Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Zweiter Band - George Eliot - E-Book

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Zweiter Band E-Book

George Eliot

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Beschreibung

Der zweite Band von Georg Eliots Familiendrama.England, 19. Jahrhundert. In der fiktiven Stadt Middlemarch kämpft die junge und gutherzige Dorothea Brooke für ein besseres Leben. Ihre Ehe mit dem deutlich älteren Akademiker Casaubon ist unglücklich. Casaubon unterdrückt seine Frau und versucht, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Als Casaubon überraschend stirbt, beschließt Dorothea ihren Cousin Will zu heiraten. Doch Casaubons Kontrollsucht kennt keine Grenzen. In seinem Testament hat er verfügt, dass Dorothea all ihren Anspruch auf Casaubons Besitz verliert, sollte sie Will tatsächlich heiraten... -

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George Eliot

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Zweiter Band

Übersezt von Emil Lehmann

Saga

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Zweiter Band

 

Übersezt von Emil Lehmann

 

Titel der Originalausgabe: Middlemarch, A Study of Provincial Life

 

Originalsprache: Englisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1874, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728172018

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Drittes Buch: In Erwartung des Todes.

Erstes Kapitel

Fred Vincy war, wie wir gesehen haben, von einer Geldschuld bedrängt, und obgleich eine solche materielle Last den leichtherzigen jungen Mann nicht lange verstimmen konnte, waren doch Umstände mit dieser Schuld verknüpft, welche den Gedanken an dieselbe besonders unbequem machten.

Der Gläubiger war Herr Bambridge, ein Pferdehändler aus der Nachbarschaft, dessen Gesellschaft von den jungen Leuten in Middlemarch, die in dem Rufe standen, »sich gern zu amüsiren«, sehr gesucht war. Während der Ferien hatte Fred natürlich mehr Amüsements nöthig gehabt, als er im Augenblick bezahlen konnte und Herr Bambridge war gefällig genug gewesen, ihm nicht nur für das Miethen von Pferden und die gelegentlichen Kosten eines zu Tode gehetzten schönen Hengstes Credit zu geben, sondern ihm auch einen kleinen Vorschuß zu leisten, mit welchem er einige beim Billardspiel erlittene Verluste decken konnte. Die ganze Schuld betrug hundertundsechzig Pfund.

Bambridge war unbesorgt wegen seines Geldes, da er überzeugt war, daß der junge Vincy Rückenhalter habe; aber er hatte sich einen Schein ausgebeten, und Fred hatte ihm einen anfänglich nur von ihm selbst unterzeichneten Wechsel ausgestellt. Drei Monate später hatte sich Fred diesen Wechsel, nachdem er demselben die Unterschrift des Herrn Caleb Garth hatte hinzufügen können, prolongiren lassen. Bei beiden Gelegenheiten hatte Fred die feste Zuversicht gehabt, daß er selbst den Wechsel werde einlösen können, da er in seinen hoffnungsvollen Aussichten reiche Mittel zu seiner Verfügung hatte.

Man wird doch nicht so unbillig sein, zu verlangen, daß seine Zuversicht äußere Anhaltspunkte hätte haben sollen; eine Zuversicht, wie er sie hegte, ist weniger gemein und materialistisch; sie beruht auf einer behaglichen Gemüthsverfassung, die uns zuversichtlich darauf rechnen läßt, daß die Weisheit der Vorsehung oder die Thorheit unserer Freunde, das geheimnißvolle Walten des Glücks oder die noch geheimnißvollere Thatsache unseres hohen persönlichen Werths unsere Verlegenheiten in einer angenehmen Weise, wie sie uns unser guter Geschmack in der Toilette und unsere allgemeine Vorliebe für das Beste und Feinste aller Art zu erwarten berechtigt, heben werde.

Fred war überzeugt, daß er ein Geschenk von seinem Onkel erhalten, daß er Glück haben werde, daß es ihm durch geschicktes Tauschen gelingen werde, allmälig ein vierzig Pfund werthes Pferd in eines zu verwandeln, das jeden Augenblick hundert Pfund holen könne, – ist ja doch die Kennerschaft in solchen Dingen immer eine im Voraus nicht genau bestimmbare Summe baaren Geldes werth! Und für den äußersten Fall, selbst wenn er die Möglichkeit von Enttäuschungen annahm, wie sie sich doch nur ein krankhaftes Mißtrauen vorstellen konnte, hatte Fred in jener Zeit noch immer als letzte Zuflucht die Börse seines Vaters, so daß seine hoffnungsvollen Aussichten sich in ihren Grundlagen einer gewissen üppigen Ueberfülle erfreuten.

Von der Leistungsfähigkeit der Börse seines Vaters hatte Fred nur eine vage Vorstellung: War nicht das Geschäft elastisch? Und ließ sich nicht das etwaige Deficit eines Jahres durch den Ueberschuß eines andern decken? Die Vincy's lebten in einer behaglich-largen Weise, ohne jede moderne Ostentation, aber in einem durch Familiengewohnheiten und Tradition überkommenen Ueberfluß, so daß die Kinder keinen Begriff von Oekonomie hatten und die Erwachsenen unter ihnen noch einigermaßen die kindliche Vorstellung nährten, daß ihr Vater Alles würde bezahlen können, wenn er nur wollte.

Herr Vincy selbst hatte kostspielige Middlemarcher Gewohnheiten, gab viel Geld für Jagd, für seinen Weinkeller und für Diners aus, während Mama bei ihren Lieferanten jene laufenden Rechnungen hatte, welche den Schuldner mit dem angenehmen Bewußtsein erfüllen, Alles was er braucht, bekommen zu können, ohne sich weiter um die Bezahlung kümmern zu müssen.

Aber alle Väter schalten, wie Fred wußte, über die Ausgaben ihrer Söhne; so oft Fred eine Schuld zu bekennen hatte, gab es immer einen kleinen Sturm über seine Extravaganzen und er fürchtete sich vor schlechtem Wetter zu Hause. Er war ein zu guter Sohn, um den Respect gegen seinen Vater außer Augen zu setzen, und er ertrug das Unwetter jedesmal in der Gewißheit, daß es bald wieder vorüber ziehen werde, aber es war ihm doch sehr unangenehm, seine Mutter dabei weinen zu sehen und verdrossen aussehen zu müssen, statt Spaß zu machen; denn Fred hatte ein so, glückliches Temperament, daß er, wenn er beim Schelten seines Vaters betroffen in sich gekehrt aussah, dies hauptsächlich aus Schicklichkeit that.

Das Bequemere war es also offenbar gewesen, den Wechsel unter Beibringung der Unterschrift eines Freundes prolongiren zu lassen. Warum auch nicht? Bei dem Ueberfluß an Hoffnungssecuritäten, über welche er disponirte, lag für ihn kein anderer Grund vor, nicht die Verbindlichkeiten anderer Leute nach Herzenslust zu vermehren, als die unangenehme Thatsache, daß die Leute, deren Namen jede Gewähr bot, gewöhnlich Pessimisten und wenig geneigt waren, zu glauben, daß die Weltordnung sich einem angenehmen jungen Manne auch nothwendig angenehm erweisen müsse.

Wenn wir eine Gefälligkeit zu erbitten haben, lassen wir unsere Freunde in Gedanken vor uns Revue passiren, vergegenwärtigen uns voll Anerkennung ihre liebenswürdigeren Eigenschaften, verzeihen ihre kleinen Rücksichtslosigkeiten und suchen der Reihe nach in Betreff eines Jeden von ihnen zu dem Schlusse zu gelangen, daß er sich beeifern werde, uns gefällig zu sein, in der Voraussetzung, daß unser eigener warmer Eifer, uns eine Gefälligkeit erweisen zu lassen, ebenso mittheilbar sein werde wie andere Wärme.

