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Eine Neuerzählung der Lebensmitte
Wir alle kennen das stereotype Bild des Mannes, der sich in der berühmten Midlife-Crisis befindet: Seines Alltags als Ehemann und Vater überdrüssig, geht er »nur schnell Zigaretten holen« und braust mit der neuen Freundin im Sportwagen davon, um für immer zu verschwinden. Doch das verbreitete Klischee männlicher Selbstfindung ist nicht der einzige Entwurf der Lebensmitte. Im Gegenteil: Der Begriff Midlife-Crisis hat feministische Ursprünge. Bekannt machte ihn die New Yorker Journalistin Gail Sheehy in ihrem Bestseller Passages (1976) um der zunehmenden Unzufriedenheit von Frauen mit ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle einen Namen zu verleihen. Die Midlife-Crisis im Sinne eines Neuanfangs in den mittleren Lebensjahren einer Frau, verbunden mit weiblichem Aufbegehren und dem Kampf gegen tradierte Geschlechterrollen, verbreitete sich als ein Konzept der Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre. Im weiteren Verlauf eigneten sich konservative Psychologen, Psychiater und andere Experten den populär gewordenen Begriff an, deuteten ihn radikal um und besetzten ihn neu: Die Midlife-Crisis als männliches Phänomen, gleichbedeutend mit dem Ausstieg der Playboys aus dem Familienleben, war geboren – samt aller mit dieser Idee einhergehenden anti-feministischen Implikationen. Susanne Schmidt erzählt den packenden wissenschaftshistorischen Krimi von der patriarchalen Vereinnahmung eines Konzepts, das der Frauenbewegung entstammt, und lädt zu einer Rückbesinnung auf das emanzipatorische Potenzial der Midlife-Crisis ein.
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Seitenzahl: 553
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Wir alle kennen das stereotype Bild des Mannes, der sich in der berühmten Midlife-Crisis befindet: Seines Alltags als Ehemann und Vater überdrüssig, geht er »Zigaretten holen« und braust mit der neuen Freundin im Sportwagen davon, um für immer zu verschwinden. Doch das Klischee männlicher Selbstfindung ist nicht der einzige Entwurf der Lebensmitte. Der Begriff Midlife-Crisis hat feministische Ursprünge. Bekannt machte ihn die New Yorker Journalistin Gail Sheehy in ihrem Bestseller Passages (1976) um der zunehmenden Unzufriedenheit von Frauen mit ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle einen Namen zu verleihen. Die Midlife-Crisis im Sinne eines Neuanfangs in den mittleren Lebensjahren einer Frau, verbunden mit weiblichem Aufbegehren und dem Kampf gegen tradierte Geschlechterrollen, verbreitete sich als ein Konzept der Frauenbewegung der 1970er- und 80er-Jahre. Im weiteren Verlauf eigneten sich konservative Psychologen, Psychiater und andere Experten den populär gewordenen Begriff an, deuteten ihn radikal um und besetzten ihn neu: Die Midlife-Crisis als männliches Phänomen, gleichbedeutend mit dem Ausstieg der Playboys aus dem Familienleben. Susanne Schmidt erzählt von der patriarchalen Vereinnahmung eines Konzepts, das der Frauenbewegung entstammt, und lädt zu einer Rückbesinnung auf das emanzipatorische Potenzial der Midlife-Crisis ein.
Autorin
Susanne Schmidt forscht und lehrt zu Themen der Wissenschaftsgeschichte, Geschlechtergeschichte und Globalgeschichte. Sie wurde an der University of Cambridge promoviert und unterrichtete an der Freien Universität und der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsaufenthalte führten sie an die Harvard University, nach Stanford, New York und Washington, DC. Seit 2025 ist sie Assistenzprofessorin an der Universität Basel. Ihre Arbeiten wurden unter anderem mit Preisen der Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik ausgezeichnet.
Susanne Schmidt
Midlife
Crisis
Von den feministischen Ursprüngen eines Männer-Klischees
Aus dem Englischen von Annika Klapper und Stefanie Brägelmann Durchgesehen und überarbeitet von der Autorin
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Midlife Crisis. The Feminist Origins of a Chauvinist Cliché« bei The University of Chicago Press, Chicago.
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Deutsche Erstausgabe März 2025
Copyright © 2020 der Originalausgabe: Susanne Schmidt
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Doreen Fröhlich
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Getty Images/courtneyk
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
EB ∙ CB
ISBN 978-3-641-30844-5V001
www.goldmann-verlag.de
Für FL
Inhalt
Vorwort der Autorin zur deutschsprachigen Ausgabe
1 Einleitung
2 Doppelmoral
1 Kritische Jahre
2 Leere und Obsoleszenz
3 Blüte des Lebens
4 Ein neuer Deal
5 Selbstvertrauen und Ehrgeiz
3 Feministische Anfänge
1 Recherchen in New York
2 Die Erfindung eines Vorläufers
3 Geschichten von Frauen und Männern
4 Stufen des Lebens
5 Das Loch im Kopf
6 Raute der Sexualität
7 Gegenseitigkeit
4 Eine wahre Sensation
1 Das Recht, zu schreiben
2 Spock für Erwachsene
3 Feminismus für alle
4 Begeisterte Fans
5 Pop-Science
6 Eine narzisstische Störung?
5 Psychologie und die Krise der Männlichkeit
1 Psychoanalytiker und Playboys
2 Zweite Adoleszenz
3 Backlash
4 Das »echte« Passages
5 Krisenzeiten
6 Eine »Popularisierung«?
6 Feministische Replik
1 Stimme und Entscheidung
2 Eine andere Sichtweise
3 Regressive Männlichkeit
4 Superwoman lebt
5 Die Unfähigkeit zur Veränderung
6 Ein chauvinistisches Klischee
7 Feministisches Vermächtnis
Danksagung
Bibliografie
Archive und private Sammlungen
Literatur und publizierte Quellen
Anmerkungen
Vorwort der Autorin zur deutschsprachigen Ausgabe
Lebenslauf und historischer Wandel sind untrennbar miteinander verbunden. Oft ist es unmöglich, zu sagen, ob Veränderungen im Leben durch das eigene Älterwerden oder durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingt sind. Hier setzt dieses Buch an. Es zeigt, dass es eine Verbindung von Geschichte und Lebensgeschichte nicht nur auf individueller biografischer Ebene gibt, sondern dass auch das gesellschaftliche Verständnis »normaler« Lebenslaufmuster von historischen Prozessen geprägt ist und sich verändert.
Dieses Buch erzählt die Geschichte von den feministischen Anfängen einer Idee, die heute eher mit Männern verbunden wird: der Midlife-Crisis. Es ist eine Geschichte von Umdeutungen und Vereinnahmungen, aber auch von der Beharrlichkeit kritischer Stimmen. Und es ist eine Geschichte, die unser Verständnis vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, zwischen Expertise und Aktivismus neu justiert.
Als die Journalistin Gail Sheehy 1976 die Krise des mittleren Alters zum Thema ihres populären Bestsellers Passages machte (auf Deutsch erschienen unter dem Titel In der Mitte des Lebens), prägte sie den Begriff im feministischen Sinne: als Chance für Frauen, aus einengenden Rollen auszubrechen und sich jenseits von Ehe und Mutterschaft neu zu erfinden. Sheehys Buch traf den Nerv vieler Leserinnen und Leser in einer Zeit, in der traditionelle Lebensentwürfe erodierten. Doch ihre emanzipatorische Vision provozierte auch Widerstand. Einflussreiche Psychologen reklamierten die Midlife-Crisis als wissenschaftliches Konzept und erklärten sie zu einem männlichen Privileg. Populäre Klischees vom Familienvater, der mit Sportwagen und Affären seine verlorene Jugend auslebt, verdrängten die feministische Deutung – und mit ihr die Stimme einer Außenseiterin der akademischen Welt.
Mein Buch verfolgt die Spuren dieser Kontroverse durch die amerikanische Gesellschaft und Wissenschaft der letzten Jahrzehnte. Dabei werden gängige Vorannahmen auf den Prüfstand gestellt: etwa die Vorstellung, dass Wissen stets von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit diffundiert und nicht auch den umgekehrten Weg nehmen kann. Oder die Annahme, dass Feminismus und Mainstreammedien in den 1970er-Jahren unvereinbare Gegensätze waren. Auch weitverbreitete Vorstellungen der Midlife-Crisis werden hinterfragt. Sie erscheint hier nicht als zeitlose psychologische Konstante, sondern als umkämpftes Konstrukt, das gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen reflektiert und mitgestaltet.
Die historische Betrachtung deckt verschüttete Traditionslinien eines ermächtigenden Sprechens über Lebensphasen und Geschlecht auf. Sie macht deutlich, wie vielfältig, kreativ und öffentlich wirksam sich Frauen immer wieder in Debatten um Lebenslauf und Identität eingebracht haben. Der Einfluss ihrer Interventionen zeigt sich auch in den kritischen Reaktionen, die sie hervorriefen. Viele dieser Themen werden auch heute noch breit diskutiert – von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis zur Sinnfrage in der zweiten Lebenshälfte.
Die Geschichte der Midlife-Crisis ist so auch eine Aufforderung, altbekannte Begriffe und Erzählungen zu hinterfragen. Sie lädt dazu ein, die ausgetretenen Pfade einer Verfallsgeschichte des Feminismus zu verlassen und stattdessen die langen Linien und lebendigen Verzweigungen feministischen Denkens und Handelns auszuloten. Zugleich regt sie dazu an, allgemein akzeptierte Gewissheiten über Expertise, Erfahrung und Deutungsmacht einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Damit bietet dieses Buch nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Lebenslaufs, sondern regt auch dazu an, die Midlife-Crisis neu zu denken: nicht als fest umrissenes Konzept, sondern als Brennpunkt vielfältiger Fragen und Aushandlungsprozesse. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Gestaltbarkeit des eigenen Lebens – eine Frage, die weit über die Lebensmitte hinausweist. Wer hat die Möglichkeit, seinen Lebensentwurf zu ändern? Welche Hindernisse und Privilegien bestimmen die Freiheit, sich neu zu erfinden? Und welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Normen und Erwartungen?
