemand den man kannte und der immer größten Wert darauf gelegt hatte, daß seine Tätigkeiten sich nicht über die Stadt hinaus erstreckten, ja hatte er sich doch aus der Politik zurückgezogen, bevor sie ihn verschlingen konnte. Dennoch war er seiner Partei treu geblieben, und diese ließ ihrerseits keinen Wahlzettel ohne seinen Namen. Auch diese Beständigkeit, dieses sich selbst immer treu bleiben war etwas gewesen, was sie immer an ihm bewundert hatte und was sie mit zunehmendem Alter immer mehr bewunderte, konnte sie doch selbst erst im Lauf der Zeit feststellen, welcher Energie es bedurfte, sich nie selbst zu verraten. Wie gerne hätte sie gehabt, daß auch ihr Sohn noch seinen Großvater kennengelernt hätte. Wieviel an Liebe, Würde und Achtung anderen Menschen gegenüber sprach aus dem Leben ihres Vaters, und nicht zuletzt sein doch so freier Geist, der sich nie vor der Muse verschließen konnte, wie schön wäre es, wenn dieser sich auch auf ihren Sohn übertragen hätte.

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie auf das gegenüberliegende Tal sah. Und wieder drang das ungewohnte Geräusch eines vorbeifahrenden Fahrzeuges an ihre Ohren.

Auch daß ein fremdes Kind über das Grundstück ihres Nachbarn lief, nahm sie nur flüchtig war und erschrak daher, als das Kind sie ansprach.

„Entschuldigung, verstehen Sie mich, ich kann kein Italienisch, Entschuldigung, hallo!“ versuchte das Mädchen ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Schuldbewußt zuckte Anne zusammen „Pronto?“ antwortete sie verwirrt über die deutsche Anrede, „- ehm, ja, kann ich dir helfen, ich spreche auch Deutsch!“ versuchte sie ihren Schnitzer wieder gutzumachen und das Mädchen zu beruhigen. „Hast du dich verlaufen, wo kommst du denn her, bist du nicht eben durch den Garten gelaufen?“ wollte sie wissen.

„O ja, Entschuldigung, ist das Ihr Garten? Ich dachte es wäre ein Weg, aber dann habe ich gemerkt, daß ich nur zu diesem Haus gekommen bin, und dann habe ich Sie gesehen und hoffte, daß Sie mir helfen könnten!“ schüchtern blickte das Mädchen, es mochte etwa zehn Jahre alt sein, zu ihr auf.

„Sicher will ich versuchen dir zu helfen. Wen oder was suchst du und woher kommst du denn, außer durch den Garten meines Nachbarn?“

„Ich komme oben vom Pian del Bosco; dort wurde mir erzählt, daß hier ein Junge wohnen würde, der deutsch spricht und mit dem ich bestimmt spielen könnte. Aber -“ fügte das Mädchen nachdenklich hinzu, „wenn Sie mich verstehen, dann wissen Sie bestimmt auch wo der Junge ist, oder gibt es hier noch mehr Leute, die deutsch verstehen?“

„Nein, da hast du schon recht, ich bin die Mutter des kleinen Jungen. Weißt du denn, daß er viel jünger ist als du? Er ist erst sechs Jahre alt und zur Zeit gerade im Kindergarten.“ erklärte sie dem Kind.

„Oh, das ist aber schade, mein Vater hat mich extra hierher gebracht, ich hatte schon die ganze Zeit gebettelt, ich mag nämlich seine Freundin nicht.“ fügte das Mädchen vertraulich hinzu. Über diese Mitteilung mußte Anne lachen, war es doch immer dasselbe, die Ansichten der Kinder und der Erwachsenen gingen einfach zu oft auseinander.

„Nun, dann verrate mir doch erst einmal deinen Namen; ich heiße Anne, mein Sohn heißt Timo und wie heißt du?“

„Ich bin die Monika, Monika Fischer aus Sasbach am Rhein, aber im Moment wohne ich oben im Pian del Bosco mit meinem Vater und seiner Freundin. Und da im Moment oben keine Kinder sind, habe ich mich gelangweilt, da hat dann der Robert vom Timo erzählt. Sabine, die Freundin von meinem Vati, wollte ja mit mir ein Spiel spielen, bis Vati mit Robert fertig ist, aber ich wollte das nicht. “