Indessen giebt es immer eine gewisse Anzahl von Freunden, welche bei solchen Gelegenheiten, als von einem nur mäßigen Gefälligkeitseifer beseelt, zurückgestellt werden, bis die zuerst in Anspruch genommenen den begehrten Dienst verweigert haben, und so geschah es auch, daß Fred von allen seinen Freunden bis auf einen einzigen abzusehen beschloß, und zwar aus dem Grunde, daß es ihm doch unangenehm sein würde, sich an sie zu wenden, während er doch in seinem innersten Herzen überzeugt war, daß er wenigstens, was auch immer für die übrige Menschheit gelten möge, ein Recht darauf habe, von allem Unangenehmen verschont zu bleiben.

Daß er sich jemals in eine wirklich unangenehme Lebenslage versetzt sehen – daß er jemals genöthigt werden könnte, in der Wäsche eingelaufene Beinkleider zu tragen, kaltes Hammelfleisch zu essen, aus Mangel an einem Reitpferde zu Fuß zu gehen oder sich in irgend einer Weise zu »ducken,« war eine mit jenen ihm angebornen heitern Lebensanschauungen unvereinbare Absurdität.

Für Fred war es ein völlig unerträglicher Gedanke, geringschätzig darauf angesehen zu werden, daß er Geld brauche, um kleine Schulden damit zu bezahlen. So kam es, daß der Freund, an den er sich zu wenden beschloß, zugleich der Aermste und der Gütigste von allen seinen Freunden war – nämlich Caleb Garth.

Die Garths hatten Fred sehr gern, wie er sie; denn als er und Rosamunde Kinder waren und die Garth's noch in bessern Verhältnissen lebten, hatten die durch Herrn Featherstone's zwiefache Heirath (die erste mit der Schwester des Herrn Garth, die zweite mit der des Herrn Vincy) herbeigeführte Art von entfernter Verwandtschaft der beiden Familien zu einer Bekanntschaft geführt, welche mehr von den Kindern als von den Eltern gepflegt wurde.

Die Kinder tranken zusammen Thee aus ihren Spielzeugtassen und brachten ganze Tage mit einander zu; Mary war eine kleine wilde Hummel, und der sechsjährige Fred hielt sie für das netteste Mädchen der Welt und machte sie zu seinem Weibe, indem er ihr einen messingenen Trauring, den er von einem Regenschirm abgeschnitten hatte, an den Finger steckte.

Durch alle Stadien seines Lebens hindurch hatte er sich seine Neigung für die Garths und die Gewohnheit bewahrt, ihr Haus wie ein zweites Daheim zu betrachten, obgleich aller Verkehr zwischen den Häuptern beider Familien längst aufgehört hatte. Selbst als es Caleb Garth noch gut ging, standen die Vincy's auf einem Fuß der Herablassung mit ihm und seiner Frau; denn es gab feine Rangunterschiede in Middlemarch, und obgleich alte Fabrikanten so wenig wie Herzöge mit andern als ihresgleichen in Beziehung stehen konnten, waren die Vincy's sich doch einer angebornen socialen Ueberlegenheit bewußt, welche in der Praxis einen sehr feinen, wenn auch kaum theoretisch zu definirenden Ausdruck fand.

Seitdem hatte Herr Garth im Baugeschäft fallirt, mit welchem er sich unglücklicher Weise noch neben seinen übrigen Berufsgeschäften als Bauaufseher, Taxator und Agent befaßt hatte, und hatte dieses Geschäft eine Zeitlang lediglich zum Besten seiner Gläubiger fortgeführt, indem er sich die größten Einschränkungen auferlegte und Alles aufbot, um schließlich doch seine Gläubiger zu voll befriedigen zu können. Das war ihm jetzt gelungen und bei Allen, welche in einem solchen Verfahren nicht ein schlechtes Beispiel erblickten, hatten ihm seine ehrenwerthen Anstrengungen die gebührende Achtung verschafft; aber nirgends in der Welt beruht ein gentiler gesellschaftlicher Verkehr auf Achtung, wenn dem Anspruch auf dieselbe nicht ein angemessenes Mobiliar und ein completes Tischservice zur Seite stehen.

Frau Vincy hatte sich nie im Verkehr mit Frau Garth behaglich gefühlt und sprach oft von ihr als von einer Frau, die für ihr Brot habe arbeiten müssen, womit sie daran erinnern wollte, daß Frau Garth vor ihrer Verheirathung Lehrerin gewesen sei, und betrachtete die dadurch gewonnene genaue Bekanntschaft mit Lindley Murray und Mangnoll's »Fragen« als eine Art von Wissen, welches für sie auf einer Stufe mit der Fähigkeit eines Detaillisten, die verschiedenen Calicofabrikzeichen von einander zu unterscheiden, oder mit der Kenntniß von fremden Ländern, wie sie ein herrschaftlicher Courier auf seinen Reisen gewinnt, stand: keine Frau in bessern Verhältnissen habe dergleichen nöthig. Und seitdem Mary Herrn Featherstone seine Wirthschaft führte, hatte sich Frau Vincy's Abneigung gegen die Garths in etwas noch Positiveres verwandelt, indem sie fürchtete, Fred könnte sich mit diesem häßlichen Mädchen, dessen Eltern in so kleinen Verhältnissen lebten, verloben.

Fred, der das wußte, sprach zu Hause nie von seinen Besuchen bei Frau Garth, welche seit Kurzem noch häufiger geworden waren, indem ihn seine wachsende Neigung zu Mary auch ihren Angehörigen noch geneigter machte.

Herr Garth hatte ein kleines Geschäftszimmer in der Stadt, und hier hatte ihn Fred aufgesucht, um ihm seine Bitte vorzutragen. Herr Garth hatte sich ohne große Schwierigkeit bereit erklärt, dieselbe zu erfüllen, denn seine vielen schmerzlichen Erfahrungen hatten nicht hingereicht, ihn vorsichtig in seinen eigenen Angelegenheiten oder mißtrauisch gegen seine Nebenmenschen zu machen, so lange sie sich nicht vertrauensunwürdig bewiesen hatten; von Fred hatte er eine sehr hohe Meinung und war überzeugt, daß der Junge ein tüchtiger Mensch werden werde, »ein offener herzlicher Bursche mit einem im Grunde vortrefflichen Charakter, dem man in jeder Beziehung Vertrauen schenken könne.« Das war Caleb's auf psychologische Beobachtungen gegründete Argumentation.

Er war einer jener seltenen Menschen, welche streng gegen sich selbst und nachsichtig gegen Andere sind. Er empfand eine Art von Scham über die Fehler seiner Nebenmenschen und sprach nie gern von denselben; er hatte daher auch sehr wenig Neigung, seine Aufmerksamkeit von der Untersuchung der besten Art, Holz zu härten, und von andern praktisch fördernden Dingen ablenken zu lassen, um sich mit der Voraussicht solcher Fehler zu beschäftigen. Wenn er Jemanden zu tadeln hatte, mußte er allemal vorher alle ihm erreichbaren Papiere hin- und herschieben oder verschiedene mathematische Figuren mit seinem Stock zeichnen, oder mit der kleinen Münze in seiner Tasche Berechnungen anstellen, und er arbeitete lieber für andere Leute, als daß er sich damit befaßte, die Fehler ihrer Handlungen heraus zu finden. Ich fürchte, er war wenig zum Zuchtmeister gemacht!