Dieses Buch ist 2020 bei der University of Chicago Press unter dem Titel Midlife Crisis: The Feminist Origins of a Chauvinist Cliché auf Englisch erschienen. Den für die deutschsprachige Ausgabe von Annika Klapper und Stefanie Brägelmann übersetzten Text habe ich um zusätzliche Erläuterungen zu historischen und kulturellen Hintergründen ergänzt, um das Verständnis für die deutschsprachigen Leserinnen und Leser zu erleichtern. Interessierte Leserinnen und Leser möchte ich ermutigen, die Originalausgabe als ergänzende Referenz heranzuziehen. Die dort verwendete Terminologie und Ausdrucksweise spiegeln die Sprache der Quellen und die Nuancen des historischen Diskurses sowie der geschichtswissenschaftlichen Analyse oft präziser wider.
Mein besonderer Dank gilt Giulia Romani für ihre wertvolle Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur der Übersetzung. Doreen Fröhlich, die den Text lektoriert hat, möchte ich für die freundliche Zusammenarbeit danken. Nicht zuletzt danke ich denjenigen, die mich währenddessen begleitet haben: Elizabeth Rose, Ines Weber, Charlotte Thun-Hohenstein, Kostas Parkatzidis, Andrea Mair, Albert Müller, Ronja und Milo Mair-Müller, Betsy Franco und Dilken Çelebi. Und Felix Lüttge.
1
Einleitung
Kaum jemand hätte wohl erwartet, dass die Geschichte der Midlife-Crisis ihren Anfang mit einer schockierenden Szene inmitten eines Massakers nimmt, und noch weniger, dass eine Frau diese Geschichte erzählen würde. »Es geschah in Nordirland: Ich arbeitete für eine Zeitschrift und unterhielt mich gerade mit einem Jungen, als ein Geschoß sein Gesicht zerschmetterte. Britische Panzerwagen rasten in die Menschenmenge. Soldaten mit Sturmgewehren sprangen aus den Panzern. Sie überschütteten uns mit einem Kugelhagel. Der Junge ohne Gesicht fiel auf mich.«1 Am Blutsonntag, dem 30. Januar 1972, töteten und verwundeten britische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten, die gegen die Internierung Hunderter vermeintlicher IRA-Mitglieder protestierten. Gail Sheehy, Journalistin beim New York Magazine, war nach Derry gereist, um über die Rolle der Frauen in der IRA und die irische Autonomiebewegung zu berichten.2 Vier Jahre später wurde Sheehy einer breiten internationalen Öffentlichkeit als Autorin des Buches Passages: Predictable Crises of Adult Life (1976) bekannt, das binnen weniger als einem Jahr unter dem Titel In der Mitte des Lebens ins Deutsche übertragen wurde. Mit diesem Bestseller, so möchte ich zeigen, hielt der Begriff »Midlife-Crisis« in den Vereinigten Staaten und weltweit nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Wissenschaft Einzug. Sheehys Buch beginnt mit der Beschreibung ihres eigenen Zusammenbruchs nach dem »Bloody Sunday«. Sie führte ihren mentalen Zustand teilweise auf das Trauma in Nordirland zurück, aber auch auf die Notwendigkeit, das eigene Leben an der Schwelle zum 40. Lebensjahr neu zu bewerten und es zu verändern. Sheehy beschloss, wie sie schreibt, »über diese sogenannte Midlife-Crisis alles herauszufinden, was ich konnte«.3
Heute ist die Midlife-Crisis ein gängiges geschlechtsspezifisches Klischee, das Bilder von männlichem Vergnügen und Verantwortungslosigkeit heraufbeschwört – ein wohlhabender Mann mittleren Alters, der mit einer halb so alten Frau in einer roten Corvette davonrast. Doch die Midlife-Crisis wurde ursprünglich als feministisches Konzept bekannt. Sheehys eigene Midlife-Crisis manifestierte sich in einem Nervenzusammenbruch, der sich über sechs Monate ihres Lebens und zehn Seiten ihres Buchs erstreckte. Er war mit der Beobachtung zweier politischer Ereignisse verbunden, dem traumatisierenden Blutsonntag in Nordirland und dem katastrophalen Parteitag der Demokraten im Juli 1972, bei dem Konflikte innerhalb der Frauenbewegung die erste nationale Versammlung des National Women’s Political Caucus (NWPC), einer parteiübergreifenden Organisation zur Erhöhung des Frauenanteils in politischen Ämtern, lahmlegten.4
Sheehy kam auf ihre eigene Krise in Passages nicht wieder zurück, es ging ihr vielmehr darum, die Midlife-Crisis als ein universelles Phänomen zu etablieren. Als literarisches Mittel zielten autobiografische Bezüge darauf ab, die Autorin authentisch wirken zu lassen. Doch die von Sheehy beschriebene Gefahr wäre wohl den meisten ihrer Leserinnen und Leser fremd gewesen. Die Selbstdarstellung als Kriegsberichterstatterin und politische Kommentatorin mag ihre Glaubwürdigkeit und ihr Ansehen als Schriftstellerin gestärkt haben, die detaillierte Schilderung ihres Zusammenbruchs jedoch drohte das Gegenteil zu bewirken: »Sie werden dich für verrückt halten«, warnte Sheehys Lektorin.5
1.1. Passages von Gail Sheehy: Predictable Crises of Adult Life (1976, dt. 1977 In der Mitte des Lebens: Die Bewältigung vorhersehbarer Krisen). Sheehys Bestseller ist für das von Milton Glaser entworfene Cover bekannt: eine regenbogenfarbene Treppe. Kräftige Farben und der großformatige Schriftzug verliehen dem Buch Aufmerksamkeit und signalisierten zugleich Seriosität.
Vor allem jedoch erzeugte die Analogie zwischen dem tödlichen Konflikt in Nordirland und der Midlife-Crisis einer Jetset-Journalistin ein gewisses Unbehagen. Sie erinnerte an die Beschreibungen von Ernest Hemingway und anderen, die den Krieg als Initiationsritus der männlichen Persönlichkeitsentwicklung beschrieben – nur dass Sheehy über Frauen sprach. Und genau das war der Punkt. Indem sie die Midlife-Crisis in den Kontext des »Bloody Sunday« und des Women’s Caucus stellte, zeigte Sheehy, dass es in der Lebensmitte um die Emanzipation von Frauen und den Kampf für deren Rechte ging – sei es mit Waffen, wie bei der IRA, oder mit dem langen Marsch durch die Institutionen, der auf dem Parteitag der Demokraten der USA begann. »Das Private ist politisch.«6
Sheehy verwendete den von dem kanadischen Psychoanalytiker und Unternehmensberater Elliott Jaques in den 1950er-Jahren geprägten Begriff »Midlife-Crisis« – der bis dahin weder unter Experten noch in der breiteren Öffentlichkeit bekannt war –, um zu beschreiben, wie Frauen ihr Leben im Alter von ungefähr 35 Jahren überdachten, wenn in einer typischen Mittelschichtfamilie das jüngste Kind eingeschult wurde. Sie fragten sich: »Was gebe ich mit dieser Ehe alles auf?«, »Warum musste ich so viele Kinder bekommen?«, »Warum habe ich meine Ausbildung nicht abgeschlossen?«, »Nutzt mir mein Abschluss überhaupt noch etwas, nachdem ich so lange nicht berufstätig gewesen bin?«, »Soll ich wieder berufstätig werden?« oder »Warum hat mir nie jemand gesagt, dass ich wieder arbeiten gehen muss?«7
Männer machten laut Sheehy ebenfalls eine Midlife-Crisis durch, allerdings auf andere Art und Weise. Während Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter gegen eine berufliche Karriere eintauschten, kehrten die Männer der Arbeitswelt den Rücken zu. Viele durchlebten mit ungefähr 40 Jahren eine Phase der Unzufriedenheit. Bei manchen geriet die Karriere ins Stocken, andere verloren sogar ihren Job – es war die Zeit der Ölkrise und des Börsencrashs von 1973. Doch es konnte auch die Erfolgreichen treffen. Sheehys Paradebeispiel für eine männliche Midlife-Crisis war ein etablierter und international erfolgreicher New Yorker, eine Koryphäe auf seinem Gebiet – wahrscheinlich der Grafikdesigner Milton Glaser, bekannt durch das »I NY«-Logo. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere fühlte er sich gezwungen, innezuhalten und sein Leben zu hinterfragen, und er erkannte, dass seine Erfolge zulasten des Glücks und der Selbstverwirklichung seiner Frau gegangen waren. Während sie wieder zur Uni ging, belegte er einen Kochkurs.8
Passages, das Ideen aus Betty FriedansThe Feminine Mystique (1963, dt. 1966 Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau: Ein Emanzipationskonzept) mit David Riesmans Ansätzen in The Lonely Crowd (1950, dt. im gleichen Jahr, Die einsame Masse) vereinte, gab der Unzufriedenheit von Frauen mit dem häuslichen Ideal und der Selbstentfremdung der Männer in der Arbeitswelt einen neuen Namen.9 Das von der Kritik gefeierte und breit rezipierte Buch machte die Midlife-Crisis weithin bekannt. Zwei Jahre lang stand es auf den amerikanischen Bestsellerlisten, länger als jeder andere im selben Jahr erschienene Titel. Grob geschätzt lasen mindestens acht Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner Sheehys Buch, und weitaus mehr kannten es aus Rezensionen, Auszügen und Interviews mit der Autorin, die in Zeitungen und Fachzeitschriften abgedruckt wurden, oder aus den Bücherregalen ihrer Freundinnen und Verwandten. In Umfragen der Library of Congress in den 1980er- und 1990er-Jahren wählten Leserinnen und Leser Passages unter die zehn Bücher, die ihr Leben am meisten beeinflusst hatten – nach der Bibel und FriedansThe Feminine Mystique.10 Auch international erregte die Midlife-Crisis enormes Interesse. Sheehys in 28 Sprachen übersetztes Buch erreichte ein Publikum in ganz Nordamerika und Westeuropa, außerdem in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern und im Südpazifik. In manchen Besprechungen war von einem »Weltbestseller« die Rede.11
*
Die Geschichte der Midlife-Crisis wurde noch nie erzählt. Zwar enthalten die meisten Veröffentlichungen zum Thema eine kurze Entstehungsgeschichte. Allerdings sind diese Zusammenfassungen, die oft in einleitenden Bemerkungen oder knappen Exkursen präsentiert werden, von einem stillschweigenden Konsens geprägt. So hält eine Psychologieprofessorin fest: »Die Midlife-Crisis begann ganz unschuldig unter dem nicht ganz so reißerisch wirkenden Namen ›Midlife-Transition‹. Ein Psychologe von der Yale University namens Daniel Levinson veröffentlichte ein Buch […] mit dem Titel The Seasons of a Man’s Life. […] Der deutlich prägnantere Ausdruck ›Midlife-Crisis‹ stammt von der Journalistin Gail Sheehy, deren eigenes Buch (Passages) maßgeblich auf Levinsons Arbeit basiert.«12 Diese Art der historischen Zusammenfassung ist typisch, unabhängig davon, ob es sich um einen journalistischen oder einen wissenschaftlichen, einen zustimmenden oder einen ablehnenden Text handelt. Andere schreiben die Midlife-Crisis dem Psychiater George Vaillant, dem Therapeuten Roger Gould oder dem Psychoanalytiker Elliott Jaques zu, die ansonsten weitgehend unbekannt sind.13 (Auch der deutsche Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich wurde gelegentlich in diesem Zusammenhang genannt.) Unabhängig davon, welcher Psychologe diese Riege im Einzelnen anführt, besteht ein generelles Einverständnis darüber, dass die »Midlife-Crisis« erstens als Idee in der Psychologie entstand und zweitens mit Sheehys Passagesihre maßgebliche »Popularisierung« erfuhr.