„Da du sie nicht magst.“

„Ja, da ich sie nicht mag!“

„Nun, du darfst gerne bei mir bleiben, bis Timo aus dem Kindergarten kommt. Wenn du willst, kannst du schaukeln, du kannst aber auch mit mir ins Haus kommen und sehen, ob du bei Timos Sachen etwas zum Spielen findest - oder möchtest du etwas lesen?“

„Ja danke, gerne sehe ich mal nach dem Spielzeug.“ Gemeinsam gingen sie in das kleine Haus, und Anne zeigte Monika das Kinderzimmer und das Regal mit den Kinderbüchern. Monika suchte sich ein Buch aus, sie nahm „Die kleine Hexe“ von Ottfried Preußler. Anschließend gingen sie beide wieder raus in die Sonne, Anne mit dem festen Vorsatz, nun endlich zu arbeiten und Monika zum Lesen. So verging die Zeit recht schnell, und bald kam Timo singend und pfeifend die Straße zum Haus gelaufen. Eine schöne Idylle, die sich da dem Betrachter bot.

2

Anne, 39 Jahre alt, hatte eine behütete, glückliche und schöne Kindheit hinter sich gebracht. Dennoch war ein nicht zu bremsender Freiheitsdrang in ihr. Ein Drang, der sie bereits vor ihrem 20. Geburtstag zu einer Ehe geführt hatte, die solange sie währte, sehr glücklich gewesen war. Jedoch blieb diese Ehe ohne Kinder, da sie gemeint hatten, noch viel Zeit zu haben. Als sie dann mit 29 Jahren zum zweitenmal vor dem Standesbeamten stand, war sie unsicher. Im Grunde genommen wußte sie, daß sie einen Fehler beging, aber sie stellte sich taub. Dann war da Timo, ihr Sohn, ihre Stütze, sie war glücklich, daß es ihn gab. Ein verwöhnter Sohn, ein behüteter Sohn, ein geliebter Sohn, einer, für den sie alles tat. Er war noch klein, erst sechs Jahre alt. Dieses Jahr würde er in die Schule kommen, dann würde sie sich endgültig entscheiden müssen, wo sie nun leben wollte. Im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß sie gerne hier leben würde, die Familie Zuhause würde auch ohne sie auskommen, und hier war sie weit weg von ihrem zweiten Mann. Eine nicht zu unterschätzende Überlegung. Sie hatte die ganzen Jahre im Büro gearbeitet, und dann hatte sie angefangen zu schreiben. Jetzt hatte sie das erreicht, wovon sie geträumt hatte, sie war unabhängig, konnte sich aussuchen, wo sie leben wollte, auch wenn sie sich keine allzu großen finanziellen Sprünge erlauben konnte. Ja, sie hatte das erreicht, was sie wollte. Fast! - Sehnte sie sich doch tief in ihrem Inneren nach einem Mann.

Sie wollte einen Mann, doch gleichzeitig hatte sie Angst. Angst vor einer neuen Enttäuschung. Und sie hatte so feste Vorstellungen von dem Mann wie er sein sollte, daß sie gleichzeitig wußte, da mußte sie erst einen Bäcker finden, der ihn ihr backen würde. Ein andermal war sie dann wieder der Ansicht, daß es doch gar nicht so schwer sein könnte einen Mann zu finden, was war zuviel verlangt an ihren Wünschen? Daß er in der Lage sein sollte, eine Familie zu ernähren? Waren das nicht die meisten Männer? Daß er nicht jähzornig sein sollte und dann diesen Zorn, diese Wut bis hin zum Haß, nicht monatelang mit sich herumschleppen sollte? Auch sie reagierte zuweilen zornig und unbedacht, doch immer nur aus den Schmerzen der Seele heraus, wieso sollte dann nicht auch ein Mann das Recht haben, zornig zu reagieren, mußte er gleich einem Gott über den Dingen schweben? Nein, das wollte sie ja gar nicht, nur erwartete sie auch vom Mann, daß sein Zorn sich wie Schall und Rauch auch wieder verzog. Sie suchte einen Mann, der Freud und Leid mit ihr zu teilen bereit war, nicht nur das Leid; sie suchte einen Mann, der auch zu ihr stand und nicht nur von ihr das absolute Einstehen für sich verlangte; sie suchte einen Mann für das Herz und die Seele. Und sie suchte auch einen Mann, der die Freuden der Begierde mit ihr teilen würde, einen Mann, der auch gleichzeitig dazu in der Lage sein sollte, ihr ein alle Sinne betörender Liebhaber zu sein. So wie sie noch vor fünfzehn Jahren sinnliche Freuden hatte genießen dürfen.