Als Fred das Nähere über seine Schuld mittheilte und seinen Wunsch, die Schuld ohne seinen Vater damit zu incommodiren, abzutragen, sowie seine Ueberzeugung aussprach, daß das Geld zeitig genug bereit sein werde, um Niemanden in Verlegenheit kommen zu lassen, schob Caleb seine Brille in die Höhe, hörte aufmerksam zu, blickte seinem Liebling in die klaren Augen und glaubte ihm, indem er zwischen Vertrauen auf die Zukunft und Wahrhaftigkeit in Betreff des Vergangenen nicht gehörig unterschied; aber er fand doch, daß hier die passende Gelegenheit zu einem freundschaftlichen Wink sei, und daß er, bevor er seine Unterschrift leiste, eine ernste Ermahnung ergehen lassen müsse. Demgemäß nahm er den Wechsel und schob die Brille wieder über die Augen, maß den für seine Unterschrift vorhandenen Raum, nahm seine Feder und prüfte sie, tauchte sie in die Dinte und prüfte sie abermals, schob dann den Wechsel ein wenig bei Seite, schob seine Brille wieder in die Höhe, zog die äußern Winkel seiner buschigen Augbrauen in einer Weise herab, welche seinem Gesicht einen besonders milden Ausdruck verlieh, – der Leser verzeihe diese Einzelnheiten, er würde sie lieb gewonnen haben, wenn er Caleb Garth gekannt hätte –, und sagte:

»Es war ein unglücklicher Zufall, wie? daß das Pferd das Knie brechen mußte. Und dann geht es nicht mit dem Tauschen, wenn man mit schlauen Pferdehändlern zu thun hat. Du wirst ein ander Mal klüger sein, mein Junge.«

Dann schob Caleb seine Brille wieder hinunter und schrieb seinen Namen mit der Sorgfalt, die er immer auf seine Unterschrift verwandte; denn was er in geschäftlichen Angelegenheiten that, that er gut. Darauf betrachtete er die großen schön geschriebenen Lettern und den Schnörkel am Schluß einen Augenblick mit etwas auf die Seite geneigtem Kopfe, überreichte Fred den Wechsel, sagte ihm »Adieu« und versenkte sich sofort wieder in seine Arbeit, einen Plan für Sir James Chettam's neue Arbeiterwohnungen.

Sei es, daß das Interesse an dieser Arbeit den Vorfall in Betreff der Unterschrift aus seinem Gedächtnisse verdrängte, oder sei es aus einem Grunde, dessen sich Caleb klarer bewußt war, – Frau Garth erfuhr nichts von dieser Angelegenheit.

Seit diesem Vorfall hatte sich etwas ereignet, was Fred's Himmel ein wenig verdüsterte und was es erklärte, daß das Geschenk seines Onkels Featherstone ihn wiederholt die Farbe wechseln ließ, vor Empfang desselben, weil er ihm mit zu bestimmten Erwartungen entgegen sah, und nachher, weil er sich enttäuscht fand. Sein Durchfallen im Examen hatte seinem Vater die Anhäufung seiner Universitätsschulden nur um so unverzeihlicher erscheinen lassen, und es hatte sich zu Hause über Fred's Haupt ein Ungewitter entladen, wie er es noch nicht erlebt. Herr Vincy hatte geschworen, daß, wenn dergleichen noch einmal vorkäme, Fred das Haus, verlassen und sehen solle, wie er allein in der Welt fortkomme; seitdem hatte Herr Vincy sich noch nicht wieder ganz mit Fred ausgesöhnt, der ihn noch besonders durch die bei dieser Gelegenheit abgegebene Erklärung erbittert hatte, daß er keine Lust habe, Geistlicher zu werden und lieber nicht länger Theologie studiren möchte.

Fred war sich bewußt, daß sein Vater ihn noch strenger behandelt haben würde, wenn er nicht von seiner Familie als Featherstone's Erbe betrachtet worden wäre; die Vorliebe, welche der alte Herr augenscheinlich für Fred, auf den er stolz war, hegte, mußte hier ersetzen, was Fred's Benehmen zu wünschen übrig ließ – grade wie, wenn ein vornehmer junger Mann Juwelen stiehlt, wir diese Handlung Kleptomanie nennen, mit einem philosophischen Lächeln darüber reden und es für ganz unmöglich halten, daß er dafür ins Zuchthaus komme wie ein Betteljunge, der Rüben gestohlen hat.

In der That war die unausgesprochene Erwartung dessen, was Onkel Featherstone für Fred thun werde, für die meisten Leute in Middlemarch der Gesichtspunkt, aus welchem sie ihn betrachteten, und auch in seinem eigenen Bewußtsein bildete das, was Onkel Featherstone bei vorkommender Gelegenheit, oder auch ohne besonderen Anlaß, für ihn thun würde, immer eine unbegrenzte Perspective.

Aber das erhaltene Geldgeschenk war, wie wir gesehen haben, begrenzter Natur und ließ in seiner Verwendung zur Deckung von Fred's Schuld ein Deficit übrig, welches noch ausgefüllt werden mußte, entweder durch Fred's »Kennerschaft« oder durch Glück in einer andern Gestalt. Denn die kleine uns bereits bekannte Angelegenheit, bei welcher ihm sein Vater zu dem von Bulstrode beizubringenden Certificate hatte verhelfen müssen, war ein neuer Grund für ihn, sich wegen der Bezahlung seiner jetzigen Schuld nicht an seinen Vater zu wenden.

Fred war scharfsichtig genug voraus zusehen, daß der Zorn die Begriffe seines Vaters verwirren und daß derselbe seine Versicherung, nicht auf das Testament seines Onkels hin geborgt zu haben, für unwahr halten würde. Er war zu seinem Vater gegangen und hatte ihm eine unangenehme Affaire mitgetheilt, hatte aber eine andere unerwähnt gelassen; in solchen Fällen bringt die volle Wahrheit immer den Eindruck einer geflissentlichen Unwahrheit hervor. Nun piquirte sich aber Fred, sich aller Unwahrheiten und selbst Flunkereien zu enthalten; er zuckte oft die Achseln und machte eine bezeichnende Grimasse bei dem, was er Rosamunden's Flunkereien nannte, – nur Brüder finden solche Begriffe mit dem Wesen eines lieblichen Mädchens vereinbar – und er wollte lieber, einige Verlegenheiten und Selbstbeschränkungen ertragen, als sich der Beschuldigung, die Unwahrheit gesagt zu haben, aussetzen.

Unter dem Druck dieser Empfindungen hatte sich Fred zu dem weisen Schritte entschlossen, die achtzig Pfund in die Hände seiner Mutter niederzulegen. Es war schade, daß er diese Summe nicht gleich Herrn Garth gegeben hatte; er hatte aber die Absicht, dieselbe durch weitere sechzig Pfund zu vervollständigen, und hatte zu diesem Zweck zwanzig Pfund als eine Art von Saatkorn in der Tasche behalten, welches, von Kennerschaft gesäet und vom Glück befruchtet, mehr als das Dreifache ertragen müsse, eine sehr bescheidene Vervielfältigung, wenn das Saatfeld die unbegrenzte Einbildungskraft eines jungen Mannes ist, welche über alle erdenklichen Zahlen gebietet.

Fred war kein eigentlicher Spieler, er litt nicht an jener specifischen Krankheit, bei welcher die Concentration der ganzen Energie des Nervensystems auf eine Chance oder ein Risico, zu einem ebenso dringenden Bedürfniß wird, wie die Flasche für den Trunkenbold; er hatte nur eine Neigung zu jener weit verbreiteten Art des Spiels, welche ohne berauschend zu wirken, vielmehr bei gesundester Ernährung des Organismus betrieben wird, indem sie eine heitere Thätigkeit der Einbildungskraft unterhält, welche die Ereignisse unseren Wünschen gemäß gestaltet und, ohne bei ihrer Glücksfahrt den Wind zu fürchten, nur den Vortheil ins Auge faßt, den es Andern bringen muß, sich mit diesem Winde einzuschiffen.

Eine hoffnungsvolle Disposition hat ihre Freude an jedem gewagten Wurf, weil sie den Erfolg für sicher hält und eine noch edlere Freude daran, so Vielen wie möglich einen Antheil am Einsatz anzubieten. Fred liebte das Spiel, besonders Billard, wie er das Jagen oder ein Hürden-Rennen liebte, und er liebte es nur um so mehr, weil er Geld brauchte und zu gewinnen hoffte.

Aber das zwanzig Pfund werthe Saatkorn hatte er, soviel davon nicht schon am Wege verstreut war, vergebens auf das verführerische Grün gepflanzt. Fred sah sich dicht vor dem Fälligkeitstermin seiner Schuld ohne anderes Geld als die achtzig Pfund, welche er bei seiner Mutter deponirt hatte. Das lungenpfeifende Reitpferd, welches er besaß, repräsentirte ein Geschenk, welches ihm sein Onkel Featherstone vor längerer Zeit gemacht hatte; sein Vater erlaubte ihm immer, sich ein Pferd zu halten; denn Herr Vincy's eigene Lebensgewohnheiten ließen ihn das als ein billiges Verlangen selbst bei einem Sohne ansehen, der seine Geduld einigermaßen auf die Probe stellte.