Doch diese gängige historische Darstellung ist irreführend, und zwar in erheblichem Maße, denn sie stellt die eigentliche Chronologie auf den Kopf. In diesem Buch werde ich zeigen, dass die Idee der Midlife-Crisis dank Passages bereits bekannt war, bevor die Psychologie sie für sich beanspruchte, und dass es sich bei Sheehys Bestseller um die unabhängige und kritische Veröffentlichung einer Journalistin handelte, nicht um eine »Popularisierung« bekannter Ideen. Mit der Berufung auf Jaques erfand sie einen Vorläufer, um ihre eigenen Ideen zu untermauern. Erst im Fahrwasser von Sheehys Erfolg verfassten Levinson, Vaillant, Gould und andere wissenschaftliche und medizinische Experten eigene Bücher über die Midlife-Crisis.14
Dieses Buch kehrt Darstellungen der »Popularisierung« um, indem es aufzeigt, wie eine Idee aus der Populärkultur in die Wissenschaft gelangt ist, und verdeutlicht, wie wichtig es ist, diesen Verlauf richtig darzustellen. Entgegen der Annahme, dass Wissen in Bibliotheken, wissenschaftlichen Untersuchungen und intellektuellen Traditionen geschaffen oder entdeckt wird und dann an die Öffentlichkeit gelangt, zeigt die Geschichte der Midlife-Crisis, wie immer wieder Ideen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ausgetauscht wurden und wie über Geschlechterrollen und Lebensentwürfe gestritten wurde. Journalistinnen und Journalisten »popularisierten« und »verbreiteten« wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht nur, sondern stützten sich auch darauf, um eigene Argumente zu präsentieren, und stellten nicht selten akademische Erkenntnisse und Fachwissen infrage. Darüber hinaus beeinflusste die gängige Meinung auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Ideen aus Bestsellern oder Zeitschriftenartikeln übernahmen oder auch widerlegten und dabei oft ihre akademische Autorität nutzten, um abweichende Ansichten und Kritik zu entkräften.15
So war beispielsweise der Psychoanalytiker und Entwicklungstheoretiker Erik Erikson alles andere als erfreut, als seine ehemalige Schülerin Betty Friedan seine Theorie der »Identitätskrise« verwendete, um die Forderung nach dem Recht der Frauen auf Arbeit zu untermauern. Die Probleme von Frauen, so erklärte Friedan einer breiten Öffentlichkeit, seien nicht auf eine »Rollenkrise« – also auf Anpassungsschwierigkeiten an Ideale der Weiblichkeit – zurückzuführen, sondern deuteten auf eine kollektive »Identitätskrise« hin: eine tiefgreifende ideologische Neuorientierung, wie sie Erikson für den jungen Martin Luther und die protestantische Reformation beschrieben hatte.16 Erikson reagierte, indem er in einem umstrittenen Aufsatz über den »inneren Raum« der Frau klarstellte, dass »Biologie Schicksal ist«: Frauen würden ins Haus und an den Herd gehören.17 Auf Sheehy, deren Konzept der Midlife-Crisis Friedans Argument wenig später noch forcierte, indem es männliche ebenso wie weibliche Geschlechterrollen hinterfragte, ging Erikson nicht ein. Mit Levinson, Vaillant und Gould stellten jedoch die Anhänger des Psychoanalytikers Sheehys alternatives Modell des Lebenslaufs infrage.
Entgegen der allgemeinen Auffassung haben diese drei Experten die Midlife-Crisis weder erfunden noch entdeckt, sondern ihre Bedeutung vielmehr umgekehrt. Sie vertraten ein männerzentriertes Konzept, das die Lebensmitte als das Ende der familiären Verpflichtungen eines Mannes und als den Moment beschrieb, in dem er seine Familie verlassen und sich neu erfinden würde. Diese »Krise der Männlichkeit« stellte zwar das Bild der Kernfamilie auf den Kopf, verstärkte dabei jedoch die bestehenden Geschlechterhierarchien. Indem sie Frauen kategorisch von der Neuorientierung in der Lebensmitte ausnahmen, untersagten Vaillant, Levinson und Gould ihnen, ihr Familien- und Berufsleben neu zu denken. Die Experten instrumentalisierten das Konzept der Popularisierung, um Sheehys Kritik an psychoanalytischen Identitätsmodellen zu entkräften und ihre eigene wissenschaftliche Seriosität zu untermauern. Die antifeministische Definition der Midlife-Crisis, die als authentischer und genauer dargestellt und gelesen wurde, setzte sich durch. Und doch war dies nicht einfach nur eine Eroberungsgeschichte.
Die gängige Darstellung der Midlife-Crisis lässt nämlich nicht nur die Ursprünge, sondern auch das Ende der Geschichte außer Acht. In den 1980er-Jahren wurde die männliche Midlife-Crisis von feministischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weitgehend widerlegt, allen voran von der Psychologin und Ethikerin Carol Gilligan in ihrem Bestseller In a Different Voice (1982, dt. 1984 Die andere Stimme: Lebenskonflikte und Moral der Frau) und von den Psychologinnen Grace Baruch und Rosalind Barnett, die am Wellesley College in Massachusetts eine groß angelegte Studie darüber durchführten, wie Frauen Beruf und Familie miteinander vereinbarten.18 Diese Psychologinnen vertraten unterschiedliche feministische Visionen von Individualität: Während Gilligan sich für die Rückbesinnung auf Werte und Bereiche einsetzte, die traditionell mit Weiblichkeit assoziiert wurden – Fürsorge, zwischenmenschliche Verbundenheit und die Fähigkeit zur Empathie –, stellten Baruch und Barnett die Autonomie der Frauen, ihre Wahlmöglichkeiten und die Kontrolle über ihr Leben in den Vordergrund. In einem Punkt waren sie sich jedoch einig: Sie betrachteten die Midlife-Crisis als pathologische Reaktion.
Da sie im Leben von Frauen keine »zweite Adoleszenz« fanden, stellten Gilligan, Baruch und Barnett die Midlife-Crisis als universelles Entwicklungsstadium infrage und definierten ihre Bedeutung für beide Geschlechter neu. Eine Midlife-Crisis entstehe durch das Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen; sie sei ein Zeichen von Rückschritt und Rigidität, nicht des Wachstums. Levinson, Vaillant und Gould hätten lediglich die Weigerung einiger Männer dokumentiert, sich zu ändern.
Die feministische Kritik fand in den 1980er-Jahren weite Verbreitung; GilligansIn a Different Voice war zehn Jahre lang das meistzitierte Buch auf dem Gebiet der feministischen Theorie.19 Anfang der 2000er-Jahre belegte eine maßgebliche Studie zum mittleren Lebensalter in den USA, »Midlife in the United States« (kurz MIDUS), die Kritik mit statistischen Daten und zeigte, dass persönliche und emotionale Turbulenzen in der Lebensmitte bei weniger als zehn Prozent der amerikanischen Bevölkerung auftraten. Dies bestätigte die Auffassung vieler Amerikanerinnen und Amerikaner, für die die Midlife-Crisis zu einer fadenscheinigen Ausrede und einem chauvinistischen Klischee geworden war.20
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Heute ist die Frage, was die Midlife-Crisis ist und wie man mit ihr umgeht oder ob es sie überhaupt gibt, Gegenstand zahlreicher Publikationen nicht nur aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und Selbsthilfeliteratur, sondern auch in den Medien, der Soziologie und der Politik. Es gibt »keine bessere Entschuldigung für menschliches Fehlverhalten als die Midlife-Crisis«, schreibt der Psychiater und Kolumnist Richard Friedman in der New York Times. (Der Rest seines Textes macht deutlich, dass mit »menschlichem« Fehlverhalten »männliches« gemeint ist.) »Aber man muss zugeben, dass ›Ich habe eine Midlife-Crisis‹ viel besser klingt als ›Ich bin ein narzisstischer Idiot‹.«21
Andere bestehen weiterhin darauf, dass die Midlife-Crisis wirklich existiert. In der Ökonomie aber auch in der Primatologie wird eine sogenannte »U-Kurve« der Lebenszufriedenheit beschrieben, die sich bei Männern und Frauen (und Schimpansen) überall auf der Welt und unabhängig von sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden beobachten lasse: Ausgehend von einem hohen Niveau in den ersten Lebensjahren erreiche das Wohlbefinden in den Vierzigern einen Tiefpunkt, um dann wieder anzusteigen.22 Das Konzept der Lebensmitte bildet einen Kristallisationspunkt für grundlegende Fragen nach dem Sinn des Lebens. Für den Philosophen Kieran Setiya vom Massachusetts Institute for Technology (MIT) kommen in den mittleren Jahren die zeitlichen Faktoren des menschlichen Lebens zum Ausdruck: die zunehmende Verringerung der Möglichkeiten und das Bedauern über verpasste Chancen, die Vollendung oder das Scheitern von Plänen und ein Gefühl der Sinnlosigkeit oder Beschränkung. Setiya führt die Midlife-Crisis auf eine übermäßige Konzentration auf »telische Aktivitäten« zurück (von Griechisch τέλος, Ziel, Ende), das heißt auf Aktivitäten, die auf einen Endpunkt ausgerichtet sind, nach dem sie abgeschlossen und erledigt sein werden. Unter Berufung auf Aristoteles und Schopenhauer rät der Philosoph: »Sie können die Midlife-Crisis überwinden oder ihr vorbeugen, indem Sie mehr in atelische Ziele investieren. Zu den Tätigkeiten, die Ihnen am wichtigsten sind, die Ihrem Leben einen Sinn geben, müssen Tätigkeiten gehören, die keinen Endpunkt haben.« Der Kauf eines Sportwagens ist also philosophisch gesehen sinnvoll: »Man kauft sich keinen Porsche, um schneller am Ziel zu sein. Es geht ums Fahren, und Fahren ist atelisch.«23
1.2. Die »U-Kurve des Glücks« stellt einen Zusammenhang zwischen Alter und subjektivem Wohlbefinden her, wobei der Tiefpunkt der Lebenszufriedenheit weltweit in den Vierzigern liegt. Grafik von Alrun Schmidtke, basierend auf Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftlerinnen Carol Graham und Milena Nikolova.