Und sie wußte, welchen Mann sie suchte! Sie suchte einen Mann wie ihren ersten Ehemann - warum war er nur so früh gestorben? Wo waren die glücklichen Jahre mit ihm hingeraten? Warum war es ihnen damals nicht gelungen, das Glück einzufangen, waren sie zu glücklich gewesen? Doch wie würde er heute sein, wären sie immer noch glücklich, oder hatte sie ihn einfach nur auf einen Piedestal gehoben, von dem er nicht stürzen konnte, weil er ja nur einen einzigen Fehler gemacht hatte, er war gestorben. Sie hatte sich damals nicht gestattet, in Trauer zu stürzen, hatte dies mit Macht verhindern wollen und hatte daher vier Jahre später wieder geheiratet, hatte gehofft wieder glücklich werden zu können, doch sie war nur weiter vom Glück ins Abseits geraten. Traute sich nicht mehr an die Tür zu gehen und zuckte zusammen, wenn das Telefon klingelte. Alpträume hatten sie geplagt, bis sein grenzenloser Egoismus und seine Intoleranz sie an den Rand eines Nervenzusammenbruches geführt hatte. Sie hatte die Angst vor dem Morgen kennengelernt. Als er sie dann verlassen wollte, war sie mehr als glücklich gewesen und konnte endlich wieder aufatmen und zu sich selbst finden. Auch Timo vermißteseinenVater nicht, auch wenn er sich einen Vater wünschte.

So standen also die Dinge um Anne, als Monika in ihrem Leben auftauchte.

3

„Hallo Timo, du hast Besuch“ begrüßte sie fröhlich ihren Sohn, „Monika, das ist mein Sohn Timo, den du besuchen wolltest. Wenn Ihr noch ein wenig spielt, mache ich rasch Spaghetti für uns.“ Damit stand sie auf und ging ins Haus. Das Essen war schnell zubereitet und dann wurde lustig am großen Tisch im Freien getafelt. Am Nachmittag durften die Kinder nach Herzenslust spielen, und Anne konnte ungestört arbeiten. Später brachte Anne Monika zum Pian del Bosco und sagte ihr zu, daß sie wiederkommen dürfte. So verging eine Woche, und Anne wurde immer mehr zu Monikas Vertrauter, kam doch das Mädchen schon bald nach dem Frühstück auch wenn sie wußte, daß Timo im Kindergarten war, und suchte das Gespräch mit Anne. Oder sie nahm sich ein Buch aus dem Bücherregal und las dann still und zufrieden darin, doch suchte sie immer Annes Nähe, wollte sie sehen, wollte den leisen Geräuschen zuhören, wenn die gepflegten langen Fingernägel von Anne klappernd über die Tastatur ihres Computers flogen.

Suchte Monika aber das Gespräch mit Anne konnte sie gewiß sein, daß Anne ihre Arbeit ruhen ließ und ihr zuhörte, egal ob Monika ihr aus der Schule, von einem Buch oder von den Problemen mit ihrer Freundin erzählte. Und immer versuchte Anne ihr eine Antwort zu geben, nie wies sie Monika von sich. Monika genoß die Zeit mit Anne sehr, endlich durfte sie nach Herzenslust von ihren Erlebnissen und ihren Sorgen in der Schule sprechen. So erzählte sie Anne auch von Melissa, die vor einem Monat neu in die Klasse gekommen war. Monika war von ihrer Klassenlehrerin aufgefordert worden, ihren Platz neben Lisa, ihrer besten Freundin, zu räumen, damit Melissa sich dort hin setzen konnte. Monika saß nun neben Betty, einem Mädchen, mit dem sie sich überhaupt nicht verstand.

„Stell dir vor, jetzt geht Lisa mit dieser Melissa in die Pause und nicht mehr mit mir! Immer dachte ich, daß wir die besten Freundinnen sind, aber seit diese Melissa da ist, kümmert sie sich überhaupt nicht mehr um mich!“ beschwerte sich Monika.

„Wo kommt denn Melissa her, wenn sie so kurz vor dem Ende des Schuljahres wechselt?“ wollte Anne wissen.

„Oh, sie ist vor vier Wochen mit ihrem Vater und ihrem kleineren Bruder nach Sasbach gezogen. Davor haben sie in Karlsruhe gewohnt. Melissas Eltern haben sich getrennt, und da er schon seit Jahren in Sasbach arbeitet, war es nun für Melissas Vater praktischer, wenn er mit seinen Kindern nach Sasbach zieht. Deshalb kam Melissa jetzt in meine Klasse“ erklärte Monika.