Dieses Pferd war also Fred's Eigenthum und in seiner ängstlichen Sorge für die Deckung des demnächst fälligen Wechsels beschloß er, sich eines Besitzes zu entäußern, ohne welchen das Leben nur noch geringen Werth haben würde. Er war sich bewußt, daß dieser Entschluß für ihn eine heroische That bedeute, eine heroische That, welche ihm durch die Furcht, sein Herrn Garth gegebenes Wort brechen zu müssen, durch seine Liebe für Mary und seine ehrfurchtsvolle Scheu vor ihrer Meinung aufgezwungen war.

Er wollte nach Houndsley zu dem Pferdemarkt, welcher dort am nächsten Morgen gehalten wurde, reiten, und einfach sein Pferd verkaufen und mit dem Gelde im Postwagen zurückkehren. – Nun, das Pferd würde kaum mehr als dreißig Pfund holen, wer weiß aber, was noch passiren konnte! es würde Tollheit gewesen sein, dem Glück geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Es war hundert gegen eins zu wetten, daß sich ihm eine gute Chance bieten würde. Je länger er darüber nachdachte, desto unmöglicher, schien es ihm, daß sich ihm eine solche Chance nicht bieten sollte, und desto unvernünftiger, sich nicht mit dem nöthigen Pulver und Blei zu versehen, um diese Chance zu erjagen.

Er wollte mit Bambridge und Horrock, dem Pferdedoctor, nach Houndsley reiten und sich, ohne sie ausdrücklich nach irgend etwas zu fragen, doch ihre sachkundigen Ansichten zu Nutze machen. Bevor er fortritt, ließ sich Fred die achtzig Pfund von seiner Mutter geben.

Fast Alle, welche Fred in Gesellschaft von Bambridge und Horrock, mit denen er im Begriff stand, sich nach dem Houndsley'er Pferdemarkt zu begeben, von Middlemarch fortreiten sahen, glaubten den jungen Vincy auf einem seiner gewöhnlichen Vergnügungsritte begriffen und, hätte er nicht das ungewohnte Bewußtsein gehabt, mit einer ernsten Angelegenheit befaßt zu sein, würde es ihm selbst vorgekommen sein, als reite er nur zum Vergnügen aus und thue nur etwas für einen munteren jungen Menschen Angemessenes.

In Betracht, daß Fred eine nichts weniger als gemeine Natur war, daß er auf das Benehmen und die Ausdrucksweise von jungen Leuten, welche keine Universität besucht hatten, einigermaßen geringschätzig herabsah und daß er Stanzen geschrieben hatte, welche so harmlos und wenig leidenschaftlich waren wie sein Flötenspiel, erschienen seine vertrauten Beziehungen zu Bambridge und Horrock als eine merkwürdige Thatsache, welche selbst die Passion für Pferde nicht hinreichend erklärt haben würde, ohne den geheimnißvollen Einfluß der gebräuchlichen Bezeichnung der Dinge, welche bei den Sterblichen über so vieles entscheidet.

Unter jeder andern Bezeichnung als der des »Amüsements« hätte die Gesellschaft der Herren Bambridge und Horrock nothwendig monoton erscheinen müssen und mit ihnen an einem regnigten Nachmittage in Houndsley ankommen, im »Rothen Löwen« in einer von Kohlenstaub verdunkelten Straße absteigen und hier in einem Zimmer zu Mittag essen, in dessen Ecken bleierne Spucknäpfe standen, dessen Wände mit einer schmutzbesäeten Karte der Grafschaft, dem schlechten Portrait eines anonymen Pferdes in seinem Stall und einem Bildniß Sr. Maj. Georgs IV. in ganzer Figur und in Civil geziert waren – würde als ein schweres Stück Arbeit erschienen sein, ohne die Alles aufwiegende Gewalt der üblichen Bezeichnung, derzufolge dergleichen »amüsant« war.

Herrn Horrock's Erscheinung machte den Eindruck einer Unergründlichkeit, welche der Phantasie einen reichen Stoff darbot. Sein Kostüm erinnerte auf den ersten Blick in frappanter Weise an seine mit Pferden zusammenhängende Thätigkeit; die Krämpe seines Hutes ging nur gerade soviel in die Höhe, um dem Verdachte einer umgekehrten Tendenz zu entgehen, und die Natur hatte ihm ein Gesicht verliehen, welches, vermöge seiner mongolisch geschlitzten Augen und einer Nase, die nebst Mund und Kinn etwas in die Höhe gezogen war, seiner Hutkrämpe nachzustreben schien und den Eindruck eines halb unterdrückten stereotypen, skeptischen Lächelns hervorbrachte, – dieses Lächeln's, welches von allen Gesichtsausdrücken der auf empfindliche Gemüther am imponirendsten wirkende ist und der, wenn er von einem entsprechenden Schweigen getragen wird, den Inhaber leicht in den Ruf eines jeder Schwierigkeit gewachsenen Verständnisses, eines unerschöpflichen Fonds von Humor, (der nur zu trocken sei, um sich zu äußern, und sich vermuthlich in einem Zustande unbeweglicher Incrustation befinde) und eines kritischen Urtheils bringt, welches, wenn man nur das Glück hätte, dasselbe kennen zu lernen, unfehlbar den Nagel auf den Kopf treffen würde.

Exemplaren einer solchen Physiognomie begegnet man bei den Vertretern aller Berufsarten; auf die englische Jugend aber wirkt dieselbe vielleicht nie mächtiger, als wenn sie ihr bei Pferdekennern entgegentritt.

Auf eine Frage Fred's über die Kniekehlen seines Pferdes wandte sich Herr Horrock auf seinem Sattel etwas seitwärts und beobachtete den Gang des Pferdes drei Minuten lang, beugte sich dann wieder vorüber, zog den Zügel seines Pferdes etwas an und verharrte bei völlig unverändert skeptischem Ausdruck seines Profils in tiefem Schweigen.

Die Rolle, welche Herr Horrock bei diesem Zwiegespräch gespielt hatte, war von furchtbarer Wirkung auf Fred, die verschiedensten Gefühle durchwogten leidenschaftlich seine Brust, das dringendste Verlangen, Horrock zum Aussprechen seiner Meinung zu nöthigen, wurde nur durch den lebhaften Wunsch, sich den Vortheil seiner Freundschaft zu bewahren, in Zaum gehalten. Jetzt hatte er doch noch immer die Chance, im rechten Augenblick eine ganz unschätzbare Bemerkung aus Horrock's Munde zu vernehmen.

Herr Bambridge hatte ein offneres Wesen und äußerte dem Anscheine nach seine Ansichten ganz rückhaltlos. Er war von robuster Gestalt und laut in seinen Aeußerungen und stand in dem Rufe, sich bisweilen »ein wenig nachzugeben,« namentlich gern zu fluchen, zu trinken und seine Frau zu prügeln. Einige Leute, die an ihm verloren hatten, nannten ihn einen schlechten Menschen; er aber betrachtete den Pferdehandel als die schönste unter den schönen Künsten, und hätte mit einigem Schein demonstriren können, daß diese Kunst nichts mit der Moral zu thun habe. Er war unläugbar ein in jeder Hinsicht wohlbehaltener Mann, dem sein Trinken besser bekam, als andern Leuten ihre Mäßigkeit, und der gedieh wie ein blühender Lorbeerbaum. Seine Unterhaltung bewegte sich in engen Grenzen und kehrte wie so viele schöne alte Lieder in gewissen Zwischenräumen immer wieder zu demselben Refrain und zwar in einer Weise zurück, welche nervenschwache Menschen schwindlig machen konnte.