Bei allem Anspruch auf Allgemeingültigkeit drehen sich die meisten aktuellen Midlife-Crisis-Geschichten um Männer. Schaut man sich die zentralen Studien zum mittleren Lebensalter an, so stellt die Psychologin Mary Gergen fest, dann »könnte [man] meinen, dass nur Männer das dritte Lebensjahrzehnt überleben«.24 In den 1970er-Jahren feierte der Philosoph Bernard Williams das »moralische Glück« des zum Bankier gewordenen Malers Paul Gauguin (dessen künstlerische Leistung den »unbedachten« Schritt entschuldige, Frau und Kinder zu verlassen), nannte Anna Karenina jedoch eine »Versagerin« und nahm die Entscheidung einer Frau, ihr Leben zu ändern, von seiner Rechtfertigung der sozialen Grenzüberschreitung aus.25 Gut 40 Jahre später konzentriert sich Setiyas autobiografische Erkundung der Lebensmitte auf die männliche Suche nach Selbsterkenntnis, angefangen beim Autor selbst und den großen Männern der Philosophie bis hin zu fiktiven Fällen wie Leo Tolstois Graf Wronskij – Anna Kareninas Geliebtem – und dem griechischen Schriftsteller Paniotis, einer Figur in Rachel Cusks Roman Outline (2014, dt. 2016 Outline: Eine weibliche Odyssee im 21. Jahrhundert).26 Bei der Auswahl seiner Beispiele scheint dem Philosophen nicht bewusst gewesen zu sein, dass sowohl Tolstois als auch Cusks Geschichten von Frauen handeln und die Männer nur Nebenfiguren sind.
In meinem Buch möchte ich darauf hinweisen, dass das Gefühl der Eingeschränktheit im eigenen Leben, das Bedauern über verpasste Möglichkeiten und die Überlegung »Ist das alles?« in hohem Maße mit den Erfahrungen von Frauen und feministischen Zielen verbunden sind. Ich betrachte die Midlife-Crisis nicht als eine Frage des Alters oder als biologische Tatsache. Anstatt zu fragen, wie man mit ihr umgeht oder ob es so etwas überhaupt gibt, untersuche ich das Interesse an der Midlife-Crisis und die Verwendung des Konzepts und analysiere die sozialen und politischen Quellen, Funktionen und Auswirkungen von Konflikten über das Wesen und die Legitimität einer Krise in der Lebensmitte. Ich zeige, dass die historischen Wurzeln des Konzepts der Midlife-Crisis in Debatten über Identität, Arbeit und Geschlecht zu finden sind und in den Formen, die diese sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen westlichen Gesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts annahmen. Die Vorstellung, sein Leben auf halbem Wege ändern zu müssen, wurde zu einer Zeit populär, in der wirtschaftliche Stagnation und sich wandelnde gesellschaftliche Normen das Modell der Kernfamilie – mit einem männlichen Ernährer und einer Ehefrau in der Rolle als Hausfrau und Mutter – destabilisierten. Mit der zunehmenden Verbreitung von Hauptverdienerinnen und Doppelverdienerfamilien veränderten sich die Biografien von Frauen und Männern.27 Während frühere, sich kontinuierlich entwickelnde biografische Modelle – insbesondere Eriksons Theorie der »Acht Phasen des Menschen« von 1950 – als unzureichend befunden wurden, verliehen Definitionen der Midlife-Crisis, von Sheehy und auch von anderen, den Veränderungen in Arbeitswelt, Familienwerten und Lebensmustern einen tieferen Sinn. Aus historischer Perspektive betrachtet wird die Midlife-Crisis damit von einer anthropologischen Konstante, Ausrede oder Illusion zu einem historisch, kulturell und sozial geprägten Konstrukt für die Aushandlung sich verändernder Geschlechterbeziehungen und Lebensmuster.
*
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Zusammenspiels vom »Wandel des Lebens« und sozialem Wandel. Historikerinnen, historische Anthropologen und Literaturwissenschaftlerinnen haben auf die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Funktionen von Entwicklungskonzepten und Lebensläufen und deren wichtige Rolle bei der Gestaltung und Veränderung sozialer Strukturen hingewiesen. Der Mediävist Philippe Ariès hat in seiner einschlägigen Studie über das Entstehen der Kindheit gezeigt, dass die moderne europäische Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen eng mit der Herausbildung der bürgerlichen Familie als privater Institution und der zunehmenden Bedeutung von Bildung verbunden war.28 Die Sozial- und Rechtsgeschichte und die Altersforschung haben bildliche Darstellungen der »Stufen des Lebens« untersucht, die sich im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika als zentrale Motivik des Lebenslaufs verbreiteten und die auch dazu dienten, Beziehungen zwischen den Generationen und Konflikte um Erbschaften zu regeln.29 In den Vereinigten Staaten veranschaulichen die Nachkriegsdebatten über die »Kluft zwischen den Generationen« und den »Babyboom«, wie Theorien über Jugend, Adoleszenz und Generationsunterschiede verwendet wurden, um den gesellschaftlichen Wandel zu verstehen und vermeintliche Unruhen zu kontrollieren.30 Bislang haben sich jedoch nur wenige Arbeiten mit den gesellschaftlichen Funktionen der modernen Vorstellung vom mittleren Lebensalter befasst. Der produktiven und reproduktiven Phase des modernen Lebens wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt als Kindheit, Jugend und Alter.
Als der Zenit und Höhepunkt der Entwicklung definiert das mittlere Alter das Verständnis früherer und späterer Lebensphasen. Gilligan stellte die Annahme auf den Kopf, dass ein Entwicklungsmodell »wie eine Pyramide von seiner Basis in der Kindheit aus« aufgebaut sei. Es sei vielmehr am »Scheitelpunkt der Reife aufgehängt, dem Punkt, auf den hin die Entwicklung ausgerichtet ist«.31 Was mit Lebensmitte gemeint ist und war – selbst in Bezug auf das Alter –, hängt von Geschlecht und gesellschaftlichem Hintergrund ab. Susan Sontag hat in ihrer zum Klassiker gewordenen Analyse der »Doppelmoral des Alterns« darauf hingewiesen, dass das mittlere Alter an das Geschlecht gebunden ist: »Das Älterwerden ist vor allem eine Prüfung der Einbildungskraft – eine moralische Krankheit, eine soziale Pathologie –, zu deren Wesen es gehört, dass sie Frauen viel stärker heimsucht als Männer.«32
1.3. Die verschiedenen Lebensalter und -phasen des Menschen. Die »Stufen des Lebens«, die das mittlere Alter als Höhepunkt des Lebens darstellten, waren das verbreitetste Bild des Alterns und des Lebenslaufs im Europa und Nordamerika des 19. Jahrhunderts. Radierung, 1811. British Museum, London.
Man hat das mittlere Lebensalter der Frau als das Ende ihres reproduktiven Lebens beschrieben, eine Übergangsphase, die nicht an ein bestimmtes Alter im Erwachsenenleben gebunden ist und sich von der Entwöhnung und dem Aufwachsen der Kinder und ihrem Auszug aus dem Elternhaus bis zum Übergang in die Wechseljahre erstreckt. In diesem Sinne sprach etwa der französische Schriftsteller Honoré de Balzac von der »Frau in einem gewissen Alter«, die 30 Jahre alt und unverheiratet war.33 Immer geht es um die Frage der weiblichen Identität jenseits der Fortpflanzung. Die Lebensmitte wurde dabei oft als Bedrohung für das Wohlbefinden einer Frau dargestellt, als »Leiden« oder »Krankheit« – doch es gab auch eine andere Sichtweise. Wie Sontag lehnten viele Frauen die Doppelmoral des Alterns ab und sahen die Grenzen der Reproduktionsfähigkeit als Beweis dafür, dass Biologie nicht Schicksal sei. Das Ende der Mutterschaft und der damit verbundenen Probleme bilde vielmehr den Auftakt für die Entfaltung im öffentlichen und beruflichen Leben.