„Und warum verstehst du dich nicht mit Betty?“

„Eigentlich verstehe ich mich mit Betty schon seit ich neben ihr sitze, davor hatte ich keinen Kontakt mit ihr. Sie spielt nie mit uns, geht nach der Schule gleich nach Hause und eingeladen hat sie soviel ich weiß auch noch nie jemanden aus meiner Klasse. Da sie auch nur ganz selten mit uns spricht und kaum lacht, haben wir uns auch nie um sie gekümmert. Jetzt wo ich neben ihr sitze, finde ich sie eigentlich ganz nett, aber da sie mich nicht zu sich einlädt, habe ich sie auch noch nicht zu mir eingeladen. Und Lisa hängt jetzt ständig bei dieser Melissa rum, so daß ich keine Freundin mehr am Nachmittag zum Spielen habe.“

Anne überlegte sich eine Weile, wie sie Monika am besten erklären könnte, was sie von ihrem Bericht über ihre Klassenkameradinnen hielt. „Habe ich dir eigentlich schon erzählt, wie es mir früher in der Schule ergangen ist, Moni? Ich denke nicht! Aber wenn du so von Betty, Lisa und von Melissa sprichst, erinnere ich mich an meine Schulzeit. Weißt du, ich hatte während der ersten Jahre in der Schule nie eine Freundin und das kam daher, weil ich nie eine Klassenkameradin mit nach Hause bringen konnte, lebte doch meine Großmutter mit uns in einer Wohnung und mußte von meiner Mutter gepflegt werden. Natürlich wurde ich auch nie von meinen Klassenkameradinnen eingeladen, und so spielte ich nur in meiner Phantasie mit meinen Freundinnen. Durch die von mir nicht gewollte Isolation war ich auf der Grundschule immer alleine, vielleicht geht es ja Betty genauso, hast du sie einmal danach gefragt? Und hast du dir einmal überlegt, warum du dich jetzt mit ihr verträgst?“

„Ich sag dir doch, jetzt finde ich Betty eigentlich ganz nett, nur eingeladen habe ich sie noch nicht. Wenn wir wieder Unterricht haben, werde ich sie aber einmal fragen, vielleicht geht es ihr ja ganz ähnlich wie es dir früher gegangen ist, Anne!“ versprach Monika.

„Ja, und Lisa und Melissa solltest du ruhig auch einmal einladen. Du müßtest doch Melissa gut verstehen, auch du lebst mit deinem Vater alleine in Sasbach. Und dann überlege dir doch einmal, wieviel Blätter ein Kleeblatt und wieviel Blätter ein Glücksklee hat! Wärt ihr vier, Lisa, Melissa, Betty und du nicht ein Glückskleeblatt, wär das nicht schön? Wieviel könntet ihr zu viert unternehmen!“ Anne und Monika diskutierten noch über die Möglichkeiten einer Freundschaft von vier jungen Mädchen, als Timo aus dem Kindergarten kam. Bald waren die beiden wieder in ihrem Element, und nach dem Essen tobten die Kinder fröhlich auf der Wiese, und Anne konnte weiter an ihrer Kindergeschichte arbeiten.

„Hallo Anne, ich bin schon da“ kam eines Morgens der fröhliche Ruf von Monika, „Anne, Anne, wo bist du, mein Vati möchte dich kurz sprechen. Hallo Anne!“ Anne erschien in der Tür und begrüßte Monika, die ihr stürmisch um den Hals fiel.

„Hallo Monika! Heute bist du aber früh, wo ist denn dein Vati, wenn er mich sprechen möchte, kommt er oder wo ist er?“ wollte Anne wissen. Sie drehte sich um - und stand ihm gegenüber. Darauf war sie nicht gefaßt, sie konnte ihn nur anstarren, und wie ein kleines Schulmädchen fühlte sie die Röte in ihre Wangen steigen. Sie stand einem Bild von einem Mann gegenüber. Er mochte an die 1,80 m groß sein und war eigentlich noch als schlank zu bezeichnen, seine vollen dunklen Haare waren an den Schläfen schon leicht ergraut. Aus kühlen grauen Augen sah er Anne schweigend an, seinem Gesicht war nicht zu entnehmen, was er dachte. Auch er sah unverwandt auf sie hernieder, war sie doch fast einen Kopf kleiner als er. Endlich brach Anne das Schweigen. „Guten Morgen Herr Fischer, ich bin Anne“ es fiel ihr gar nicht ein, ihren Nachnamen zu nennen, „Sie wollten mich sprechen?“