Aber auf verschiedene Kreise in Middlemarch übte ein kleiner Aufguß von Bambridge eine tonische Wirkung, und in der Schenk- und Billardstube des »Grünen Drachen« war er eine äußerst beliebte Erscheinung. Er wußte einige Anecdoten von den Helden der Rennbahn und verschiedene schlaue Streiche von Marquis und Viscounts, welche zu beweisen schienen, daß die Vorzüglichkeit des Blutes sich auch bei Spielern bewähre; aber diese außerordentliche Stärke seines Gedächtnisses für kleine Einzelheiten entwickelte er hauptsächlich in Betreff der Pferde, welche er selbst gekauft und verkauft hatte; die Zahl der Meilen, welche diese Pferde in unglaublich geringer Zeit durchlaufen würden, bildete noch nach Jahren für ihn einen Gegenstand leidenschaftlicher Versicherungen, bei welchen er der Einbildungskraft seiner Zuhörer durch feierliche Schwüre, daß sie nie dergleichen gesehen hätten, zu Hülfe kam. Kurz, Herr Bambridge war ein lustiger Gesellschafter und ein Mann, der das Leben zu genießen liebte.

Fred war fein und erzählte seinen Freunden nicht, daß er mit der Absicht nach Houndsley reite, sein Pferd dort zu verkaufen, sondern wollte gern auf indirectem Wege hinter ihre wahre Meinung über den Werth desselben kommen, wußte aber nicht, daß ihre wahre Meinung das Letzte sei, was er so eminenten Sachverständigen zu entlocken hoffen dürfe. Man konnte Herrn Bambridge nicht vorwerfen, daß er ohne Noth schmeichle. Es war ihm bisher noch nie so klar geworden, daß dieser unglückliche Braune ein solcher »Roarer« sei, daß nur der stärkste Fluch eine richtige Vorstellung davon geben könne.

»Da haben Sie einen schlechten Tausch gemacht, Vincy, weil Sie zu einem andern als zu mir gegangen sind. Sie hatten ja nie auf einem schöneren Pferde gesessen als auf dem kastanienbraunen, den Sie von mir hatten, und den haben Sie für dieses elende Thier hingegeben?! Wenn Sie ihn in Galopp setzen, so fängt er an zu keuchen wie zwanzig Säger. In meinem ganzen Leben habe ich nur noch einen ärgern ›Roarer‹ gesehen und das war ein Rothschimmel, der gehörte Pegwell, dem Kornmakler; er hatte den Gaul schon sieben Jahre als Wagenpferd vor seinem Gig benutzt und wollte ihn mir nun gern verkaufen, aber ich sagte ihm: ›Danke Ihnen, Peg, ich handle nicht mit Blaseinstrumenten!‹ Das sagte ich ihm. Der Witz machte die Runde in der ganzen Grafschaft Aber, hol' mich der Teufel! Das Pferd war doch nur eine Kindertrompete im Vergleich mit Ihrem Lungenpfeifer.«

»Was! eben haben Sie noch gesagt das Pferd sei schlechter als meines gewesen,« sagte Fred in gereizterem Tone als gewöhnlich.

»Wenn ich das gesagt habe, habe ich gelogen,« erwiderte Bambridge emphatisch: »Da war nicht soviel Unterschied zwischen Beiden.«

Fred gab seinem Pferde die Sporen und sie trabten eine kleine Strecke. Als sie dann ihre Pferde wieder im Schritt gehen ließen, sagte Bambridge:

»Nicht, daß der Rothschimmel ein besserer Traben als Ihrer gewesen wäre.«

»O er geht sehr gut, das weiß ich,« entgegnete Fred, der es sich mit aller Kraft seines Bewußtseins vergegenwärtigen mußte, daß er in lustiger Gesellschaft sei, um sich aufrecht zu erhalten. »Was sagen Sie, Horrock, hat er nicht einen sehr reinen Trab?«

Horrock sah mit einem so vollkommen neutralen Ausdruck vor sich hin, als ob er ein von einem großen Meister gemaltes Portrait gewesen wäre.

Fred gab die trügerische Hoffnung, die aufrichtige Meinung seiner Begleiter zu erfahren, auf; bei genauerer Erwägung aber fand er doch, daß sowohl Bambridge's Herabsetzung seines Pferdes als Horrock's Schweigen, beides ermuthigend sei, indem es beweise; daß sie besser von dem Pferde dächten, als sie zu sagen für gut fänden.

Wirklich hatte Fred noch an demselben Abend, bevor der Markt angefangen hatte, eine Offerte, die ihm ganz danach angethan schien, ihn zu einem vortheilhaften Handel in den Stand zu setzen, – freilich eine Offerte, bei welcher er sich Glück dazu wünschen mußte, daß er die Vorsicht gebraucht habe, seine achtzig Pfund mitzunehmen. Ein junger mit Bambridge bekannter Pächter kam in den »Rothen Löwen«, theilte den Herren gesprächsweise mit, daß er die Absicht habe, ein Jagdpferd abzugeben, und introduzirte dasselbe sofort als »Diamond,« womit er zu verstehen gab, daß das Pferd eine Berühmtheit sei. Er für seine Person brauche nur noch ein gewöhnliches Pferd, welches er gelegentlich auch zum Fahren benutzen könne, da er im Begriff stehe, sich zu verheirathen und das Jagen aufgeben wolle. Das Jagdpferd stehe nicht weit von hier bei einem Freunde im Stall, und es sei noch Zeit, sich dasselbe vor Dunkelwerden anzusehen.

Um den Stall des Freundes zu erreichen, mußte man eine jener damals so reichlich vorhandenen Hintergassen passiren, in welchen man durch die pestilenzialischen Ausdünstungen unentgeldlich vergiftet werden konnte. Fred war nicht wie seine Begleiter durch Branntwein gestählt, aber die Hoffnung, daß er endlich das Pferd gefunden habe, welches ihn in den Stand setzen werde, Geld zu verdienen, übte eine so belebende Wirkung auf ihn, daß sie hinreichte, ihn am nächsten Morgen in aller Frühe dieselbe Straße zum zweiten Male passiren zu lassen. Er war fest überzeugt, daß, falls er nicht mit dem Pächter handelseinig werden sollte, Bambridge das Geschäft machen würde; denn der Drang der Umstände machte Fred, wie er zu fühlen glaubte, ungewöhnlich scharfsichtig und verlieh ihm die ganze dem Argwohne eigenthümliche Combinationsgabe.

Bambridge hatte das Pferd in einer Weise schlecht gemacht, wie er es gewiß nie mit dem Thier eines Freundes gethan haben würde, wenn er nicht daran gedacht hätte, es zu kaufen; Jedermann, der das Pferd sah, selbst Horrock, war offenbar von seinen Vorzügen angenehm beeindruckt. Wenn man den rechten Vortheil daraus ziehen will, daß man sich in der Gesellschaft von solchen Leuten befindet, muß man es verstehen, seine Schlüsse zu ziehen und kein Einfaltspinsel sein, der alles, was man ihm sagt, für baare Münze nimmt.

Die Farbe des Pferdes war ein scheckiges grau, und Fred wußte zufällig, daß Lord Medlicote's Reitknecht gerade auf ein solches Pferd aus sei. Nach all' seinem Schimpfen auf das Pferd ließ Bambridge doch im Laufe des Abends, in Abwesenheit des Pächters die Aeußerung fallen, daß er schon schlechtere Pferde für achtzig Pfund habe fortgehen sehen. Natürlich widersprach er sich wohl zwanzigmal; wenn man aber einigermaßen weiß, worauf es ankommt, hat man schon einen richtigen Maßstab für die Concessionen, die Jemand in seinem Urtheile macht. Und Fred durfte doch wohl sein eigenes Urtheil über sein Pferd für etwas rechnen.

Der Pächter hatte lange genug schweigend vor Fred's respectabler, wenn auch kurzluftiger Stute gestanden, um erkennen zu lassen, daß er den Erwerb des Thieres der Ueberlegung werth halte, und es schien wahrscheinlich, daß er bereit sein werde, dasselbe unter Hinzuzahlung von fünfundzwanzig Pfund gegen »Diamond« zu vertauschen.

In diesem Falle würde Fred, wenn er dann sein neues Pferd für wenigstens achtzig Pfund wieder verkaufte, nach diesem Handel noch fünfundzwanzig Pfund baar in der Tasche und im Ganzen hundert und fünfunddreißig Pfund zur Deckung seines Wechsels haben, so daß sich das Herrn Garth vorübergehend zur Last fallende Deficit auf höchstens fünfundzwanzig Pfund belaufen würde.