Im Rahmen ihrer historischen, soziologischen und ethnologischen Untersuchungen zur Menopause, dem Thema, mit dem sich die meisten bisherigen Forschungen zur Lebensmitte befasst haben, haben Carroll Smith-Rosenberg, Susan Bell, Margaret Lock und andere gezeigt, auf welche Art und Weise medizinische, psychiatrische und psychoanalytische Definitionen des mittleren Lebensalters Frauen diskriminierten und ihre Rechte und Möglichkeiten einschränkten.34 Diese Studien haben zu einem umfangreichen und wichtigen Korpus an wissenschaftlichen Arbeiten beigetragen, die die Darstellung von Geschlechterunterschieden in Wissenschaft, Technologie und Medizin beleuchten und problematisieren.35 In jüngerer Zeit haben Wissenschaftlerinnen auf den beschränkten Einfluss von Expertinnen und Experten hingewiesen und die Beteiligung und den Einsatz von Frauen in Bezug auf den Erhalt und die Durchsetzung traditioneller Geschlechterideologien hervorgehoben. In ihren Untersuchungen zur Geschichte der Wechseljahre und der damit verbundenen Therapien heben die Historikerinnen Judith Houck und Elizabeth Watkins die feinen Unterschiede und Spannungen innerhalb medizinischer Kreise hervor, unterscheiden zwischen Ratgebertexten und der tatsächlichen ärztlichen Vorgehensweise und beleuchten die Hoffnungen und Erwartungen, die Patientinnen an Fachwissen knüpften.36
Obwohl ich das Interesse dieser und anderer Untersuchungen daran teile, die Handlungsspielräume von Frauen aufzudecken und die Gleichstellung von Wissenschaft und sozialer Kontrolle zu durchbrechen, geht es mir nicht darum, die Analyse der geschlechtsspezifischen Doppelmoral zu widerlegen. Stattdessen möchte ich die zentrale Bedeutung feministischer Kritiken und Errungenschaften als wichtigen Teil der Geschichte von Identität und Lebensplanung hervorheben. Es ist kein Zufall, dass ein klassischer Text über die Lebensmitte – Sontags »Doppelmoral des Alterns« – eine Gesellschaftskritik ist. Deshalb soll meine leitende Frage lauten: Auf welche Weise haben Frauen (und einige Männer) das mittlere Lebensalter für feministische Zwecke genutzt?
Die Human- und Sozialwissenschaften wurden lange Zeit mit den Themen Anpassung und soziale Kontrolle in Verbindung gebracht. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben historische Studien den Einfluss politischer und militärischer Institutionen und unternehmerischer Agenden nachgezeichnet; Überlegungen zu Persönlichkeit, Subjektivität und zwischenmenschlichen Beziehungen wurden als Mittel zur Steuerung des Individuums verstanden.37 Neuere Untersuchungen lenken jedoch die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der politischen Register und heben die Tatsache hervor, dass die Wissenschaften keine einfache Beziehung zur Wirtschaft oder zum Staat hatten. So trugen die Human- und Sozialwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu bei, liberale, pluralistische Aufgeschlossenheit zur Tugend zu erheben und Konsum mit einem politischen Diskurs über Rechte zu verbinden. Das Beispiel des politischen Engagements der Ethnologin Margaret Mead im Kalten Krieg zeigt, dass das Problem oft nicht darin bestand, dass die Sozialwissenschaften zu einflussreich waren, sondern dass sie nicht einflussreich genug waren. In den 1960er- und 1970er-Jahren stellten akademische Kreise und wissenschaftliche Konzepte den Status quo vielfach infrage, statt ihn zu stärken.38 Selbst Michel Foucault, dessen Arbeiten Grundlage für einige der früheren Studien waren, betrachtete die »Sorge um sich« als Ausgangspunkt für die Aufdeckung und Kritik der Disziplinarmacht.39
Die Geschichte der Midlife-Crisis macht deutlich, auf welche Weise wissenschaftliche Ansätze und Vorstellungen von Identität und Selbst in der Forschung und darüber hinaus genutzt wurden, um die Rechte und Rollen von Frauen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts neu zu definieren.-1 Historikerinnen haben gezeigt, dass der Feminismus sich über die »Wellen« der Frauenbewegung und intellektuelle Traditionen hinaus ausdehnte und jenseits dieser fortbestand: Die Rechte von Frauen wurden auf vielfältige Weise und in verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten eingefordert und verteidigt.-1 Mit der Untersuchung feministischer Agenden in Bestsellern und Lifestyle-Magazinen möchte ich das dichotome Verständnis von Feminismus und Massenmedien in den 1970er-Jahren aufbrechen. Ich hinterfrage die Vorstellung vom Ende des Feminismus in den 1980er-Jahren, die als Periode des antifeministischen »Backlash«* gelten, indem ich zeige, dass feministische Ideen weiterhin kursierten.-1 Schließlich zeichne ich unterschiedliche und voneinander abweichende feministische Perspektiven auf den Lebenslauf und die Midlife-Crisis nach und zeige damit, dass Feministinnen nicht immer mit einer Stimme sprachen.
Die Aufmerksamkeit für »feministische Stimmen« (Alexandra Rutherford) verändert unser Verständnis von Alter und Altern: Dies eröffnete neue Möglichkeiten, stand für einen Neuanfang und nicht nur für ein Ende. Die Vorstellung von der Lebensmitte als dem Zeitpunkt, an dem eine Frau in das öffentliche Leben tritt, ist von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Midlife-Crisis. Die Arbeit der Schwedin Alva Myrdal und der Britin Viola Klein, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben, bildet ein gutes Beispiel für diese Idee. In ihrem Buch Women’s Two Roles (1956, dt. 1960 Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf) definierten sie das mittlere Alter als den Zeitpunkt, an dem eine Frau wieder in die Arbeitswelt eintrete. Myrdals und Kleins Appell an westliche Regierungen, gebildeten Frauen und Müttern ab 40 die Rückkehr ins Berufsleben zu erleichtern, beeinflusste staatliche, akademische und aktivistische Agenden in den Vereinigten Staaten und Europa.-1 20 Jahre später übernahm Sheehy dieses feministische Lebenslaufmodell für die Midlife-Crisis.
Feministische Ansätze und positive Konzepte der Lebensmitte waren integraler Bestandteil der öffentlichen Debatten über Identität und Lebensgestaltung. Indem sie sich das Konzept der Lebensmitte aneigneten und das Leben von Frauen jenseits der Fortpflanzung betrachteten, revidierten Sozialreformerinnen und Wissenschaftlerinnen, politische Entscheidungsträgerinnen und medizinische Expertinnen die Auffassung von der Rolle der Frau über die gesamte Lebensspanne hinweg. Mitunter richteten sich idealisierende Beschreibungen der weiblichen Lebensmitte explizit gegen die Doppelmoral des Alterns, wenn etwa die bekannte Schriftstellerin Anna Garlin Spencer und die Ärztin und Aktivistin Clelia Duel Mosher über antiquierte, »ritterliche« Theorien des Älterwerdens spotteten, die nichts über die Vorteile der Lebensmitte für Frauen zu sagen hatten.-1 Die rosigen Ausführungen über die Befreiung in der Lebensmitte waren jedoch mehr als nur eine defensive Kritik; sie bildeten ein vielfältiges und stabiles Denksystem, das während des gesamten 20. Jahrhunderts Reaktionen und Gegenreaktionen auslöste, die von seiner Geltung und seinem Einfluss zeugten.
Die Debatte über Alter, Geschlecht und Karriere dauert bis heute an, und das sollte sie auch. »Die typische Midlife-Crisis des Mannes kommt meist aus heiterem Himmel und überrascht Männer, aber für Frauen ist sie die ganze Zeit über präsent«, bemerkt die Journalistin Hanna Rosin.-1 Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und (Familien-)Leben gerät bei berufstätigen Müttern und Familien mit zwei Einkommen sowie angesichts neuerer Reproduktionstechnologien und ihrer ambivalenten Auswirkungen auf den Lebensverlauf von Frauen und Männern täglich aufs Neue ins Wanken. Öffentliche Debatten über den »Willen zum Erfolg« (Sheryl Sandberg), gläserne Decken und klebrige Böden, die Vor- und Nachteile des Einfrierens von Eizellen und die »Midlife-Crisis mit 30« bei berufstätigen Frauen zeugen von den Hoffnungen und Ängsten, die mit der Neudefinition von Produktion und Reproduktion einhergehen.-1 In diesem Buch zeichne ich die Anfänge dieses Wandels nach, indem ich die Biografie eines Bestsellers und die Geschichte einer Idee erzähle. Ich erinnere an eine in Vergessenheit geratene Journalistin und öffentliche Intellektuelle und schildere die Entwicklung der Geschichte von Geschlecht und Wissenschaft seit den 1970er-Jahren.
*
Die folgenden Kapitel sind chronologisch geordnet und folgen der Kontroverse über die Midlife-Crisis und deren Weg von der Populärkultur in die Wissenschaft. Kapitel 2 widmet sich der Entstehung und Konsolidierung der modernen Doppelmoral des mittleren Alters in Medizin und Sozialwissenschaft, Wirtschaft, Politik und Journalismus vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre. Anhand von medizinischen Abhandlungen, Ratgebern für Frauen und politischen Debatten – darunter auch Myrdals und KleinsWomen’s Two Roles – analysiere ich die mit dem Altern verbundenen Normen von Geschlecht, sozialer Klasse und race** und erörtere positive, enthusiastische Definitionen der Lebensmitte als Moment der Befreiung der Frau von den Pflichten der Häuslichkeit und als Beginn einer Phase des beruflichen Erfolgs sowie eines höheren öffentlichen Ansehens.
Die folgenden beiden Kapitel befassen sich mit der feministischen Definition der Midlife-Crisis und ihrer weiten Verbreitung. In Kapitel 3 wird Gail Sheehys Konzept vom Ende traditioneller Geschlechterrollen in der Lebensmitte vorgestellt, das für Frauen und Männer galt und die Doppelmoral des Alterns infrage stellte. Als Teil einer breiteren feministischen Kritik und Neudefinition der Psychologie – darunter Friedans Aneignung von Eriksons Entwicklungstheorie – widerlegte Passages das einflussreiche Stufenmodell des Psychoanalytikers. Sheehys Buch war ein großer Erfolg. Anhand von Rezensionen und Exzerpten in Zeitungen, Magazinen und Fachzeitschriften zeigt das vierte Kapitel, dass die Idee der Midlife-Crisis die Lücke füllte, die lineare, progressive Lebenslaufkonzepte der Nachkriegszeit hinterlassen hatten, die den gesellschaftlichen Veränderungen der 1970er-Jahre nur begrenzt Rechnung tragen konnten. Vor allem – aber nicht ausschließlich – von Frauen gelesen, bot Passages Leserinnen und Lesern verschiedener Generationen Ratschläge für die Planung oder Veränderung ihres Lebens. Für viele Expertinnen und Experten war das Buch Ausgangspunkt für neue Studien.