„Guten Morgen Frau ... ?“ Herr Fischer machte eine Pause, aber Anne schwieg, nannte auch jetzt nicht ihren Nachnamen obwohl ihr bewußt war, daß er darauf wartete. „Ich wollte Sie fragen,“ fuhr daher Monikas Vater nach einer Pause fort und man konnte merken, gerne sprach er nicht weiter, „ob Sie eventuell Monika bis heute abend bei sich behalten könnten. Ich hole sie dann so gegen 20:30 Uhr ab. Wir wollen heute einen Ausflug nach Urbino, Pesaro und Rimini machen, Monika weigert sich aber, mitzukommen ...“

„Ja sicher kann Monika hier bleiben, es macht mir wirklich nichts aus.“

„Harald, Harald, wann kommst du denn endlich, wir wollten doch schon längst unterwegs sein!“ kam eine ungeduldige Stimme aus dem Wagen, der oben auf dem Weg parkte.

„Nun gehen Sie schon, Herr Fischer,“ Anne konnte kaum das Lachen verbeißen, so gut paßte die Stimme zu den Schilderungen von Monika, „ich komme mit Monika schon zurecht, das macht mir keinerlei Schwierigkeiten.“ Herr Fischer wandte sich wortlos um, sein Gesicht hatte fast einen finsteren Ausdruck angenommen, als er die Stimme aus dem Auto vernommen hatte. Anne hielt ihn jedoch zurück, wollte sie sich doch sein Einverständnis für ihre Pläne holen. „Ich möchte Sie jedoch darum bitten, daß Sie damit einverstanden sind, daß ich Monika zum Einkaufen nach Novafeltria mitnehme.“

„Harald, so komm doch endlich!“ meldete sich wieder die Stimme aus dem Auto.

„Ja, ich komme ja schon!“ und zu Anne gewandt, machte diese sich am Ende über ihn lustig, es war für ihn nicht zu übersehen, daß diese mit dem Lachen kämpfte, „ich vertraue Ihnen meine Tochter an. Wenn Sie Geld für Monika vorlegen, schreiben Sie es mir bitte auf, damit ich es Ihnen dann ersetzen kann.“ Er sah Empörung in Annes Augen aufblitzen, drehte sich abrupt um und ging zu seinem Wagen, seine Freundin besänftigen. Die Steine des Weges wirbelten auf, als er zornig zuviel Gas gab und davon brauste.

Anne und Monika ließen jedoch ungehemmt der Heiterkeit ihren Lauf, und Anne sagte immer noch lachend „mei, Monika, daß dein Vati das aushält! Kein Wunder, wenn er ungeduldig zu dir ist, diese Freundin von ihm kann einen ja wohl auf die Palme treiben. Aber du, du hast auch ganz schön den Schalk im Nacken! Warum mußte heute denn dein armer Vati bei mir auftauchen, sonst bist du doch auch bis abends bei mir, das hat ihn doch noch nie gekümmert?“ wollte Anne nun doch wissen.

Monika wurde rot, und verlegen antwortete sie: „Also weißt du, das war nämlich so, eigentlich wäre ich ja ganz gerne mitgefahren, Vati hat mir nämlich versprochen, daß wir in Rimini in den Park gehen, weißt du dahin, wo die Städte Venedig und so in klein nachgebaut sind. Aber ich wollte doch so gerne, daß du ...“ wieder zögerte Monika weiter zu sprechen, „ich wollte, daß du ...“

„Ja, was wolltest du, daß ich?“ versuchte Anne sie zum Reden aufzumuntern, aber Monika, inzwischen über und über rot geworden, schwieg. „Na dann komm, hast du schon gefrühstückt, Moni, oder setzt du dich zumindest noch ein wenig zu mir?“ überging Anne die Verlegenheit Monikas. Gemeinsam betraten sie das Haus, und dann konnte Anne ihr Frühstück fortsetzten.