Rasch kleidete er sich in der Frühe an, es war ihm so klar, wie sehr es darauf ankomme, diese seltene Chance nicht zu verscherzen, daß, wenn Bambridge und Horrock ihm beide von dem Handel abgerathen hätten, er sich dadurch in der richtigen Beurtheilung ihres eigentlichen Zwecks nicht würde haben irre machen lassen; er würde gewußt haben, daß diese schlauen Patrone an etwas Anderes als an das Interesse eines jungen Menschen dächten. Beim Pferdehandel durfte man sich nur von Mißtrauen leiten lassen. Der Skepticismus hat aber bekanntlich immer seine Grenzen, sonst würde das Leben zu einem völligen Stillstande gelangen; an etwas müssen wir glauben, durch etwas müssen wir uns bei unseren Handlungen leiten lassen und, wie man auch immer dieses Etwas nennen möge, es ist in Wahrheit schließlich unser eigenes Urtheil, selbst wenn es dem Anscheine nach auf der knechtischsten Abhängigkeit von dem Urtheile eines Anderen beruht.

Fred glaubte an die Vortrefflichkeit des ihm angebotenen Geschäfts, und noch ehe der Markt recht eigentlich angefangen hatte, war er um den Preis seines alten Pferdes nebst dreißig Pfund, – also um fünf Pfund mehr, als worauf er gerechnet hatte –, in den Besitz des Grauschimmels gelangt.

Aber er fühlte sich doch, vielleicht in Folge der aufregenden Ueberlegungen vor dem Abschluß des Handels, ein wenig erschöpft und machte sich, ohne die ferneren Vergnügungen des Pferdemarktes abzuwarten, allein auf die vierzehn Meilen lange Rückreise in der Absicht, sehr ruhig zu reiten und sein Pferd frisch zu erhalten.

Zweites Kapitel

Leider muß ich bekennen, daß Fred Vincy sich schon drei Tage nach den glückverheißenden Ereignissen von Houndsley in schlechterer Stimmung als je zuvor in seinem Leben befand. Nicht daß er sich in Betreff der möglichen Verkäuflichkeit seines Pferdes geirrt hätte, nur hatte dieser Diamond, in welchem Fred Hoffnungen zum Belaufe von achtzig Pfund angelegt hatte, noch bevor der Handel über denselben mit Lord Medlicote's Reitknecht hatte abgeschlossen werden können, im Stall plötzlich und unerwartet eine höchst verderbliche Energie im Ausschlagen entwickelt, hatte den Stallknecht beinahe umgebracht und hatte schließlich sein Bein in einen die Krippe überhängenden Strick verfangen und dabei den Fuß bedenklich verstaucht. Abhülfe gab es dafür so wenig wie für das unglückliche Temperament des einen Ehegatten, welches der andere erst nach der Hochzeit entdeckt, während alte Freunde dasselbe natürlich schon vorher recht gut gekannt hatten.

Aus einem oder dem anderen Grunde versagte Fred bei diesem Mißgeschick die gewöhnliche Elasticität seines Geistes; er wußte sich nichts zu sagen, als daß er nur fünfzig Pfund besitze, daß er keine Aussicht habe, sich für jetzt mehr zu verschaffen, und daß der von ihm ausgestellte auf hundertundsechzig Pfund lautende Wechsel ihm in fünf Tagen präsentirt werden würde.

Fred war sich schmerzlich bewußt, daß, selbst wenn er sich auf den Grund hin an seinen Vater hätte wenden wollen, daß doch Herr Garth vor Verlust geschützt werden müsse, Herr Vincy sich aufgebracht geweigert haben würde, Herrn Garth vor den Folgen von etwas zu bewahren, was Fred's Vater als Ermunterung zu Ausschweifung und Betrug bezeichnet haben würde. Er war so gänzlich rathlos, daß er keinen anderen Ausweg sah, als direkt zu Herrn Garth zu gehen, ihm die fünfzig Pfund zu bringen, um wenigstens diese Summe sicher zu ihrem Zweck zu verwenden und ihm die traurige Wahrheit zu gestehen.

Sein Vater, der schon ins Geschäft gegangen war, hatte noch nichts von dem Vorfall mit dem Pferde gehört; wenn er denselben erführe, würde er sicher darüber donnern, daß eine so bösartige Bestie in seinen Stall gebracht sei, und ehe er diese geringere Verdrießlichkeit über sich ergehen ließ, wollte Fred all seinen Muth zusammen nehmen, um der größeren Unannehmlichkeit zu begegnen. Er nahm das Reitpferd seines Vaters; denn er war entschlossen, nachdem er Herrn Garth Alles gestanden haben würde, nach Stone Court zu reiten und auch Mary Alles zu bekennen.

In der That ist es wohl nicht unwahrscheinlich, daß, wenn Fred Mary nicht geliebt hätte, sein Gewissen sich viel weniger geregt und ihn nicht so lebhaft angetrieben haben würde, sich erst ernst und angelegentlich mit der Schuld zu beschäftigen und dann, statt sich in gewohnter Weise zu schonen und die Erfüllung einer unangenehmen Pflicht zu verschieben, so rasch und einfach wie möglich zu handeln. Selbst viel seelenstärkere Sterbliche als Fred Vincy verdanken die Hälfte ihrer Rechtschaffenheit dem Weibe, das sie lieben.

»Das Publikum aller meiner Handlungen ist verschwunden,« sagte ein Alter, als sein bester Freund gestorben war – und wohl denen, deren Publikum stets das Beste von ihnen verlangt.

Ganz gewiß würde es in jener Zeit anders um Fred gestanden haben, wenn Mary Garth nicht so bestimmte Begriffe von dem gehabt hätte, was an einem Charakter schätzenswerth ist.

Herr Garth war nicht auf seinem Bureau und Fred ritt daher sofort weiter nach seinem Hause, welches eine kleine Strecke vor der Stadt lag, – ein schmuckloses, unregelmäßiges, altmodisches, halb aus Holz errichtetes Gebäude mit einem Obstgarten davor, welches, bevor die Stadt sich bis hieher ausgebreitet hatte, ein Pachthaus gewesen war, jetzt aber inmitten der Landhäuser der Stadtbewohner lag.

Wir gewinnen unsere Häuser um so lieber, jemehr ihnen wie unseren Freunden eine bestimmte Physiognomie aufgeprägt ist. Die Garths, – eine ziemlich zahlreiche Familie, denn Mary hatte vier Brüder und eine Schwester –, hatten ihr altes Haus, aus welchem die besten Möbel schon lange verkauft waren, sehr lieb. Auch Fred liebte das Haus, das er in und auswendig bis hinauf in die Dachkammern, welche köstlich nach Aepfeln und Quitten dufteten, kannte, und es war heute das erste Mal, daß er es mit anderen als angenehmen Erwartungen betrat; aber jetzt schlug sein Herz unbehaglich, denn er sah voraus, daß er sein Bekenntniß wahrscheinlich vor Frau Garth zu machen haben werde, vor welcher er eine ehrfurchtsvollere Scheu hatte als vor ihrem Gatten.

Nicht daß sie wie Mary zu sarkastischen Bemerkungen und witzigen Einfällen geneigt gewesen wäre. In ihrem jetzigen vorgerückten Alter wenigstens ließ sich Frau Garth nie zu einem übereilten Worte hinreißen, da sie, wie sie zu sagen pflegte, in ihrer Jugend ein Joch getragen und Selbstbeherrschung gelernt habe. Sie hatte den selten verständigen Sinn, der das Unabänderliche richtig erkennt und sich demselben ohne Murren fügt. Von Verehrung für die Tugenden ihres Mannes erfüllt, hatte sie sich zeitig in seine Unfähigkeit, seine eigenen Interessen wahrzunehmen, gefunden und hatte die Folgen dieses Mangels mit heiterem Gemüthe getragen.