Die Kapitel 5 und 6 untersuchen die psychologische Neudefinition der Midlife-Crisis und die feministische Replik darauf. Sheehys Gegner – der Erikson’sche Psychologe Daniel Levinson und die Psychiater George Vaillant und Roger Gould – vertraten eine männerzentrierte Definition des mittleren Alters, die den Wandel des Mannes vom Ernährer zum Playboy normalisierte und Frauen untersagte, ihr Leben zu ändern. Die Experten nutzten Sheehys Position außerhalb der akademischen Welt aus, um Passages zu diskreditieren, und präsentierten ihre Gegenrede als eine genauere, wissenschaftlichere Darstellung der Lebensmitte. Trotz ihres Erfolges wurde diese Krise der Männlichkeit nicht allgemein anerkannt.
Das sechste und letzte Kapitel erzählt davon, wie die Psychologinnen Carol Gilligan, Grace Baruch und Rosalind Barnett und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Konzept einer männlichen Midlife-Crisis in den 1980er-Jahren widersprachen. Ihre Kritik, die sich in den folgenden Jahrzehnten verbreitete, verwandelte die Midlife-Crisis in ein chauvinistisches Klischee und bezeugt damit den anhaltenden Einfluss feministischer Perspektiven auf die Lebensmitte.
* »Backlash« bezeichnet die Gegenreaktion auf die Errungenschaften und Fortschritte der Frauenbewegung und des Feminismus, oft verbunden mit dem Einsatz dafür, diese rückgängig zu machen oder einzuschränken. Im weiteren Sinne beschreibt der Begriff eine heftige Gegenreaktion oder den starken Widerstand gegen soziale, politische oder kulturelle Veränderungen und Entwicklungen, die als bedrohlich für den Status quo oder etablierte Interessen wahrgenommen werden.
** Der englischsprachige Begriff race wird hier und im Folgenden als Kategorie für soziale, ökonomische und politische Verhältnisse verwendet. Er unterscheidet sich vom deutschen Begriff »Rasse«, der sich auf vermeintliche biologische Unterschiede bezieht.
2
Doppelmoral
Obwohl die Midlife-Crisis erst in den 1970er-Jahren an Bedeutung gewann, war das Konzept nicht völlig neu. Es beruhte auf älteren Auffassungen vom mittleren Lebensalter als kritischer Phase im Lebenslauf, deren Bekanntheit wahrscheinlich dazu beitrug, dass die Midlife-Crisis auf breite Resonanz stieß. Susan Sontags kanonischer Analyse zufolge verunglimpft die moderne Auffassung vom Altern – ein Prozess, den sie im mittleren und nicht im hohen Alter verortete – »Frauen mit besonderer Härte. Die Gesellschaft geht mit dem Altern von Männern viel nachsichtiger um, ebenso wie sie die sexuelle Untreue von Ehemännern eher toleriert. Männern ist es ›gestattet‹, so zu altern, wie sie wollen, was für Frauen als inakzeptabel gilt.«1 Es scheint, als hätte Sontags Analyse des Alterns – anders als ihre einflussreiche Arbeit über Krankheit als Metapher – bisher keiner Kritik bedurft; ihre Einschätzung hat sich zu einem Gemeinplatz verfestigt, der den Fortbestand der Doppelmoral belegt. Umfangreiche historische Untersuchungen dokumentieren die Nachteile, die das Altern für Frauen mit sich gebracht hat, und zeigen, wie die Doppelmoral des mittleren Alters Frauen diskriminiert.2
Doch der Zusammenhang zwischen Alter und Geschlecht ist komplizierter. Die Doppelmoral des Alterns war in erster Linie ein Phänomen der weißen Mittelschicht, das für Schwarze* Menschen oder Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in gleicher Weise galt. Hinzu kam, dass weiße Frauen aus der Mittelschicht sich der Idee des Wandels in der Lebensmitte bedienten, um Geschlechterhierarchien zu untergraben. Die Doppelmoral stand im Widerspruch zu positiven und feministischen Definitionen des mittleren Alters.
Hauptgrund für die Vernachlässigung positiver Konzepte in der historischen Forschung zum Thema Geschlecht und mittleres Alter ist die Fokussierung auf die Menopause und damit auf die Beiträge von medizinischen und psychiatrischen Expertinnen und Experten. Reproduktive und klinische Studien konzentrieren sich auf den weiblichen Körper und auf Mutterschaft und stellen die pathologischen, vermeintlich krankhaften Aspekte der mittleren Lebensjahre in den Vordergrund.3 Im Gegensatz dazu befassen sich soziologische Untersuchungen, wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche Analysen oder journalistische und politische Veröffentlichungen eher mit gesellschaftlichen und beruflichen Aspekten und beschreiben die Lebensmitte als eine Zeit des Erfolgs, des Fortschritts und des Neuanfangs für Frauen. In diesen Quellen wird das mittlere Alter als willkommene »Befreiung« von Mutterschaft und Hausarbeit dargestellt, das eine Phase beruflicher Leistung und des wachsenden öffentlichen Einflusses einleitet. Diese positiven Vorstellungen vom Altern untergraben die traditionellen Geschlechterrollen und stellen männliche Privilegien infrage. Sie zeigen, dass das Konzept der Lebensmitte mehrdeutig und ambivalent ist, und legen nahe, dass widersprüchliche Deutungen des mittleren Alters miteinander kollidierten, die die Geschlechterhierarchien teils stabilisierten, teils unterwanderten. Die Doppelmoral des Alterns war einflussreich, doch sie war weder das einzige noch ein allgemeingültiges Konzept der Lebensmitte.
1 Kritische Jahre
Theorien über das Klimakterium virile oder die »männliche Menopause« werden gemeinhin auf das 20. Jahrhundert datiert, sind aber wesentlich älter. Lange Zeit drehte sich die Diskussion über das mittlere Lebensalter vor allem um das Leben der Männer. Das Konzept der »klimakterischen« oder »kritischen« Jahre findet sich bei den römischen Grammatikern Censorinus und Aulus Gellius und anderen antiken Autoren, die sie auf noch frühere, ägyptische oder chaldäische Wurzeln zurückführten. Diesem Konzept zufolge verlief das menschliche Leben in Schritten von sieben (oder manchmal neun) Jahren; jedes siebte (oder neunte) Jahr war ein annus climactericus. Diese Jahre des Wechsels hatten plötzliche Veränderungen der körperlichen Verfassung zur Folge. Es waren Zeiten des Wandels und der Entscheidungsfindung, vergleichbar mit einer »Krise« im hippokratischen Sinne, den kritischen Tagen oder Stunden, in denen das Fieber ausbricht und sich eine Krankheit zum Guten oder zum Schlechten wendet. (Man ging davon aus, dass eine solche Krise je nach Art der Krankheit zu bestimmten Stunden, an bestimmten Tagen oder während bestimmter Wochen auftrat.)4
Bei Kindern und Jugendlichen galten die klimakterischen Jahre als Zwischenschritte im Entwicklungsprozess: Im siebten Jahr bekamen Kinder bleibende Zähne, im vierzehnten Jahr begann die Pubertät. Doch jeder Wechsel war auch mit Gefahren verbunden und bei älteren Menschen barg die tiefgreifende Veränderung ihres Körpers in den Wechseljahren mitunter ein tödliches Risiko. In zahlreichen Schriften wurde berichtet, dass Menschen häufig in einem klimakterischen Jahr starben. Das tödlichste von allen war das 63. Lebensjahr, das annus climactericus maximus, auch als androklas (männerzerbrechend) bezeichnet, gefolgt vom 49., dem etwas weniger gefährlichen »kleinen klimakterischen Jahr«.5
Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die klimakterischen Jahre von zahlreichen Autoren beschrieben und ausführlich kommentiert. Humanisten wie Giovanni Battista Codronchi und Heinrich Rantzau untermauerten die Theorie der Wechseljahre, indem sie lange Listen von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten erstellten, die in einem Septimenjahr verstorben waren. In Laudationen, Geburtstags- und Grabreden wurde häufig das »klimakterische Jahr« erwähnt, in das der Adressat – meist ein Herrscher – eintreten sollte, das er gerade überlebt hatte oder dem er erlegen war. Zwar traten die Wechseljahre im Leben von Männern und Frauen auf, doch wurde der Begriff häufiger auf Männer bezogen. Die Reden, wie auch die Totenlisten von Battista Codronchi und Rantzau, betrafen fast ausschließlich Männer.6 (Die aufgeführten Frauen waren entweder Adlige oder Heilige.) Das lag daran, dass Männer als das Maß alles Menschlichen galten, aber auch, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung präsenter waren: Die »kritischen« Jahre waren sowohl biografische als auch medizinische Fixpunkte.
Noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein, als das Klimakterium enger gefasst und dem mittleren Lebensalter zugeordnet wurde, standen Männer im Mittelpunkt medizinischer Untersuchungen. Die »Klimakteriumskrankheit«, die mit geschwollenen Beinen und einem aufgeblähten Bauch, erhöhtem Puls sowie einer zunehmenden Zahl von Beschwerden, Depressionen und Todesfällen einherging, betraf vor allem Männer. In einem viel beachteten Aufsatz mit dem Titel »On the Climacteric Disease« (1813) erklärte der renommierte britische Mediziner Sir Henry Halford, Mitglied und später Präsident des Royal College of Physicians sowie Leibarzt von König Georg III.: »Obwohl diese klimakterische Krankheit bei Frauen manchmal ähnlich auffällig ist wie bei Männern, habe ich sie bei ihnen weder so häufig noch so stark ausgeprägt gesehen.« Halfords Abhandlung wurde vielfach nachgedruckt, übersetzt und in medizinische Standardwörterbücher aufgenommen und war ein Schlüsseltext über das Klimakterium, der noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zitiert wurde.7
Die Vorstellung eines »weiblichen« Klimakteriums war zumindest in der englischsprachigen Welt umstritten. Der US-amerikanische Mediziner und Frauenarzt William Dewees wies in seiner 1826 erstmals erschienenen und in den folgenden 30 Jahren mehrfach neu aufgelegten Abhandlung über die »Krankheiten des Weibes«, »A Treatise on the Diseases of Females«, die Diagnose eines weiblichen Klimakteriums als »groben Irrtum« zurück. Laut Dewees »scheint dieser Lebensabschnitt der Frau seltener von tödlichen Krankheiten betroffen zu sein als jeder andere« – und er war der Mehrheit der Ärzte, selbst den Gynäkologen, völlig gleichgültig.8 Ein Großteil gynäkologischer Schriften ging nicht auf das Klimakterium der Frau ein, anderen war es lediglich ein oder zwei Absätze wert, in denen meist zu lesen war, dass diejenigen, die eine früh einsetzende Menstruation erlebten, mit einem späten Eintritt in die Wechseljahre rechnen mussten. In den wichtigsten Lehrbüchern wurde der Menopause selten mehr als ein Absatz gewidmet. Der Index Medicus, eines der führenden Register der medizinischen Literatur, führte die Menopause erst 1921 als ein eigenes Schlagwort ein und verwies auch dann nur auf »Menstruation, Ende«.9
Der überwiegende Teil medizinischer und moralischer Schriften bezog sich auf jüngere Frauen, insbesondere auf sinkende Geburtenraten in bürgerlichen Kreisen, und die Ärzteschaft beschäftigte sich vorwiegend mit der Menstruation und ihren Störungen. Menstruation galt als schwächende Körperfunktion, die – wie Schwangerschaft und Mutterschaft – immer wieder als Argument gegen die zunehmende Präsenz von Frauen an den Hochschulen und im Berufsleben angeführt wurde.10 Das hieß aber noch lange nicht, dass das endgültige Ausbleiben der Menstruation positiv bewertet wurde. Wenn sie die Menopause überhaupt thematisierten, sträubten sich die meisten Mediziner dagegen, diese als Erlösung oder Befreiung zu interpretieren, was ja impliziert hätte, dass Frauen wieder ein aktives Leben hätten führen können. Mitunter wurde die Menopause im Zusammenhang mit Menstruationsbeschwerden thematisiert. Als der britische Kinder- und Frauenarzt Charles West 1858 in seinen Lectures on the Diseases of Women (dt. 1870, Lehrbuch der Frauenkrankheiten), von der »Menstruation und ihren Störungen« sprach, bezeichnete er die Menopause als das »endgültige« Ausbleiben der Menstruation und erwähnte sie (wenn auch nur kurz) neben der »vorzeitigen« oder zeitweisen »Suppression der Menses« (»Amenorrhoe«) und Menstruationskrämpfen (»Dysmenorrhoe«).11
Wie Menstruationsstörungen, so galt auch die Menopause als ein Zeichen für Unfruchtbarkeit – doch genau das Gleiche traf auf die regelmäßige und nicht durch Schwangerschaften unterbrochene Menstruation zu. Als im späten 19. Jahrhundert ältere Vorstellungen von der abführenden und reinigenden Wirkung der Menstruation revidiert wurden und der Menstruationsfluss mit der zyklischen Produktion der Eizelle und damit unmittelbar mit der Empfängnis in Verbindung gebracht wurde, stellten viele Ärzte die Menstruation als bedauerliches Versagen der körperlichen Prozesse dar, die für die Entstehung eines Fötus erforderlich seien. Die Diskurse über Menstruation und Menopause glichen einander: »Was für die Menstruation jeden Monat gilt, trifft für die Menopause einmal im Leben zu.«12 Noch Mitte der 1960er-Jahre formulierte der Psychoanalytiker Erik Erikson: »Jede Menstruation […] ist ein Wehklagen zum Himmel in der Trauer um ein Kind und wird in der Menopause zur bleibenden Narbe.«13 (Die feministische Publizistin und Aktivistin Kate Millett spottete, es handle sich um einen »demografischen Albtraum«, schließlich menstruiere eine Frau ungefähr 450 Mal im Leben.)14
Dass die Medizin die »kritischen Jahre« der Frauen weitgehend ausklammerte, zeigt einerseits, dass Ärztinnen und Ärzte die Menopause nicht als eigenständiges medizinisches Problem betrachteten, aber es verweist andererseits auch auf Unkenntnis in Bezug auf die Gesundheit von Frauen jenseits der fortpflanzungsfähigen Jahre. Ärztinnen, die in den Vereinigten Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts approbiert wurden, beklagten diese Vernachlässigung und forderten mehr Aufmerksamkeit für die Probleme von Frauen im Klimakterium.15 Doch die aufkommenden medizinischen Definitionen hatten vielfach zwiespältige Implikationen für die Rechte von Frauen.
2 Leere und Obsoleszenz
Eines der ersten englischsprachigen Bücher über das weibliche Klimakterium stammte von Edward Tilt, einem englischen Arzt, der – wie viele seiner Kollegen – in den späten 1830er- und 1840er-Jahren in Frankreich ausgebildet worden war, dort praktiziert hatte und das Konzept aus dem französischen Fachdiskurs übernahm.16 Tilt beschrieb die mittleren Jahre zuerst in den letzten Kapiteln von On the Preservation of the Health of Women at the Critical Periods of Life (1851), einem kleinen Ratgeber zur »Bewahrung der Frauengesundheit während der kritischen Lebensabschnitte«, sowie in einer Reihe von Artikeln. In einem späteren, ausführlicheren Buch, das sich an die medizinische Fachwelt richtete, The Change of Life in Health and Disease: A Practical Treatise on the Nervous and Other Affections Incidental to Women at the Decline of Life (1857) – eine »praktische Abhandlung über Nervenleiden und andere Krankheiten, die bei Frauen im Alter auftreten« –, ging es ausschließlich um dieses Thema.17 Hier führte Tilt – neben Schlagworten wie »klimakterisch« und »Lebensumstellung« – den Begriff la ménopause (von Griechisch μήν, μένος, Monat, monatlich und παῦσις, Aussetzen, Pause) ein, den der Pariser Arzt Charles Pierre Louis de Gardanne etwa 40 Jahre zuvor geprägt hatte (ursprünglich la ménespausie), um den sperrigen Ausdruck cessation des menstrues zu ersetzen.18
Im Gegensatz zu »Klimakterium« war »Menopause« durch den Bezug auf die Menstruation untrennbar mit dem weiblichen Körper verbunden. Tilt kehrte Halfords Darstellung um, indem er einen Wandlungsprozess beschrieb, der sich bei Männern »unmerklich« vollziehe, wohingegen »bei Frauen der Übergang oft gefährlich ist und die Folgen deutlicher zu spüren sind«. Der Arzt plädierte dafür, dass die Medizin dieser »Krise«, die er auf die »Involution« oder das Schrumpfen der Eierstöcke zurückführte, mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Tilts Patientinnen, die in zahlreichen Fallstudien beschrieben wurden, litten unter Kopfschmerzen, fühlten sich »schwindlig und dumm«, fürchteten, verrückt zu werden oder ihr Gedächtnis zu verlieren, und waren melancholisch und schlecht gelaunt. Er verglich ihren Zustand mit Hysterie und nannte ihn, in Anlehnung an die Wirkung von Rauschgift, »Pseudonarkotismus«.19
Tilt galt im englischsprachigen Raum als führende Autorität zum Thema Wechseljahre.The Change of Life erschien in mehreren Auflagen in Großbritannien und Amerika. Die vierte (und letzte) Auflage aus dem Jahr 1882, die in den Vereinigten Staaten besonders gefragt war, gab es in mehreren Ausgaben, und einige seiner Patientinnen überquerten den Atlantik, um Tilt persönlich aufzusuchen.20 In britischen Publikationen wurde etwa ab Mitte der 1860er-Jahre zunehmend der Ausdruck »weibliches Klimakterium« verwendet, und der Begriff »Menopause« fand Ende der 1880er-Jahre Eingang in die englischsprachigen Wörterbücher, auch wenn er erst im darauffolgenden Jahrzehnt gängig wurde.21 Der neue Stellenwert des »weiblichen« Klimakteriums wurde mit Erscheinen des Buches The Menopause (1897) des New Yorker Arztes Andrew Currier deutlich, der ersten Monografie eines amerikanischen Arztes zu diesem Thema, die ausdrücklich darauf abzielte, Tilts Werk auf den neuesten Stand zu bringen.22
Die Diagnosekategorie Menopause ermöglichte es, Leiden zu lindern, und machte Frauen mittleren Alters als Individuen sichtbar, die Behandlung und Unterstützung verdienten. Gleichzeitig diente sie aber, wie viele andere medizinische Erkenntnisse auch, wichtigen gesellschaftlichen Zwecken. Durch die Verknüpfung von körperlichen Funktionen mit gesellschaftlichen Rollen, von Fortpflanzungsfähigkeit mit Hausarbeit, wurde die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter als naturgegeben erklärt und die Überzeugung zementiert, dass ihr Platz im Haus sei.
Mit dem Aufkommen der Menopause als medizinischer Kategorie stellten Ärztinnen und Ärzte die damit einhergehenden Probleme in den Vordergrund. Sie beschrieben die Wechseljahre nicht als natürlichen Übergang, sondern als behandlungsbedürftige Krankheit oder als Anzeichen für einen gestörten Organismus, als Ursache für Krebs und psychisches Ungleichgewicht und nicht zuletzt als Gegenstand fachkundiger Interventionen.23 Die Ärzteschaft war sich ihrer pathologischen Schwerpunktsetzung und deren Grenzen bewusst. Ehe er auf die Komplikationen des mittleren Alters einging, wies Currier in The Menopause darauf hin, dass »die Mehrheit der Frauen die [Menopause] mit ebenso wenig Zwischenfällen oder Beschwerden durchläuft wie die Pubertät. Nur in Ausnahmefällen hat eine Frau Schwierigkeiten und sucht deshalb einen Arzt auf. Auf Grundlage dieser Ausnahmefälle hat sich die Lehre vom gefährlichen und schwerwiegenden Charakter der Wechseljahre formiert.«24 Besonders deutlich wurden die normativen und antifeministischen Implikationen der Wechseljahre, wenn Medizinerinnen und Mediziner die mit ihnen verbundenen Probleme erklärten und Therapien vorschlugen: Sie führten Beschwerden in den Wechseljahren darauf zurück, dass Frauen gegen gesellschaftliche Regeln verstießen.