„Weißt du“ sprach Monika sie ganz leise an, „weißt du, ich wollte so gerne, daß du meinen Vati kennenlernst, aber Sabine ist derartig eifersüchtig, daß sie Vati nicht aus den Augen läßt. Früher, da habe ich immer alles mit meinem Vati zusammen gemacht, aber jetzt ...“ Tränen standen ihr in den Augen, und ihre Stimme wurde von leisem Schluchzen unterbrochen, „jetzt hat er nur noch Augen für sie und merkt gar nicht, wie gemein sie zu mir ist. Du würdest mich doch bestimmt bei so einem Ausflug mitnehmen und mir nicht die Worte so in den Mund legen, daß ich einfach sagen muß, daß ich viel lieber nicht mit möchte, aber Vati ...“ nun war es endgültig um die Fassung von Monika geschehen, sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte, wie nur ein Kind weinen kann. Anne stand auf und ging um den Tisch. Tröstend schloß sie Monika in die Arme, wiegte sie wie ein kleines Kind. Anne versuchte beruhigend auf sie einzusprechen; auch wenn es ihr sehr schwer fiel, verstand sie doch Monika nur zu gut.

„Moni, dein Vati hat dich doch sehr lieb, er vergißt dich nicht. Versteh doch, er will dir nicht weh tun, aber er liebt auch Sabine und will auch ihr nicht weh tun. Es ist sehr schwierig für ihn und wenn Sabine“ hier unterbrach sich Anne, mußte sie doch sehr aufpassen, daß sie nichts gegen die Freundin von Herrn Fischer sagte, damit Monika nicht durch sie veranlaßt in ihrem Vorurteil bestärkt wurde. „Sieh, Sabine hat es auch nicht leicht, merkt sie doch, daß dein Vati dich sehr lieb hat und möchte wahrscheinlich, daß er sie genauso liebhat wie dich. Na komm Monika, heute abend gehst du zu ihm hin und erzählst, daß es dir leid getan hat, weil du heute nicht mitgekommen bist, und ob er denn noch mal mit dir insitalia in miniaturanach Rimini fährt. Monika, Schätzchen, beruhige dich doch!“ Aber Monika war nicht so leicht zu beruhigen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis das kleine Mädchen sich nicht mehr schluchzend an Anne schmiegte. Erst als Timo aus dem Kindergarten kam, konnte Monika wieder lachen und fröhlich sein.

Timo, der Sohn von Anne, war ein lustiger Junge von fast sechs Jahren. Ihm war bisher im Leben alles sehr leicht gefallen, und er genoß seine Kindheit und Freiheit in vollen Zügen. Er war gerne im Haus in Miniera, mit der Sprache hatte er keine Probleme, und seine besten Freunde waren hier, nicht in Deutschland. Er war ein hübscher Junge mit dunklen Haaren, die seine Mutter ihm meistens ganz kurz schnitt. Seine großen braunen Augen verzauberten jeden, und er vermochte alle um den kleinen, meist schmutzigen, Finger zu wickeln, sparte er doch nie mit seinem Charme. Kurz gesagt, seine Mutter kannte kein schöneres, kein lieberes Kind, sie war vernarrt in ihn und erfüllte ihm gerne jeden möglichen Wunsch. Timo war aber auch ein kleiner Wirbelwind, mal hier, mal da wollte er etwas unternehmen, oft wußte sie nicht, wo er sich im Moment wieder befand, in welchem Winkel des Hauses oder bei welchem Freund. Und nicht zuletzt war Timo von einer großen Sammelleidenschaft besessen. Oft mußte sein Zimmer ausgemistet werden, dann wurden die schönsten Steine und die buntesten Blätter, die schönsten Schneckenhäuser und die faszinierendsten Muscheln wieder in den Garten gebracht, nur um einer neuen Sammelleidenschaft, zum Beispiel schönen Gräsern oder Löwenzahn und Disteln, Platz zu machen. Timo war auch sehr tierlieb, er liebte Vögel und Katzen, Hunde, Meerschweinchen, Hamster und seine ganz große Leidenschaft Pferde. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er einer ganzen Menagerie in seinem Zimmer Unterschlupf gewährt.

Auch an diesem Nachmittag ging er wieder mit Monika auf Entdeckungsreise, und Anne konnte sicher sein, zumindest einen Blumenstrauß aus Löwenzahn, weißen und lila Taubnesseln würden ihr die Kinder wieder mitbringen, verziert mit den blühenden Zweigspitzen vom Kirschbaum und einigen Gräsern. Nun, wenn die Kinder raus wollten, mußte der Einkauf warten, die Vorräte würden schon noch bis zum nächsten Tag ausreichen. Sie konnte dann wenigstens etwas arbeiten.