Sie war großherzig genug gewesen, allem eitlen Stolz auf schönes Silbergeschirr und auf Stickereien an der Kindertoilette zu entsagen und hatte nie ihren Freundinnen pathetische Confidenzen über den Mangel an Umsicht ihres Mannes und über die Summen gemacht, welche er hätte verdienen können, wenn er hätte handeln wollen wie andere Männer. Daher hielten diese schönen Freundinnen sie entweder für stolz oder für excentrisch und sprachen gegen ihre Ehemänner bisweilen von ihr, als von der »vornehmen Frau Garth«.

Sie übte dagegen auch ihrerseits ihre Kritik an diesen Damen, da sie gründlicher unterrichtet war als die meisten Frauen in Middlemarch, und – wo gäbe es eine untadelige Frau! – war geneigt, ihr eigenes Geschlecht, welches nach ihrer Ansicht zu völliger Unterordnung bestimmt war, etwas strenge zu beurtheilen.

Andrerseits war sie unverhältnißmäßig nachsichtig gegen die Fehler der Männer, und man hörte sie oft sagen, daß diese Fehler ganz natürlich seien. Wir wollen auch nicht leugnen, daß Frau Garth etwas zu nachdrücklich in ihrem Widerstande gegen das auftrat, was sie für Thorheit hielt; sie war ein wenig zu sehr davon erfüllt, wie gut sie den Uebergang von der Gouvernante zur Hausfrau bewerkstelligt habe, und sie vergaß selten, daß während ihre grammatikalischen Kenntnisse und ihre Aussprache den Durchschnitt des in dieser Beziehung in Middlemarch Geleisteten weit überragten, sie eine einfache Haube trug, das tägliche Mittagessen selbst kochte und alle Strümpfe stopfte.

Sie hatte noch als Hausfrau dann und wann Schüler in einer peripatetischen Weise unterrichtet, indem sie dieselben mit ihrem Buche oder ihrer Rechnentafel mit sich durchs Haus und in die Küche nahm. Sie war der Meinung, es könne denselben nur dienlich sein zu sehen, daß sie einen vortrefflichen Seifenschaum zu machen verstehe und gleichzeitig, ohne aufzusehen, die Fehler der Schüler corrigire, daß eine Frau mit bis über die Ellenbogen aufgestreiften Aermeln doch genau von dem Subjonctif und der heißen Zone Bescheid wissen könne – kurz, daß sie »Orthographie« und« andere emphatisch auszusprechende gute Dinge auf »phie« besitzen könne, ohne darum eine unnütze Puppe zu sein.

Wenn sie dergleichen erbauliche Bemerkungen machte, zog sich auf ihrer Stirn eine scharfe kleine Falte zusammen, was jedoch dem wohlwollenden Ausdruck ihres Gesichts keinen Abbruch that, und sprach ihre Worte, die einander mit einer gewissen Feierlichkeit wie eine Prozession folgten, mit einer angenehmen, warmen, tiefen Altstimme.

Gewiß hatte die exemplarische Frau Garth ihre komischen Seiten; aber die Vortrefflichkeit ihres Charakters überwog ihre Wunderlichkeiten, wie ein sehr schöner Wein leicht über einen Geschmack nach dem Schlauch hinwegsehen läßt.

Für Fred Vincy hegte sie mütterliche Gefühle und war immer geneigt gewesen, seine Fehler zu entschuldigen, wiewohl sie es wahrscheinlich nicht entschuldigt haben würde, wenn Mary sich mit ihm verlobt hätte, da die größere Strenge, mit welcher sie ihr eigenes Geschlecht beurtheilte, auch auf ihre Tochter Anwendung fand. Aber gerade die exceptionelle Nachsicht, welche sie immer gegen ihn geübt hatte, ließ es Fred nur um so bitterer empfinden, daß er jetzt unvermeidlich in ihrer Achtung werde sinken müssen. Dazu kam, daß sich die Umstände seines Besuches noch ungünstiger gestalteten, als er erwartet hatte; denn Caleb Garth war schon früh ausgegangen, um einige in der Reparatur begriffene Bauten in der Nähe in Augenschein zu nehmen.

Zu gewissen Stunden des Tages war Frau Garth immer in der Küche, und auch diesen Morgen lag sie gleichzeitig verschiedenen Beschäftigungen in derselben ob; sie stand an der einen Seite dieses lustigen Raumes an einem wohlgescheuerten föhrenen Tische und machte ihre Pies, beobachtete gleichzeitig durch eine offene Thür Sally's Bewegungen am Backofen und an der Teigmulde und gab dabei ihren jüngsten Kindern, einem Mädchen und einem Knaben, welche ihr gegenüber mit ihren Büchern und Rechnentafeln am Tische standen, Unterricht. Ein Zuber und ein Gestell zum Trocknen der Wäsche, welche an der andern Seite der Küche standen, zeigten, daß heute zwischendurch auch kleine Wäsche besorgt wurde.

Frau Garth, wie sie mit über die Ellbogen aufgestreiften Aermeln ihren Pastetenteig behende knetete, ihn dann mit der Teigrolle ausrollte und schließlich der Schönheit der Form noch durch einige Drücker mit dem Finger nachhalf, während sie mit grammatikalischem Feuereifer das Verhältniß der Verben und Pronomina zu den Substantiven auseinandersetzte, war ein wohlthuend ergötzlicher Anblick. Sie hatte wie Mary krauses Haar und denselben etwas breiten Gesichtstypus, war aber hübscher und hatte feinere Züge, einen zarteren Teint und dabei etwas sehr Entschiedenes im Blick und eine stattliche matronenhafte Gestalt. In ihrer schneeweißen zierlich gekräusten Haube erinnerte sie an die reizenden französischen Frauen, die wir Alle wohl einmal, den Korb über dem Arm, zu Markt haben gehen sehen.

Wenn man die Mutter ansah, mochte man sich der Hoffnung hingeben, daß die Tochter ihr mit den Jahren gleichen werde, eine Anweisung auf die Zukunft, welche einer Mitgift gleich zu achten ist, während nur zu oft die Mutter wie eine boshafte Prophezeihung: »Seht mich nur an, so wird sie auch bald aussehen,« hinter der Tochter steht.

»Jetzt wollen wir das noch einmal durchnehmen,« sagte Frau Garth, während sie den Blätterteig zu einem Apfelpie knetete, welcher die Aufmerksamkeit Ben's, eines strammen Jungen von etwas langsamer Fassungskraft, von der Lection abzulenken schien.

»Nicht ohne Rücksicht auf die Bedeutung des Wortes, insofern es eine Begriffseinheit oder eine Mehrheit von Begriffen umfaßt – Sage mir noch einmal, was das heißt, Ben.«

Frau Garth hatte gleich berühmteren Pädagogen eine alte Lieblingsmethode und würde bei einem Zusammensturze des ganzen socialen Gebäudes doch versucht haben, ihren »Lindley Marray« vor dem Untergange zu retten.

»O – das heißt – man muß denken, was man meint,« antwortete Ben etwas verdrossen. – »Ich hasse Grammatik. Wozu nützt sie denn?«

»Dazu Dich zu lehren, correct zu sprechen und zu schreiben, so daß man Dich verstehen kann,« entgegnete Frau Garth mit strenger Präcision des Ausdrucks. »Möchtest Du wohl so sprechen wie der alte Job?«

»Ja wohl,« sagte Ben trotzig, »»es ist komischer. Er sagt ›Ihr gaht‹, das ist gerade so gut wie: ›Ihr geht.‹«

»Aber er sagt ›de Blume wachse auf de Betten‹ anstatt: ›auf den Beeten‹,« sagte Letty mit einer Miene der Ueberlegenheit. »Da könnte man meinen, Blumen wachsen auf den Betten.«

»Nein, das könnte man nicht, wenn man nicht dumm wäre,« sagte Ben. »Wie können Blumen auf Betten wachsen?«

»Das sind Fehler der Aussprache, mit welchen die Grammatik nur wenig zu thun hat,« bemerkte Frau Garth. – »Die Apfelschaale soll zum Futter für die Schweine dienen, Ben; wenn Du sie aufissest, muß ich ihnen Dein Stück Pie geben. – Job braucht nur von sehr einfachen Dingen zu reden. Wie wolltest Du wohl über irgend etwas schwereres schreiben oder sprechen, wenn Du nicht mehr von der Grammatik wüßtest als er? Du würdest Dich falscher Worte bedienen und die Worte an eine Stelle setzen, wo sie nicht hingehören, und die Leute würden Dich nicht verstehen und würden sich von Dir als von einem langweiligen Menschen abwenden. Was würdest Du dann wohl anfangen?«

»Ich würde mir daraus nichts machen, ich würde die Sache aufgeben,« sagte Ben in dem Bewußtsein, daß dies ein erwünschter Ausweg sei, wo es sich um Grammatik handele.