Verwehrten medizinische Konzepte der Menstruation Frauen den Zugang zur Bildung, so konnte die Menopause ihre berufliche Laufbahn behindern. Currier behauptete, wie zahlreiche andere Ärztinnen und Ärzte, dass Wechseljahresbeschwerden bei Frauen, die »unweibliche Berufe« ausübten, schwerwiegender seien, wobei er als Beispiel Arbeiterinnen anführte.25 Der Diskurs über die Menopause bezog sich im Allgemeinen auf die weiße Mittel- und Oberschicht, und der New Yorker Gynäkologe selbst beschrieb die Wechseljahre als ein Phänomen, das typischerweise Frauen der oberen Mittelschicht betraf. Die medizinische Fachliteratur zog jedoch bisweilen Frauen aus der Arbeiterklasse als Negativbeispiele heran, um etwa zu verdeutlichen, dass es für Frauen unangemessen sei, einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Genauso schrieben Currier und andere über das vermeintlich zu frühe oder verspätete Ende der Menstruation bei asiatischen, Schwarzen oder indigenen Frauen.26
Ähnlich wie zeitgenössische medizinische Einwände gegen den Zugang von Frauen zu höherer Bildung hinderten pathologische Definitionen der Menopause Frauen daran, außer Haus tätig zu werden, und stellten damit eine Reaktion gegen die Erfolge von Frauen in Politik und Beruf dar. In verbreiteter Manier behauptete Currier, dass die meisten seiner Patientinnen unter Wechseljahresbeschwerden litten – was er als Ausdruck von Kultiviertheit darstellte –, dass aber die Wechseljahre bei »ruhigen, friedfertigen« Frauen weniger problematisch seien. Bildung und Karriere, Verhütungsmittel oder Abtreibung, mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse von Mann und Kindern, das Eintreten für das Frauenwahlrecht und sogar ein zu modischer und geselliger Lebensstil galten als mögliche Ursachen für eine besonders problembehaftete Menopause der Frau.27
Dementsprechend wurden Frauen mittleren Alters – ähnlich wie ihre pubertierenden Töchter und Enkelinnen – angehalten, geistige Aktivitäten zu meiden, keine neuen Aufgaben zu übernehmen und sich der Hausarbeit zu widmen. Die empfohlenen Maßnahmen zur Behandlung von Wechseljahresbeschwerden – Selbstbeobachtung und bewusste Ernährung, Ruhe und häufiges Baden – brachten den Rückzug aus der Gesellschaft mit sich, und oft wurde auch ausdrücklich zur Einsamkeit geraten. Frauen, die sich nicht an diese Vorschriften hielten, wurden wegen ihres unangemessenen jugendlichen Verhaltens verspottet und vor Schwierigkeiten im Alter gewarnt. »Wir empfehlen dringend«, hieß es in einem Frauenratgeber, »dass jede Frau, die sich ein gesundes Alter erhofft, spätestens mit 40 vernünftige Vorkehrungen treffen sollte. Sie sollte ihre Bemühungen einstellen, jung zu erscheinen, wenn sie es nicht mehr ist, und sich inmitten ihrer ehelichen Errungenschaften von den Aufregungen und Strapazen der geselligen Welt zurückziehen, um in die ruhigere Ära ihres Daseins einzutauchen, die jetzt vor ihr liegt.«28 Das war Altern nach Vorschrift.
Doch selbst Frauen, die ihrer häuslichen Rolle treu blieben, hatten mit Wechseljahresbeschwerden zu rechnen. Charles Reed, Vorsitzender der American Medical Association und Autor des 1901 erschienenen Textbook of Gynecology, war einer der Ersten, der die »mentalen« Auswirkungen dieser für die Frau verlustreichen Zeit hervorhob: »Plötzlich wird ihr bewusst, dass ihr Reiz, ihre Jugend, ja sogar ihre Sexualität schwinden. So soll sie auf einmal ihrem Ehemann nur mehr intellektuelle Kameradin sein, wo sie doch bis vor Kurzem Objekt seiner Zärtlichkeit und Mutter seiner Kinder gewesen war. Ein Drittel ihres erwachsenen Lebens liegt noch vor ihr, voller Verheißungen ruhigen Vergnügens und großer Nützlichkeit, aber für sie, die sich der glorreichen Zeit von Eroberung und Hingabe entsinnt, ist die Zukunft eine trostlose Vergeudung leerer Jahre.«29 Derlei Schilderungen des mittleren Alters als Beginn von Leere und Obsoleszenz – also des Veraltens, des Wertverlusts und der Nutzlosigkeit – sollten für die Mitte des 20. Jahrhunderts charakteristisch werden.
Aus Sicht der Hormonforschung wurde die Menopause in erster Linie als Folge eines Östrogenverlustes oder als »Mangelkrankheit« eingestuft.30 Als sich Mitte der 1930er-Jahre die Sexualendokrinologie etablierte, wurde Östrogen als Allheilmittel für Wechseljahresbeschwerden verordnet. In seiner Schrift über die Wechseljahre berichtete der Frauenarzt und Kinderwunschspezialist Abner Weisman über die Gründung einer der ersten endokrinologischen Kliniken in New York, die auf Anhieb 50 bis 100 Frauen mittleren Alters pro Tag zur Behandlung aufnahm.31 Nach der Entwicklung eines kostengünstigen Östrogenderivats im Jahr 1938 verbreitete sich die Östrogenersatztherapie in den 1940er-Jahren und gewann in der Nachkriegszeit an Beliebtheit.32
In den 1960er-Jahren empfahlen der Brooklyner Gynäkologe Robert Wilson und die Krankenschwester Thelma Wilson in ihrem Bestseller Feminine Forever (1966, dt. im gleichen Jahr, Die vollkommene Frau: Keine kritischen Jahre mehr) die Dauermedikation mit Östrogen, um zu verhindern, dass Frauen zu »Kastraten« werden, die »eher existieren als leben«, wie die Wilsons sich ausdrückten.33 Zwar linderte die Hormontherapie die Beschwerden, aber sie verstärkte zugleich auch die Wahrnehmung der Wechseljahre als eine Erkrankung. Eine lebenslange Behandlung, wie sie von den Wilsons befürwortet wurde, setzte Gesundheit mit Fruchtbarkeit gleich und stufte den weiblichen Alterungsprozess als Krankheit ein. Durch die Betonung des Verlusts der Fruchtbarkeit wurden Frauen zudem dazu gedrängt, Kinder zu bekommen, bevor es zu spät sein würde.34
Psychoanalytische und psychologische Erklärungsansätze, die einen Zusammenhang zwischen sinkendem Östrogenspiegel und negativen Gefühlszuständen herstellten, trugen entscheidend dazu bei, dass das mittlere Lebensalter als eine Zeit des »symbolischen Verlusts« dargestellt wurde.35
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hatte sich kaum mit den Wechseljahren befasst; er konzentrierte sich auf das Kinder- und Jugendalter und erwähnte das Älterwerden nur beiläufig. In einer Vorlesung über Weiblichkeit im Jahr 1933 allerdings bescheinigte er Frauen einen Entwicklungsstillstand im Alter von etwa 30 Jahren: »Hingegen kann ich es nicht unterlassen, einen Eindruck zu erwähnen, den man immer wieder in der analytischen Tätigkeit empfängt. Ein Mann um die Dreißig erscheint als ein jugendliches, eher unfertiges Individuum, von dem wir erwarten, daß es die Möglichkeiten der Entwicklung, die ihm die Analyse eröffnet, kräftig ausnützen wird. Eine Frau um die gleiche Lebenszeit aber erschreckt uns häufig durch ihre psychische Starrheit und Unveränderlichkeit. Ihre Libido hat endgültige Positionen eingenommen und scheint unfähig, sie gegen andere zu verlassen. Wege zu weiterer Entwicklung ergeben sich nicht; es ist, als wäre der ganze Prozeß bereits abgelaufen, bliebe von nun an unbeeinflußbar, ja als hätte die schwierige Entwicklung zur Weiblichkeit die Möglichkeiten der Person erschöpft.«36
Die zentrale Freud’sche Deutung der Wechseljahre stammt von der österreichisch-polnischen Psychoanalytikerin Helene Deutsch, deren zweibändige Psychologie der Frau (1948 – 1954) ein Nachwort zum »Klimakterium« enthält. Deutsch hob die Bedeutung des mittleren Alters als eine Zeit des »partiellen Todes«, des Verlusts und der Trauer hervor. In den Wechseljahren habe »die Frau ihre Existenz [als Trägerin des zukünftigen Lebens] beendigt. Als Dienerin der Art ist sie einem natürlichen Ende – einem partiellen Tod – erlegen. […] Allmählich verwandelt sich der gesamte weibliche Geschlechtsapparat in eine Einheit untätiger Organe, die für den Körper überflüssig werden.« Statt einer Therapie verordnete die Verfechterin des »weiblichen Masochismus« Leiden. Frauen sollten sich mit ihrem Schicksal abfinden, befand Deutsch und verbot Kosmetika, »narzisstische« Reminiszenzen und andere »Bizarrerien im Verhalten«.37
In diesen Darstellungen ging es nicht nur um Verlust und Trauer, sondern auch um die Nutzlosigkeit und die Unerwünschtheit von Frauen in der Lebensmitte. In Fachkreisen und gesellschaftskritischen Schriften wurden Frauen mittleren Alters als überflüssig und »obsolet« dargestellt. Philip Wylies berüchtigtes Buch Generation of Vipers (1942, Schlangenbrut) stigmatisierte Frauen mittleren Alters als »nutzlose« und parasitäre »Muttis« und schrieb damit eine Kritik fort, die Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Frauenbewegung und deren erweiterten Begriff einer öffentlichen und politischen Mütterlichkeit gerichtet worden war.38 In seinem 1969 erschienenen Bestseller Everything You Always Wanted to Know about Sex *But Were Afraid to Ask (dt. 1970, Alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten) stellte der Psychiater David Reuben die These auf: »Mit dem Aussetzen des Eisprungs hört das eigentliche Wesen der Frau auf. Sobald sie ihre Eierstöcke überlebt hat, ist sie als Mensch nicht mehr von Nutzen. In den verbleibenden Jahren ist es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihren Drüsen in die Versenkung folgt.«39
Die Wissenschaftsforscherin und Ethnologin Emily Martin hat gezeigt, dass medizinische Texte vielfach auf wirtschaftliche und industrielle Metaphern zurückgreifen, um den weiblichen Körper zu beschreiben. Die Menopause