»Ich sehe, Du wirst müde und dumm, Ben,« sagte Frau Garth, welche an diese Art von hinderlicher Argumentation ihres männlichen Sprößlings schon gewöhnt war.

Als sie mit ihren Pies fertig war, trat sie an das Gestell zum Trocknen der Wäsche und sagte:

»Komm her und erzähle mir die Geschichte von Cincinnatus, die ich Dir vorigen Mittwoch erzählt habe.«

»Ich weiß,« sagte Ben, »er war ein Pächter.«

»Na hör' 'mal Ben, er war ein Römer,« sagte Letty, indem sie ihn rechthaberisch mit dem Ellbogen anstieß.

»Du dummes Ding, er war ein römischer Pächter und war beim Pflügen.«

»Ja aber noch vorher – das war nicht das erste – die Leute verlangten, daß er –« unterbrach Letty wieder.

»Gut, aber zuerst mußt Du doch sagen, was für eine Art Mann er war,« beharrte Ben. »Er war ein kluger Mann wie Vater, und darum verlangten die Leute seinen Rath. Und er war ein tapferer Mann und konnte fechten, und das könnte Vater auch, nicht wahr, Mutter?«

»Ben, laß mich jetzt die Geschichte hinter einander erzählen, wie Mutter sie uns erzählt hat,« sagte Letty verdrießlich. »Bitte, Mutter, sage Ben, daß er still ist.«

»Letty, schäme Dich,« sagte Frau Garth, während sie die im Zuber gewaschenen Mützen auswrang. »Als Ben anfing, hättest Du warten sollen und sehen, ob er nicht die Geschichte erzählen könne Wie häßlich siehst Du aus mit Deinem mürrischen Gesichte und stößest Ben mit Deinem Ellbogen, als ob Du Dich irgendwo durchdrängen wolltest! Cincinnatus würde gewiß sehr böse geworden sein, wenn seine Tochter sich so betragen hätte.«

Frau Garth gab diesem furchtbaren Satze noch durch eine höchst würdevolle Betonung den gehörigen Nachdruck, und Letty fühlte bereits, daß das Leben, in welchem man in seinem Redeflusse gehemmt und der allgemeinen Mißachtung, die der Römer mit einbegriffen, Preis gegeben werden könne, eine schwere Last sei.

»Nun, Ben?«

»Nun – ja – nun – na, sie hatten da sehr viel gefochten und waren Alle Dummköpfe und, – ich kann es nicht gerade genau so erzählen, wie Du es erzählt hast, aber sie brauchten einen, der ihr Anführer und ihr König und Alles sein sollte.«

»Ein Dictator, das war es,« schaltete Letty mit einer verletzten Miene und mit dem geheimen Wunsche ein, ihre Mutter den Verweis von vorhin bereuen zu machen.

»Meinetwegen Dictator,« sagte Ben verächtlich. »Aber, das ist kein guter Ausdruck; er hatte ihnen doch nichts dictirt, was sie auf ihre Tafeln schreiben sollten.«

»Komm, komm, Ben, so dumm bist Du doch nicht,« sagte Frau Garth mit gewichtigem Ernst. »Horch, da klopft es an der Hausthür, lauf' hin Letty und mach' auf.«

Es war, Fred und als Letty ihm sagte, daß ihr Vater noch nicht wieder zu Hause, ihre Mutter aber in der Küche sei, hatte er keine Wahl, er konnte nicht auf einmal von seiner Gewohnheit abweichen, Frau Garth in der Küche aufzusuchen, wenn sie zufällig dort beschäftigt war. Schweigend schlang er seinen Arm um Letty's Nacken und ging mit ihr, ohne seine gewöhnlichen Späße und Liebkosungen, in die Küche.

Frau Garth war überrascht, Fred zu dieser frühen Stunde zu sehen, aber Ueberraschung war ein Gefühl, dem sie nicht leicht Ausdruck gab, und ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen, sagte sie nur in ruhigem Tone:

»Sie, Fred, so früh am Morgen? Sie sind ja so blaß? Ist etwas vorgefallen?«

»Ich möchte Herrn Garth sprechen,« sagte Fred, der sich noch nicht hinlänglich gefaßt hatte, um mehr zu sagen, »und Sie auch,« fügte er nach einer kleinen Pause hinzu; denn er war überzeugt, daß Frau Garth ganz genau über die Wechselangelegenheit unterrichtet sei, und sagte sich, daß er doch schließlich vor ihr, wenn nicht mit ihr allein von der Sache werde reden müssen.

»Caleb wird in einigen Minuten wieder hier sein,« erwiderte Frau Garth, die sich dachte, daß es sich wohl um eine Differenz zwischen Fred und seinem Vater handeln werde. »Er kann nicht lange mehr ausbleiben, denn er hat eine schriftliche Arbeit vor, die heute Morgen gemacht werden muß. Mögen Sie so lange bei mir bleiben, während ich hier meine Geschäfte beende?«

»Aber wir brauchen nicht weiter von Cincinnatus zu sprechen, nicht wahr?« fragte Ben, welcher Fred seine Reitpeitsche aus der Hand genommen hatte und die Brauchbarkeit derselben an der Katze erprobte.

»Nein, geh' jetzt hinaus. Aber, leg' die Peitsche hin. Wie abscheulich von Dir, die arme alte Tortoise mit der Peitsche zu schlagen! Bitte, Fred, nehmen Sie sie ihm weg.«

»Komm alter Junge, gieb die Peitsche her,« sagte Fred, indem er die Hand ausstreckte.

»Willst Du mich heute auf Deinem Pferde reiten lassen?« fragte Ben, indem er die Peitsche mit einer Miene auslieferte, als ob er es freiwillig thue.

»Heute nicht, ein andermal, das Pferd gehört nicht mir.«

»Siehst Du Mary heute noch?«

»Ich denke wohl,« erwiderte Fred, dem die Frage eine unbehagliche Empfindung verursachte.

»Sag ihr, daß sie bald nach Hause kommt und Pfänderspiel mit uns spielt und Spaß macht.«

»Genug, genug, Ben, lauf hinaus,« sagte Frau Garth, als sie sah, daß der Junge Fred lästig war.

»Sind Letty und Ben jetzt Ihre einzigen Schüler, Frau Garth?« fragte Fred, als die Kinder hinausgegangen waren und er sich der Nothwendigkeit nicht entziehen konnte, etwas zu sagen, um die Zeit hinzubringen. Er war mit sich noch nicht darüber im Reinen, ob er Herrn Garth abwarten oder die erste sich in der Unterhaltung darbietende Gelegenheit benutzen solle, um sein Bekenntniß vor Frau Garth abzulegen, ihr das Geld zu geben und fortzureiten.

»Ich habe außer den Kindern nur noch eine einzige Schülerin, Fanny Hackbutt, die um halb zwölf Uhr zu mir kommt. – Ich habe jetzt keine große Einnahme,« fügte Frau Garth lächelnd hinzu. »Mit meinen Schülern geht es sehr bergab. Aber ich habe mir doch so viel erspart, wie wir brauchen, um Alfreds Lehrgeld zu bezahlen; ich habe zweiundneunzig Pfund. Er kann jetzt zu Herrn Hanmer kommen, er hat gerade das rechte Alter.«

Das war eine wenig passende Gelegenheit zu der Mittheilung, daß Herr Garth im Begriff stehe, zweiundneunzig Pfund und mehr zu verlieren. Fred schwieg.